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Seit ewigen Zeiten fungiert Heimdall als Torhüter Asgards. Seine Aufgabe bestand darin Gefahren von seiner Heimat fernzuhalten und Reisende sicher zu ihrem Ziel zu geleiten. Jetzt, nach dem Fall Asgards und der vollständigen Zerstörung seiner Welt, steht er vor dem Nichts. Nur Odin und Freya hat er es zu verdanken, dass er in Midgard, der Erde des einundzwanzigsten Jahrhunderts, einen Neuanfang wagen kann.
Heimdall findet seine Aufgabe im Schutz eines jungen Mannes, dem das Schicksal schon übel mitgespielt hat. Kann er Tobias‘ Leben verbessern und ihn glücklich machen? Kann ein schweigsamer und eigenbrötlerischer Krieger sich so weit öffnen, um den misshandelten Jungen aufzufangen?
Dieses Buch enthält homoerotische Handlungen und ist für Leser unter 18 Jahren und für homophobe Menschen nicht geeignet.
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Hinter Thor stürmte Heimdall in die zerstört wirkende Methalle Walhallas. Hastig stiegen sie über umgestürzte Tische und Bänke. Überall lag zerschlagenes Geschirr und Holzsplitter, selbst die einst wunderschönen bunten Glasscheiben lagen als winzig kleine Splitter auf dem ausgetretenen Steinboden. Müde steuerten sie den vorderen Bereich der Halle an. Dort wurden sie bereits erwartet. Loki sah ihnen missmutig entgegen und auch Odin und Freya machten einen sehr unglücklichen Eindruck. Es war soweit. Nichts konnte mehr beschönigt oder gar schön geredet werden. Asgard verschwand in den Weiten des Kosmos. Die Atmosphäre schrumpfte mit jeder Minute um mehrere Meter und bald würden die Wände der Methalle erreicht sein. All ihre Magie, ihre Erfahrung und Können hatten den Untergang, Ragnarök, nicht verhindern können.
Automatisch glitten Heimdalls Gedanken zurück zu dem Zeitpunkt, als er entdeckte, dass Ragnarök angebrochen war. Wie jeden Tag stand er auf seinem Posten am Bifröst und überblickte die neun Welten. Seine Augen sahen, wie die Jotunnen erneut ein Komplott schmiedeten, um ihre direkten Nachbarn zu überfallen. Die karge Welt der Eisriesen bot viel zu wenige Rohstoffe, als dass sie von dem überleben könnten, was ihre Heimat ihnen bot. Aufmerksam verfolgte er die Bemühungen der Wanen, den Frieden in ihrer Welt zu bewahren. Auf der Erde herrschten wie immer Unruhe und Chaos. Midgard war ein brodelnder Kessel aus Gegensätzen. Es gab Bereiche, dort herrschte Reichtum und Wohlstand, und in anderen darbten die Menschen und wussten nicht, ob sie den nächsten Tag erleben würden. Friede wurde von Krieg abgelöst, alles war ständig im Umbruch. Innerhalb von wenigen Monaten konnte sich auf der Erde alles grundlegend verändern. Insgeheim beobachtete Heimdall die Menschen am liebsten. Es war immer spannend zu sehen, was sie trieben, wie sie siegten, versagten und sich aufrappelten, um es erneut zu wagen.
Ein vager Schimmer am Rande seines Blickfelds riss Heimdalls Augen weg von Midgard. Er konzentrierte sich auf das seltsame Wabbern. Was sah er da? Seine Pupillen fokussierten und alle Wärme sickerte aus seinem Körper. Asgard war ein Abbild der Vorstellung der Menschheit des frühen Mittelalters ihrer eigenen Welt. Es hatte eine flache Oberfläche, mit einem hohen Berg im Zentrum. In die Tiefe führte das spitz zulaufende Fundament des Massivs, die Ränder der annähernd runden Scheibe bestand aus Wasser, welches kontinuierlich über den Rand stürzte und im All verschwand. Genau dieser Rand bröckelte. Es brachen kleine Stückchen heraus, etwa von der Größe eines Kleinwagens, hier und da, immer mal wieder. Doch bisher gab es so etwas nicht. Seit Menschengedenken hatte sich Asgard nicht verändert, doch jetzt brachen Teile ab.
Dafür gab es nur eine einzige Erklärung. Ragnarök. Mit hängenden Schultern sah Heimdall dem beginnenden Verfall zu. Es war vor langer Zeit geweissagt worden, dass dies passieren würde und dass er es entdecken und verkünden würde. Jetzt war es soweit.
Sofort war er zu Odin und Freya geeilt und hatte ihnen seine Beobachtungen mitgeteilt. Odin wehrte sich mit seinem ganzen Wesen gegen die Verkündung, behauptete, dass Heimdall sich irrte und sie in die Irre führte. Noch nie hatte jemand Heimdalls Integrität und Zuverlässigkeit angezweifelt. Freya sah ihn nur kalt an und sagte gar nichts dazu. Wütend, aber äußerlich ruhig, kehrte Heimdall auf seinen Posten zurück. Der Bifröst musste weiter bewacht werden. Es gab keine Möglichkeit den Weltuntergang aufzuhalten, daher spielte es keine große Rolle, ob Odin es jetzt oder eben erst später akzeptierte. Die Zeit würde ihm Recht geben.
Einige Stunden später betrat Freya die Plattform und näherte sich Heimdall. Noch nie hatte die Gemahlin des Allvaters Heimdall besucht. Sie mied ihn soweit es ihr möglich war. Sein Anblick erinnerte sie immer an die Untreue ihres Ehemannes. Hinter verschlossenen Türen berichtete Odin ihr, nachdem man Heimdall auf der Plattform des Bifrösts gefunden hatte, dass er während eines Feldzuges in der Welt der Riesen, an einer Orgie teilgenommen hatte. Er hatte in dieser einen Nacht mit neun Riesinnen gevögelt und es gab keinen Zweifel an seiner Vaterschaft. Verletzt und gedemütigt zog sich Freya für mehrere Jahrzehnte aus dem gemeinsamen Ehebett zurück und missachtete den Zuwachs ihres Haushaltes mit Nichtachtung. Erst als Heimdall zum Wächter des Bifröst ernannt wurde, begann sie eine zumindest oberflächliche Beziehung zu ihm aufzubauen. Der Halbriese hatte enorme Fähigkeiten und es galt, diese für Asgard optimal zu nutzen. Dafür musste sie sich gezwungenermaßen mit ihm beschäftigen. Im Laufe der Jahrhunderte schwand ihr Groll weitgehend, bis zu dem Komplott gegen Balder. Freya liebte den lustigen und lebensfrohen Balder, der vollkommen unbeschwert durchs Leben ging. Loki schmiedete, wie für ihn üblich, seine Ränke und Balder vergiftete sich dabei mit Mistelbeeren. Nur Freyas Fähigkeiten, unterstützt durch Brisingamen, erhielten das Leben des allseits beliebten Gottes. Nach dessen Rettung erkundigte sich Freya bei Heimdall, ob er von der Tatsache gewusst hatte, dass die Mistelbeeren Balder töten konnten. Der Wächter bejahte, teilte aber mit, dass er Balder darauf aufmerksam gemacht hatte, dass diese giftig wären. Doch Balder missachtete den Hinweis, da er glaubte gegen alles immun zu sein, schließlich hatte Freya in ihrer Fürsorge dafür gesorgt. Danach entstand zwischen Heimdall und Freya erneut eine unüberwindbare Eiszeit. Sie sprachen nicht mehr miteinander, einzig Befehle wurden einseitig ausgetauscht.
„Was siehst du, Wächter?“ Freyas Blick glitt über Asgard, folgte den Konturen der schroffen Felsenküste.
„Der Rand bröckelt. Es brechen Teile heraus. Noch sind es kleine Stücke, doch es wird, wenn man der Prophezeiung glaubt, immer schlimmer werden“, Heimdalls Stimme klang fatalistisch und ein Hauch Resignation schwang darin mit.
Nickend stimmte Freya ihm zu. „Du beurteilst die Situation korrekt. Wir werden Asgard nicht retten können, aber die Asen können wir in Sicherheit bringen. Ich werde in der Bevölkerung den Wunsch wecken, Asgard zu verlassen und ein neues Leben auf einer der neun Welten zu beginnen. Danach müssen wir eine Lösung finden um die verbliebenen Asen zu retten.“
„Gibt es diese Möglichkeit?“, Heimdall wollte nicht zweifelnd klingen, aber ein Hauch Skepsis schlich sich in seine Stimme.
Noch immer in die Ferne blickend nickte Freya: „Mit Hilfe von Brisingamen ist es möglich. Ich werde viel Magie horten und verweben müssen, doch es ist machbar. Jeden Tag gibst du mir Bericht über den Stand des Verfalls und wie weit der Exodus fortgeschritten ist. Ich hoffe, dass uns genug Zeit bleibt, um alle zu retten.“
Nachdrücklich nickte Heimdall. Zwar hassten sie einander, aber es stand außer Frage, dass er Freya vorbehaltlos unterstützen würde, alle Asen zu retten. Ob auch für ihn eine Evakuierung vorgesehen war, wusste er nicht, glaubte nicht einmal daran, aber es spielte auch keine Rolle. Er war der Wächter Asgards und es stellte für ihn als Selbstverständlichkeit da, mit seiner Heimat zu fallen.
Müde glitt Heimdalls Blick hinauf zum Podest. Odin saß auf seinem Thron und Freya stand wie meistens neben ihm. Ihre kleine Hand ruhte auf seiner Schulter und insgeheim wünschte sich auch Heimdall, jemals solch eine Verbundenheit gefühlt zu haben. Doch Ehe und Familie war ihm nicht vergönnt gewesen. Seine Aufgabe als Wächter riss ihn in so mancher Nacht aus dem Schlaf, denn selbst mit geschlossenen Augen, wachte er weiter über seine Heimat. Das konnte er keiner Frau oder Kindern zumuten. Immer stünden sie an zweiter Stelle und das war nicht richtig. Familie gehörte an die erste Stelle. Daher nahm er frühzeitig Abstand zum weiblichen Geschlecht. Obwohl ihn Frauen reizten und er sie sexy fand, schlief er ausschließlich mit Männern. Der Sex war ganz anders, hart, rau, aber genauso erfüllend. Gefühle spielten da nie eine Rolle und man trennte sich nach dem Stelldichein als wäre nichts gewesen. So hatte Heimdall mit sich im Reinen bleiben können.
Kopfschüttelnd konzentrierte sich Heimdall wieder auf das Podest. Odin beendete gerade seine Ausführungen und nur am Rande vernahm er, dass er, wie die anderen verbliebenen Götter, zur Erde geschickt werden würde. Erleichterung machte sich in ihm breit. Er bekam die Chance auf ein neues Leben. Vielleicht würde er dort die Liebe kennenlernen, eine Familie gründen und endlich glücklich werden.
Blinzelnd sah Heimdall sich um. Wo war er? Eben hatte ihn der Strahl des Bifröst noch durch die Weiten der Galaxy befördert und nun stand er auf den Stufen eines Hauses, wenn man es denn so nennen wollte. Abschätzend legte Heimdall seinen Kopf in den Nacken und blickte an dem Backsteingebäude in die Höhe. Es handelte sich um einen waschechten englischen Herrschaftssitz. Ob er sich auch in Großbritannien befand, war wiederum fraglich. Nach kurzem Konzentrieren erkannte Heimdall, dass er sich in der Nähe von Chicago befand. Interessant.
Plötzlich wurde die Tür vor Heimdall geöffnet und ein distinguierter älterer Herr im typischen Butleroutfit begrüßte ihn: „Herzlich willkommen, Mr. Vakter. Mr. Stevenson erwartet Sie bereits. Wenn Sie mir folgen wollen?“ Nachdrücklich schloss der Butler die Tür hinter Heimdall und geleitete ihn durch die beeindruckende Eingangshalle. Die schwarz-weißen Schachbrettfliesen passten perfekt in das viktorianische Ambiente des Gebäudes. Gedrechselte und schwarz lackierte Geländerstäbe stützen den sich windenden Handlauf in die Höhe. Zwar wies die Treppe selbst keinen Schwung auf, sondern führte schnurstracks nach oben, so zeugte sie doch in ihrer Breite von der Erhabenheit der Bewohner des herrschaftlichen Hauses. Mehr Schein als Sein, soviel wusste Heimdall, obwohl er bisher keine Gelegenheit gehabt hatte über die Begebenheiten seiner Ankunft nachzudenken. Aber zumindest zu seinem neuen Namen hatte er sich schon eine Meinung gebildet. Vakter, der Name passte zu Heimdall, denn im Norwegischen bedeutete es Wächter.
Höflich öffnete der Butler eine hohe, mit Schnitzereien verzierte Holztür und wies Heimdall an: „Bitte warten Sie hier, Mr. Stevenson wird gleich bei Ihnen sein.“ Die elegante Bibliothek, die wohl als Arbeitszimmer genutzt wurde, passte ebenso ins Bild wie der Eingangsbereich. Zumindest sprach der überdimensionale Schreibtisch mit dem sauteuren Computerequipment dafür, dass hier jemand wirklich zumindest ab und zu arbeitete. Da sich außer ihm niemand im Raum befand, hatte er die Möglichkeit, sich einen groben Überblick zu verschaffen. Schnell durchquerte er den recht großen Raum und blickt hinaus ins Freie. Das Fenster bestand aus mit Blei zusammengefügten Scheiben – kostspielig. Draußen erstreckte sich ein Park, anders konnte Heimdall es nicht nennen. Sorgfältig gemähter Rasen, akkurat angelegte Beete und mordsmäßig hohe, also alte Bäume gestalteten den Garten. Reichtum herrschte hier und wurde demonstrativ zur Schau gestellt. Konzentriert ließ er seinen Blick über das Sichtbare hinaus schweifen, er nutzte seine angeborene Fähigkeit, mehr zu sehen als alle anderen, und er entdeckte direkt hinter den Bäumen die Skyline einer Stadt. Er befand sich tatsächlich in Chicago! Er konnte ganz deutlich den Sears Tower ausmachen. Die Sonnenbrille behinderte sein Sehvermögen überhaupt nicht. Er wusste, warum er sie trug. Seine Augen hatten sich wohl nicht verändert, folglich lag ein trüber Schimmer auf seiner Iris und nur im Dunkeln würden sie klar und seine Iriden leuchteten strahlend blau.
Als sich hinter Heimdall die Tür öffnete drehte er sich langsam und kontrolliert um. Auf keinen Fall wollte er schreckhaft wirken. Der Eintretende machte den Eindruck, als würde er stets die Kontrolle über alles behalten oder zumindest der Einbildung einer bestehenden Kontrolle anhängen. Niemand konnte alles kontrollieren. Diese Erkenntnis erlangte Heimdall bereits vor Jahrhunderten. Kontrolle war eine Illusion, doch viele fielen dieser Täuschung anheim, dieser Mann auf jeden Fall. Mit seiner schlanken großgewachsenen Statur wirkte er wie ein in die Jahre gekommener Sportler, der seine Collegejahre mit Baseball oder Leichtathletik gefüllt hatte. Ein Star unter den Millionen Sternschnuppen am Campus. Die dunkelblonden, kurzgeschnittenen Haare ergrauten an den Schläfen und erste Falten rund um die Augen zeigten sein wahres Alter. Hinzu kam eine optische Strenge wie sie viele Anführer aufwiesen. Trotzdem glaubte Heimdall nicht daran, dass dieser Fremde ihm sympathisch sein würde, denn der taxierende Blick hatte etwas Berechnendes, etwas Hinterlistiges. Frei heraus gesagt: Der Kerl erinnerte ihn ein bisschen an Loki.
„Guten Tag, Mr. Vakter. Setzen Sie sich bitte.“ Dabei umrundete John Stevenson seinen riesigen Schreibtisch und nahm auf dem teuren Ledersessel Platz. Aufmerksam musterte er die beeindruckende Erscheinung des Bewerbers. Groß, muskulös und furchterregend mit den harten Gesichtszügen unterstrichen von der dunklen Sonnenbrille. Bereits aus der Bewerbung war bekannt, dass Heimdall Vakter immer eine solche trug, um von seinen außergewöhnlichen Augen abzulenken. Stevenson akzeptierte diese Marotte, da es den Mann gemeingefährlich aussehen ließ. Er begrüßte diesen Wesenszug.
Langsam näherte sich Heimdall dem Stuhl gegenüber des überdimensionalen Tisches und nahm Platz. Dieses monströse Möbelstück zeigte dem Asen, wie wichtig sich sein Gegenüber nahm. Auf jeden Fall würde er dieses Wissen berücksichtigen. Mal sehen was der Mensch von ihm wollte. „Danke.“ Mit der Floskel bezog er sich ausschließlich auf die Aufforderung sich zu setzen. Obwohl er die Bewerbung nicht selbst geschrieben hatte, wusste er sofort was darin stand und wer sein Gegenüber war. Freya hatte gute Arbeit geleistet.
„Sie haben sich um die Stelle des Leibwächters für meinen Sohn beworben. Ihre Qualifikationen sind überragend. Warum wollen sie solch einen langweiligen Job annehmen? Sie könnten Promis oder Politiker beschützen. Wenn sie es wünschten, könnten sie sogar dem Secret Service beitreten. Ich habe mich erkundigt, die würden sie mit Handkuss nehmen.“
Im ersten Moment fehlten Heimdall die Worte. Doch dann vertraute er seinem Instinkt. Freya hatte für sie alle gesorgt und wie es aussah, hatte sie auch für ihn ein neues Leben kreiert. Ob es ihm natürlich gefallen würde war eine ganz andere Sache, aber er würde ihre Gaben erst einmal annehmen. „Ich wünsche mir etwas mehr Ruhe und Kontinuität. Das ständige Pendeln und Reisen geht an die Substanz.“ Heimdall ging davon aus, dass er mit dieser Antwort richtiglag.
Nickend stimmte der Mittvierziger zu. „Mein Sohn ist ein ganz spezieller Fall. Es ist extrem wichtig, dass sie alles, was sie heute hier sehen und hören streng vertraulich behandeln, selbst wenn sie den Job nicht bekommen oder annehmen wollen. Es würde enorm meinem Ruf schaden, wenn das nach außen dringt.“
Die letzte Aussage klang extrem eigennützig, aber da Heimdall die Umstände noch nicht kannte, bestand durchaus die Möglichkeit, dass es sich nur um eine Ehrverletzung oder eine Lappalie handelte. „Selbstverständlich.“ Mehr sagte er nicht, Heimdall war kein Mann vieler Worte.
„Gut, gut“, der Geschäftsmann im Dreitausend-Dollar-Anzug räusperte sich und begann dann mit der Erläuterung der Sachlage. „Mein Sohn ist sechzehn Jahre alt und ging bisher auf eine Privatschule. Er hat den vorzeitigen Eignungstest fürs College abgelegt und selbstverständlich mit Bravour bestanden. Im Sommer hätte er aufs Wheaton College wechseln sollen, doch dann ist etwas Unangenehmes vorgefallen.“ Mit diesen Worten reichte er Heimdall eine Akte.
Zügig schlug der Halbriese das Dokument auf und unterdrückte ein harsches Einatmen. Oben auf befand sich ein Foto des lädierten Gesichtes eines zarten Jungen. Der sollte sechzehn sein? Als er die Akte aufschlug nahm ihm die Beschreibung den Atem. Man hatte den Jungen nach dem Unterricht noch auf dem Schulgelände abgepasst, betäubt und weggeschafft. Halb betäubt hatten mehrere Täter den Minderjährigen vergewaltigt und misshandelt. Zu guter Letzt hatte man ihn vor dem schweren Eingangstor der elterlichen Residenz abgeladen und das Weite gesucht. Der ärztliche Bericht enthielt eine Aufzählung der Verletzungen und der daraus resultierenden medizinischen Behandlungen. Drei gebrochene Rippen, unproblematisch. Ein Milzriss, eine Operation. Ein zerschmettertes Schlüsselbein, eine Operation. Geplatzte Unterlippe, gebrochenes Jochbein und Nasenbein, eine Operation zur Rekonstruktion. Ein gebrochenes Handgelenk, eine Stabilisierungsschiene bis es wieder zusammengewachsen war. Krampfhaft unterdrückte Heimdall ein Zähneknirschen als er von den analen Verletzungen las. Es war keinerlei Rücksicht genommen worden. Hier hatten die Täter wüst und rabiat gehandelt. Wortwörtlich hatten sie ihn gefickt bis es ihn zerriss. Auch der Polizeibericht gefiel dem Halbriesen kein bisschen. Die Ermittler hatten keine Schuldigen ermitteln können, da der Junge nach dem Auffinden gebadet, regelrecht abgeschrubbt worden war. Warum tat ein Erziehungsberechtigter so etwas? Ach wo dachte er hin! Auf keinen Fall hatte dieser Mann sich selbst die Hände an seinem besudelten Sohn schmutzig gemacht. Dafür hatte der Kerl Personal. Die Polizei zog den Schluss, dass die Täter zudem Kondome benutzt haben müssen, denn auch im Darm konnte kein genetisches Material sichergestellt werden. Sie tappten im Dunkeln. Sie vermuteten zwar, dass der Junge die Täter gesehen hatte, aber aufgrund der Traumatisierung nicht aussagefähig war. Bisher blieb die Straftat ohne Folgen, zumindest für die Schweine, die sich an einem unschuldigen Jungen vergangen hatten.
Ruckartig klappte Heimdall die Akte zu und sah zum Vater des Jungen auf. Doch dieser schien sich für den Inhalt eher zu schämen, als dass er wütend darüber war. Solche Männer kannte Heimdall zur Genüge. So etwas durfte einem „gestandenen Mann“ nicht passieren. Nur Memmen ließen sich gefangen nehmen und vergewaltigen. Dieser Vater hatte jeden Respekt gegenüber seinem Sohn verloren und würde ihn nur noch mit Gleichgültigkeit behandeln. Heimdall verabscheute solch ein Verhalten. Schwächere mussten beschützt und verteidigt werden. Auf keinen Fall ließ man ein Opfer im Stich, vor allem kein Kind. Wie konnte ein Elternteil seinen Nachkommen nur so behandeln! Heimdalls ausgeprägteste Eigenschaft war sein Mitgefühl, welches sein Handeln lenkte und ihn zu einem wahrhaft herausragenden Beschützer machte.
„Sie verstehen jetzt, dass das auf keinen Fall meinen Geschäftspartnern und Freunden zu Ohren kommen darf. Mein Ruf wäre ruiniert und es würde meiner Firma schaden“, kam es abgehackt von John Stevenson. Dabei funkelte der Geschäftsmann sein Gegenüber an.
Hatte er es doch gewusst. Dieser Vater verdiente es nicht, so genannt zu werden. Egal was für Konditionen man ihm bot, er würde diesen Job auf jeden Fall annehmen. Dieser Halbwüchsige brauchte einen erwachsenen Ansprechpartner der ihm half, ihn unterstützte und nicht verurteilte. „Fahren Sie fort.“ Auf keinen Fall hätte er dem Mistkerl zustimmen können.
„Tobias redet nicht. Er befindet sich in einem fast schon katatonischen Zustand. Man muss ihn zu allem zwingen, zum Essen, Trinken, Baden. Selbst ins Bett muss man ihn tragen und festhalten, bis er sich beruhigt hat. Er ist nicht einfach. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass er erneut entführt wird. Der Arzt rät zu regelmäßigem Aufenthalt im Freien, was hier im Park gut machbar ist. Aber ebenso muss er zweimal in der Woche zu seinen Therapeuten in die Stadt gebracht werden. Als Tobias sieben war, ist er von der Straße weg entführt und zwei Wochen gefangen gehalten worden. Damals konnten wir ihn erst gegen Lösegeld auslösen. Es ging ihm verhältnismäßig gut, zumindest körperlich. Seelisch hat ihn das sehr mitgenommen und seither besucht er wöchentlich einen Seelenklempner. Das Erlebnis jetzt scheint seinen Verstand restlos zerstört zu haben. Trotzdem kann ich es mir nicht leisten, ihn einfach aufs Abstellgleis zu schieben. Würde das an die Öffentlichkeit dringen, hätte ich die größte Hetzkampagne des Landes an der Backe. Das geht gar nicht! Folglich brauche ich einen fähigen Bodyguard, der sich durch den Jungen nicht überfordert fühlt und zeitgleich nicht nach Höherem strebt. Seit dem Vorfall hat Tobias schon zwei Leibwächter verschlissen.“