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Die provokante Schrift zur Aktualität Hegels Hegel ist veraltet. Aber gerade deshalb – so die Pointe von Meisterdenker Slavoj Žižek – können wir durch seine Linse die Gegenwart besser verstehen. Anstatt also zu ermitteln, was an Hegels Denken heute noch aktuell ist, dreht Žižek die Frage um: Wie sieht unsere Gegenwart aus, wenn wir sie mit Hegel betrachten? Und es stellt sich heraus: Wir verstehen sie viel besser, gerade weil Hegel sie sich in keiner Weise vorstellen konnte. Žižeks Gegenstand ist das »verdrahtete Gehirn«: Was wird geschehen, wenn der menschliche Geist sich tatsächlich mit einer Maschine verdrahten kann? Welche Auswirkungen wird das auf unsere Subjektivität haben? Werden wir noch vom Unbewussten sprechen können? Wie lassen sich Geist und Materie dann denken? Und was wird aus der Freiheit? Unter Rückgriff auf Denker wie u.a. Johann Gottlieb Fichte, Jacques Lacan, Ray Kurzweil oder Yuval Noah Harari, und unter Zuhilfenahme zahlreicher Hollywood-Filme als Beispiel, diskutiert Žižek die Implikationen einer technischen Vision. Ein Thema, das für Hegel undenkbar war – und damit bestens geeignet, seine Aktualität zu erweisen. Folglich durchdenkt es Žižek in Hegelscher Manier und beweist damit: »Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken erfasst«.
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Seitenzahl: 379
Slavoj Žižek
Hegel im verdrahteten Gehirn
Aus dem Englischen von Frank Born
FISCHER E-Books
Im Jahr 2020 feiern wir den 250sten Geburtstag Hegels. Ist Hegel nur ein historisches Kuriosum oder geht uns sein Denken auch heute noch etwas an? »Un jour peut-être, le siècle sera deleuzien«, schrieb Michel Foucault vor Jahren in einer Rezension zu einem Buch von Gilles Deleuze.[1] Die Hypothese des vorliegenden Büchleins lautet: War das 20. Jahrhundert in gewissem Sinne – nicht deleuzianisch, sondern – marxistisch, so wird das 21. hegelianisch werden. Diese Behauptung kann eigentlich nur als Irrsinn erscheinen – ist Hegel in unserer Welt der Quantenphysik und der Evolutionsbiologie, der Digitalisierung, des globalen Kapitalismus und des Totalitarismus nicht schlicht und einfach out? Als Erstes wollen wir festhalten, dass Hegel all dies nicht etwa kommen sah oder eine Vorahnung davon hatte – nein, hatte er nicht, und er wusste auch, dass dies unmöglich ist. Das Hegel’sche »absolute Wissen« bedeutet ja nicht, dass Hegel »alles wusste«; es steht vielmehr exakt für die Erkenntnis einer unüberwindlichen Grenze. Erinnern wir uns daran, wie emphatisch sich Hegel in der Vorrede der Philosophie des Rechts gegen »das Belehren, wie die Welt sein soll« ausspricht. Die Philosophie komme dazu, schreibt er,
ohnehin […] immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. […] Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.[2]
Robert Pippin hat auf die offensichtliche (wenn auch selten gezogene) Konsequenz aus dieser Behauptung hingewiesen: Sie muss auch für den Staatsbegriff gelten, den Hegel selbst in der Philosophie des Rechts entwickelt, denn dass er diesen entwickeln kann, bedeutet ja, dass über dem, was Hegel-Leser meist für die normative Beschreibung eines vorbildlichen Vernunftstaats halten, bereits die »Dämmerung hereingebrochen« sein muss. Hegels Denken steht daher für eine radikale Offenheit gegenüber der Zukunft. Es gibt darin keine Eschatologie, kein Bild einer leuchtenden (oder düsteren) Zukunft, auf die unsere Epoche zusteuert. Aus demselben Grund scheint es nicht minder offensichtlich, dass Hegel als Interpretationslinse für unsere Gegenwart die denkbar schlechteste Wahl ist. Er war zwar vollkommen offen gegenüber der Zukunft, aber war er nicht genau darum unfähig, diese in irgendeiner Weise zu beleuchten?
Wir behaupten hier genau das Gegenteil dieser »offensichtlichen« Plattitüde: Gerade weil es so »unzeitgemäß« ist, liefert Hegels Denken einzigartige Perspektiven, um die Aussichten und Gefahren unserer Zeit zu erkennen. Heute Hegelianer zu sein heißt nicht, ein neues Ideal (der vollständigen Anerkennung, des Vernunftstaats, der wissenschaftlichen Erkenntnis) zu konstruieren und dann zu untersuchen, inwiefern und warum wir es noch nicht erreicht haben und wie wir es erreichen können. Es bedeutet vielmehr, als echter Nachhegelianer zu agieren und Hegel nicht als Konklusion, sondern als Ausgangspunkt zu begreifen und zu fragen: Wie würde unser gegenwärtiger Zustand auf dieser Grundlage erscheinen? Lässt Hegel uns möglicherweise ausgerechnet die Phänomene besser (das heißt: richtig) verstehen, die eindeutig nachhegelianisch sind und für das stehen, was »Hegel sich nicht vorstellen konnte«?
Doch auf welchen Hegel beziehe ich mich hier eigentlich? Von wo aus spreche ich?[3] Ganz stark vereinfacht könnte man sagen, dass meine philosophische Haltung durch die Trias aus Spinoza, Kant und Hegel definiert wird. Spinoza stellt wohl den Höhepunkt der realistischen Philosophie dar: Es gibt eine substanzielle Realität da draußen und wir können mittels unserer Vernunft Kenntnis von ihr erlangen und den Schleier der Illusionen lüften. Kants transzendentale Wende führt hier eine radikale Kluft ein: Wir können nie dahinterkommen, wie die Dinge an sich sind, unsere Vernunft ist auf das Reich der Erscheinungen beschränkt, und wenn wir versuchen, über dieses Reich hinaus zur Totalität des Seins zu gelangen, so verstrickt sich unser Verstand notwendig in Antinomien und Inkonsistenzen. Hegel postuliert nun, dass es keine Realität an sich jenseits der Erscheinungen gibt, was freilich nicht bedeutet, dass es nichts weiter gibt als das Spiel der Erscheinungen. Die phänomenale Welt ist von der Barre der Unmöglichkeit gekennzeichnet, doch hinter dieser Barre gibt es nichts, keine andere Welt, keine positive Realität. Wir kehren mithin nicht zum vorkantischen Realismus zurück; vielmehr ist das, was für Kant die Limitation unseres Wissens ist – die Unmöglichkeit, zum Ding an sich zu gelangen –, in dieses Ding selbst eingeschrieben.
Aber kann Hegel die Rolle als unhintergehbarer Horizont unseres Denkens heute noch erfüllen? Findet der wahre Bruch mit dem traditionellen metaphysischen Universum, der Bruch, der die Koordinaten unseres Denkens definiert, nicht später statt? Das sicherste Anzeichen für diesen Bruch ist das ungute Gefühl, das uns überkommt, wenn wir heute Vertreter der klassischen Metaphysik lesen – irgendetwas sagt uns, dass ein solches Denken einfach nicht mehr möglich ist … Und überkommt uns nicht ein ebensolches Gefühl, wenn wir Hegels Spekulationen über die absolute Idee und dergleichen lesen? Es gibt eine Reihe von Kandidaten für jenen Bruch, der dafür sorgt, dass Hegel nicht mehr unser Zeitgenosse ist, angefangen mit der nachhegelianischen Wende durch Schelling, Kierkegaard und Marx, doch lässt sich diese Wende leicht als immanente Umkehrung des Themas des Deutschen Idealismus erklären. Einen neuen und überzeugenderen Vorschlag mit Blick auf die vorherrschenden philosophischen Fragen der letzten Jahrzehnte macht Paul Livingston, der den Bruch in seinem Buch The Politics of Logic in jenem neuen Raum verortet, der durch die Namen »Cantor« und »Gödel« symbolisiert wird.[4] Dabei steht »Cantor« natürlich für die Mengenlehre, die uns durch rekursive Prozeduren (leere Menge, Menge aller Mengen) zum Eingeständnis einer Unendlichkeit von Unendlichkeiten zwingt, während »Gödel« für die nach ihm benannten Unvollständigkeitssätze steht, welche – um es extrem vereinfacht zu sagen – zeigen, dass die Widerspruchsfreiheit eines Axiomensystems nicht aus diesem selbst abgeleitet werden kann, da es notwendigerweise Aussagen hervorbringt, die es weder beweisen noch widerlegen kann.
Mit diesem Bruch treten wir in ein neues Universum ein, welches uns dazu zwingt, die Idee einer einheitlichen Sicht der (gesamten) Wirklichkeit aufzugeben. (Selbst der Marxismus lässt sich – jedenfalls in seiner vorherrschenden Form – noch als eine Denkweise betrachten, die dem alten Universum angehört, entwirft er doch ein recht einheitliches Bild des gesellschaftlichen Ganzen, in manchen Versionen sogar der gesamten Realität.) Das neue Universum hat freilich nicht das Geringste mit dem Irrationalismus der Lebensphilosophie zu tun, deren erster Vertreter Arthur Schopenhauer war, der Idee also, dass unser rationaler Verstand nur eine dünne Oberfläche ist und dass die wahre Grundlage der Realität irrationale Triebe sind. Wir bleiben im Reich der Vernunft, und dieses Reich wird seiner Konsistenz von innen her beraubt: Immanente Inkonsistenzen der Vernunft bedeuten nicht, dass es eine tiefere Realität gibt, die sich der Vernunft entzieht, vielmehr sind diese Inkonsistenzen in gewissem Sinne »die Sache selbst«. Wir befinden uns mithin in einem Universum, in dem Inkonsistenzen kein Zeichen unserer epistemologischen Verwirrung sind, der Tatsache also, dass wir »die Sache selbst« (die per definitionem nicht inkonsistent sein kann) verpasst haben, sondern im Gegenteil ein Zeichen dafür, dass wir das Reale berührt haben.
Die Wurzel all dieser Inkonsistenzen liegt natürlich in den Paradoxien der Selbstbezüglichkeit, der Tatsache, dass eine Menge zu einem ihrer eigenen Elemente wird, dass eine Menge eine leere Menge als Teilmenge enthält, als Vertreterin ihrer selbst unter ihren Teilmengen. Aus hegelianisch-lacanianischer Sicht sind diese Paradoxien ein Hinweis auf das Vorhandensein von Subjektivität: Das Subjekt kann nur im Ungleichgewicht zwischen einer Gattung und ihrer Art entstehen, und die Leere der Subjektivität ist letztlich die leere Menge als die Art, in der eine Gattung sich selbst in ihrer gegensätzlichen Bestimmung begegnet, wie Hegel gesagt hätte. Doch wie kann dasselbe Merkmal ein Zeichen der Subjektivität und gleichzeitig ein Zeichen dafür sein, dass wir das Reale berührt haben? Berühren wir das Reale nicht gerade dann, wenn es uns gelingt, unseren subjektiven Standpunkt auszuradieren und die Dinge wahrzunehmen, »wie sie wirklich sind«, unabhängig von unserem subjektiven Standpunkt? Sowohl Hegel als auch Lacan lehren uns das genaue Gegenteil: Jedes Bild der »objektiven Realität« wird schon durch (transzendentale) Subjektivität konstituiert, und wir berühren das Reale nur, wenn wir den Schnitt-im-Realen der Subjektivität selbst in unser Sichtfeld mit einbeziehen.
Die Metaphysik der Subjektivität behandelt diese Paradoxien mittels des Begriffs der Reflexivität als Grundmerkmal des Selbstbewusstseins, der Fähigkeit unseres Geistes, sich auf sich selbst zu beziehen, sich nicht nur Gegenständen, sondern auch seiner selbst und der Art und Weise, wie er sich auf die Gegenstände bezieht, bewusst zu sein. Die Grundgeste der Reflexivität besteht darin, einen Schritt zurückzutreten und in das Bild oder die Situation, die man beobachtet oder analysiert, die eigene Gegenwart mit einzubeziehen – nur so können wir ein vollständiges Bild erhalten. Wenn der Detektiv in einem Kriminalroman den Tatort inspiziert, muss er seine eigene Präsenz, seinen eigenen Blick mit einbeziehen – manchmal wurde das Verbrechen buchstäblich für ihn inszeniert, um seinen Blick anzuziehen, um ihn in die Geschichte hineinzuziehen. In einigen Krimis stellt der Detektiv bei den Ermittlungen in einem Mordfall plötzlich fest, dass er dessen eigentlicher Adressat ist, das heißt, dass der Mörder die Tat als Warnung an ihn geplant hat. Ganz ähnlich liegt der Fall in einem der Perry-Mason-Romane, in dem die Titelfigur dem Verhör eines mordverdächtigen Paares durch die Polizei beiwohnt und zunächst nicht verstehen kann, warum der Ehemann bereitwillig und in allen Details schildert, was das Paar am Tag des Mordes getan hat – bis ihm klar wird: Der wahre Adressat der detaillierten Ausführungen des Ehemanns ist dessen Frau; er nutzte die Gelegenheit des Zusammentreffens (die beiden waren im Gefängnis getrennt voneinander untergebracht), um sie von dem falschen Alibi in Kenntnis zu setzen, an das sie sich beide halten sollten … Man kann sich auch den Fall vorstellen, dass die Geschichte, die ein Mordverdächtiger der Polizei erzählt, eine verkappte Erpressungsdrohung an einen der anwesenden Polizeibeamten ist. Die Gemeinsamkeit all dieser Fälle liegt darin, dass man den Adressaten der jeweiligen Aussage identifizieren muss, um sie verstehen zu können. Aus diesem Grund braucht Sherlock Holmes seinen Watson und Hercule Poirot seinen Hastings, Figuren, die für den Aspekt des gesunden Menschenverstands im großen Anderen stehen, für den Blick, den der Mörder im Sinn hatte, als er die Tat beging.
Mit dem Bruch von Cantor/Gödel wird das ganze Ausmaß selbstreferenzieller Paradoxien spürbar, die mit der Subjektivität einhergehen: Wenn wir unsere eigene Position erst einmal in das Bild des Ganzen einbezogen haben, führt kein Weg mehr zurück zu einem einheitlichen Weltbild. Der Cantor/Gödel-Bruch macht eine konsistente Totalität mithin unmöglich – wir müssen uns zwischen Totalität und Konsistenz entscheiden und können nicht beides gleichzeitig haben. Verkörpert wird diese Entscheidung von zwei Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts, die Livingston als generisch (Badious Haltung der Wahl der Konsistenz auf Kosten der Totalität) beziehungsweise paradoxal-kritisch bezeichnet (die Wahl der Totalität auf Kosten der Konsistenz – hier wirft Livingston, wenig überzeugend, Wittgenstein, Heidegger, Lévi-Strauss, Foucault, Deleuze, Derrida, Agamben und Lacan in einen Topf). An dieser Stelle fällt uns die erste Merkwürdigkeit an Livingstons Gebäude auf, ein überraschendes Ungleichgewicht: Die paradoxal-kritische und die generische Haltung werden als zwei Weisen des Umgangs mit dem neuen Universum vorgestellt, welches die konsistente Totalität unmöglich macht, aber während auf der einen Seite eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Denker präsentiert wird, steht auf der anderen nur ein einziger Name: Badiou. Die Implikation dieses Ungleichgewichts ist klar: Es zeigt, dass es in Livingstons Buch in Wahrheit darum geht, eine geeignete paradoxal-kritische Antwort auf Badious generischen Ansatz zu finden. Livingston behandelt Badiou mit großem Respekt und ist sich durchaus bewusst, dass die logischen und politischen Grundlagen von dessen generischer Position weitaus präziser ausgearbeitet werden als dies bei den Hauptvertretern des paradoxal-kritischen Ansatzes der Fall ist. Was Badiou so wichtig macht, ist, dass er seine Haltung zu dem in Livingstons Buchtitel angedeuteten Feld der »Politik der Logik« ausführlich darlegt: die tiefgreifenden politischen Auswirkungen des philosophisch-logischen Themas der Konsistenz, Totalität und der Paradoxien der Selbstreferenz. Bilden diese Paradoxien nicht den Kern jedes Machtgefüges, das sich auf unrechtmäßige Weise durchsetzen und dann rückwirkend seine Machtausübung legitimieren muss?
So sehr ich Livingstons Ansatz schätze, gibt es doch auch große Unterschiede zwischen uns. Erstens ist die grundlegende Dualität der Gedankenwelt vor dem Cantor/Gödel-Bruch in meinen Augen nicht die zwischen ontotheologisch und kriteriologisch, sondern die zwischen ontologisch (im Sinne einer realistischen universellen Ontologie) und transzendental – zwischen Spinoza und Kant, um zwei Beispiele zu nennen. Zweitens findet der wahre Bruch mit diesem Universum schon bei Hegel statt, und das nachhegelianische Denken ist diesbezüglich ein Rückschritt. Livingstons Haltung gegenüber Hegel ist klar: Er räumt zwar ein, dass Hegels Dialektik ein exemplarischer Fall einer inkonsistenten Totalität sei, behauptet aber andererseits, dass diese Inkonsistenz in Hegels Denken letztlich zu einer größeren Totalität der rationalen Selbstentwicklung »aufgehoben« werde, so dass Antagonismen und Widersprüche auf untergeordnete Momente des Einen reduziert würden. Auch wenn diese Sichtweise fast schon selbstverständlich erscheinen mag, sollte man sie dennoch hinterfragen. Hegel unterscheidet sich von der paradoxal-kritischen Haltung nicht dadurch, dass bei ihm alle Antagonismen und Widersprüche zum Einen der dialektischen Totalität »aufgehoben« werden – die Differenz ist viel subtiler.
Um sie zu erklären, werden wir einen Umweg über Lacan nehmen. Für einen Lacanianer ist sofort klar, dass Livingstons Dualität aus generisch und paradoxal-kritisch exakt der männlichen beziehungsweise weiblichen Seite der »Formeln der Sexuierung« entspricht. Badious generische Position ist eindeutig »männlich«: Es gibt die allgemeine Seinsordnung (deren ontologische Struktur in Badious Werk detailliert beschrieben wird) und die Ausnahmen der Wahrheitsereignisse, die gelegentlich auftreten können. Die Seinsordnung ist konsistent und kontinuierlich, sie folgt strikten ontologischen Regeln und lässt keine selbstreferenziellen Paradoxien zu; es ist ein Universum ohne eine bereits bestehende Einheit, ein Universum aus Mannigfaltigkeiten von Mannigfaltigkeiten, aus vielen Welten und vielen Sprachen. Badiou erteilt hier der traditionellen Auffassung, nach der das Leben einer Kreisbewegung folgt und letztlich alles wieder zu Staub wird, eine wichtige Lektion:[5] Dieser geschlossene Kreislauf der Realität, ihres Entstehens und Vergehens, ist nicht alles; von Zeit zu Zeit geschieht ein Wunder, die Kreisbewegung des Lebens wird durch das Hereinbrechen von etwas außer Kraft gesetzt, das die klassische Metaphysik und Theologie die Ewigkeit nannte, einem Moment der Stase im doppelten Wortsinn (als Fixierung, Stillstand der Bewegung des Lebens und gleichzeitig als Stauung, Störung, Unruhe, als Aufkommen von etwas, das sich dem regelmäßigen Fluss des Lebens widersetzt). Als Beispiel kann man hier an das Verliebtsein denken: Es ist eine grundlegende Störung meines gewohnten Lebens und zugleich wird mein Leben durch die Fixierung auf die Geliebte eingefroren … Im Gegensatz zu dieser Logik der allgemeinen Seinsordnung und ihrer ereignishaften Ausnahmen konzentriert sich der paradoxal-kritische Ansatz auf die immanenten Inkonsistenzen und Störungen der Seinsordnung selbst. Es gibt keine Ausnahme vom Sein – nicht, weil es nichts außer der Seinsordnung gibt, sondern weil die paradoxal-kritische Analyse, spekulativ ausgedrückt, zeigt, dass diese Ordnung schon in sich ihre eigene Ausnahme ist und durch ständige Verletzungen ihrer eigenen Regeln aufrechterhalten wird. Auch wenn Badiou in präzisen Worten beschreibt, wie die Löcher und Lücken (zwischen Präsenz und Repräsentation) in der Seinsordnung ein Ereignis möglich machen, so definiert er das Ereignis doch als wundersames Eindringen, welches die Kontinuität des Seins stört, als etwas, das selbst nicht Teil des Seins ist.[6]
Aus paradoxal-kritischer Sicht wird die Seinsordnung freilich konstitutiv von innen her pulverisiert und gestört – mit Freud und vor dem Hintergrund, dass Badiou die menschliche Seinsordnung beständig als überlebensorientierte Suche nach Genüssen bezeichnet, könnte man sagen, dass Badiou die Dimension dessen vernachlässigt, was Freud den »Todestrieb« nennt, die zerstörerische Kraft des Nichtseins im Herzen des Seins. Auf diese Weise gehen wir von der »männlichen« zur »weiblichen« Logik über: Nicht die allgemeine Seinsordnung wird von ereignishaften Ausnahmen gestört, sondern das Sein selbst ist von einer grundlegenden Unmöglichkeit/Nichtganzheit gekennzeichnet.
Livingston weist deutlich auf den Preis hin, den Badiou für seine universelle und konsistente mathematische Ontologie zahlen muss. Er muss Mannigfaltigkeit und Leere als Grundkonstituenten der Realität setzen, »Mannigfaltigkeiten von Mannigfaltigkeiten«, die aus der Leere entstehen und nicht durch die Selbstdifferenzierung des Einen. Im Cantor/Gödel-Universum gelangt man zu einer konsistenten Universalität nur, wenn das Eine auf der grundlegendsten Ebene ausgeschlossen wird – das Eine entsteht in einem zweiten Schritt, als Resultat der Operation des Zählens, die aus der Mannigfaltigkeit eine Welt macht. Auf dieser Ebene gibt es auch eine irreduzible Mannigfaltigkeit von Welten – Körper, Welten, Sprachen, sie alle sind mannigfaltig und lassen sich unter keinerlei Eines totalisieren. Die einzige echte Universalität, die einzige Universalität, die imstande ist, ein Eines durchzusetzen, das die Mannigfaltigkeit von Körpern und Sprachen (und auch von »Welten«) durchqueren kann, ist die Universalität eines Ereignisses. In der Politik gibt es auf der Ebene des Seins nur Mannigfaltigkeiten von Körpern und Sprachen oder von »Welten« (Kulturen), weshalb auf dieser Ebene nicht mehr zu erreichen ist als eine Art von liberalem Multikulturalismus und Toleranz gegenüber irreduzibler Differenz; jeder Versuch zur Durchsetzung eines universellen Projekts, das alle Kulturen vereinen würde – wie der Kommunismus – muss als tyrannische, gewaltsame Zumutung erscheinen. Im Gegensatz zu Badious generischem Ansatz akzeptiert der paradoxal-kritische Ansatz die ontologische Priorität des Mannigfaltigen gegenüber dem Einen nicht. Natürlich wird jedes Eine unterminiert, ist verfehlt und durch Antagonismen und Inkonsistenzen zerstückelt; hier jedoch ist es von Anfang an die Unmöglichkeit, die den Raum für die Mannigfaltigkeit öffnet. In Bezug auf die Sprache hat die Bibel mit ihrem Gleichnis vom Turmbau zu Babel recht: Die Mannigfaltigkeit der Sprachen setzt das Scheitern der einen Sprache voraus. Darauf zielt Hegel mit seinem Begriff der »konkreten Allgemeinheit« ab: die Verkettung von Fehlschlägen. Vielfältige Staatsformen entstehen, weil der Staat an sich schon ein inkonsistenter/antagonistischer Begriff ist.
Anders ausgedrückt: Die Grundbewegung der konkreten Allgemeinheit besteht darin, die Ausnahme von einer Allgemeinheit in dasjenige Element zu verwandeln, das dieser Allgemeinheit zugrunde liegt. Sehen wir uns ein vielleicht etwas überraschendes Beispiel an, das der Juden und des Staates Israel. Alain Finkielkraut schrieb: »Die Juden haben heute den Weg der Verwurzelung gewählt.«[7] Man kann in dieser Behauptung unschwer Anklänge an Heidegger erkennen, der in seinem berühmten Spiegel-Interview gesagt hatte, dass »alles Wesentliche und Große nur daraus entstanden ist, daß der Mensch eine Heimat hatte und in einer Überlieferung verwurzelt war.«[8] Ironischerweise haben wir es hier mit dem seltsamen Versuch zu tun, antisemitische Klischees zur Legitimierung des Zionismus aufzubieten: Der Antisemitismus wirft den Juden vor, wurzellos zu sein, und es scheint so, als versuche der Zionismus diesen Fehler dadurch zu korrigieren, dass er den Juden nachträglich Wurzeln gibt … So ist es kein Wunder, dass viele konservative Antisemiten die Expansion des Staates Israel frenetisch unterstützen. Das Problem ist nur, dass die Juden heute in einem Gebiet Wurzeln zu schlagen versuchen, das für Tausende von Jahren nicht ihnen gehörte, sondern von anderen Menschen bevölkert wurde. Die Lösung liegt nun nicht darin, die Juden zu einer weiteren verwurzelten Nation zu renormalisieren, sondern die Perspektive umzukehren: Was wäre, wenn die Juden als die Ausnahme ein wahrer Stellvertreter der Allgemeinheit wären? Was, wenn wir auf der grundlegendsten Ebene »alle Juden sind«, wenn es der eigentliche Urzustand des Menschseins ist, keine Wurzeln zu haben, und diese nur eine sekundäre Erscheinung sind, um unsere konstitutive Wurzellosigkeit zu verschleiern?
Hegel geht hier jedoch einen Schritt über die von Livingston beschriebene paradoxal-kritische Haltung hinaus. Für ihn ist die Einheit der Selbstidentität nicht nur immer inkonsistent, gespalten, antagonistisch und so weiter – die Identität selbst ist die Behauptung radikaler (Selbst-)Differenz. Zu sagen, dass etwas mit sich selbst identisch ist, heißt, dass es sich von all seinen besonderen Merkmalen unterscheidet, dass es nicht auf diese reduziert werden kann. »Eine Rose ist eine Rose« bedeutet, dass eine Rose mehr ist als alle ihre Merkmale – es gibt ein je ne sais quoi, das sie zu einer Rose macht, etwas, das »in der Rose mehr ist als die Rose selbst«. Dieses letzte Beispiel deutet schon darauf hin, dass wir es hier auch mit dem zu tun haben, was Lacan das Objekt a (objet petit a) nennt, jene mysteriöse Unbekannte X jenseits aller Eigenschaften, die ein Objekt zu dem macht, was es ist, und seiner Einzigartigkeit zugrunde liegt. Genauer gesagt oszilliert dieses »Mehr« zwischen dem Erhabenen und dem Lächerlichen oder Vulgären, ja sogar dem Obszönen. Die Aussage »Gesetz ist Gesetz« bedeutet zum Beispiel, dass ein Gesetz, auch wenn es ungerecht und willkürlich, ja sogar ein Instrument der Korruption ist, dennoch ein Gesetz bleibt und geachtet werden muss. Die Minimalstruktur der Identität (die immer die Selbstidentität ist, da sie, wie Hegel wusste, eine Kategorie der Reflexion ist) ist daher 1-1-a: Ein Ding ist es selbst im Kontrast zu seinen bestimmenden Eigenschaften, und Objekt a ist der unergründliche Exzess, der diese Identität aufrechterhält.
Dies führt uns schließlich zum feinen Unterschied zwischen Hegel und dem paradoxal-kritischen Ansatz. Es ist nicht so, dass Hegel Inkonsistenzen und Antagonismen einer höheren Einheit unterordnet; im Gegenteil: Identität, die Einheit des Einen, ist für ihn eine Form der Selbstdifferenzierung. Identität ist zum Extrem der Selbstbezüglichkeit gebrachte Differenz. Die Einheit des Einen wird nicht permanent von Rissen und Inkonsistenzen bedroht, sie ist der Riss als solcher. Das bedeutet, dass die Hegel’sche Totalität paradox und inkonsistent, aber nicht »kritisch« in dem Sinne ist, dass sie sich dem Machtzentrum widersetzt; sie ist nicht im ewigen Kampf zur Untergrabung oder Verschiebung des Machtzentrums gefangen, auf der Suche nach Rissen und »unentscheidbaren« Exzessen, die das Machtgefüge stören und dekonstruieren. Oder um es in der hegelianischen Begrifflichkeit der spekulativen Identität zu formulieren: Macht ist ihre eigene Übertretung, gegründet auf Verletzungen ihrer eigenen Gründungsprinzipien. Der paradoxal-kritische Ansatz bringt zwar die für unsere Identitäten konstitutiven Inkonsistenzen ans Licht, muss aber aufgrund seiner kritischen Haltung das Ziel verfolgen, diese zu überwinden; dieses Ziel ist natürlich unerreichbar, es wird auf ewig verfehlt und aufgeschoben, weshalb sich der paradoxal-kritische Ansatz als endlosen Prozess begreift – Derrida, der paradoxal-kritische Denker schlechthin, beschrieb die Dekonstruktion gerne als endloses Streben nach Gerechtigkeit und sprach in Bezug auf die Politik von einer »kommenden Demokratie« (die nie schon da ist).
In deutlichem Gegensatz zu dieser Haltung ist Hegel kein kritischer Denker. Seine Grundhaltung ist die der Versöhnung – nicht im Sinne eines langfristigen Zieles, sondern als Tatsache, die uns mit der unerwarteten, bitteren Wahrheit des verwirklichten Ideals konfrontiert. Wenn es ein Hegel’sches Motto gibt, dann lautet es in etwa: Finde eine Wahrheit darin, wie die Dinge falsch laufen! Hegels Botschaft ist nicht der »Geist des Vertrauens« (so lautet der Titel des jüngsten Buchs von Robert Brandom über Hegels Phänomenologie),[9] sondern eher der Geist des Misstrauens – er geht von der Prämisse aus, dass jedes große menschliche Projekt misslingt und nur auf diese Weise seine Wahrheit bezeugt. Die Französische Revolution wollte universelle Freiheit und gipfelte in der Schreckensherrschaft, der Kommunismus wollte die globale Emanzipation und brachte den stalinistischen Terror hervor … Hegels Lehre ist somit eine abgewandelte Version des berühmten Slogans »Freiheit ist Sklaverei« des Großen Bruders aus George Orwells 1984: Jeder Versuch, die Freiheit direkt durchzusetzen, endet in Sklaverei. Was immer Hegel also ist, er ist gewiss kein Denker des vollkommenen Ideals, dem wir uns endlos nähern. Heinrich Heine (der in Hegels letzten Jahren dessen Student war) verbreitete die Geschichte, dass er dem Philosophen einmal gestanden habe, er könne dessen Formel »Alles, was ist, ist vernünftig« nicht zustimmen, worauf Hegel sich vorsichtig umgeblickt und leise zu seinem Schüler gesagt haben soll: »Es könnte auch heißen: Alles, was vernünftig ist, muß sein.«[10] Selbst wenn die Anekdote sachlich richtig sein sollte, philosophisch ist sie eine Lüge. Sofern Heine sie nicht frei erfunden hat, stellt sie den Versuch Hegels dar, die schmerzliche Wahrheit seines Denkens vor seinem Schüler zu verbergen.
Der Verzicht auf die kritische Haltung impliziert nicht den Verzicht auf sozialen Wandel, er erhöht nur den Einsatz für einen solchen Wandel. Sehen wir uns den heiklen Fall der Aufnahme von Einwanderern an. Pia Klemp, die Kapitänin des Schiffs Iuventa, das Flüchtlinge aus dem Mittelmeer rettete, schloss ihre Begründung, warum sie die Médaille Grand Vermeil de la Ville de Paris, die höchste Verdienstmedaille der Stadt, ablehnte, mit der Parole: »Papiere und Unterkunft für alle! Freizügigkeit und Bleiberecht!«[11] Wenn damit gemeint ist, dass – um es kurz zu machen – jeder Mensch das Recht hat, in ein Land seiner Wahl zu ziehen, und dieses Land die Pflicht hat, ihm Aufenthalt zu gewähren, dann haben wir es mit einer abstrakten Vision im strengen Hegel’schen Sinne zu tun, einer Vision, die den komplexen Kontext der gesellschaftlichen Totalität ignoriert. Auf dieser Ebene kann das Problem nicht gelöst werden. Die einzig wahre Lösung liegt darin, das globale Wirtschaftssystem zu verändern, das die Einwanderer hervorbringt. Es geht also darum, von der direkten Kritik einen Schritt zurück zur Analyse des immanenten Antagonismus zu gehen, der dem kritisierten Phänomen zugrunde liegt, und den Fokus darauf zu legen, welchen Anteil unsere kritische Position selbst an dem Phänomen hat, welches sie kritisiert.
Die Hegel’sche Lehre ist daher in Bezug auf den Versuch, die Welt zu verändern, verzweifelt optimistisch: Derartige Versuche erreichen nie ihr Ziel, ihr wiederholtes Scheitern kann jedoch eine neue Seinsform hervorbringen. Ja, der Chavismus in Venezuela ist gescheitert, dasselbe gilt für Syriza in Griechenland, und auch der chinesische Kommunismus kann nicht unser Ideal sein, aber alle diese Prozesse tragen zum verborgenen Weben des Geistes bei, welches unvorhergesehene neue Visionen – oder Gräuel – hervorbringen kann.
Damit sind wir beim Thema des vorliegenden Buches. Unsere Prämisse lautet, dass Hegels Entwurf einer inkonsistenten Totalität der ultimative Standpunkt des Denkens ist und wir uns nicht scheuen sollten, auch auf ihn Hegels oben zitierten Satz anzuwenden, dass die Philosophie nur »Grau in Grau« malen kann, dass sie die begriffliche Wahrheit einer Epoche erst erfassen kann, wenn diese sich ihrem Ende nähert. Der Umstand, dass Hegels Denken heute als höchste Form des Cantor-Gödel-Universums wiederauftaucht, bedeutet, dass sich am Horizont eine neue Form abzeichnet, die eine Bedrohung für es darstellt. Des Weiteren gehen wir davon aus, dass die Aussicht auf ein verdrahtetes Gehirn das Hauptanzeichen dieser Bedrohung ist (unter dem verdrahteten Gehirn verstehe ich hier eine direkte Verbindung zwischen dem Gehirn und einer digitalen Maschine, die manchmal auch als »Neuralink« bezeichnet wird – so heißt ein von Elon Musk gegründetes Neurotechnologie-Unternehmen zur Entwicklung einer Gehirn-Computer-Schnittstelle). Die Frage lautet folglich: Was passiert mit dem menschlichen Geist, mit der Subjektivität, wenn so etwas wie das verdrahtete Gehirn wirklich entwickelt wird? Vielleicht ist das, was sich dem digitalen Raum entzieht, nicht die Komplexität des Denkens, sondern die elementarste Selbstidentität eines Dings, das simple »A gleich A«, das nur im symbolischen Raum funktioniert …
Dieses Buch ist daher keine Hegel-Studie, es versucht vielmehr einen hegelianischen Ansatz zu verfolgen. Seine Prämisse ist, dass Hegel nur dann als Denker lebendig bleibt, wenn dieser Ansatz immer noch funktioniert, das heißt, wenn die Frage »Wie sieht unsere Zeit in Hegels Augen aus?« noch sinnvoll und produktiv ist. Und kann man sich einen härteren Prüfstein für die anhaltende Produktivität des hegelianischen Ansatzes vorstellen als das Phänomen des verdrahteten Gehirns, das eine nachhegelianische Erscheinung par excellence ist, etwas, das für Hegel undenkbar war und eindeutig einem anderen Zeitalter angehört?
Einen hegelianischen Ansatz zu verfolgen bedeutet hier Folgendes: Erstens bietet dieses Buch eine philosophische Untersuchung des Begriffs des verdrahteten Gehirns und seiner ideologischen Extrapolation, des Begriffs der Singularität. Es beschäftigt sich nicht mit den riesigen empirischen Feldern der Technologie, Ökonomie, Politik, Sexualität und Kunst, das heißt, es liefert keine genaue Analyse spezifischer Phänomene wie der Auswirkungen des verdrahteten Gehirns auf die Medizintechnik, die Märkte oder Computeralgorithmen und es ignoriert bestimmte Themen wie die Implikationen des verdrahteten Gehirns für die Transsexualität. Es konzentriert sich auf eine einzige Schlüsselfrage: Welchen Einfluss hat das Phänomen eines verdrahteten Gehirns darauf, dass wir uns selbst als freie menschliche Individuen erleben, ja, auf unseren Status als freie menschliche Individuen überhaupt? Diese Frage zwingt uns auch, den Begriff des Menschseins selbst zu klären. Wenn wir tatsächlich in ein posthumanes Zeitalter eintreten, inwiefern erlaubt uns dieser Umstand einen neuen Blick auf das Wesen des Menschseins? In der Regel können wir das Wesentliche eines bestimmten Phänomens immer erst wahrnehmen, wenn dessen Existenz gefährdet ist, so wie uns die geistige Bedeutung einer Person erst klar wird, wenn sie unerwartet stirbt. Meine Fokussierung auf diese Schlüsselfrage lässt sich leicht daran ablesen, wie obsessiv sie in fast jedem Kapitel wiederholt wird, als versuche ich verzweifelt, ein unlösbares Rätsel zu lösen.
Zweitens bedeutet der hegelianische Ansatz, dass es sinnlos wäre zu versuchen, die Begriffe verdrahtetes Gehirn und Singularität schon vorab zu definieren, da deren genaue Ausarbeitung das erklärte Ziel dieses Buches ist. An dieser Stelle können wir lediglich eine rein formale Abgrenzung vornehmen: »Verdrahtetes Gehirn« bedeutet eine direkte Verbindung zwischen unseren mentalen Prozessen und einer digitalen Maschine, eine Verbindung, die mich einerseits befähigt, nur durch meine Gedanken Ereignisse in der Wirklichkeit auszulösen (ich denke an etwas, zum Beispiel das Einschalten meiner Klimaanlage, und der Computer entziffert meine Gedanken und schaltet die Anlage ein), andererseits aber auch die digitale Maschine in die Lage versetzt, meine Gedanken zu steuern. »Singularität« bezieht sich auf die Idee, dass durch das direkte Teilen meiner Gedanken und Erlebnisse mit anderen (eine Maschine, die meine mentalen Prozesse liest, kann diese auch an einen anderen Geist weitergeben) ein globaler gemeinsamer mentaler Erfahrungsbereich entstehen wird, der wie ein neuartiges göttliches Wesen funktioniert – meine Gedanken gehen unmittelbar im globalen Denken des Universums selbst auf.
Auch die Frage der technischen Machbarkeit eines verdrahteten Gehirns werden wir außer Acht lassen (lässt es sich wirklich in der von den Posthumanisten geplanten Weise realisieren?). Aus den zahlreichen Berichten dazu möchte ich hier nur AlterEgo erwähnen, »eine am MIT Media Lab entwickelte tragbare, geräuschlose Sprachausgabe-/Spracheingabevorrichtung. Das Gerät wird an Kopf, Hals und Kinn angebracht und übersetzt Impulse des Sprachzentrums in Worte auf einem Computer, ohne Stimmäußerung.«[12] Arnav Kapur (der das System entwickelt hat) weist darauf hin, dass es »nicht einfach Ihre Gedanken liest; man muss sich bewusst entscheiden, es zu benutzen.«[13]
Das kleine Headset ist mittels hochempfindlicher Sensoren in der Lage, die Signale zu registrieren, die das Gehirn an innere Sprechwerkzeuge wie die Zunge oder den Kehlkopf schickt, wenn man mit sich selbst spricht. Stellen Sie sich vor, dass Sie sich eine Frage stellen, ohne dabei die Worte laut auszusprechen. Selbst wenn Sie nicht Ihre Lippen und Ihr Gesicht bewegen, ist Ihr inneres Sprachsystem dennoch damit beschäftigt, diesen Satz zu formen. Ihre innere Sprechmuskulatur, wie die Zunge, vibriert in Übereinstimmung mit den Worten, die Sie denken, auf eine Weise, die äußerst subtil und fast nicht wahrnehmbar ist.[14]
Gegenwärtig muss ich dies also noch wollen, weil die Maschine nicht meine Gedanken, sondern meine inneren Sprechmuskeln ausliest, die sich nur bewegen, wenn ich auch die Absicht habe zu sprechen. Auf dieser Ebene ist es noch möglich zu lügen. Ich muss mir einfach vorstellen, dass ich etwas sagen will, das nicht wahr ist. Meine Sprechmuskeln werden sich entsprechend bewegen und die Maschine wird meine falsche Sprachintention als eine Tatsache »lesen« … Man kann sich freilich unschwer den nächsten Schritt vorstellen, wo es der Maschine dann möglich ist, meinem Gedankengang zu folgen, ohne dass ich dem zustimme und womöglich sogar, ohne dass ich es überhaupt mitbekomme – eine eindeutig dystopische Aussicht.
Aber leben wir wirklich in einer dystopischen Zeit oder leben wir nicht vielmehr in einer Welt dystopischer Phantasien? Ist die Idee eines verdrahteten Gehirns mitsamt der Vorstellung des kollektiven Austauschs intimer Erfahrungen nicht eigentlich eine Phantasie, eine phantasmatische Hochrechnung von Trends, die sich so, wie sie gedacht sind, gar nicht realisieren lassen? Eines ist jedenfalls sicher: Wir sollten die erschütternde Wirkung kollektiv geteilter Erfahrungen nicht unterschätzen – auch wenn deren Realisierung in Wirklichkeit viel bescheidener ausfallen wird als in den grandiosen Vorstellungen der Singularität, wird sich damit alles ändern. Der skeptische Standpunkt wurde neulich sehr schön bei einer Diskussion in Seoul zum Ausdruck gebracht, wo ein älterer Herr (dessen Name mir entfallen ist) ein wunderbares Paradox vorbrachte: Die Singularität werde nicht nur weniger schlimm als vorhergesagt (wir Menschen werden unsere Spiritualität mit all ihren Ambiguitäten, ihrem Glauben ohne Glauben, ihrer Bezugnahme auf Absenziale und so weiter bewahren), sie könne auch gar nicht eintreten. Auch wenn es zutrifft, dass sie nicht in der von ihren Anhängern beschriebenen Weise eintreten kann, sollten wir dennoch die Behauptung aufrechterhalten, dass etwas Neues und Unerwartetes geschehen wird. Peter Sloterdijk hatte ganz recht, als er Ray Kurzweil als einen neuen Johannes den Täufer charakterisierte, als Vorläufer einer neuen Form der Posthumanität.[15] Kurzweil hat die radikalen Auswirkungen eines verdrahteten Gehirns perfekt erfasst, er sah deutlich, dass sich damit unser gesamtes Bild der Realität und unserer Rolle darin ändern wird.
Kurzweils Begriff der (technologischen) Singularität bezieht sich weniger auf das verdrahtete Gehirn als vielmehr auf die Aussichten der Künstlichen Intelligenz (KI). Er sagt voraus, dass wir es aufgrund des exponentiellen Leistungswachstums der Digitaltechnik bald mit Maschinen zu tun haben werden, die nicht nur alle Anzeichen von Selbstbewusstsein zeigen, sondern auch die menschliche Intelligenz bei weitem übertreffen werden. Wir sollten diese »posthumane« Haltung nicht mit dem paradigmatisch modernen Glauben an die totale technische Beherrschbarkeit der Natur verwechseln – was wir gegenwärtig erleben, ist eine typische dialektische Umkehrung: Den heutigen »posthumanen« Wissenschaften geht es nicht mehr um Beherrschung, sondern um Überraschung, um (kontingente, ungeplante) Emergenz. Jean-Pierre Dupuy stellt eine merkwürdige Umkehrung der traditionellen cartesianischen anthropozentrischen Arroganz fest, welche die menschliche Technik begründete, eine Umkehrung, die in der aktuellen Robotik, der Genetik, der Nanotechnologie und der Forschung in den Bereichen Künstliches Leben und Künstliche Intelligenz deutlich erkennbar ist:
Wie können wir die Tatsache erklären, dass die Naturwissenschaft zu einem derartig »riskanten« Unterfangen geworden ist, dass sie nach Ansicht führender Wissenschaftler derzeitig die größte Bedrohung für das Überleben der Menschheit darstellt? Einige Philosophen antworten auf diese Frage, dass Descartes’ Traum – »Beherrscher und Besitzer der Natur zu werden« – sich zum Schlechten gewendet habe und wir dringend zur »Beherrschung der Beherrschung« zurückkehren sollten. Sie haben nichts verstanden. Sie erkennen nicht, dass die Technik, die sich durch die »Konvergenz« aller Disziplinen an unserem Horizont abzeichnet, gerade auf Nichtbeherrschung abzielt. Der Ingenieur von morgen wird kein Zauberlehrling aus Nachlässigkeit oder Unwissenheit sein, sondern weil er es will. Er wird sich komplexe Strukturen oder Organisationen »geben« und versuchen herauszufinden, was sie vermögen, indem er ihre funktionellen Eigenschaften erforscht – ein von unten nach oben verlaufender (Bottom-up) Ansatz. Er wird mindestens ebenso sehr ein Forscher und Experimentator wie ein Realisator sein. Sein Erfolg wird sich eher daran bemessen, inwieweit er von seinen eigenen Schöpfungen überrascht wird, als an der Übereinstimmung seines Werks mit einer Liste vorgefertigter Aufgaben.[16]
Ist diese merkwürdige Tendenz zur Verwirklichung der Selbstvernichtung nicht eine seltsame und unerwartete Form dessen, was Freud den Todestrieb nannte? Der Motor dieser Selbstüberwindung des Menschen ist der anhaltende wissenschaftliche Fortschritt in der Evolutionsbiologie, der Neurologie und der kognitiven Hirnforschung, dem eine merkwürdige Scham zugrunde liegt: die Scham über unsere biologische Begrenztheit, unsere Sterblichkeit, die lächerliche Art und Weise, in der wir uns fortpflanzen – das, was Günther Anders die »prometheische Scham« genannt hat, bei der es sich letztlich um die Scham darüber handelt, »geworden, statt gemacht zu sein.«[17] Nietzsches Idee, dass wir der »letzte Mensch« seien, der die Grundlage für seine eigene Auslöschung und die Ankunft des neuen Übermenschen legt, erhält somit einen wissenschaftlich-technologischen Dreh … Wir werden das Thema KI in diesem Buch außer Acht lassen, weil es den Rahmen sprengen würde. Natürlich hängt das verdrahtete Gehirn mit der KI zusammen, sie lassen sich jedoch deutlich voneinander abgrenzen. Die KI kann uns Menschen übertreffen, ohne uns in den Raum der gemeinsamen Erfahrung zu ziehen, das heißt, sie lässt unser erbärmliches Gehirn weiter so funktionieren wie bisher.
Wir nehmen daher an, dass in diesem Bereich aller Vereinfachungen und Übertreibungen in den öffentlichen Medien zum Trotz etwas vor sich geht, und beschränken uns hier darauf, nach den philosophischen Implikationen und Konsequenzen zu fragen. Es lohnt sich, die Vision der Singularität genauer zu untersuchen; ungeachtet des Überangebots an esoterischem Obskurantismus gepaart mit Technik-Naivität sollten wir hier in Abwandlung eines alten Groucho-Marx-Spruches sagen: »Sie behaupten, etwas wirklich Neues zu präsentieren, und sie verhalten sich auch so, als würden sie etwas wirklich Neues präsentieren, aber lassen Sie sich nicht täuschen: Sie weisen tatsächlich auf die Entstehung von etwas wirklich Neuem hin!« In diesem frühen Entwicklungsstadium können wir nur spekulieren, wie das Eintauchen in die Singularität als Ort gemeinsamer Gedanken und Erfahrungen organisiert werden wird. Wie werden das Subjekt und/oder die Maschine entscheiden, ob sie sich verbinden (oder trennen)? Wie werden Ausmaß und Umfang dieser Verbindung bestimmt? (Wie viel Wissen der Maschine wird mir zugänglich sein? Auf welche Weise und mit wem werde ich Erfahrungen teilen?) Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass alle diese Fragen auch politisch von größter Wichtigkeit sind.[18]
Es geht daher nicht darum, die von Musk, Kurzweil und anderen Befürwortern des verdrahteten Gehirns unterstellten Ideen über den menschlichen Geist und die Sprache als naiv und primitiv zu kritisieren – natürlich verbinden sie eine banale Alltagsvorstellung des Ich mit einem vulgären Naturalismus, viel entscheidender ist aber, dass diese Ideen Wirklichkeit werden können, insofern sie in digitalen Maschinen umgesetzt werden, die unsere Gehirne scannen und behandeln. Auch wenn Musk und andere darüber reden, wie das verdrahtete Gehirn unsere Menschlichkeit gefährdet, fassen sie diese bedrohte Dimension, das Wesen unseres Menschseins, in einer sehr verengten und missverständlichen Weise auf. Vielleicht liegt daher die eigentliche Gefahr für unser Menschsein in ebenjenem verengten und missverständlichen Menschenbegriff, den Musk, Kurzweil und andere automatisch annehmen, wenn sie beschreiben, was durch das verdrahtete Gehirn bedroht wird. Wenn wir über Posthumanität sprechen, müssen wir immer darauf achten, was wir eigentlich unter Humanität verstehen. Vielleicht verhilft uns ja gerade die Aussicht auf die Posthumanität zu neuen Erkenntnissen darüber, was das Menschsein eigentlich ausmacht.[19]
In unserem Projekt sind daher drei Dimensionen untrennbar miteinander verbunden: die theoretische, die empirische und die institutionelle. Zwischen diesen dreien schwanken wir ständig hin und her und fragen uns: (1) Was ist die Struktur eines verdrahteten Gehirns, was sind seine theoretischen Implikationen? (2) Was bedeutet die Verdrahtung der Gehirne für die Individuen, wie wird sie deren (Selbst-)Erfahrung verändern? Und last, but not least, (3) was sind die gesellschaftspolitischen institutionellen Auswirkungen verdrahteter Gehirne, welche Art von neuen Machtverhältnissen werden sie hervorbringen und wie wird das riesige digitale Netzwerk, das dem zugrunde liegt, organisiert und reguliert? Militärinstitutionen reagieren auf die Bedrohung in erwartbarer Manier: »Gesucht: ›Militärethiker‹. Kompetenzen: Datenverarbeitung, maschinelles Lernen, Killerroboter. Notwendige Voraussetzungen: kühler Kopf, moralischer Kompass und der Wille, Generälen, Wissenschaftlern und sogar Präsidenten nein zu sagen. Das Pentagon sucht nach der richtigen Person, um ihm zu helfen, die moralisch trüben Gewässer der Künstlichen Intelligenz (KI) zu durchqueren, die zum Schlachtfeld des 21. Jahrhunderts erklärt werden.«[20] Das ist natürlich nur eine Scheinlösung im Stile verschiedener Ethikkommissionen zur Begrenzung des »Missbrauchs« der Wissenschaft; was nötig wäre, ist die öffentliche Transparenz solcher Projekte.
Dem gut informierten Beobachter wird unweigerlich auffallen, dass die drei oben genannten Dimensionen für jede Ideologie konstitutiv sind. Betrachten wir das Beispiel der Religion. Eine Religion ist (1) ein von der Theologie ausgearbeitetes Glaubenssystem, das Antworten auf die »großen« Fragen nach der endgültigen Natur der Wirklichkeit beinhaltet; (2) ein komplexes Netz intimer Erfahrungen der göttlichen Dimension; und (3) ein ideologischer Apparat, eine Menge von Institutionen und materiellen Praktiken (Rituale und so weiter). Dasselbe gilt für die Psychoanalyse, die eine Theorie (nicht nur) über die menschliche Psyche ist, eine klinische Praxis und (das sollten wir nie vergessen) eine »organisierte Menge«, eine therapeutische Institution mit eigenen Identifikationsregeln.[21] Und auch die Singularität umfasst diese drei Dimensionen: Sie liefert eine neue Beschreibung der Humanität und ihres Übergangs zur Posthumanität, sogar mit einer neuen theologischen Dimension; sie verheißt eine neue subjektive Erfahrung der Immersion in einen Raum des kollektiven Geistes; aber – und dieser Aspekt wird regelmäßig vernachlässigt – die Singularität wird auch ein riesiges Netzwerk von Maschinen zur Folge haben, das in unsere gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse eingebettet ist. Werden wir einfach von Maschinen gesteuert werden? Wird ein Teil der Menschheit einen privilegierten Kontakt zu ihnen erhalten? Um es grob vereinfacht auszudrücken: Wie wird sich das (etwaige) Auftauchen der Singularität auf den Kapitalismus und Formen sozialer Macht auswirken?
Es gilt daher, die Idee eines verdrahteten Gehirns einer kritischen Analyse zu unterziehen, die auf drei verschiedenen Ebenen wirkt. Erstens (dies übersteigt freilich den Rahmen dieses Buches) sollten wir ihre technische Umsetzbarkeit hinterfragen: Können wir wirklich Maschinen bauen, die direkt mit dem neuronalen Fluss interagieren, der die unmittelbare Basis unserer Selbstbewusstheit bildet? Zweitens: Selbst wenn es uns irgendwie gelingt, unser Gehirn zu verdrahten, versetzt uns das wirklich in die Lage, Erfahrungen direkt mit anderen zu teilen? Was ist mit der externalistischen Sichtweise, wonach unsere sinnvollen Erfahrungen nicht wie innere Bilder irgendwo im Kopf zu verorten sind, sondern »außerhalb des Gehirns«? Sie sind demnach etwas, das als Resultat der komplexen Interaktion zwischen unserem Gehirn, unseren körperlichen Tätigkeiten und der komplexen Wirklichkeit entsteht, in der wir interagieren, so dass eine Fokussierung auf unser isoliertes Gehirn die anvisierte Erfahrung per definitionem verfehlen muss. Drittens: Einmal angenommen, das Teilen von Erfahrungen würde tatsächlich irgendwie funktionieren – würde unsere Subjektivität dieses Eintauchen in einen gemeinsamen Raum überhaupt überleben? Um einen Hinweis auf unser Endergebnis zu geben: Was sich der Singularität entzieht, ist nicht meine gelebte Erfahrung, sondern unser Unbewusstes, das mit der Autonomie des Cartesischen Subjekts korreliert.
Eines noch vorab: Ein hegelianischer Ansatz, der sich auf grundlegende Ideen konzentriert, beinhaltet keine systematische Begriffsanalyse, die den besonderen Inhalt ignoriert. Wenn man Hegel genau liest, merkt man schnell, dass er parataktisch vorgeht und sich in oft heftigen Sprüngen von einem zum nächsten bestimmten Inhalt fortbewegt – und dieses Büchlein ist ebenfalls eine parataktische Darstellung seines Inhalts. Eine Parataxe (griechisch παράταξις, das Nebeneinanderstellen) ist eine literarische Technik, bei der bevorzugt kurze, einfache Sätze und eher koordinierende als subordinierende Konjunktionen verwendet werden. In der Literatur werden beim parataktischen Stil zwei Bilder oder Fragmente, die sich üblicherweise stark unterscheiden, ohne eine eindeutige Verbindung aneinandergereiht, so dass der Leser selbst den Zusammenhang herstellen muss, den die parataktische Syntax lediglich impliziert … In gewissem Sinne trifft der Vorwurf, dieses Buch handle weder von Hegel noch vom verdrahteten Gehirn, somit tatsächlich ins Schwarze – er trifft ins Schwarze und verfehlt doch, worum es dem Buch eigentlich geht, nämlich, in parataktischer Manier um seine zwei Knotenpunkte zu kreisen. Ist ein solches Vorgehen Hegels systematischer Herangehensweise nicht vollkommen fremd? Nein – kann man sich ein parataktischeres Werk vorstellen als Hegels Phänomenologie des Geistes?
Das heimliche Vorbild des vorliegenden Werks ist mein Lieblingsbuch von E.L. Doctorow, Das Leben der Dichter.[22] Darin folgt auf sechs vollkommen verschiedenartige Kurzgeschichten (zwischen denen es ein paar unterschwellige Anspielungen gibt) eine Novelle über einen New Yorker Schriftsteller, aus der ersichtlich wird, dass die vorherigen Geschichten Fragmente aus dessen fiktiver Autobiografie waren. Ich hätte dem vorliegenden Buch auch den Untertitel »Sieben Essays und eine Abhandlung« geben können: Auf sieben Essays über unzusammenhängende Themen (Neuralink, die Theologie des Sündenfalls, Sackgassen beim Aufbau des Sozialismus in der frühen UdSSR, ein neuer Polizeistaat der digitalen Kontrolle …) folgt eine substanziellere Abhandlung, die sich auf das Vorangegangene bezieht und anhand dessen versucht, die philosophischen Implikationen der Möglichkeit eines verdrahteten Gehirns aufzuzeigen.
Wir beginnen mit den politischen Implikationen der Digitalisierung unseres Lebens: Bewegen wir uns auf einen neuen Polizeistaat zu? Von der Digitalisierung und der digitalen Kontrolle im Allgemeinen geht es weiter zum spezifischeren Projekt des verdrahteten Gehirns, und wir ergänzen dessen schlichte, ja naive Beschreibung mit einigen offenen Fragen. Die Frage, wie das verdrahtete Gehirn unsere Machtverhältnisse beeinflussen wird, führt uns dann zurück zum sowjetischen Biokosmismus, dessen Vision des Kommunismus als Raum gemeinsamer Erfahrungen die gnostische Idee der Singularität bereits vorwegnimmt – Andrei Platonow hat die Grenzen solch einer gnostischen Vorstellung des Kommunismus deutlich erkannt. Dann folgt eine kritische Analyse der populären theosophischen (New Age) Lesart der Singularität als der endgültigen Vereinigung von Geist und Materie. Insofern die Singularität verspricht, das ungeschehen zu machen, was das Christentum den Sündenfall nennt, erforschen wir eine Verbindung zwischen diesem Fall, der Freiheit und den Grenzen unseres Wissens mit dem Ziel, eine klare Trennung zwischen Hegels Begriff der Aufhebung und der Aufhebung unserer Endlichkeit in der Singularität vorzunehmen. Als Nächstes untersuchen wir die selbstreflexive Struktur des Unbewussten, um so die Konturen einer Dimension unseres symbolischen Universums zu skizzieren, die sich der Singularität entzieht. Die anschließende literarische Phantasie versucht, sich den Subjektivitätsmodus vorzustellen, der durch die Ausbreitung verdrahteter Gehirne entstehen wird: Was, wenn uns die cartesianischen Grübeleien von Becketts »Namenlosem« den Weg weisen? Die abschließende Abhandlung geht von der Prämisse aus, dass zwar klar ist, dass das Auftreten der Singularität apokalyptisch sein wird, aber nicht, um welche Art von Apokalypse es sich handeln wird – mit oder ohne ein darauf folgendes neues Reich? Der Übergang zur Posthumanität markiert deutlich das Ende der Geschichte, wie wir sie kennen – aber was endet und was beginnt mit ihr? Der Leser sollte hier keine detaillierten Voraussagen erwarten. Es handelt sich bei diesem Buch um eine philosophische Betrachtung, die nur Mutmaßungen darüber anbieten kann, wie sich die mögliche Verdrahtung des Gehirns auf unsere Subjektivität auswirken wird. Insofern unsere Gehirne verdrahtet werden, ohne dass wir es überhaupt mitbekommen, werden darüber hinaus auch neue Formen von Freiheit und Macht entstehen, die schlicht davon abhängen, ob wir uns von der Singularität isolieren (oder vielmehr trennen) können. Die Aussicht auf eine totale digitale Kontrolle, die uns nicht einmal bewusst ist, konfrontiert uns auf brutale Weise mit einer grundlegenden philosophischen Frage: Besteht unsere einzige Chance auf Freiheit in der Isolation vom Raum der Singularität oder gibt es eine Dimension des Menschseins, die sich der Singularität prinzipiell entzieht, auch wenn wir vollkommen in sie eingetaucht sind?