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Jarl wird in das Konvent von Haytham gerufen. Dort wurde ein großartiger Schatz gefunden, eine zwölfhundert Jahre alte Truhe voller Pergament, beschrieben in einer Sprache, für die es einen Gelehrten der altertümlichen Sprachen wie ihn benötigt, um die Geheimnisse enthüllen zu können. Ihm wird Bruder Willem zur Seite gestellt, ein Schreiber und Archivar, der mit diesem Beruf leider kein hohes Ansehen in seiner Gemeinschaft genießt. Schnell stellt sich heraus, dass damals, in der Gründerzeit des Konvents, schreckliche Dinge geschehen sein müssen. Und dann beginnt auch in der Gegenwart Seltsames und Schreckliches zu geschehen. Jarl und Willem, die ihre aufblühende Liebe verbergen müssen, geraten in Gefahr und mit ihnen jeder andere, der Haythams Geheimnis hütet … Ca. 70.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 345 Seiten.
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Jarl wird in das Konvent von Haytham gerufen. Dort wurde ein großartiger Schatz gefunden, eine zwölfhundert Jahre alte Truhe voller Pergament, beschrieben in einer Sprache, für die es einen Gelehrten der altertümlichen Sprachen wie ihn benötigt, um die Geheimnisse enthüllen zu können. Ihm wird Bruder Willem zur Seite gestellt, ein Schreiber und Archivar, der mit diesem Beruf leider kein hohes Ansehen in seiner Gemeinschaft genießt.
Schnell stellt sich heraus, dass damals, in der Gründerzeit des Konvents, schreckliche Dinge geschehen sein müssen. Und dann beginnen auch in der Gegenwart Seltsames und Schreckliches zu geschehen. Jarl und Willem, die ihre aufblühende Liebe verbergen müssen, geraten in Gefahr und mit ihnen jeder andere, der Haythams Geheimnis hütet …
Ca. 70.000 Wörter
Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 345 Seiten.
von
Sandra Gernt
illkommen in Haytham.“
Der Vorsteher des altertümlichen Priesterkonvents verneigte sich respektvoll vor Jarl. Er trug die traditionellen beigefarbenen Roben der Machut-Priester, die er mehr als üppig ausfüllte. Mit seinem dünnen weißen Bart und dem kahlen Schädel war es leicht, ihn für einen Greis zu halten, doch seine Stimme war kräftig und bloß wenige Falten zierten sein feistes Gesicht.
„Mein Name ist Bruder Arwik. Wir sind überglücklich, Euch bei uns begrüßen zu dürfen. Niemand von uns ist in der Lage, das Geheimnis zu lüften.“ Er musterte Jarl ein wenig skeptisch. „Verzeiht, wenn ich aufdringlich oder unhöflich klingen mag, aber Ihr seid doch für unser Problem …?“
„Ich zähle achtundzwanzig Jahre, Bruder Arwik“, entgegnete Jarl und versuchte, möglichst nicht beleidigt zu klingen. Es war keineswegs das erste Mal, dass man ihm den Mangel an grauen Haaren zum Vorwurf machte, ihn für zu jung und zu unerfahren hielt. „Man hat mich bestens ausgebildet und die Professoren der Universität waren der Meinung, dass ich der richtige Mann bin. Die Schriften der sechzehnten Kabas-Dynastie sowie der Haru-Dynastien sind meine Spezialität, zudem beherrsche ich vier der sechs ausgestorbenen Sprachen fließend und die anderen beiden zumindest im Ansatz.“
Bruder Arwiks Stirn glättete sich von den Zweifelsfalten und er lächelte freundlich. Alles das hätte er auch in dem Brief nachlesen können, den Jarl ihm als Referenz und Beweis für seine Identität überreicht hatte, aber offenkundig hatte er sich darauf beschränkt, das Siegel der Universität zu prüfen.
„Ich sehe, unser Fund wird bei Euch in besten Händen sein. Bitte, lasst mich Euch zu Eurer Unterkunft führen. Ihr müsst nach der langen Reise völlig erschöpft sein und es ist ja auch schon spät … Ich werde Euch warmes Wasser zum Waschen und ein gutes Abendmahl bringen lassen.“
Das war das Mindeste, nachdem Jarl zwei Wochen durch die Wildnis geritten war, um dem Ruf des Konvents nach einem Übersetzer für ein altes Manuskript in unverständlicher Sprache zu folgen. Zumal sie sich im Übergang zwischen Spätwinter und Vorfrühling befanden und die Reise beschwerlich, kalt und nass gewesen war. Entsprechend schmerzten die Glieder und er war froh, endlich am Ziel angekommen zu sein. Wobei sein erster Eindruck des Konvents nicht allzu erfreulich war – ein karger, dunkler, eng gebauter Ort. Doch er wollte sich im Licht des neuen Tages überzeugen lassen, dass er sich womöglich irrte, was die Heimeligkeit betraf. Der Empfang war zumindest freundlich gewesen. Jetzt sehnte er sich erst einmal nach einem Bett, denn es war schon lange nach Einbruch der Dunkelheit.
„Habt Dank für Eure Mühe. Etwas Gutes zu Essen und ein Platz zum Schlafen, das wäre wunderbar.“ Jarl folgte dem Priester aus der Vorhalle hinaus, durch niedrige gemauerte Gewölbegänge. Sie waren fensterlos, dementsprechend kalt, muffig-feucht und düster. Die Laterne, die Bruder Arwik hochhielt, erhellte kaum genug, um auf dem rissigen, unebenen, aus Felsgestein geschlagenen Boden sicher auftreten zu können. In unregelmäßigen Abständen tauchten schwere, beschlagene Holztüren auf, jede davon so niedrig, dass ein normal gewachsener Mann sich tief zusammenkrümmen musste, um hindurchschreiten zu können.
„Der Makkarn-Felsen, in dessen Bauch Haytham hineingeschlagen wurde, hatte sich als äußerst wehrhaft erwiesen“, sagte Bruder Arwik, der Jarls Missbilligung anscheinend im Rücken spüren konnte. „Alle Gänge mussten schmal und eng bleiben, Türen und Räume sind niedrig. Ich verspreche, Eure Unterkunft ist hoch genug, um bequem stehen zu können. Es ist karg eingerichtet, doch zum Schlafen werdet Ihr ausreichend Komfort finden.“
Er hielt endlich vor einer der Türen. Glücklicherweise war sie mit einer Nummer versehen, wie Jarl erkannte, als er näher herantrat. Andernfalls hätte er wenig Hoffnung gehabt, sie ohne Hilfe wiederzufinden.
Sein Raum trug die Nummer fünf. In der Zahlenmystik, die gerade innerhalb der Machut-Priesterschaft von hoher Bedeutung war, eine sehr wichtige Zahl. Zusammengesetzt aus der Zwei – die Zahl der Weiblichkeit, der Vielfalt, der Gegensätze wie Gut und Böse, sowie der Drei, die Zahl der weltlichen Vollkommenheit – war die Fünf die Zahl, mit der das Böse abgewehrt, das Dunkle erhellt, düstere Geheimnisse aufgedeckt und Dämonen vertrieben wurden. Fünf Artefakte waren notwendig, um einen Erzdämon in die Niederhöllen zurückzuzwingen, fünf Zacken besaß das Pentagramm, das mächtigste Schutzzeichen gegen die Finsternis. Es war darum beinahe amüsant, dass man ihm diesen Raum zugedacht hatte.
Oder es war reiner Zufall und er suchte Muster, wo es keine gab. Sicherlich gab es auch Konvente, in denen man sich um Spielereien wie Zahlenmystik keine Gedanken machte, weil man sich vollständig der Pflege der Kranken und Bedürftigen widmete, statt Glaubenstheorien aufzustellen.
„Der Abtritt befindet sich draußen, das ist bei diesem Wetter nicht zumutbar. Wir benutzen darum in der Nacht den Betttopf, Ihr werdet ihn finden. Stellt ihn morgen früh einfach neben die Tür in den Gang, die Novizen sammeln ihn dann ein. Bruder Willem wird gleich zu Euch kommen und Euch mit allem versorgen, was Ihr für eine erholsame Nacht benötigt, und jede Eurer Fragen beantworten. Willem wird für Euren gesamten Aufenthalt Euer Diener und persönlicher Gehilfe sein.“ Bruder Arwik verneigte sich ein letztes Mal, übergab ihm einen schweren, schmiedeeisernen Schlüssel und zog sich nach einem höflichen Abschiedsgruß zurück – mitsamt der Laterne.
Jarl beeilte sich, die Tür aufzuschließen, bevor es zu dunkel im Gang wurde, um das Schloss ohne blindes Tasten zu finden. Zu seiner Erleichterung gab es einen Kamin, in dem ein niedriges Feuer brannte. Er legte rasch Holz nach und stocherte die Glut an, bevor er sich müde aufrichtete und umsah. Hier würde er also schlimmstenfalls die nächsten Wochen bis Monate verbringen. Einladend war dieser Raum leider nicht. Zu schmal, zu niedrig, zu karg. Immerhin gab es ein Butzenfenster, das Licht und Luft hineinließ. Er wuchtete sein Reisegepäck auf einen Schemel und suchte nach seinem Nachtgewand, als es leise klopfte.
Ein junger Mann kam herein. Er trug die Robe der Bruderschaft, war also kein Novize mehr, die sich in helles Blau hüllten. Das Erste, was Jarl auffiel, waren die schönen kastanienbraunen Locken des jungen Priesters. Ihn umgab eine Aura von scheuer, ruhiger, bildungsliebender Wesensart.
„Bruder Willem, vermute ich?“, fragte Jarl freundlich, da der Priester den Blick gesenkt hielt und schwieg. Der zuckte leicht zusammen und schaute auf. Er war anscheinend gerade aus dem Tiefschlaf gezerrt worden und brauchte einen langen Moment, um zu sich zu finden.
„Es tut mir leid, dass ich zu dieser grässlichen, nachtschlafenden Zeit angekommen bin. Mein Pferd hatte gelahmt und ich musste es den halben Tag lang führen, bis ich eine Wechselstation erreichte und es dort in kundige Hände geben konnte. Sonst wäre ich schon viel früher angekommen.“
„Ist nicht Eure Schuld“, murmelte Bruder Willem. „Was kann ich Euch als Nachtmahl bringen?“
„Was Ihr greifen könnt. Ein Kanten Brot, ein Stück Käse, oder etwas Eintopf, falls zur Hand. Bitte, macht Euch keine übertriebene Mühe. Wasser zum Trinken und Waschen. Mehr benötige ich heute Nacht nicht. Der Raum ist ja zum Glück angenehm warm.“
„Ich beeile mich.“ Der junge Mann torkelte leicht, als er sich umwandte und davonging. Hoffentlich war die Küche nicht zu weit entfernt, damit der arme Kerl bald und zügig zurück ins Bett fallen durfte. Jarl fand sein Nachtgewand, streifte die durchweichten Stiefel und den nicht minder nassen Mantel ab und brachte beides in der Nähe des Kamins unter, damit sie trocknen konnten. Auf ihn wartete morgen ein anstrengender Arbeitstag. Gerade zu Beginn war ein Übersetzungsauftrag stets schwierig. Man musste sich an fremde Menschen, fremde Umgebung, unbequeme Hindernisse und nicht zu kalkulierende Schwierigkeiten am Arbeitsplatz einstellen. Nach zwei, drei Tagen wurde es dann meistens besser, weil man sich eingewöhnt und die Leute kennengelernt hatte.
„Mach dir Freunde. Sei höflich, demütig, herzlich, stets gesprächsbereit, egal wie sehr sie dich stören oder sogar belästigen. Solange du mit den Leuten zurechtkommst, ist die Hälfte der Arbeit bereits geschafft.“ Das hatte Framje, sein Ausbilder, ihm vom ersten Tag an eingebläut. Und er hatte selbstverständlich recht gehabt. Man lud ihn in Archive, Konvente, Ratshäuser oder Privatheime, damit er als Sprachgelehrter Dokumente übersetzte, die in einer der alten Sprachen verfasst wurde. Man entdeckte häufig solche Schriftwerke in Truhen und den merkwürdigsten Winkeln, gerade in letzter Zeit. Es herrschte Frieden und der Wohlstand wuchs durch den Handel. Da wurden viele Häuser renoviert, die seit Jahrzehnten nicht mehr angefasst worden waren, und dementsprechend traten verlorene Wertstücke zurück ans Tageslicht. Manchmal war es reine Neugier, was dahinterstecken könnte, dass man die Kosten in die Hand nahm und nach einem Gelehrten schickte. Meistens vermutete man einen historisch wertvollen Schatz dahinter. In dem Brief an die Universität für diesen Auftrag war die Rede von einer großen Kiste voller antiker Pergamente gewesen. Das würde wahrscheinlich langwierig werden … Wenn sein Aufenthalt nicht zur Niederhölle werden sollte, musste er sich mit der Bruderschaft gutstellen und möglichst viele Freunde unter ihnen gewinnen. Sie waren es schließlich, die ihm das Essen brachten, die ihm den Kamin einheizten, seine Kleidung wuschen und an die er sich wandte, wenn er Bedürfnisse hatte, gleich welcher Natur.
„Herr?“, erklang es leise vor der Tür. Er eilte barfuß hin und öffnete sie. Bruder Willem balancierte ein volles Tablett in der einen Hand, eine schwere gusseiserne Waschschüssel und die Laterne in der anderen. Jarl nahm ihm das Tablett ab und trug es in den Raum.
„Vergebt mir, Herr, ich bin ungeschickt“, murmelte der junge Priester, deponierte etwas atemlos die Waschschüssel auf dem Tisch und füllte sie mit dem Krug dampfenden Wassers, der mit auf dem Tablett gestanden hatte.
„Das würde ich keineswegs sagen, Bruder Willem. Eher im Gegenteil, Ihr habt mir alles gebracht, was ich benötige. Da bleibt kein Wunsch offen, ich danke Euch sehr. Bitte, geht rasch zurück ins Bett. Es tut mir so leid, dass Ihr für mich aus dem Schlaf gerissen wurdet.“
„Es ist mir eine Ehre.“ Bruder Willem verneigte sich und lächelte erfreut. Dann zögerte er kurz. „Vergebt mir. Ich habe keine genaue Auskunft erhalten, welchen Titel Ihr tragt. Ihr seid ein Magister der Sprachkunst? Wie spreche ich Euch an?“, fragte er scheu. „Herr Magistratus?“
„Herr reicht völlig. Oder Meister Jarl. Ich lege keinen Wert auf Titel und unter uns, die Universitätsgelehrten halten nicht viel von uns Übersetzern. Wir wühlen im Staub der Antike, statt Neues zu entdecken oder Ideen zu erforschen. Fürchtet also nicht, dass ich beleidigt sein könnte, nur weil man mich nicht mit irgendwelchen Titeln bedenkt. Ich bin ein Staubwühler und ganz gewiss nichts Besseres. Im Gegenteil: Eure Arbeit als Priester ist viel wertvoller als meine. Ich könnte das nicht, tagtäglich die Kranken und Sterbenden begleiten, die Trauernden trösten, die Verzweifelten aufrichten …“
Bruder Willems Lächeln vertiefte sich. So war es gut. Zumal Jarl jedes Wort genauso gemeint hatte, wie er es sagte. Er bewunderte die hingebungsvolle Arbeit der Priesterschaft und er hatte nicht die geringsten Probleme damit, dass die erhabene Elite an der Universität auf ihn verächtlich herabschaute.
„Ich wünsche Euch eine gute Nacht, Meister Jarl“, sagte Bruder Willem leise. „Solltet Ihr noch etwas für Euer Wohlbefinden benötigen, findet Ihr mich in Raum Nummer zehn, den Gang runter nach links. Vergesst nicht, Euch eine Laterne zu entzünden, es ist sehr dunkel draußen, auch tagsüber. Ich kehre nach Sonnenaufgang zurück und wecke Euch.“
„Auch Euch eine gute Nacht, Bruder Willem.“
Jarl verschloss die Tür hinter dem Priester, streifte den Rest seiner klammen Kleidung ab, wusch sich rasch mit dem warmen Wasser und zog sein Nachtgewand über. Erst danach widmete er sich dem Essen. Es gab eine kleine Schale mit lauwarmen Getreidebrei, etwas Käse, eine Handvoll Nüsse, dazu einen heißen Kräutertee. Ein gutes Essen, das ihn sättigte, ohne dass es ihn überfüllte. Er mochte es nicht, unmittelbar vor dem Schlafengehen zu schwer zu essen und danach noch stundenlang mit schmerzendem Bauch wach zu liegen.
Jarl beeilte sich, denn die Sehnsucht nach Schlaf nach der extrem anstrengenden Reise war überwältigend. Sobald er satt war, pflegte er noch rasch seine Zähne, benutzte den Nachttopf und versorgte das Feuer, sodass die Glut bis morgen früh erhalten bleiben würde. Dann ließ er sich tief seufzend auf die strohgefüllte Matratze fallen, dankbar, dass sie spür- und riechbar frisch gestopft wurde und die Decken warm waren. Hier würde er wunderbar schlafen.
Schon sank er den Träumen entgegen. Er freute sich auf seine neue Aufgabe!
Willem schlüpfte unter seine Decke. Was hatte er Angst vor dem hochgelehrten Herrn Magister aus der Universität aus dem fernen Ashrar gehabt! Er war tagelang zurechtgewiesen worden, dass er sich beständig verneigen musste, niemals sprechen sollte, wenn er nicht ausdrücklich dazu aufgefordert war, alles tun musste, was der hohe Gelehrte von ihm verlangte. Den gesamten Tag hatte er damit zugebracht, den Raum zu putzen, das Feuer einzuheizen, die Matratze frisch zu stopfen. Sogar den Schemel hatte er neu beschlagen, damit auf keinen Fall etwas wackelte. Und nun war es gar kein graubärtiger, arroganter Griesgram, der sich für die Krönung der Weisheit hielt und jeden anderen für einen wertlosen Sklaven.
Wie er da eben barfuß und in Hemdsärmeln dagestanden hatte, völlig natürlich und so freundlich und respektvoll … Und jung war er noch! Gut sah er zudem aus. Groß und ein wenig stämmig, wie es bei einer Arbeit, die oft regungslos stattfand, wohl nicht zu vermeiden war. Ein Mann mit breiten Schultern, der sich nicht davor fürchtete, zwei Wochen ohne Geleitschutz durch die ungesicherte Wildnis zu reiten. Einen Gelehrtenzopf hatte er, das lange braune Haar war fest zurückgebunden gewesen. Priester durften höchstens schulterlanges Haar haben, denn der Zopf war das Vorrecht der Gelehrten, während Adlige sich aufwändige Frisuren gönnten. Am schönsten waren jedoch eindeutig die freundlichen dunkelbraunen Augen.
Es war solch ein anstrengender Tag gewesen, überladen mit zu viel Arbeit und Sorge und Anspannung, dann war Enttäuschung gefolgt, weil der hohe Herr nicht gekommen war. Schließlich hatte Bruder Manart ihn ins Bett geschickt, überzeugt, dass ihr Gast erst am Morgen erscheinen würde. Und nun war er da und alles war gut. Willem freute sich sehr auf den neuen Tag. Es würde sicherlich spannend werden zu beobachten, wie der Gelehrte an seine schwierige Aufgabe herangehen würde. Nun aber Augen zu! Es war Zeit zu schlafen, sonst würde er morgen früh Meister Jarl zu Füßen fallen und schnarchen, statt ihm zu Diensten zu sein.
er neue Tag kam viel zu früh.
Jarl schreckte aus dem Tiefschlaf, als behutsames Klopfen an der Tür ihn weckte. Es war Bruder Willem, der den Kopf hineinsteckte und flüsterte:
„Meister Jarl! Die Sonne geht gerade auf. In einer halben Stunde schlägt die zweite Glocke zum Frühstück. Wollt Ihr mit der Gemeinschaft oder hier in Eurem Raum speisen?“
„Ich esse jede Mahlzeit mit der Gemeinschaft, es sei denn, es gibt zwingende Ausnahmen“, murmelte Jarl schlaftrunken und gähnte herzhaft hinter vorgehaltener Hand. „Vielen Dank für das Wecken, Bruder Willem. Ihr könntet mir bitte frisches Wasser zum Waschen bringen, wenn Ihr so freundlich wärt.“
„Mit Freuden.“
Es war zu dämmrig im Raum, obwohl der junge Priester seine Laterne in der Hand hielt, doch Jarl konnte das eifrige, dienstbeflissene Lächeln dennoch vor sich sehen. Bruder Willem huschte hinein, packte Waschschüssel, Krug und das Essenstablett von gestern Abend zusammen und verschwand wieder.
Jarl quälte sich aus dem Bett, erweckte das Feuer zu neuem Leben, entzündete seine eigene Laterne und begann mit der Morgenroutine. Als Bruder Willem zurückkehrte, stand er mit entblößtem Oberkörper im Raum. Irrte er sich oder errötete der junge Priester vor Verlegenheit? Jarl wusste nicht genau, wie die Ordensregeln für die Machut-Priesterschaft lauteten. Enthaltsamkeit schworen sie nicht, so wie es einige andere Glaubensgemeinschaften taten, die ihr Leben der Askese und dem Gebet widmeten. Sie durften sogar heiraten, verließen dann allerdings den Orden und ließen sich in der Nähe nieder, um weiterhin ihre Arbeit verrichten zu können. Zweifellos hatte Bruder Willem schon zahlreiche nackte Männer erblickt, wenn er sich gemeinsam mit seinen Ordensbrüdern wusch. Und wenn er als Pfleger tätig sein sollte, dann dürfte ihm gar nichts Menschliches fremd sein. Nein, sicherlich hatte er sich geirrt.
„In einer Viertelstunde könnt Ihr mich einsammeln und mir den Weg zum Speisesaal weisen“, sagte Jarl und begann sich zu waschen. In der Ferne hörte er eine Glocke schlagen. Der erste Ruf, als Zeichen für jeden, der verschlafen hatte, dass es bald Frühstück geben würde. Er musste sich beeilen, damit er in der Kürze der Zeit tatsächlich ordentlich bekleidet, gekämmt und rasiert erscheinen konnte. Der erste Eindruck war sehr wichtig. Davon hing es ab, ob man ihm zukünftig mit Respekt oder höflich ummäntelter Verachtung begegnen würde.
Willem hatte sich mühsam unter Kontrolle gebracht. Warum ihn der halbnackte Anblick von Meister Jarl so aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, wusste er beim besten Willen nicht zu sagen. Er sah aus wie jeder andere Mann auch. Besser und straffer als die meisten Alten, denen er behilflich gewesen war, als man ihn in der Novizenzeit im Krankenflügel und bei den Rundgängen in den Bauerndörfern mitgenommen und zum Pfleger und Heiler ausgebildet hatte. Stärker und breitschultriger als viele seiner Brüder. Erstaunlich war er dennoch nicht und kein Vergleich zu den königlichen Kriegern, die hier vergangenes Jahr auf dem Durchzug gerastet hatten. Wahrscheinlich war er einfach noch müde und reagierte deshalb auf unsinnige Weise. Zum Glück hatte Meister Jarl nichts von Willems innerem Ausbruch mitbekommen.
Schweigend führte er ihn zum Speisesaal, den sie zeitgleich mit dem zweiten Glockenschlag erreichten. Nahezu alle Mitglieder des Konvents waren bereits an den langen Tischreihen versammelt. Sie blickten neugierig hoch und Bruder Arwik, der Vorsteher, sprang sofort auf und eilte zu ihnen.
„Einen wunderbaren guten Morgen, Herr Magistratus!“, rief er und verneigte sich ehrerbietig. „Ich hoffe sehr, dass Ihr erholsamen Schlaf finden konntet?“ Sämtliche Augen waren auf sie gerichtet. Jeder wollte wissen, wie der gelehrte Herr aufgelegt war, ob man sich besser vor ihm in Acht nehmen musste oder ob er freundlich wirkte. Noch nie zuvor, soweit die Erinnerung reichte, hatte ein Mitglied der berühmten Universität von Ashrar bei ihnen gewohnt. Besonders aufmerksam war, wie üblich, Bruder Manart, der Prior des Konvents. Mit zusammengefalteten Händen beobachtete er ihren Gast, ohne selbst das Wort zu ergreifen.
„Auch Euch einen wunderbaren guten Morgen, verehrter Bruder Arwik“, erwiderte Meister Jarl. Er hatte eine schöne, tiefe Stimme, die den gesamten Raum zu erfüllen schien. „Ich habe prächtig geschlafen, auch wenn es wohl noch ein, zwei Tage dauern wird, bis ich die Mühsal der Reise hierher abgeschüttelt habe. Tavernenbetten, Dauerregen, Schlamm und mehr als eine Nacht unter freiem Himmel bei dieser Kälte … Ich bin überglücklich und danke den göttlichen Geschwistern, dass ich gesund hier in Haytham bin. Oh! Und Bruder Willem hier ist mit Gold nicht aufzuwiegen. Hilfsbereit und schnell im Kopf. Großartig!“ Meister Jarl lachte über das ganze Gesicht und konnte dennoch nicht mit dem Strahlen mithalten, das Bruder Arwik von Kopf bis Fuß erfasst hatte. Der sonst so würdevolle und zurückhaltende Vorsteher drohte jeden Moment vor Stolz und Zufriedenheit zu platzen. „Nun, ein gutes Frühstück und dann brenne ich darauf, mit der Arbeit zu beginnen. Ich bin bereits sehr gespannt auf Haythams geheimnisvollen Dokumentenschatz!“
Meister Jarl folgte Bruder Arwik und nahm zu seiner Rechten Platz. Der höchste Ehrenplatz überhaupt, wofür alle anderen einen Platz auf der Bank weiterrutschen mussten. Willem setzte sich dorthin, wohin er gehörte: Der fünfte von unten. Noch weiter links saßen bloß die vier Novizen, die der Konvent zur Zeit beherbergte, denn er war der jüngste Priester. Dass er bereits seit zwölf Jahren in diesem Konvent lebte und arbeitete, zählte nicht, er musste sich Respekt und Ehre weiterhin erst verdienen. Dass Meister Jarl ihn so sehr gelobt hatte, würde ihm dabei helfen. Übermäßigen Ehrgeiz besaß er nicht, er wollte gar nicht Vorsteher, Schatzmeister, Prior, Dekan oder Novizenmeister werden. Einen Platz weiter oben hätte er dennoch gerne, denn auch wenn er nach zwölf Jahren daran gewöhnt war, kalten Getreidebrei zu essen und lediglich die härtesten Brotkrusten und jämmerlichsten Käsestücke zu erhalten, wäre ihm die bessere Auswahl schon lieb, die man nur bekam, wenn man mit zu den ersten gehörte, die beim Essen zugreifen durften, bevor man die Schüsseln und Tabletts weiterreichte. Solange Bruder Bortrim, der Hauptarchivar von Haytham, noch lebte und seinen Titel innehielt, würde sich für Willem noch auf Jahre nichts ändern.
Zu seiner grenzenlosen Überraschung begleitete Bruder Willem ihn nicht bloß in die Schreibkammer – ein enttäuschend enger und kleiner Raum mit zu niedrigen und viel zu schmalen Fensteröffnungen, zudem zugig, kalt und feucht – nein, der junge Priester hatte dort tatsächlich seinen täglichen Arbeitsplatz.
„Ich bin der Archivar-Reservist“, sagte er und wies scheu lächelnd auf sein Schreibpult in einer weniger günstigen Ecke des Raumes. Der größte Teil der fensterabgewandten Seite war von holzgezimmerten Truhen belegt, in dem sich vermutlich die Archivmaterialien befanden. „Bruder Bortrim ist der Archivar des Konvents und er hat mich etwa acht Jahre lang ausgebildet. Leider ist er vorigen Sommer gestürzt und hat sich schlimme Knochenbrüche im Oberschenkel und an den Rippen zugezogen. Er ist schon über achtzig Winter alt und muss nun gepflegt werden.“
„Also werdet Ihr seinen Posten erben, wenn er zu Machut und Ehaarda gegangen ist?“, fragte Jarl und schlug ein frommes Gebetszeichen, wie es üblich war, wenn man die Namen der göttlichen Geschwister in den Mund nahm.
„Möglich. Immerhin bin ich der Einzige in der Bruderschaft, der geschult wurde, um Gebetbücher und Pergamentrollen zu kopieren, um den vom Verfall bedrohten Inhalt zu retten. Solange ich keinen anderen Befehl erhalte, darf ich allerdings das Archiv nicht anrühren und auch sonst nichts verändern, sondern arbeite ausschließlich an meinen Abschriften.“
Gerade in den ländlich gelegenen Konventen, die auf barmherzige Arbeit mit Kranken und Bedürftigen ausgerichtet waren, spielte der Erhalt, die Pflege und Vermittlung von Wissen oft keine oder nur eine sehr geringe Rolle. Kostbare Bücher verrotteten in feuchten Kammern, unwiderbringliche Schätze zerfielen zu Staub, weil niemand sie konservierte, restaurierte oder, falls notwendig, kopierte, um sie für die Nachwelt zu erhalten. Jarl hatte durchaus bemerkt, dass Bruder Willem der rangniedrigste unter den Brüdern war und man sah an diesem Raum, wie gering man seine Arbeit schätzte. In anderen Konventen wären acht bis zehn Schreiber beschäftigt, um die Bibliotheksbestände zu pflegen und wenn der Hauptarchivar durch Krankheit dauerhaft ausfiel, würde sein Titel sofort auf den Stellvertreter übergehen und nicht erst, wenn der Ärmste die Bürden des Lebens abgestreift hatte. Zumal Archivierung, die Führung der Chronik, das Verfassen von Korrespondenz und die Abschriften von älteren Werken alles unterschiedliche Aufgabenbereiche sein sollte, die sich nicht in einem einzigen Mann zu vereinigen hatten.
Bruder Willem machte sich für seinen Arbeitstag fertig. Er hatte ein auseinanderfallendes Liederbuch auf dem Tisch und allerlei Werkzeug vor sich liegen, von vorbereitetem Pergament, Tinte, Pinsel, verschiedenen Farben, diversen Federkielen bis hin zu Schneid- und Bindegerät. Normalerweise waren Schreiben, das Erstellen von Illuminationen, das Herstellen von Pergament und das Binden eines Buches mindestens vier verschiedene Berufe und auch das sollte nicht von einem Mann allein gestemmt werden. Das war nicht Bruder Willems Fehler, sondern ausschließlich der Geringschätzung des Konvents geschuldet.
Jarl seufzte innerlich. Möglicherweise war sein Auftrag auch bereits nach einem halben Tag beendet. Im schlimmsten Fall waren die gefundenen Schriftstücke verschimmelt und durch Alter, Feuchtigkeit und falsche Lagerung dergestalt beschädigt, dass es unmöglich sein würde, sie anzufassen, geschweige denn zu lesen. Das wäre dann gerade angesichts der mühevollen, entbehrungsreichen Anreise eine höchst ärgerliche Verschwendung von Lebenszeit. Geschehen waren solche Dinge schon häufiger.
Schwere Tritte vor der Tür kündeten Bruder Arwik an. Gemeinsam mit zwei Novizen, die sich schnaufend an einer eisenbeschlagenen Truhe abschleppten sowie Bruder Manart, der als Prior der Stellvertreter des Vorstehers war, betrat Arwik den Raum. Weitere Männer drängten sich neugierig vor der Tür, wagten aber wohl nicht einzutreten. Bruder Manart blieb im Hintergrund. Sein scharfer Blick verriet, dass er intelligent war und sich seine Gedanken machte, auch wenn er kein einziges Wort sprach.
Bruder Arwik verharrte mitten im Schritt und blickte sich naserümpfend in dem zugigen, dunklen Raum um.
„Bei den Geschwistern, was für ein Drecksloch! Es tut mir von Herzen leid, Herr Magistratus. Ich war ewig nicht mehr hier, das ist ein Fehler, der nicht hätte geschehen dürfen. Selbstverständlich lasse ich Euch nicht in dieser windigen Kammer arbeiten. Ihr bekommt meine eigene Schreibstube zur Verfügung gestellt. Bruder Willem, holt euch zwei der Novizen und bringt das zweite Schreibpult hinüber. Und dann …“
„Bitte!“ Jarl hob die Hände. „Erst einmal keine Aufregung, Bruder Arwik. Ich möchte die Unterlagen sichten, das geht auch hier vor Ort. Falls die Pergamente falsch gelagert wurden, ist eine eingehende Bearbeitung schlimmstenfalls gar nicht möglich, versteht Ihr?“
„Ihr habt einen schlechten Eindruck von unserem Umgang mit Schriftstücken. Das verstehe ich gut und es lässt sich nicht leugnen, Pergament und Papyrus haben für uns keine hohe Wichtigkeit. Doch wir hätten Euch nicht für einen Stapel schimmelige, unleserliche Schmierzettel zwei Wochen lang zu dieser Jahreszeit durch die Lande reisen lassen. Unser geheimnisvoller Fund ist eine Sensation und Ihr werdet vor Begeisterung danach lechzen, sie bestaunen zu dürfen.“ Bruder Arwik gab den Novizen einen Wink, die die Truhe ächzend auf das Schreibpult wuchteten, und übergab Jarl feierlich einen schweren Schlüssel. „Bitte, weidet Euch nach Belieben an diesem wundervollen Fund!“
Jarl ließ sich Zeit, zog umständlich dünne, spezialgewebte Stoffhandschuhe an, mit denen er sensibles Material berühren konnte, ohne Beschädigungen zu hinterlassen. Zunächst einmal betrachtete er die Truhe von außen, strich über das Holz, das warm und trocken war und keine Anzeichen von Feuchtigkeitsschäden aufwies. Die Nägel und Eisenbeschläge waren nicht angerostet, das Schloss war unbeschädigt.
„Sie ist sehr alt“, murmelte er. „Diese Form der Intarsienschnitzereien waren in der sechsten Haru-Dynastie üblich. Und hier sieht man Überreste von bronzehaltiger Farbe. Sie ist grün angelaufen, schaut, Bruder Arwik.“
„So alt?“ Die Augen des Vorstehers begannen vor Freude zu funkeln. Die sechste Haru-Dynastie hatte vor über tausendzweihundert Jahren das Land beherrscht. Die Könige dieser Zeit waren reiche Förderer von Kultur und Wissenschaft gewesen, was sich auch in der Architektur und Kunst widergespiegelt hatte.
„Es bedeutet nicht, dass die von Euch gefundenen Schriften ebenfalls aus der Haru-Zeit stammen. Die Truhe könnte bereits seit Jahrhunderten in einer Ecke gestanden haben, bevor sie zu diesem Zweck genutzt wurde. Wo genau habt Ihr dieses schöne Stück gefunden? Sie allein ist historisch ein Vermögen wert, weil sie makellos und vollständig erhalten ist.“
„In der alten Kapelle wurden wir fündig. Eigentlich ist das bloß ein Raum in den Katakomben, der für Gebete genutzt wird, wenn das Wetter zu schlecht ist, um nach draußen zur großen Kapelle zu gehen, wo wir dreimal täglich zum Gemeinschaftsgebet zusammenkommen“, entgegnete Bruder Arwik. „Wir wollten diesen Raum erweitern und begannen, an einer Wandseite das Gestein abzutragen. Eine schwierige und langwierige Arbeit. Und plötzlich entdeckten wir, dass jemand eine Mauer am Felsgestein hochgezogen und mit Kalk bedeckt hatte. In der Mitte kam ein Hohlraum zum Vorschein und wir fanden diesen lang verlorenen Schatz. Wir vermuten, dass er aus der Gründungszeit des Konvents stammt, die tatsächlich in der Haru-Dynastie liegt. Vielleicht sind es also Unterlagen vom Fürsten, der den Bau des Konvents gestattete und Gelder dafür bereitstellte. Das wäre von hoher historischer Bedeutung.“
„Dann schauen wir mal. Der Schlüssel hat mit in dem Hohlraum gelegen?“
„Ja, andernfalls hätten wir kaum gewusst, wie wir die Truhe öffnen sollen, ohne sie zu beschädigen. Bitte, Herr Magistratus, bitte!“ Bruder Arwik rieb sich vorfreudig die Hände, er konnte es offenkundig nicht erwarten, bis Jarl endlich den Schatz in Augenschein nahm. Also tat er ihm den Gefallen und offengestanden war er mittlerweile auch kribbelig. Der Fundort, das Alter der Truhe … Das konnte eine wirklich bedeutsame Entdeckung sein! Da wollte er nicht einmal anmerken, dass Magistratus eine schrecklich veraltete Bezeichnung war. Seit Jahrhunderten nannte man einen Gelehrten schon nicht mehr Magistrat, sondern Doktorius oder ganz schlicht Meister. Doch wen interessierte es?
Der Schlüssel glitt mühelos in das Schloss und ließ sich ohne jeden Widerstand drehen. Vorsichtig hob er den Deckel an. Nichts quietschte oder knarrte, was bei dem Alter dieser Truhe fast einem göttlichen Wunder gleichkam. Sie musste unter optimalen Bedingungen die Jahrhunderte ausgeharrt haben, luftdicht, in genau der richtigen, konstanten Temperatur.
„Ist es in den Katakomben warm?“, fragte er verwirrt. Dann fiel sein Blick auf den Inhalt der Truhe, und alle Fragen waren schlagartig vergessen.
Pergamente.
Hunderte. Es mussten Hunderte sein! Flach ausgebreitet statt gerollt, was unüblich war. Sie schienen so perfekt erhalten, als wären sie erst heute Morgen beschrieben worden. Kaum Risse oder Flecken. Die Tinte war nicht verblasst. Würde Jarl an Magie glauben, dann wäre dies die Bestätigung für ihr Wirken.
„Machut und Ehaarda!“, hauchte er ergriffen und schlug halb bewusst das Gebetszeichen. Dann hob er das oberste Pergament aus der Truhe. Sie waren nicht zum Buch gebunden, sondern lose gestapelt. Die Schrift war steil, sehr sauber und ordentlich, in einem Stil, wie er vor rund tausend Jahren üblich gewesen war.
„Das ist Laertha-Raetmannisch“, murmelte er. „Südlicher Dialekt, erkennbar an den Silben, die auf -ura enden. Die Deklination des Sidde-Genitivs … Da ist es, herauimi. Die Verbform von shiqua …“ Er fuhr mit dem Zeigefinger über den eng beschriebenen Text, las halblaut vor sich hin, bis er es fand. „… shequeri. Sehr eindeutig, genau wie ich es mir dachte.Jetzt brauche ich nur noch ein Akkusativobjekt oder wahlweise einen … Ha! Eine Inversion von Prädikat und Subjekt mit eingeschobener Zeitform im Konjunktiv. Karan eherja’ti maheura.“ Er blickte hoch, ein wenig irritiert davon, dass nach wie vor so viele Menschen um ihn herumstanden, ihn völlig ratlos anstarrten und kein Wort von dem verstanden hatten, was er gerade sagte. Mit Bruder Willem als einzige Ausnahme, der zumindest einige der Grammatikformeln zu kennen schien, denn er wirkte eher beeindruckt als überfordert.
„Diese Schriftstücke wurden in der Sprache verfasst, die in der Haru-Dynastie gesprochen worden ist. Auf den ersten Blick ist kein Hinweis zu erkennen, dass dies Fälschungen sein könnten, denn auch wenn die Pergamente geradezu unheimlich gut erhalten sind, gibt es heute lediglich eine Handvoll Menschen, die Laertha-Raetmannisch lesen können. Ich selbst wäre nicht in der Lage, einen solch fehlerfreien Text zu formulieren, das gebe ich gerne zu.“
„Sie sind also wirklich original?“, hakte Bruder Arwik aufgeregt nach. „Original und sehr, sehr alt?“
„Das sind sie“, entgegnete Jarl feierlich. „Habt Ihr sie angefasst?“
„Nein. Ich habe einen Blick darauf geworfen, erkannt, wie alt die Sprache sein muss und die Truhe hastig wieder verschlossen. Ich mag nicht in der Lage sein, die Worte zu verstehen. Aber ich weiß, dass die alte Kapelle seit der Gründerzeit nicht mehr angefasst wurde. Es gab keine Bauarbeiten darin, keinerlei Aufzeichnungen darüber, dass Gestein abgeschlagen wurde. Darum war ich mir sicher, dass dieser Schatz tatsächlich sehr, sehr alt sein muss.“
„Ihr habt meine volle Aufmerksamkeit, Bruder Arwik“, sagte Jarl langsam. „Dies ist ein großer, sehr bedeutsamer Fund. Vielleicht sogar der wichtigste Fund aus der Haru-Dynastie, der bis zum heutigen Tag gemacht werden konnte. Ich brauche einen trockenen Raum ohne Zugluft und mit gutem Sonnenlicht. Es darf nicht staubig sein, es dürfen außer Bruder Willem und mir keine Menschen dort ein- und ausgehen, um ihrer Arbeit nachzukommen und er sollte weder zu heiß noch zu kalt sein. Oh! Und eines kann ich Euch versichern, dies sind keine Arbeitsaufträge, Besitzurkunden oder Listen über Baumaterialien. Zumindest die ersten drei Pergamente haben nichts mit solchen Dingen zu tun, ich konnte ja noch nicht alles sichten. Dies ist eine zusammenhängende Erzählung, wie es mir scheint. Ein zeitgenössischer Lebensbericht möglicherweise. Solche Funde hat es bislang noch nie gegeben. Dies ist ein höchst wertvoller Schatz.“
Bruder Arwik starrte ihn eine volle Minute lang schweigend an. Dann fuhr er herum und rief: „Bruder Willem! Holt die Novizen! Bringt die Truhe und die beiden Schreibpulte in mein persönliches Schlafgemach. Ich werde bescheidener nächtigen, solange die Untersuchung andauert, und wenn es zehn Jahre werden sollten! Es gibt keinen besseren Raum als meinen eigenen.“
Bruder Willem stob davon. Jarl verschloss die Truhe sorgfältig, bevor die beiden anwesenden Novizen sich an dem unbezahlbar wertvollem Stück zu schaffen machen durften. Er konnte es kaum erwarten, endlich mit der Arbeit zu beginnen!
illem war sich noch immer nicht sicher, ob dies alles nicht ein seltsam schöner, bizarrer Traum war.
Bruder Arwik hatte mithilfe von zehn weiteren Brüdern sein Schlafgemach binnen zehn Minuten vollständig ausgeräumt. Zurückgeblieben war lediglich das Bett, das von nun an Meister Jarl benutzen sollte. Er würde im Laufe des Tages noch eine frische Matratzenfüllung, Daunenfederkissen und zusätzliche Decken erhalten. Auch für Willem richtete man eine Ecke als Notbehelf her, damit auch er in diesem Raum nächtigen konnte – denn er würde Meister Jarls Schreibgehilfe sein.
Die beiden Pulte waren hinübergetragen und ins bestmögliche Licht gerückt worden. Bruder Arwiks Raum besaß dicke Fensterscheiben aus durchsichtigem Glas. So etwas war ungeheuerlich teuer und darum allein dem Vorsteher zugedacht. Ein Feuer im Kamin sorgte für gleichmäßige Wärme und man konnte gewiss sein, dass man ihnen jeden erdenklichen Wunsch von den Lippen ablesen würde.
Dies alles hatte seine Gründe, und diese Gründe ließen sich auf Geld und Ansehen reduzieren.
Jedes Konvent war von den Geldern des Landesherrn abhängig. Für einen Fürsten war es wichtig, den Glauben zu fördern, darum zahlten die adligen Herrschaften gerne. Allerdings wurden die Gelder auf alle Konvente aufgeteilt und diejenigen mit höherem Ansehen erhielten mehr aus dem Topf als die anderen. Haytham war alt, es lag eher abseits der Haupthandelsrouten und es gab bislang nichts, um ihm Bedeutung zu schenken. Für die umliegenden Bauerndörfer war es wichtig, darum wurde es bis heute nicht geschlossen und mit fünfundsechzig Brüdern und vier Novizen war es auch nicht gerade klein. Wenn sich der Fund tatsächlich als historische Sensation, als noch nie dagewesener Schatz herausstellen würde, wäre Haytham schlagartig das wichtigste Konvent im Fürstentum Neraweide. Ihnen würden sehr viel höhere Bezüge zustehen. Forscher und Gelehrte würden herbeipilgern, um die Originaldokumente in Augenschein zu nehmen.
Willem konnte hören, wie Bruder Arwik mit Bruder Manart auf dem Flur stehend bereits den Bau eines neuen Gasthauses plante. Und überlegte, ob er den Fürsten um Geld für eine Glasvitrine bitten sollte, in der man die Pergamente ausstellen und zugleich vor Luft und Feuchtigkeit und Berührungen schützen könnte. Eine Glasvitrine kostete absurde Mengen an Geld!
„Falls ich einen Rat aussprechen dürfte …“, sagte Meister Jarl und wandte sich damit an Bruder Arwik. „Wartet bitte, bis Ihr Euren Landesherrn von der möglichen Bedeutung des Fundes unterrichtet. Zum einen habe ich erst eine vorläufige Bewertung ausgesprochen, da besteht nach wie vor die Möglichkeit des Irrtums. Zum anderen neigen Landesherren dazu, sich mit eigenen Augen von der Wichtigkeit überzeugen zu wollen und gehen dabei selten mit dem gebotenen Respekt vor, falls es noch nicht viel zu sehen gibt. Ihr solltet Euch also bei aller berechtigten Freude noch in Geduld üben, bis ich bessere und genauere Ergebnisse geliefert habe. In etwa einer Woche könnt Ihr dem Fürsten einen ersten Bericht schicken, der dann entsprechend auf breiteren Beinen stehen wird.“
„Ah, Ihr habt vollkommen recht.“ Bruder Arwik verzog missmutig das Gesicht. „Vernunft ist die Königin der Tugenden, Geduld ihre Tochter, wie man so gerne sagt. Leider fällt es mir schwer, Vernunft und Geduld walten zu lassen, wenn sich beides wie Zeitverschwendung anfühlt. Bitte, Herr Magistratus, was kann ich tun, um Euch behilflich zu sein?“
„Bruder Willem und ich werden Pergament benötigen. Sehr, sehr viel Pergament. Die Qualität spielt dabei kaum eine Rolle, Hauptsache, es ist halbwegs heil. Für Notizen ist auch minderwertiger Papyrus genehm.“
„Ich eile! Es gibt in unserem bescheidenen Archiv einige Pergamentrollen, die keine große Bedeutung besitzen. Briefe meiner Vorgänger, einige Liedtexte von mehr als geläufigen Kompositionen …“
Willem zuckte empfindlich zusammen. Welch ein Glück, dass Bruder Bortrim, sein Ausbilder, bereits zu krank und hinfällig war, um von diesem Plan erfahren zu können. Die Sammlung aller bedeutsamen Sinnsprüche, Weisheiten und Alltagsberichte von der Bruderschaft Haythams der letzten fünf Jahrhunderte in einem großen Pergamentbuch war das Lebenswerk des würdigen Archivars. Dazu die Liedersammlung sämtlicher weltlicher Melodien des Fürstentums, das von den Bauern teils seit tausenden Jahren unverändert und damit gelegentlich in unverständlichen Sprachen angestimmt wurde. Auch das war ein bedeutsames Werk und der Gedanke, dass ausgerechnet er, Willem es sein sollte, der vierzig Jahre sorgfältiger Arbeit zerstören sollte, schmerzte ihn sehr und dämpfte die Vorfreude auf das, was die Truhe an Geheimnissen preisgeben würde.
„Es tut mir leid“, sagte Meister Jarl und berührte ihn auf mitfühlende Weise am Arm. „Ich vermute, dass Ihr den Wert dieser Werke höher einschätzt als Euer Vorsteher?“
„Erheblich. Es steckt das Herzblut meines Meisters drin“, murmelte Willem niedergeschlagen. Pergament war unglaublich teuer. Je hochwertiger, desto unerschwinglicher wurde es. Das feinste und edelste Pergament wurde aus den Häuten ungeborener oder neugeborener Lämmer geschaffen. Glatt und weich war es, von bestmöglicher Qualität. Selbst Palimpseste, also zur Wiederverwendung abgeschabte oder anderweitig gereinigte Pergamente, die aus Lämmerhäuten hergestellt wurden, waren noch sehr teuer. Durch Beschnitt verlor man einiges an kostbarem Material und allein durch die geringe Größe von solch jungen Lämmern und Ziegen erhöhte sich der Preis noch weiter. Kuhhäute lieferten reichlich Pergament, doch es war grobporig und schwerer zu bearbeiten. Zudem wurden Kuhfelle auch anderweitig gebraucht.
Papyrus ließ sich nicht gut wiederverwenden. Die besten Papyrusstauden wuchsen zudem auf der fernen Insel Tehomola und es war sowohl teuer als auch gefährlich, das Grasgewächs einschiffen zu lassen, denn gerade in diesem Gebiet wüteten oft verheerende Stürme. Keine andere Schilfart als die tehomolanische lieferte ähnlich gute Ergebnisse. Die Herstellung war aufwändig und arbeitsreich, darum war auch minderwertiger Papyrus teuer. Und selbst das schönste Papyrus war in der Färbung und Qualität nicht mit Pergament zu vergleichen. Die Situation war unbefriedigend für jeden Schreiber, denn um neue Texte zu verfassen, mussten zu häufig alte zerstört werden.
„Ich werde mir die Werke anschauen“, murmelte Meister Jarl. „Wenn sie von solcher Bedeutung sind, wie Ihr sagt, lasse ich selbstverständlich nicht zu, dass sie vernichtet werden. Wir finden einen anderen Weg. Für den Anfang können wir verstärkt mit Papyrus arbeiten, um erst einmal Notizen zu machen und uns langsam an die Texte heranzutasten. Weder eine gute Übersetzung noch eine Kopie eines solch umfangreichen Werkes sind innerhalb weniger Tage zu erstellen.“
„Ich danke Euch für Eure Rücksicht“, flüsterte Willem überwältigt. Vielleicht gab es also doch noch Hoffnung, dass das Lebenswerk seines Meisters nicht sinnlos fortgeworfen werden musste!
„Hier ist alles, was wir an Papyrus und Pergament besitzen“, rief Bruder Arwik und strahlte, als würde er Jarl einen Topf aus Gold überreichen. „Ich ziehe mich nun zurück und lasse Euch ganz in Ruhe arbeiten. Wenn es an irgendetwas fehlt, gleichgültig was, schickt Bruder Willem und Ihr werdet erhalten, was uns menschenmöglich ist.“
„Ich danke Euch. Die Zusammenarbeit ist mir eine große Freude.“ Sie schüttelten einander die Hände. Dann endlich waren Jarl und Bruder Willem allein.
„Bitte helft mir, dass hier zu sortieren. Was sind die Schriftwerke, die Ihr gerne retten wollt?“, fragte Jarl. Wie erwartet zog der junge Priester die zwei dicksten gebundenen Werke aus dem riesigen Stapel, die Bruder Arwik nur mit Hilfe von einem Novizen herbeitragen konnte. Leider zögerte er auch bei einigen anderen beschriebenen Pergamenten und Büchern.
„Es wäre sinnlos, alles retten zu wollen“, sagte Bruder Willem unglücklich. „Dieses Gebetsbuch hat einige sehr schöne Illuminationen, seht Ihr? Aber es ist kein einzigartiges Werk. Nichts, was zwanghaft für die Nachwelt erhalten werden muss.“ Er schlug ein schmales Büchlein auf, das schon sehr viel bessere Tage gesehen hatte. Die Bilder waren wirklich schön, auch die Schrift war klar und sauber und gut lesbar. Es würde nicht viel Arbeit kosten, das Büchlein zu restaurieren. Jarl legte es entschlossen auf den Stapel der zu erhaltenden Werke. Dieser wuchs in der folgenden halben Stunde noch weiter an. Es gab eine Reihe von Pergamenten, die tatsächlich wiederverwertet werden konnten und genug Papyrus, um mit der Arbeit beginnen zu können. Das war der wichtigste Punkt.
Zuletzt griff Jarl nach den Büchern, die Bruder Willem so sehr am Herzen lagen. Er verstand sofort, warum. Es waren kostbare Kleinode von unschätzbarem Wert! Was Bruder Bortrim dort im Laufe seines Lebens zusammengetragen hatte, war großartig! Es gehörte mindestens ebenso in eine Glasvitrine wie der Fund, auf den Bruder Arwik derartig stolz war, als hätte er ihn eigenhändig dort in der Kapelle vergraben.
„Ich habe gute Neuigkeiten für Euch“, sagte er zu Bruder Willem. „Das Lebenswerk Eures Meisters wird nicht nur erhalten bleiben, sondern die Grundlage unseres eigenen Werkes bilden. Bruder Bortrims Bücher werden zu höchsten Ehren kommen, das kann ich Euch versprechen.