Herr der Hörner - Matthias Politycki - E-Book

Herr der Hörner E-Book

Matthias Politycki

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Beschreibung

Mit drei Zehnpesoscheinen in der Tasche macht sich der fünfzigjährige Broder Broschkus, erfolgreicher hanseatischer Bankier, auf in den schwarzen Süden Kubas, um dort eine Frau zu suchen, in deren abgründig grünen Augen er die Erleuchtung seines Lebens erfuhr. Er hofft, die Frau, von der er nicht einmal den Namen weiß, anhand der Notizen auf jenen drei Geldscheinen wiederzufinden. Im Verlauf seiner Suche erkundet er erst das weltliche, zunehmend auch das religiöse Leben der Stadt: Hunde- und Hahnenkämpfe, Exhumationen und Hausschlachtungen üben eine rätselhafte Faszination auf ihn aus, zunehmend auch die afrokubanischen Kulte, denen man nicht nur in den Elendsvierteln anhängt. Ganz Santiago de Cuba scheint von etwas Dunklem beherrscht, über das zwar keiner reden will, auf dessen Spuren Broschkus nichtsdestoweniger immer häufiger stößt. Dass die gesuchte Frau damit in Verbindung stehen könnte, wird auch ihm bald klar; wie sehr sie freilich Werkzeug oder gar Inkarnation des Bösen ist, ahnt er nicht.

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Seitenzahl: 1113

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Matthias Politycki

Herr der Hörner

Roman

Hoffmann und Campe Verlag

IFahler Fleck im Auge

 

Das Helle vergeht,

doch das Dunkle, das bleibt. Als Broder Broschkus, erklärter Feind allen karibischen Frohsinns, die Stufen zur »Casa de las tradiciones« hochschwitzte, hinter sich eine Frau, die er in dreizehn wunderbaren Ehejahren so gut wie vergessen hatte, beherrschte er nach wie vor nur zwei spanische Vokabeln, »adiós« und »caramba« – ja/nein, links/rechts und die Ziffern von eins bis zehn mal nicht mitgezählt. In stummer Empörung die Blechfanfaren registrierend, die ihm auch hier entgegenfuhren, überschlug er die Stunden, die bis zum Heimflug noch zu überstehen waren, keine geringe Lust verspürend, dem Türsteher anstelle des geforderten Touristendollars einen Tritt zu verpassen; daß er sich auf dieser Treppe knapp zwei Stunden später seinem Tod entgegenstürzen sollte, konnte er ja nicht ahnen. Am Ende eines Pauschalurlaubs war’s, die Koffer bereits gepackt und kurz vor zwölf, an einem Samstag mittag unter farblosem Himmel.

Welch Kühle dann aber drinnen, wie dämmerdunstig das Licht! Obwohl der Schlagwerker mit Lust auf einen Pferdeschädel schlug, was ein scharfes Rasseln der Kiefer erzeugte, obwohl der Bassist die Lippen an die Wölbung eines Tonkrugs legte, um mit dicken dunklen Fingern aus dessen Öffnung Töne hervorzuzupfen, obwohl der Rest der Kapelle mit Inbrunst in diverse Tröten stieß, hingen die Einheimischen schlaff in ihren Schaukelstühlen, nippten aus weißen Plastikbechern, rauchten Zigarren, die einer der Ihren inmitten des Raumes für sie drehte: Als er seinen Kopf hob, um Broschkus einen Blick lang zu mustern – die andern schienen ihn überhaupt nicht wahrzunehmen –, war sein tiefschwarzes Gesicht von Falten überstrahlt. Lediglich ein paar kleine Kinder, so sie nicht zwischen den kuhfellbespannten Hockern Verstecken spielten, hinter den gedrungnen Rumfässern, die als Tische dienten, lediglich ein paar Kinder tanzten direkt vor den Musikern, gleichgültige Mienen machend und interessierte Hüftbewegungen. Das also war sie, die berühmteste Kneipe Santiagos, von der ihm Kristina aus dem Reiseführer vorgeschwärmt hatte, ein krönender Kontrapunkt zu Palmen, Wasser, Sand, und bestimmt würde sie das alles gleich »toll« finden, »wahnsinnig aufregend«. Nach Verfaulendem roch’s, wahrscheinlich vom Hinterhof her Hühnerschenkel oder tote Katze, nach verschüttetem Rum roch’s und verschwitzten Schuhen, schwadenweise auch nach Fritieröl und schwerem Parfum, ein feiner Faden Urin zog sich, scharf und präzis, bis in einen rückwärtigen Raum, wo Dominospieler stumm auf die Steine starrten. Wenn durch die Fensteröffnungen nicht gerade warm ein Windstoß gefahren wäre, Broschkus hätte sicher auf der Stelle kehrtgemacht.

So aber war er, kaum daß er beim Barmann ein paar kreisende Zeigefingerbewegungen gegen ein Zahnlückengrinsen getauscht, so aber war er, kaum daß er mit einem Mojito (für die señora, sí sí) und einem überraschend kalten Cristal an einigen weißgestrichnen Säulen vorbei bis zum erstbesten Eckplatz gelangt, so aber war er fast umgehend in einen Dämmerzustand gefallen. Unterm gleichmäßigen Dahinlärmen der Musik zerflossen die rosa Bretterwände mit den Bildern berühmter Sänger und sogar dem eines riesigen Christus, der als Wandgemälde hinter den leibhaftigen Sängern aufragte samt Bischofshut und schlangenförmig sich windendem Schwert, zerflossen zu einer südlich diffusen Melancholie; nur selten mußten kleine Fliegen verscheucht, mußte ein Schluck Bier genommen werden, die Augen halb geschlossen, und weil die Deckenventilatoren so gleichmütig schrappten, wäre man beinah eingeschlafen, erschöpft von zwei Wochen karibischer Sonne und wechselweis sich reihender Wortlosigkeit.

Ehe Broschkus dann aber wirklich einnickte, ging er schnell noch mal zur Bar, der Tresen nichts weiter als ein der Länge nach aufgesägtes und -geklapptes Faß, hinter dessen bauchig nach außen gewölbten Hälften, so vermutete er, die Peso-Flaschen für die Einheimischen versteckt waren; ein zweites Faß hatte man auf gleiche Weise geteilt und, nachdem man dem halbierten Rumpf je ein Regalbrett für den offiziell angebotnen Dollar-Rum eingefügt, an der Wand hinter der Theke montiert. Noch eins? zahnlückengrinste ihm der Barmann entgegen, der einzige Weiße hier offensichtlich, und hielt bereits die Dose in der Hand. Noch eins, nickte Broschkus und hielt bereits den gefalteten Geldschein zwischen Zeige- und Mittelfinger, fast so beiläufig wie ein Einheimischer.

Da sah er sie.

 

Sah die beiden Freundinnen,

oder waren sie ihm nicht längst aufgefallen, die sie kichernd auf ihren Hockern gesessen, einander Wichtigkeiten verratend? Natürlich, insbesondre die eine: So jung! hatte er sich erschrocken, so hellbraun wie, weiß der Teufel, wie – Honig? Meinetwegen wie dunkler Honig, verdammt dunkler Honig, war Broschkus vollends aus dem Dahindämmern herausgeraten, und jetzt schau weg.

Anwesend, ziemlich anwesend war sie trotzdem, die mit der honigbraunen Haut, die mit den langen schwarzen Locken, dem zahnstrahlenden Lachen, das noch den hintersten Winkel des Raumes ausleuchtete, in dem sich das Ehepaar Broschkus verborgen hielt; und erst recht den Tresenbereich, wo der Ehemann Broschkus etwas langwierig eine leere gegen eine volle Dose tauschte. Um nebenbei festzustellen, nur aus den Augenwinkeln: daß diese Frau, die im Grunde gerade noch als Mädchen gelten mußte, daß dies Mädchen, das im Grunde gerade schon als Frau gelten durfte, mit einer schäbigen Radlerhose bekleidet war, gelbschwarz gestreift wie das Bustier, daß seine Sandalen sehr simpel und die Sohlen höchstwahrscheinlich aus Autoreifen gefertigt waren, oh ja, selbst das glaubte Broschkus erkannt zu haben. Nichtsdestoweniger verwandelte’s sich, das Mädchen, je länger man’s auf solch beiläufig blöde Weise belauerte, verwandelte sich allein durch sein Lachen in die, Teufel auch, in reinste Anmut, ja, Broder, das Wort ist ausnahmsweise angemessen, bebrummte sich Broschkus, und jetzt zieh ab.

Kein Wunder, daß er sich später nicht recht an die andre der beiden erinnern wollte, nur daß sie weit größer, vor allem breiter gewesen, nicht eigentlich dick, eher mächtig, ja nachgerade muskulös, erschreckend muskulös, dessen würde er sich nach diesem 5. Januar noch sicher sein, daß sie viel dunkler gewesen, so dunkelbraun wie – die Zigarren vielleicht, die der zierliche Alte mit großem Ernst rollte? Daß sie blau-weiße, rot-weiße Halsketten getragen, anstelle von Haar einen bräunlich eingefärbten Kräuselwust, einen Mop, der an den Wurzeln seine natürliche Schwärze zeigte, auch ein Straßherz am Gürtel, nicht wahr?

Aber jetzt, jetzt tanzten sie.

 

Prompt bliesen die Bläser eine Spur beherzter,

trommelten die Trommler eine Spur heftiger, härter, das Glitzern auf der Haut der beiden Tänzerinnen wurde lediglich vom Leuchten ihrer Zähne überboten.

Oh Gott, dachte Broschkus, will denn keiner was dagegen –

Oh nein, dagegen einschreiten wollte keiner, am wenigsten Broschkus; die beiden tanzten in solcher Selbstverständlichkeit, daß man gar nicht gewagt hätte, sie zu unterbrechen, tanzten so selbstgewiß aus der Mitte ihres Wesens heraus, so selbstgefällig, selbstherrlich bis in die Spitzen ihrer Glieder, so selbstverliebt, sogar die Dunkle, ein Glanz lag auch auf ihr, mit ihren schweren Flanken schlug sie auf eine unwiderlegbar weibliche Weise Funken. Und erst die Hellere, Jüngere, oh, wie selbstvergessen sie die Arme übern Kopf hob, wenn sie sich um die eigne Achse drehte, man hatte beim Trinken Mühe, nichts zu verschütten. Ihre honigfarbene Haut, an manchen Stellen legte sich ein Licht darauf, als schiene die Sonne für sie auch hier drinnen, mal an den Schenkeln, mal am Bauch, mal an den Armen, immerzu liefen ihr helle Flecken übers Fleisch, am schlimmsten freilich über die Nacktheit der Schultern.

Beim Abstellen der Dose wollte’s Broschkus scheinen, sein Blick habe den ihren kurz gestreift, und als er gleich wieder nach der Dose greifen mußte, verschüchtert in ihre Richtung schielend, fuhr ihm ein warmer Wind durch den Raum, durch die offne Tür herein über die Tanzfläche zum Rückraum hinaus in den Hof, daß ihm die Zunge gegen den Gaumen schlug: Hatte sie etwa eine kleine Handbewegung in seine Richtung gemacht, eine kaum wahrnehmbare Geste der Aufforderung? Broschkus konzentrierte sich auf den mit dem Strohhut, auf den daneben in den zwei verschiednen Schuhen, schließlich auf den Zigarrenmacher: Der trug eine Kette aus kleinen weißen Plastikperlen? Körnern? Und wieso konnte die Dose schon leer sein? Oder war das erneut die winzige Handbewegung, die keinem andern als ihm gelten konnte, ausgerechnet ihm? Die Leichtigkeit, mit der diese – Person ihre Hüften zum Flimmern brachte, die Direktheit, mit der sie ihm offen zulächelte, die Dreistigkeit der beiden Hände, die nach der weiter und weiter flimmernden Schmalheit der Hüften griffen, an ihr emporfuhren, langsam über die Taille nach innen zu, übern nackten Bauch, dann aber doch nicht über die Brust, oh nein, das eben nicht! sondern erst im Haar sich wieder verfingen, es scheinbar ordnend, zur Seite hin raffend, um übern Kopf hinaus sich zu heben, in stolzer Gewißheit eine ganze Weile den Tanz des restlichen Körpers mit einem Spreizen der Finger kommentierend: gewiß nur für ihn, den Fremden im Eck, den sie weiterhin fixierte, nicht wahr, weiterhin belächelte, nicht wahr, dem sie weiterhin und vor allen andern sich zeigte? Indem sie ein paar Schritte sogar in seine Richtung setzte, rein spielerisch, gleich würde die Drehung kommen –

Broschkus verschluckte sich so heftig, daß er husten mußte.

 

Denn die Drehung,

mit der zu rechnen gewesen, blieb aus, statt dessen – der Zigarrenmacher, trug er nicht auch am Handgelenk eine weiße Kette? – ging sie durch dieses Licht, diesen Lärm, ging ganz offen auf ihn zu, schon konnte er ihre hervortretenden Beckenknochen sehen, die konkav dazwischen konturierte Bauchdecke; gerade noch gelang’s ihm, die Bierdose abzustellen, da hatte sie ihn bereits an der Hand, zog ihn vom Hocker wie einen kleinen Jungen. Ihr Blick, aus der feuchten Tiefe eines grün schillernden Kaffeesatzes heraus mit feinem hellbraunen, honigbraunen Außenrand, bloß nicht länger in diese Augen sehen, bloß nicht. Im Losstolpern bemerkte Broschkus, daß die Große, die Breite, die Schwere ebenfalls herbeigekommen war, um Kristina zu ergreifen – man hatte sich also abgesprochen –, schon waren sie alle vier in der Mitte des Raumes. Woraufhin die Kapelle wirklich loslegte, ein pferdeschädelrasselndes Höllenspektakel, einige der Einheimischen riß es aus dem Dahindösen, man klatschte im Takt, sang laut mit, sogar der Zigarrendreher hob kurz seinen grauweißen Kräuselkopf, von dem sich die Ohren wegwölbten. Salsa!

 

Ausgerechnet Salsa,

den Broschkus so haßte. Notdürftig brachte er seine Beine in Bewegung, eher die Darstellung eines Tanzes als der Tanz selbst, wollte sich auf die silbernen Zehennägel vor ihm konzentrieren, auf die braunen Füße in den billigen Sandalen, auf Knöchel, Sehnen, Wadenmuskeln; doch das Mädchen, in wundersam weichen Bewegungen sich wiegend, verstand ihn sofort, schenkte ihm seine langen schwarzen Locken, die jeder Bewegung synkopisch hinterherwippten, und, als Broschkus den Blick vollends zu heben wagte, lachte ihn mit dunklen Lippen an, zwischen den oberen Schneidezähnen eine winzigschwarze Lücke. Indem sie sich von ihm abdrehte, flogen ihm ihre Haare ins Gesicht; indem sie sich gleich wieder zu ihm zurückdrehte, ließ sie sich näher an ihn herantreiben, so nah, daß sie – wie erschrocken mit langen schmalen Fingern nach ihm faßte, den vollständigen Zusammenprall abzufedern, selbst das noch Teil derselben fließenden Bewegung, und natürlich wußten ihre nackten braunen Hüften, was sie da taten, als sie die des Herrn Broder Broschkus im Vorüberstreifen berührten und – nun erst glitt’s an ihm vorbei, das Mädchen, hauchte ihm seinen Atem ins Ohr. Verströmte dabei kein süßliches Parfüm, wie Broschkus mit riesig entsetzten Nüstern feststellen mußte, sondern unvermischt und mit Macht nur herben Duft, sich weiterwiegend im Takt, als sei’s ganz allein auf der Welt, nicht etwa in bedenklicher Nähe zu einem leicht verfetteten, leicht ergrauten Touristen. Oh wie häßlich Herr Broschkus sich fand, wie bleich, wie plump, und doch sah er deutlich vor sich die sanft verlaufende Linie eines Schlüsselbeins, sah das Funkeln in der Grube darüber, darunter, hörte’s aufrauschen, das Bier in seinem Kopf oder ein feines Sirren, sekundenbruchteilhaft erkannte neben sich Kristina, deren korrekt kostümierte Glieder unter der Regie der Dunklen, der Schweren, in ein munteres Gehopse geraten waren. Später wollte er sich vor allem an ihren verrutschten Rückausschnitt erinnern, ausgerechnet daran, und im nächsten Sekundenbruchteil –? War das ein Biß gerade gewesen, was er im Ohrläppchen verspürt, ein winziger Biß? Oder doch eher ein Kuß?

Oder bloß eine flaumhaardicht vorbeistreifende Kühle, schon zog das Mädchen den Kopf zurück, ja-warum-denn, erneut verwandelte sich in reinen Rhythmus, ein vielgliedrig akzentuiertes Wippen um die Körpermitte, das Broschkus zum tumb taumelnden Toren machte, mal stieß ihn die Trompete nach vorn, mal zog ihn das kurze Solo auf dem Tonkrug zurück, mal trieben ihn die Bongos in weiten Schritten hinter ihm her, dem Mädchen, mal riß ihn die Gitarre von ihm fort, und als er, außer Atem, nurmehr torkelte, da sah’s ihn an, das Mädchen, sah ihn so voller Unschuld an, auf dem Jochbein ein schmales Schimmern, auf den Lippen ein Lächeln, daß es gewiß kein Biß gewesen war, kein Kuß, nicht mal eine zufällige Berührung. So sehr sah’s ihn an, das Mädchen, daß ihm die Nasenflügel bebten, so nackt und direkt sah’s ihn an, so unmädchenhaft plötzlich, ganz und gar Frau jetzt, sah ihn aus seinen, aus ihren Augen an, grün lag ein Glanz darin, nicht als heißes Versprechen, sondern als kaltes Verlangen, das Broschkus vollends aus dem Rhythmus brachte. Da entdeckte er ihn: den feinen Riß in all dem Glanz, mitten im Grün der Iris ein farblos fahles Einsprengsel, millimeterbreit ein Strich im linken Auge, vom äußern Rand der Iris bis zur Pupille, vielmehr im rechten Auge, jaja, im rechten, ein Fleck.

Gleich! dachte Broschkus nicht etwa, fühlte’s freilich desto stärker: Gleich! tut sich die Erde auf und ich fahr’ zur Hölle. Wie laut der Chor der Sänger nach ihm rief, wie unbarmherzig die Blechbläser nach ihm verlangten, wie schwer ihm der Atem rasselte! Da aber ergriff die Frau, mitten im Blick, im Trompetensolo und weiß-der-Teufel-warum, ergriff eine seiner unbeholfen herumhängenden Hände, nun wieder ganz mädchenhaft keusch, und, ohne ein Wort der Erklärung, führte ihn zu seinem Sitzplatz.

Wo ihn niemand erwartete, nicht mal Kristina.

Als Broschkus zurückgesunken war auf seinen Hocker und keine Bierdose fand, nach der er hätte greifen können, beugte sich das Mädchen zum Abschied herab und – küßte ihn auf, nein: biß ihn ganz zart in den Hals? Kaum daß sich die Zähne in seine Kehle gruben, Broschkus bekam Gänsehaut, ich werd’ verrückt, hier-jetzt-sofort verrückt! Doch wie er, geblendet von so viel Glück, den Blick nicht zu heben wagte, hatte man ihn bereits sitzengelassen. Neben einer korrekt frisierten Frau, die sich auf wundersame Weise in jenem Moment wieder eingefunden, vor einer Bierdose, die zwar leer, aber auf wundersame Weise wieder vorhanden war.

Daß ihm einer der Umsitzenden die Schulter klopfte, fühlte Broschkus nicht, doch die angebotne Zigarette nahm er ohne ein Wort des Dankes an. Und rauchte sie in einem einz’gen Zug weg, der erklärte Nichtraucher, während er sich mit Müh’ daran erinnerte, wo er und was er war, ein Doktor-rer-pol doch wohl immerhin? Gestandner Abteilungsleiter, Spezialist für Abwärtsspekulation und Leerverkauf? Oder ein blasser Tourist bloß, ungläubig die Kehle sich befühlend, die Tabakkrümel auf den Lippen? Der Deckenventilator, noch immer fächelte er ihm einen herben Geruch zu oder jedenfalls eine Luft, das Hemd klebte ihm an der Brust, die heftig auf und ab sich senkte, es war eine Schande. Wie gierig ihn die kleinen Fliegen umschwirrten!

 

Daß er irgendwann in die Nähe des Ausgangs geraten,

nach einem weiteren Cristal vermutlich und hinter einer eleganten Dame mit Rückenausschnitt, bekam Broschkus erst mit, als es zu spät war. Suchend blickte er sich um, entdeckte nur die Zigarrendunkle, die ihm jetzt, da sie ihre halskettenbehangne Schwere über einen der Hocker gestülpt hatte, die ihm jetzt, da sie sich eine Sonnenbrille mit blauen schmetterlingsflügelförmigen Gläsern in den Kräuselmop gesteckt hatte, die ihm geradezu häßlich erscheinen wollte, ja, alles an ihr war zu leberfleckig, zu breitnasig, zu prall ausgefallen, vom Wangenknochen hoch durch die Braue lief ihr eine Narbe, selbst im Schweigen wölbte sich ihr Mund weit nach vorn, eine feucht glänzende Obszönität.

Deine Freundin, wo ist sie? blickte ihr Broschkus ins Auge, die Dunkle riß einen Keil in ihr Gesicht, ein hellrosarotes Zungenlachen, versetzt mit einem rauhen Schwall an Silben, aus der Tiefe einer verrosteten Gießkanne heraufgurgelnd. Draußen, auf dem Treppenabsatz, stand die Dame, drehte sich vorwurfsvoll um – ach, das war ja Kristina –, der Pferdeschädelraßler machte einen Schritt auf Broschkus zu, wahrscheinlich wollte er ihn in letzter Sekunde anschnorren. Wo ist sie? blickte Broschkus schnell zum Zigarrenmacher, doch der sah nicht mal her, rollte Tabakblätter zwischen seinen Händen. Wo? blickte Broschkus zum Barmann, der ihm zugrinste, zwei gestreckte Zeigefinger aneinanderreibend, Broschkus blickte wieder nach draußen. Dort hatte sich Kristina mittlerweile treppab verfügt, die Sicht freigegeben auf – ein Mädchen: So selbstverständlich lehnte’s am Geländer, neben dem Türhüter, so selbstverständlich, ein Schattenriß im hellen Gegenlicht.

Herr Broder Broschkus, sofort erfüllte ihn wieder ein feines Sirren, geriet ihm jegliches in sanftes Schwirren; weil er aber nur zwei Worte Spanisch sprach, die Ziffern mal nicht mitgezählt, setzte er sich in Bewegung, ging schweren Schrittes auf die Silhouette zu und – vorüber. Während er bereits die Schuhspitze auf die erste Stufe setzte – welch Kühle mit einem Mal auch hier draußen! –, dachte er »¡caramba!« und sagte, nein: flüsterte, nein: wisperte, denn die Zunge blieb ihm am Gaumen kleben: »adiós«. Dann stürzte er treppab und zu Tode.

 

Nunja,

um ein Haar. Was ihn gerettet hatte, jedenfalls für diesmal, war seine Frau; als er zehn Stufen tiefer angekommen, mit einem verknacksten Knöchel vermutlich und mit Kristina, die er im Schwung des Hinabstolperns mitgerissen hatte, war der Himmel weiß.

»Was für ein … Abschluß … Urlaubs!«

Jetzt nahm ihn Kristina auch noch an der Hand, zog ihn vor aller Augen weg, in die Mitte der Gasse. Welchen Abschluß sie wohl meinte, wieso Urlaub?

»Alles …, Broder?«

Ohne die Antwort abzuwarten, ging sie los. Doch wie sich der Herr Doktor, der gestandne Abteilungsleiter, widerwillig in Bewegung setzen und ein klein wenig dabei nach oben schielen wollte, blieb er gleich wieder stehen: Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte ihm nicht etwa der Türsteher, nein-nein-nein, rannte ihm das Mädchen hinterher, als ob er nicht etwa an der Seite einer andern Frau dort unten stand, rannte durch dieses Licht, diesen Lärm, auf ihn zu, mit einem Geldschein winkend. Gerade noch gelang’s ihm mit einer ruckartigen Bewegung, sich der Fürsorglichkeit Kristinas zu entziehen, schon stand sie vor ihm, bebend bis in die Bauchdecke hinab:

Ob er den, bitte, in zwei Fünfer wechseln könne?

Die Zahlen, die beherrschte Broschkus, die verstand er sofort, dazu hätte sie ihm gar nicht ihre langen Finger zu zeigen brauchen, fünf Finger der linken, jajaja, fünf Finger der rechten Hand. Trotzdem war’s kein leichtes, die gewünschten Scheine aus der Hosentasche hervorzusuchen, war’s unmöglich, ihr dabei ins Gesicht zu sehen, konzentrier dich, Broder, schau auf die Zehnpesonote, schau auf ihre Fingernägel, die sind nicht silbern, sondern weiß, und versuch mal, nicht zu atmen.

Als er ihr die beiden Fünfer entgegenstrecken konnte, tat er’s gleichwohl – atmete den Duft noch einmal ein, der ihrem Körper entströmte oder jedenfalls der Welt, sank ins Grün ihres Blickes, daß er sich an der nächstbesten Hand festhalten mußte, deutlich zu sehen auch der streichholzdünne Strich, der fahle Fleck im rechten Auge oder vielmehr, ist-doch-wirklich-egal-jetzt, im linken.

»Naja, diese Lebensfreude hier, diese … geht mir manchmal ein bißchen …«

Das mußte Kristina sein, die ihn da hielt, jetzt galt’s beizupflichten, jetzt galt’s Augen-zu-und-durch, wohin ging ihr die Lebensfreude?

Also Broder, drängte Kristina. Ob er sich vor dem Abflug nicht lieber ein Stündchen hinlegen wolle, »nach alldem«?

Wenige Fragen später war Broschkus auf halbem Weg zum Hotel, leicht humpelnd, mit der Rechten auf seine Frau gestützt, in der Linken einen zerknüllten Zehnpesoschein, heftig brannte ihm der Mund.

 

Brannte derart,

daß er beim nächsten batido-Stand nicht lange zögerte, sie hatten schon etliche Gassen gequert, in denen man nicht mal einen Hund zu Gesicht bekommen, und nun gab’s endlich etwas, das ihm die Zunge vom Gaumen lösen würde: Bananensaftmilchzuckerwasser, auf Eis.

Nein-danke, schüttelte Kristina den Kopf, in diesen batidos sei jede Menge Einheimisches drin, sie bleibe konsequent.

Einem Broschkus war das freilich egal und ein batido das einzige, das er in den vergangnen Wochen zu schätzen gelernt. Erst als er zwei rosarote Plastikbecher geleert hatte, bemerkte er, aber da passierten sie bereits den Aufgang zur Kathedrale, wo einem die Bettler mit ihren Beinstumpen auflauerten, bemerkte er, daß er anstelle des Zehnpesoscheins einige Münzen in der Hand hielt.

 

Und in der Hand noch hielt,

während Kristina schon neben ihm lag, auf einem ausgeleiert wippenden Hotelbett, wo er sich in Ruhe fragen konnte, fragen mußte, warum das Mädchen ausgerechnet ihn um Wechselgeld angegangen hatte, zumal’s doch vom Türhüter und im Grunde von jedem andern ohne die geringste Mühe –?

Durch die Sprossen der Fensterläden langte in langen Streifen das Licht des Südens, kaum abgedämpft drang ein beständiges Kreischen Quietschen Hupen Schimpfen Rufen herein, ein gellendes Pfeifen und, plötzlich, eine Sekunde der Stille – all das dumpfe Bebrüten des Mißlichen, wie’s sich in Broschkus’ Leben und, maßstabsgetreu verkleinert, auch in diesem Urlaub ausgebreitet hatte, nun wurde’s in einer einzigen Sekunde hinweggefegt, schlagartig war er wieder nüchtern: Daß man nur so dumm sein konnte! Wie zart Kristina neben ihm lag mit ihren strähnchenhaft aufgerüschten, in Wahrheit vollkommen unblonden Haaren, wie ahnungslos zart und zerbrechlich, wie fern!

Entsetzlich sicher dagegen war sich Broschkus, gerade einen großen Fehler begangen zu haben: weil auf dem Zehnpesoschein des Mädchens womöglich all das zu finden gewesen, das er – vielleicht kein ganzes Leben, wohl aber die letzten Jahre ersehnt hatte, ein Name, eine Telephonnummer, ein Geständnis. Sogar die Matratze geriet ins Schwingen, so heftig ballte sich jetzt das Begreifen. Wie fremd und weiß und weich Kristina neben ihm lag, unerreichbar korrekt selbst im Schlaf, es war zum Heulen.

Doch diesmal dachte Broschkus gar nicht dran, sich seinem Mißmut hinzugeben, im Gegenteil, sondern machte den Fehler wieder wett. Jedenfalls hatte er das heftig vor, von draußen lärmte das Leben, von draußen lachte und lockte und rief ihn das Leben, schon war er selber draußen, entschlossen humpelnden Schrittes. Den Getränkestand fand er tatsächlich ohne geringstes Problem.

 

Sich einen weiteren Becher batido bestellend,

bat er die Verkäuferin, eine träg schlurfende Schwarze, die aus ihrem Wohnzimmerfenster heraus das Haushaltsgeld aufbesserte, bat sie mit einem energischen Zeigefingerkreisen, das Bündel Zehnpesonoten herauszugeben, das sie heut erwirtschaftet, dochdoch, ausnahmslos alle, ich zahle mit Dollars, bin Sammler. Als sie erst einmal kapiert hatte, wie diesem Verrückten geholfen werden konnte, war die Frau durchaus einverstanden, geistesgegenwärtig holte sie weitere Banknoten aus weiteren Zimmern, stets dabei nach Unterstützung rufend, am Schluß erhielt Broschkus sämtliche Zehnpesoscheine, die sie und ihre Nachbarn und die Nachbarn der Nachbarn auf die Schnelle hatten beibringen können.

Beschwingt begab er sich zurück zum Hotel, ein erkleckliches Bündel Papier in der Hand, das sich klebrig verschwitzt und ganz und gar großartig anfühlte.

 

Zur Überraschung seiner Frau trank er

im Flugzeug gleich einen doppelten Whiskey:

Also Broder. Was denn in ihn gefahren sei?

Tja, das wußte er zwar auch nicht so genau, aber im Grunde wußte er’s ziemlich genau, es fühlte sich aufregend gut an – auf dem Brustkorb, linksrechts, in der Leistengegend, linksrechts, selbst in der Gesäßtasche, Prost-Schatz.

Nach dem Essen nahm er weiteren Whiskey zu sich, wie angenehm dazu das Flugzeug summte, wie angenehm die Nachtbeleuchtung schimmerte, schließlich zog Kristina zwei Plastikkissen aus dem Handgepäck, um sie aufzupusten:

Also Broder. Daß er dermaßen erleichtert sei über das Ende dieses schönen kleinen Urlaubs, finde sie leicht degoutant.

Indem sich Broschkus zur Toilette begab, mußte er sich fast an jedem Sitz festhalten. Als mit dem Zuziehen der Tür die Helligkeit aufflammte, erschrak er vor dem Kerl, der ihm da fahl und faltig aus dem Spiegel entgegen- und auch weiterhin schamlos zusah, wie er fassungslos seinen Adamsapfel betastete, dann aber mit siebzehn entschloßnen Händen Pesoscheine hervorzog, um sie sorgfältig eifrig gierig von vorn zu studieren und von hinten. Wie er dabei ein-, zweimal einen kleinen Triller abließ, ein drittes Mal schließlich, dabei galten die Triller nur irgendwelchen Kritzeleien auf den Scheinen, weißgott nichts Außergewöhnliches.

Weißgott nichts, ob er das gerade richtig gehört habe, nichts Außergewöhnliches?

Mit den drei Zehnpesoscheinen in der Hand befuchtelte Broschkus sein Spiegelbild, sein offensichtlich ahnungsloses Spiegelbild, sieh her, wenn du Augen hast, zu sehen, das sind sie, ¡caramba! Mehr als erwartet sogar, mehr vielleicht als unbedingt nötig.

Weil sein Spiegelbild freilich nicht begreifen wollte, mußte er eine Spur deutlicher werden: Optionsscheine, Mann, das sind –!

Er tupfte dem Kerl im Spiegel mit den Spitzen seiner drei Scheine auf den Halsansatz: Eine Art außerbörsliches, ein verdammt außerbörsliches Termingeschäft, wenn du’s lieber so formulieren willst, das ist – was es denn da zu grinsen gebe?

»Einmal im Leben unlimitiert agieren, EIN MAL!«

Broschkus zuckte fast ebenso heftig zusammen wie sein Spiegelbild, war das wirklich eben er selbst gewesen, der seine Gesprächspartner sonst immer so sanft belehrte, in jahrelang antrainierter Leidenschaftslosigkeit? Wohingegen jetzt sogar die Dinge von ihm abrückten, nach rechts abhanden zu kommen drohten und nach links, wieso geriet hier eigentlich alles in Schieflage? Wieso stanken die Scheine so sehr? Na gut:

»Einmal im Leben etwas Großes wollen, kapiert?«

Und nur noch geflüstert:

»Vor allem dann aber auch tun!«

Und nurmehr gedacht, ganz leise gedacht, weil sich die Dinge sonst vielleicht zu drehen begonnen hätten:

Wurde ja langsam auch Zeit.

Wie leicht sich die drei Scheine zum Verschwinden bringen ließen, wie leicht die restlichen Scheine von der Klospülung aus der Welt geschafft wurden, keiner hat’s gesehen, keiner hat’s gemerkt, adiós.

Als er seinen Sitzplatz wiedergefunden hatte, entdeckte Broschkus ein aufgeblasnes Kissen, daneben eine halb schon in ihrer Halskrause eingeschlafne Frau, ach, das war Kristina:

»Also Broder! So betrunken hab’ ich dich lang nicht mehr erlebt.«

Bloß nicht antworten. Während sich Broschkus das Kissen umlegte, versuchte er, möglichst geradeaus zu lächeln – wie arm war alles, was er mit Kristina erlebt hatte! Wie arm war alles, was er ohne sie erlebt hatte! Bis auf das, bis auf das, bis auf das, was ihm nun in allen Muskelfasern und Haarspitzen und Nervenenden und in Form von drei Geldscheinen auch in seiner Brieftasche steckte, bis auf – Broschkus fühlte die Sehnsucht so sehr in sich aufrauschen, daß ihm die Ohren summten. Nicht mal den Namen des Mädchens wußte er, nicht mal ein-zwei-drei Silben, die man in sich hineinstaunen konnte. Kristina? Was wollte die denn noch? Oder war das die Stewardeß, die eine Ansage machte, war das die sichtlich empörte Stimme der Stewardeß? Die sich ein wenig mehr Respekt für die kubanische Währung erbat, »aus gegebenem Anlaß«, so wertlos sei sie auch wieder nicht, daß man sie einfach ins Klo werfen müsse, das verstopfe nur den Abfluß, vielen Dank. Spätestens jetzt lächelte Broschkus, träumend von einem Mädchen, das ihn mit Augen anblickte. Träumend von Augen, in denen ein Fleck war, und wie er so zurückblickte, im Traum, da sah er den Fleck auch auf ihrer Wange, auf der Oberlippe, dem Hals, da war der ganze Körper dieses Mädchens mit Flecken übersät, ein honigbrauner Leib mit schwarzen Flecken, ja: Lächelnd träumte Broschkus.

IIDer Zigarrenmacher

 

Ein vorletztes Mal lächelte Herr Broder Broschkus

an einem Montag abend, am Ende einer Reise, die er, nicht ohne dabei mehrfach die Fluggesellschaft zu wechseln, von Hamburg über Moskau nach Ulan-Bator, von Ulan-Bator zurück nach Moskau, von da nach Havanna und weiter nach Santiago getan: Einige Tage nach seinem fünfzigsten Geburtstag war er tatsächlich wieder dort, wohin’s ihn seit jenem 5. Januar mit Macht gezogen. Warm und feucht fuhr ihm die Karibik schon beim Gang übers Rollfeld entgegen, vom Flughafengebäude wehten die Fanfaren des Frohsinns.

Als Aussteiger fühlte sich Broschkus in seinem Brioni-Anzug ganz und gar nicht, Broschkus fühlte sich als Einsteiger – als Einsteiger in ein Leben, von dem er zwar nicht den leisesten Schimmer hatte, wohl aber eine honigfarbene Vision mit fahlen Einsprengseln; das ganze kubanische Drumherum war ihm herzlich, eigentlich unherzlich egal. Als er erfuhr, daß sein Gepäck auf irgendeiner Zwischenstation abhanden gekommen, wartete er nur widerwillig ab, bis man die Angelegenheit auch offiziell erfaßt haben würde. Ob der Koffer wieder auftauchte oder nicht, er enthielt ohnehin nur, was in den wenigen Stunden vorm Verschwinden wahllos zusammengekauft.

Wie lange hatte Broschkus auf diesen Moment hingearbeitet, die ersten Monate noch zwischen den wohlvertrauten englischen Spanntapeten der Hase & Hase KG! Fiel ihm der Blick, vom Bildschirm mit den beständig vorbeiflimmernden Börsennotierungen befreit, in die Seidenrosen auf der Fensterbank, dann auf die Baumkronen draußen, die grauen Wasser dahinter, die geräuschlos gleitenden Schiffe der weißen Flotte und, vor allem, die riesige Fontäne, die aus der Alster empor- und in den Himmel schoß: so ertappte er sich regelmäßig dabei, wie er den Gestank der drei Pesoscheine inhalierte, darin eine unwiderstehliche Herbheit erahnend, wie er von arg gefleckten Körpern träumte oder seltsam vergebliche Ferngespräche tätigte, anstatt Verabredungen mit seinen Kunden beim Hamburger Derby wahrzunehmen oder im Übersee-Club.

Während die Insassen einer mittlerweile eingetroffnen Chartermaschine von immer denselben Fanfaren, vor allem aber fastnackten Tänzerinnen mit ersten Urlaubsklischees versorgt und dann gleich in Busse verfrachtet wurden, die sie in selbiger Nacht über die Küste des gesamten Oriente verteilen würden, betrachtete Broschkus die wenigen Schaufenster, die der Flughafen zu bieten hatte, seine randlose Brille kippend, betrachtete das eigne Spiegelbild: Allen Klischees entsprechend, die das Leben für den ehemaligen Prokuristen einer hanseatischen Privatbank bereithielt, stand er da, ein ungewöhnlich blasser, ungewöhnlich freudlos blickender Mensch, nadelstreifenblau bis hinab zum britischen Budapesterschuh, und tupfte sich mit dem Stecktuch die Geheimratsecken trocken. In der Linken hielt er eine ziegenlederne Aktentasche, gefüllt mit allerlei Überflüssigem und einem Jugendphoto seiner kürzlich verstorbnen Mutter; in der Brusttasche wußte er eine VISA-Karte: So planvoll irritierend, wie er sich als Reisender sogar seinem Koffer entzogen, hatte er mehrfach Konten und Subkonten eröffnet, Konten und Subkonten aufgelöst, um am Ende mit dezenter Hilfeleistung eines früheren Kollegen sein gesamtes Barvermögen auf ein Schweizer Nummernkonto zu transferieren, am Staat vorbei und an Kristina, sofern sie überhaupt Nachforschungen betreiben würde. Von der Sorge um traumatisierte Haustiere in ihre Praxis getrieben, hatte sie nicht mal mitbekommen, wie er seit Anfang Mai nurmehr pro forma zur Arbeit gegangen, nachdem er dort einige Wochen zuvor im großen Stil bei fernöstlichen Internetwerten zugegriffen, bei russischen Ölfirmen und weiteren Verbrecherpapieren, die er seinen Kunden früher gewiß ausgeredet hätte.

Warum ein solch erfahrner Mann wie Broschkus, warum ein solch besonnener Mann, der bei den Frankfurtern – der Niederlassungsleiter sagte seit je »die Frankfurter« – stets als konservativ, fast als ein wenig zu konservativ gegolten habe, zu vorsichtig, zu unaggressiv, warum er die hauseignen Research-Vorgaben mit einem Mal so eigenmächtig umgangen habe? Ausgerechnet seine ältesten Stammkunden hätten sich zusammengetan, anscheinend schon seit dem diesjährigen Hase & Hase-Golfturnier, und mit einer Klage gedroht. Über zweieinhalb Millionen hätten sie insgesamt verloren aufgrund höchst spekulativer, ja dubioser Turbo-Zertifikate, wie sie sich ausdrückten, zwecks Abwärtsspekulation auf diverse Indices. Zu einer unlimitierten Order auf chinesische Optionsscheine habe sie Broschkus angeblich regelrecht genötigt, angeblich mit der Begründung: »Ein Mal im Leben unlimitiert agieren, verstehen Sie?« Ob er anstelle der Abmahnung nicht eine Abfindung vorziehe?

Wer weiß, ohne die Verschwörung seiner Hauptklienten hätte Broschkus den Absprung vielleicht gar nicht geschafft, dazu verlief sein Leben viel zu angenehm geordnet, viel zu angenehm unaufgeregt. Nun aber war’s plötzlich wieder horizontlos heftig geworden, das Leben, nun aber galt’s, den Entschluß, den er bereits auf dem Rückflug von Santiago gefällt und dann Tag für Tag verschoben, revidiert, verworfen und Nacht für Nacht erneut gefaßt hatte, nun galt’s, den Entschluß auch umzusetzen. In aller Konsequenz, ohne falsche Sentimentalität, wie er’s von seinen Kollegen aus der Kreditabteilung kannte, wenn sie eine Firma liquidierten.

Und tatsächlich, heute stand er dort, wo er hingehörte, ein Mann in seinen besten Jahren, stand jedenfalls schon mal vor den Schaufenstern des Flughafens und lächelte seinem Spiegelbild zu. Man sah’s ihm an, daß er in seinem Leben nichts geschafft hatte, als Geld zu vermehren, zu verstecken und, am Ende, zu verlieren, daß er siebzehn Jahre lang lediglich für seine Stammkunden gelebt und dabei alles versäumt hatte – selbst bei seinen kleinen Inkorrektheiten war er so korrekt geblieben, wie man ihn erzogen, ein früh ergrautes Muttersöhnchen. Seinen Ehering drehend, hielt er ihn plötzlich in der Hand, stand sekundenlang unschlüssig. Ach, Kristina – hoffentlich hatte sie ihn wenigstens die letzten Jahre betrogen, anstatt sich klaglos bloß in ihrer Arbeit zu verzehren, in ihrer Rolle als alleinerziehende Mutter, die sie, als habe sie sich gar nicht erneut verheiratet, weiter- und weiter- und weiterspielte. Erst im Schlaf, wenn sie die Kontrolle über ihre Gesichtszüge verloren, zerfloß all ihre kühl abweisende Eleganz in etwas, das Broschkus einmal sehr geliebt hatte, und dann – warf er den Ring doch nicht weg, sondern legte ihn ins Fach seiner Brieftasche.

Kurz vor Mitternacht, nachdem sich endlich jemand gefunden, dem er radebrechend eine Kofferbeschreibung zu Protokoll geben durfte, ließ er sich ins Zentrum von Santiago chauffieren, der Fahrer wollte ihm eine muchacha andienen, die über beste Referenzen verfüge, keine dieser billigen Hotelnutten, mit denen er’s gleich zu tun bekommen würde, nein, eine ehrbare Frau, und Broschkus dachte: Wenn du wüßtest. Hatte er die vergangnen drei Monate etwa deshalb heimlich Spanischkurse belegt, um sich mit solchen Standardvorgaben abspeisen zu lassen, sah er etwa aus wie jemand, der einer billigen Notdurft wegen eingereist? In Deutschland war’s jetzt fast schon wieder hell, also einen Tag später, Dienstag, 30. Juli, Kristina würde so langsam begonnen haben, sich mit der neuen Situation abzufinden – schließlich besaß sie das Haus, homöopathischen Ehrgeiz, ihre Tochter Sarah samt Goldhamster (Willi II.). Im »Casa Granda«, einem weißfassadigen Kolonialklotz, den Broschkus bereits vor einem halben Jahr bewohnt hatte, bezog er planmäßig ein Frontzimmer, sah noch eine Weile auf den hell ausgeleuchteten Platz herab. Alle Bänke dort waren gut bestückt mit Geschöpfen, man rauchte, trank, trommelte, paradierte mitunter hüftschwenkend vor den Blicken der Hotelgäste. Als man ihm dabei zuwinkte, schloß er die Fensterläden, es war Zeit. Nie wieder Ersatzkrawatte im Büro, nie wieder Ersatzgeliebte im Hotel, nie wieder!

 

Nie wieder Franzbrötchen zum Frühstück,

nie wieder Feuilletonüberschriften anlesen und heimlich Kalorien zählen, nie wieder!

Über seinen Teller, der fast ausschließlich mit verschiedenfarbenen Früchten behäuft war, und die Brüstung der Dachterrasse hinweg widmete sich Broschkus einem Frühstücksblick, den er gern als großartig empfand, direkt vor und tief unter ihm marmorgefliest der Platz, flankiert links von den gelbweiß gestrichnen Türmen der Kathedrale, rechts vom geziegelten Dach des Rathauses: Ein steinerner Teppich, durchschnitten von schnurgeraden Straßenfluchten, entrollte sich die Stadt ockerbraunrotgrau bis hinab zum Hafen, am gegenüberliegenden Ufer der Bucht aufrauchend die Schlote einer Raffinerie, riesig blitzende Wassertanks. Dahinter im Dunst die Silhouette der Berge, rechter Hand zum weiten Bogen sich hebend um Bucht und Stadt bis hinter Broschkus’ Rücken. Der Lärm des Lebens hier oben nurmehr ein geflüstertes Locken, der salzige Geschmack der Luft ein Versprechen, mit reglos entfalteten Schwingen strich ein Vogel knapp über die Dächer.

Nie wieder geregelte Glückszuwendungen, gedämpfte Erwartungen! Auch Rasierpinsel aus Bauchhaaren kanadischer Dachse, bei aller Liebe, würde’s hier nicht geben. Dafür aber etwas andres. Und das würde er finden.

 

Kaum hatte Broschkus freilich einen ersten Schritt

am Portier vorbei gesetzt, wurde er selber gefunden, »Hello, friend!«, wurde vom erstbesten abgefangen, der dort auf einem Zahnstocher herumkaute, »Cuba good?«, sich als »Lolo, el duro, el puma« vorstellte und einfach mitging: »What you like? Cigar? ¿Ron? ¿Chica? Eat? Sleep?«

Nichts dergleichen wollte Broschkus, nichts, leider fiel ihm die entsprechende spanische Wendung nicht ein. Kleidung wollte er sich kaufen, Rasierzeug, Zahnbürste, »das Nötigste«, doch diese Vokabeln fielen ihm noch weit weniger ein. In jedem Fall wollte er allein gehen, aber schon schüttelte Lolo seine langen Rastalocken, lachend, schlug ihm eine Hand, an der drei Finger fehlten, auf die Schulter, lachend, und ging einfach mit. Um im Verlauf der kommenden Stunden, so kündigte er an, all das zu finden, was Broschkus gar nicht suchte: das ehemalige Wohnhaus der Bacardís, die Kathedrale, das –

Nein? Na gut, vielleicht solle man ein Taxi nehmen und zum Meer fahren?

Na gut, das große Haus sei also das »Casa Granda«, der Platz davor der Parque Céspedes. Abends gebe’s hier die schönsten Frauen von Santiago, ob Broschkus Bedarf habe?

Na gut, die Straße gleich neben dem Hotel, die heiße Heredia, zwei Ecken weiter befinde sich die berühmteste Kneipe der Stadt, die stehe in jedem Reiseführer?

Broschkus hatte Bedarf. Durch schmiedeeiserne Fenstergitter konnte man von der Straße aus in einen mäßig mit Touristen gefüllten Raum sehen, in der Tat sang dort schon um diese Uhrzeit eine grauhaarige Greisin mit dunkelrotem Band im Haar, sang mit sanfter Stimme gegen die ununterbrochen vorbeiknatternden Motorräder an.

Berühmteste Kneipe? Gab’s da nicht vielmehr –?

»No like?«

Lolo, so locker er gegen die Sonne grinste, so wenig duldete er Widerspruch am Programm, noch in der Heredia zeigte er geschnitzte Spazierstöcke, bemalte Karnevalsmasken, aus Papier gebastelte Oldtimer, jede Menge Trommeln. Hatte währenddem alle Hände voll zu tun, die herumsitzenden Händler und entgegenschlendernden Rastalockenträger zu grüßen, ein lautes Abklatschen der flach ihm zugestreckten oder übern Kopf erhobnen Handflächen, manch einer seiner Freunde zog eine Touristin mit sich, die verschämt an Broschkus vorbeisah.

Ein zielstrebig zu absolvierender Rundgang schloß sich an, hügelaufwärts zu einer Kaserne, in deren Mauern sorgfältig konservierte Einschußlöcher der zunächst gescheiterten Fidel-Revolutionäre zu besichtigen waren, hügelabwärts zur längst geschloßnen Rumfabrik am Rande eines trostlosen Hafenviertels, zurück über die Hauptgeschäftsstraße Enramada bis zum Dienstgebäude des ersten Inselgouverneurs, angeblich das älteste Haus Kubas, noch angeblicher der ganzen Neuen Welt: knappe drei Stunden, während deren Broschkus laufend damit beschäftigt war, Dienstleistungsangebote abzuwimmeln und dabei nicht in schlechte Laune oder unter einen heranhupenden Lada oder Moskwitsch oder Lkw-Bus zu geraten, dem die Menschentrauben am Heck hingen. Bevor sich Lolo mit ein paar Dollars endlich abspeisen und zum Teufel jagen ließ, galt es noch, ihm eine Fünf-Peso-Pizza zu spendieren, vor allem, selber eine zu verzehren. Sie wurde aus einem Hauseingang gereicht, auf einem dünnen grauen Pappstück, wurde von Lolo gleich hälftig zusammengeklappt samt Pappe, so daß Broschkus nur zugreifen, in der Hüfte abknicken und das geschmolzne Käsefett heraustropfen lassen mußte.

»Reichlich verranzt hier«, hörte er sich den Vormittag zusammenfassen, »und das Wechselgeld hätte ich jetzt auch ganz gern.«

 

Nachdem er,

tatsächlich gleich im Souterrain seines Hotels, einen Teil der Einkäufe erledigt und sich entsprechend umgekleidet hatte, begab sich Broschkus erneut ins Offne, auf direktem Weg in den Nachmittag. Berühmteste Kneipe der Stadt? Das wußte er besser.

Aber anscheinend dann doch nicht gut genug. Genaugenommen fand er noch nicht mal den batido-Stand, an dem er in einem frühern Leben Optionsgeschäfte getätigt. Entschlossen alle Rasta-Jungs abwehrend, die ihm Dienste anboten, hatte er sich vielleicht schon an der Kathedrale für die falsche Richtung entschieden, bergab, vorbei an bröckelnden Fassaden, an weiß-grün oder -blau oder -rosa dösenden Straßenkreuzern aus den Fünfzigern, riesigen gestrandeten Schlachtschiffen, stets auf der Hut vor lautlos heranrollenden Motorradfahrern, anscheinend war’s hier üblich, hangabwärts Benzin zu sparen. Um dann desto unvermittelter, wenn Freunde oder Frauen ins Blickfeld kamen oder wenigstens Touristen, die man scheuchen konnte, um dann mit der Hupe nach Rüpelart Laut zu geben. Im Beiseitespringen geriet Broschkus auf etwas Weiches, bei näherer Betrachtung war’s eine halbverweste Taube.

Dazu kamen die Frauen. Im Vorübergehen taxierten sie ihn aus dunklen Augen, manche zischten ihm ein »¡Sssss!« hinterher oder riefen halblaut »¡Amigo! ¡Amigo!«, dazu kamen Rohrbruch-Überschwemmungen, sprudelnde Quellen aus geborstnen Gehsteigplatten, dazu kamen Eisenträger, die aus Mauern ragten. Ein Mann, der auf einem Treppenabsatz hockte, hinter dem zwar eine komplette Fassade, aber gar kein Haus war – niemand außer Broschkus schien ihn wahrzunehmen, er saß ja auch nur, löffelte Reis aus einem matt glänzenden Aluminiumtopf, Reis mit roten Bohnen.

Ein paar Schritte noch, schon stand Broschkus vor einem groben Gebäude, über dessen Freitreppe man Eßbares trug. Weil ihm das Hemd am Körper klebte, ging er ohne zu zögern hinterher.

 

Im Schatten des Eingangsbereichs gab’s vorgeschälte Orangen,

die man sich für einen halben Peso aufschneiden lassen und an Ort und Stelle auslutschen konnte, Broschkus bekleckerte sich reichlich. Dahinter, nach links zu, eine Halle für Grünzeug, an die sich eine weitere anschloß, kleine Bananen waren zu Verkaufspyramiden gestapelt, Limonen zu gelbgrünen Häufchen zusammengeschoben, schuppige Früchte, für die man keinen Namen wußte. An jedem zweiten Stand gab’s gar nichts; kurz bevor man in eine letzte, wesentlich kleinere Halle trat, wurde Mais gemahlen. Dann traf man auf einen steinernen Tresen, der sich der Länge nach durch den Raum zog, mittels einiger weniger Fleischstücke war er als Bereich der Metzger gekennzeichnet. Nach Blut roch’s, ein Mann wedelte die Fliegen mit seinem Taschentuch vom Tisch, und am entgegengesetzten Ende des Raums, dort, wo man schon fast wieder am Eingang angekommen war, lag –

Als Broschkus näher getreten, blickte’s ihn unverhohlen aus großen Augen an, zischte ihm lautlos ein »¡Sssss!« zu, ein –

Ein Schwein.

Neinein, nur dessen Schädel, die Ohren gespitzt.

Obwohl ihm daneben ein paar große Stücke schieren Fettes weiß zuleuchteten, konnte Broschkus den Blick nicht vom Schweinskopf lassen, wobei sich sofort ein merkwürdig leeres Gefühl einstellte, ein Gefühl, er habe ihn schon mal gesehen, diesen Kopf, an dem die Schnurrhaare nicht fehlten, die Augenbrauen und die Augen – das heißt, die konnte man ja gar nicht sehen, jedenfalls bis das Schwein die Lider wieder öffnen würde. Die aber waren zugenäht mit blauem Zwirn. Broschkus stand und suchte das Schwein zumindest nach ein paar Schweißperlen ab, so natürlich lag es da auf dem Tresen. Nur sein Schädel, gewiß. Was Broschkus jedoch am meisten anzog wie abstieß, war das zahnbleckende Grinsen des Schweins, als ob es seinen Tod im Zustand höchster Glückseligkeit erlebt hatte: Je länger man es aus den Augenwinkeln beargwöhnte, desto lautloser lachte es.

Erst als eine braune, fleischige Hand die Fliegen verscheuchte, hob Broschkus den Kopf und sah die Verkäuferin, eine braune, fleischige Gestalt, die ihn anscheinend seit geraumer Weile fixierte, schläfrig schlau und gleichzeitig so stechend präzis aus ihren zugeschwollnen Augen, daß Broschkus sofort den Blick senkte. Doch es sollte noch deutlicher kommen.

 

Selbstverständlich gelang’s ihm nicht,

das »Casa Granda« auf kürzestem Wege anzusteuern, am gegenüberliegenden Ende der Bucht sank eine rote Sonne hinter die Berge, schon flossen die Farben aus den Dingen, schon sah sich Broschkus ins Graue hineinirren und vom Grauen ins Dunkle. Schweißüberströmt entdeckte er schließlich den Erdnußverkäufer, am selben Straßeneck wie vor Stunden, hinter der Kathedrale. Vor Erleichterung hätte er ihm fast eins der weißen Tütchen abgekauft: Geschafft! Lediglich an den kleinen Läden war noch entlangzugehen, die rundum ins gewaltige Fundament der Kathedrale eingelassen, lediglich an den kleinen Läden, zwischen denen der Treppenaufgang zur Kathedrale eher unscheinbar ausgespart, lediglich fünfzig, vierzig, dreißig Meter zum Parque Céspedes, gleich würden die Bettler losmurmeln.

Und dann das.

 

In der Tat murmelten sie sofort drauflos,

als sie seiner ansichtig wurden, schepperten mit Behältnissen, einer vertrat ihm den Weg, ein andrer versuchte, ihn zu umarmen, ein dritter steigerte sein Gemurmel zum inbrünstigen Geschnarre. Von den Treppenstufen stemmte sich ein Einbeiniger hoch, die Holzkrücken reichten ihm bis unter die Achseln, und erteilte, obwohl sich Broschkus gerade mit Entschlossenheit aus der Umklammerung riß, erteilte stumm seinen Segen.

Der aber, der ihn bis eben umklammert, warf sich auf den Gehsteig, der Passanten nicht achtend, so entschlossen jammernd, daß Broschkus den Widerstand aufgeben und ein paar Pesos zurechtwühlen wollte. Just in jenem Moment jedoch fiel sein Blick auf den Einbeinigen, der ihn seinerseits aus riesig geweiteten Augen anflackerte, sie schienen bloß aus Augäpfeln zu bestehen, weniger flehend anflackerte als fordernd – das gefiel Broschkus überhaupt nicht: Anstatt nachzugeben und sich mit ein paar Münzen freizukaufen, setzte er einen Schritt nach vorn, am Jammernden vorbei. Doch der umgriff sofort seine Knie, während die andern sich hinter ihm zusammenrotteten, quer übern Gehsteig, jetzt ließ sich der Kerl tatsächlich Tränen über die Wangen laufen! Broschkus hatte wirklich keine andre Wahl mehr, erneut riß er sich los. Nicht etwa indem er dem Weinenden einen Tritt versetzte, das hätte er ja gar nicht gekonnt, trotzdem fiel der nun auch noch mit dem Oberkörper auf den Gehsteig, ließ sein Gejammer anschwellen zum Geschrei. Broschkus wandte sich und floh.

 

Querte die Straße,

zwischen Pferdekarren hindurch und hupenden Autos, auf die gegenüberliegende Bushaltestelle zu, doch der Einbeinige folgte ihm, ausgerechnet der, heftig mit seinen Krücken ausgreifend. Weil ihn Broschkus noch nicht mal im Gewühl der Wartenden abschütteln konnte, eilte er weiter, bis zur Ecke des Erdnußverkäufers. Kurz entschlossen kaufte er eins seiner Tütchen.

Der Einbeinige, ein großer, knochiger Alter mit gelbem Gesicht und farblosen Haaren, kam wenige Schritte entfernt zum Stehen, schweigend intensiv wartete er ab. Broschkus vermeinte, seinen Atem zu spüren und – aus dem Augenwinkel – eine schwarze Halskette zu erkennen. Also ließ er sich das Wechselgeld herausgeben, zählte sogar noch mal nach, riß in seiner Not schließlich das Tütchen auf und schüttete sich vor den Augen des Verkäufers, vor allem jedoch des Einbeinigen, die Erdnüsse in den Mund, bis ihm vor lauter Salz die Zunge schwoll. Selbst die letzte Nuß, die hartnäckig in der Tütenspitze steckenblieb, pulte er sich am Ende heraus, damit war die Sache seiner Meinung nach erledigt. Als er die Tüte zerknüllte und dabei den Kopf zur Seite riß, sah er direkt in die glasig weißen Augen des Bettlers – ob der vielleicht verrückt war? Broschkus, anstatt der Sache auf den Grund zu gehen, setzte sich wieder in Bewegung, und weil’s mit einem Mal auch auf der andern Seite der Kathedrale eine Straße gab, die zum Parque Céspedes, sogar direkt zum Eingang des »Casa Granda« führte, war jetzt alles ganz einfach. Nicht mal umblicken mußte man sich.

 

In der Hotelbar freilich,

noch bevor auf der Getränkekarte eine angemeßne Belohnung gefunden, fand Broschkus in seiner Rechten ein zerknülltes Tütchen. Das sich beim Entknüllen als eine spitz zusammengerollte Seite entpuppte, die sich beim Entrollen als Teil eines hektographierten Textes entpuppte, der sich beim Lesen als dem Werke Lenins zugehörig entpuppte: Wort für Wort buchstabierte Broschkus, »un paso adelante, dos pasos atrás«, halblaut artikulierend, so gut wie nichts begreifend. Während sich längst eine der dunklen Damen an seinen Tisch gesetzt und die Beine übereinandergeschlagen hatte.

 

»Don’t touch what you can’t afford«

lief ihr quer übers T-Shirt, Englisch sprach sie trotzdem kaum, lächelte dafür desto beredter. Broschkus lächelte nicht, dachte gleichzeitig an einen Bettler und an einen Schweinskopf, an eine Schweinskopfverkäuferin und an Kristina, wie sie wahrscheinlich mit Sarah übereinkommen würde, »daß Broder ja nie so ganz zu uns beiden gepaßt hat, nicht wahr?«, dachte an ein Mädchen in gelbschwarz gestreifter Radlerhose und an Lolo, den Puma. Was ihm die Dame auf Spanisch sagen wollte, verstand er zwar nicht, begriff’s jedoch: Mit ihrem Taschenspiegel zeigte sie ihm, daß er sich einen Sonnenbrand geholt hatte, kein Wunder bei seiner blassen Haut. Draußen stolzierte einer vorbei, der lediglich mit schillernd grüner Unterhose bekleidet und stark geschminkt war.

Die Hotelbar lag als Loggia in etwa zwei Meter Höhe über dem Platz, den man prächtig überschauen konnte, bloß durch eine Brüstung von ihm getrennt. Doch auch diejenigen, die sich unten präsentierten – dunkle Damen in phosphoreszierenden Tops, dunkle Jungs mit Rastalocken und guter Laune, ein paar müßig patrouillierende Polizisten –, doch auch die Einheimischen sahen, was sie sehen wollten: ältere Herrschaften, wie sie mehr oder weniger angestrengt jeden Zuruf von unten zu überhörten suchten. Kaum brach die Nacht an, flammten zwischen den Bäumen Laternen auf, das Terrain blieb bestens ausgeleuchtet.

Diejenigen hingegen, die sich mit dem Portier arrangiert hatten, begnügten sich nicht damit, ihre Opfer herauszulocken, »¡Sssss!«, sondern drangen direkt auf sie ein, über die gesamte Bar hatten sie sich verteilt, desgleichen am Tresen, wo sie Seit an Seit mit silberbärtigen Cohiba-Rauchern an Strohhalmen saugten, Ausschweifungen betuschelnd, regelmäßig in Gelächter ausbrechend. Am Nebentisch hielt einer, der höchstens sechzehn sein konnte, die Hand einer Mittvierzigerin, die ihn mit Bier und Blicken bedachte. Höchste Zeit, daß dieser Tag ein Ende nahm, kaum daß Broschkus noch auf die Busenbeschriftung seiner Tischdame deuten und dazu bedauernd mit den Achseln zucken konnte, so sehr fuhr ihm die Müdigkeit in die Glieder.

 

Die Zeitumstellung,

gewiß. Trotzdem wär’s vielleicht nicht nötig gewesen, weitere zweieinhalb Tage verstreichen zu lassen, um die verlorengegangne Spur zu seinem neuen Leben wiederaufzunehmen, ganz und gar unnötig gewiß, bis zu einem dritten dann auch noch zu zögern, um zehn steinerne Stufen hochzuschwitzen, entschieden seinen Touristendollar zu zücken und den Ort des Geschehens zu betreten.

Daß Broschkus zunächst so hartnäckig nach batidos suchte statt nach der »Casa de las tradiciones«, wäre wohl noch durch die Luftfeuchtigkeit zu erklären gewesen – kaum hatte man getrunken, war schon wieder alles ausgeschwitzt. Überdies suchte er mehr noch nach einem Stadtplan und, weil sich keiner auftreiben ließ, mußte sich, Straße für Straße, eine erste Orientierung verschaffen. Wobei’s laufend irgendwelche diensteifrig sich zugesellenden Lolos abzuwimmeln gab; wohingegen diejenigen, die nicht auf Kosten von Touristen lebten, kein Englisch und offensichtlich auch kein Spanisch sprachen, sondern eine Art spanisch anmutendes Oberbayrisch, die Hälfte der Silben verschluckend, die andre Hälfte zu einer zäsurlosen Abfolge gutturaler Urlaute verschleifend, und vor allem dermaßen schnell, ¡caramba!, daß man nicht wirklich weiterkam, adiós.

Aber das alles hätte einen Herrn Broder Broschkus doch nicht abhalten können, sich vom Hotel zielstrebig ins nächstbeste Taxi zu begeben und von dort –

Aber was dann?

 

Schließlich war er reif,

wenn er sich dieser Tage im Spiegel betrachtete, überreif – selbst am Hals hatte er sich im Lauf seiner Rotweinjahre mehrere Falten angesoffen, die sich zwar bloß bei bestimmten Verlegenheitsbewegungen zeigten, dann jedoch ungebührlich häßlich. Und erst die Augen – Broschkus erschrak vor der kaum kaschierten Gier darin, wo er zeitlebens versucht hatte, jede Art Lust durch Distinktion zu bändigen, durch Stil, schönen Schein. Als ob nun all das, was er an Ungeformtem so tief wie möglich verinnerlicht hatte, auf bestürzend unschöne Weise nach außen drang; wenn man weiterhin so rasant sich entpuppte, würde man in wenigen Wochen sein wahres Gesicht zu ertragen haben.

Aber wahrscheinlich lag’s ja nur an der Hitze und an den Hügeln und der Stadt.

 

Während um ihn herum ein gutgelauntes Gedränge

Gehupe Gelärme herrschte, ging Broschkus seiner Wege, schweigend vorbei an vierstöckigen Ruinen in hellblauer Grandezza, himmelan fein verziert, parterre mit Brettern grob verbarrikadiert, ging seines Weges, an dessen Ende womöglich kein fahler Fleck, sondern ein dunkler Punkt auf ihn wartete, und hatte alle Zeit der Welt. Aus den Löchern im Bordstein lief ihm das Abwasser vor die Füße, aus dem Mauerwerk stieg ihm raubkatzenscharf der Urin in die Nase, eingeklemmt zwischen bauchig geschwungnen Fenstergittern und hölzernen Fensterläden saßen Hühner. Nur selten blieb Broschkus stehen, um sich mit Hilfe eines kleinen Lexikons Wandparolen zu übersetzen oder Aufschriften der Imbißkarren; auf den Stufen ihrer Hauseingänge hockten Frauen, die einander Nägel lackierten und Zöpfe flochten, auf dem Gehsteig hockten Männer, die an ihren Motorrädern herumbastelten oder dem, der daran herumbastelte, Ratschläge erteilten. In jedem dritten Gebäude schien man etwas zu verkaufen, vorzugsweise Tropfpizzen und refrescos, die nach Tritop schmeckten. Wenn einer der Lkw-Busse vorbeiratterte, sonderte er schwarz einen Gestank ab.

So ging er dahin, Herr Broder Broschkus, mißtrauisch nach Bettlern und Schleppern schielend, nach kleinen Jungs, die Süßigkeiten und Kugelschreiber einklagten.

 

Am obern Ende der Enramada

entdeckte er eine Apotheke mit lauter leeren Regalen; das wenige an Medizin, das zum Kauf auslag, war auf einer Schautafel zusammengefaßt. Hügelaufwärts dann eine Bäckerei, die zwar geöffnet hatte, aber kein einziges Brot anbot. Hügelabwärts ein Kaufhaus, das vornehmlich als Durchgang zwischen zwei Straßen diente: Abgesehen von viel freiem Raum, auf dem noch nicht mal Verkaufstische standen, gab’s bloß Zierfische, bunte Ketten, Porzellanputten und -tiere, vornehmlich Schwäne.

Unten an der Bucht ein nahezu stillgelegtes Industrieviertel, müde schlappte das Meer an Mauern, die früher Teil einer herrlichen Hafenanlage gewesen, nun war kein einziges Schiff darin zu sehen, ein vollkommen leerer, vollkommen lautloser Hafen. Obwohl auch vom einstigen Baumbestand nicht viel übriggeblieben war, hieß die Hafenallee weiterhin Alameda, ab und an fuhren Fahrradrikschas vorbei, Pferdedroschken. Einer der Kutscher schneuzte sich die Nase, indem er sie mit zwei Fingern zudrückte und den Schlatz in den Rinnstein schnaubte, knapp an Broschkus vorbei.

 

Das einzig gut Gefüllte,

ja restlos Überfüllte waren die Dollarläden, dort schien’s reichlich zu geben, was der restlichen Stadt so fehlte. Entsprechend heftig drängte herbei – wer Dollars besaß: zum Kaufen, wer keine besaß: immerhin zum Glotzen, was er denn kaufen würde, so er könnte, Milchpulver, Scheiblettenkäse, Schokolade, wahlweise Waschpulver, Deospray, Öl, an allem schien’s zu mangeln, selbst ein Stück Seife war offensichtlich Luxus. Vor den Schaufenstern stauten sich die Menschen, Türsteher hielten die meisten draußen, und bei denen, die das Geschäft verließen, kontrollierten sie anhand der Kassenbons jede Tasche. Bei Broschkus machten sie keine Ausnahme, während ihm von hinten ein Kleinkind am Hemd zupfte, »Tänkju! Tänkju!«, und von draußen einer mit dem Armstumpf zufuchtelte. »Bombonera« nannte sich das Geschäft, »Bombonera«.

Da bekam der Herr Doktor, gestandner Abteilungsleiter, Spezialist für Abwärtsspekulation und Leerverkauf, eine erste Ahnung, wie das Leben hier so lief. Die langen Schlangen vor der einzigen offiziellen Wechselstube, in der’s für verschwitzte Peso-Bündel druckfrische Dollarscheine zu kaufen gab, die begriff er anschließend auch.

 

Schon wenige Schritte außerhalb des Zentrums

begann freilich eine urbane Ödnis, wie er sie trostloser gar nicht gewagt hätte zu wünschen, hierhin zog’s ihn, hier spürte er was, das er nicht benennen, dem er lediglich nachgehen konnte, zielstrebig ziellos von einem Erstaunen ins nächste strauchelnd. Zwischen eng verschachtelten Kleinmeistereien aus Ziegel, Holz, Wellblech, ockergelb bröckelnd, die besten unter ihnen schwimmbadblau gestrichen, sahnegrün, rosa, aus manchen Innenhöfen ragten Palmen. Über allem lag beständig leis ein Lärm, so zart und kunstvoll ineinander verflochten – Radiomusik, Tiergetrappel, Motorengesurr, der Gesang einer Frau, das Geschrei eines Kindes, die fröhlich verzerrte Ansage eines Fernsehmoderators –, daß man ihn als Variation der Stille empfinden durfte. Rastalocken-Lolos hingegen schien’s hier nicht mehr zu geben, wo sie ansonsten doch an jeder Ecke mit ihrer Lustigkeit störten; ganz offensichtlich hatte man nichts Lohnendes mehr zu vermitteln, man näherte sich dem vergeßnen Ende der Welt. In einer Stadt ohne Baukräne, Fußgängerzonen, Parkhäuser, Unterführungen, einer Stadt ohne Imbißketten, Litfaßsäulen und Neonreklamen, einer Stadt fast ohne Ampeln und Papierkörbe. Dafür sah man auf den Dächern noch Antennen, sah Taubenschläge, Wäscheleinen. Sah laufend Leitungen quer über die Straßen hängen, von Haus zu Haus, ein vollkommen verkabelter Himmel.

Tief verborgen in diesem Gewirr von Zeichen, die ihm allesamt von einer längst verwitterten, verrosteten Zeit flüsterten, lauerte die Zukunft, eine arg gefleckte Zukunft, und Broschkus vermeinte, ihren heißen Anhauch zu spüren, so sehr geriet er ins Schwitzen. Dabei hatte er nur noch nicht begriffen, daß man hier ständig die Straßenseite wechseln mußte, 38 Grad im Schatten, um sowenig wie möglich in der Sonne zu gehen.

 

Denn die Gassen verliefen hier zwar gern gerade,

auch wenn der eine oder andre Hügel steil im Weg stand, doch das gelang ihnen lediglich mittels unmerklichen Hin- und Herbiegens – was unmerklich wechselnde Licht-Schatten-Verhältnisse ergab, davon abgesehen gewagt gute Spielpisten für Kinder in ihren rollernden Holzkisten. Wenn nur die Frauen nicht gewesen wären. Im Vorbeigehen zwickten sie Broschkus in die Hüfte oder fragten ganz offen, ob er Begleitung wünsche, andre, in Hauseingängen sich räkelnd, forderten ihn auf, zumindest ein Photo von ihnen zu schießen, und immer blickten sie ihn so direkt dabei an, daß er gern nach einem Stecktuch gegriffen hätte. Um ihn im nächsten Moment anzulachen oder, im Grunde ließ sich das nicht unterscheiden, auszulachen: Broschkus fühlte, daß er taxiert wurde und – bloß nicht stehenbleiben! – daß er ohne die Insignien seiner maßgeschneidert hanseatischen Eleganz ziemlich mäßig abschnitt.

Langsam versengte ihm die Sonne das Denken, Broschkus mußte ja erst lernen, die Mittagsstunden untätig zu verdösen.

 

So geriet er,

im Grunde nur stets geradeaus laufend, hügelan in ein entlegneres Viertel, wo’s schier gar keine Läden mehr zu geben schien, lediglich grüppchenweise herumlungernde Halbstarke mit Stirnband und freiem Oberkörper, auch schon mal eine arg knochige Stute, auf der ein arg knochiger Knirps saß, geriet dorthin, wo das offizielle Wohnen aufhörte und das Hausen begann, jenseits des Teers. Von den Dächern verbellte man ihn, gelbe Hunde mit schwarzen Schnauzen, auf einem Balkon entdeckte er einen Holzlattenverschlag, darin ein riesiges Schwein.

Wie er das Schwein aber noch bestarrte, vor Überraschung war er stehengeblieben, erschien im Hauseingang darunter eine Frau, »¿Alemán? ¿Italiano? ¿Inglés?«, Broschkus erschrak, auch darüber, daß er jedes ihrer Worte verstand, verdächtig wohlartikuliert redete sie auf ihn ein, er zeigte auf den Balkon, ein Schwein, ausgerechnet auf dem –? Nicht der Rede wert fand das die Frau, wo-denn-sonst, in ihrem Bett jedenfalls sei kein Platz mehr für ein Schwein, haha, dagegen ein Deutscher, das sei natürlich etwas andres, der sei ja kein macho – verdächtig langsam redete sie auf ihn ein. Nach wenigen weiteren Worten über die Schwierigkeit, in diesen Zeiten täglich etwas zu essen aufzutreiben, sprach sie ihn auf ihre Tochter an, die sich mittlerweile neben sie geschoben, ein Mädchen von vielleicht dreizehn, vierzehn Jahren, eher desinteressiert, phlegmatisch, hüftwärts bereits bestrebt, aus dem Leim zu gehen: Ob er nicht zumindest sie, die Tochter, eben kurz mal? Sie habe schon Erfahrung, die Tochter, und für ein paar Dollars –

Mehr verstand Broschkus nicht. Erst zischte, dann rief, dann lachte ihm Frau samt Tochter hinterher, im Taumel der Verstörung floh er ums erstbeste Eck.

 

Und im Zickzackkurs gleich weiter ums zweitbeste,

je öfter er abbog, so bildete er sich ein, desto entfernter durfte er sich von den beiden fühlen. Wo, Teufel auch, war er hier eigentlich gelandet?

Vor ihm, mitten auf der Straße, rührten sie Zement an, da ging’s nicht weiter. Zurück konnte er nicht. Aber hineinflüchten in eine weitere Seitengasse, eher ein Feldweg zwischen schiefen Hütten, das war gerade noch möglich, und jetzt hatte er sich wirklich verlaufen.

Ein Kaktus, einige Ölfässer, eine schlafende Katze, Bananenstauden.

Oben, am Hügelkamm, ein riesiger rotgestrichner Wassertank.

Woraufhin ihm die Stille erst so recht bewußt wurde, überall in dieser vibrierenden Lautlosigkeit wähnte er Hauseingänge und zumindest Beobachter, nirgends durfte man zögern, innehalten, Schwäche zeigen, mit ihren afrikanischen Augen sahen sie ihn, mit ihren afrikanischen Ohren hörten sie ihn ohnehin viel früher als er sie. Selbst die Hunde gaben ausnahmsweise Ruhe.

Aber weitergehen, das konnte man auch nicht.

 

Wie Broschkus in diesem Moment des großen Mittags,

so vollkommen allein mit seiner Verwirrung und seiner Angst, jeden Augenblick gewärtig, erneut angesprochen oder gleich überfallen und ausgeraubt zu werden, wie er so stand und nach einem Ausweg suchte: fiel sein Blick herab auf die Stadt. Und erneut traf ihn die Schönheit der Welt mit einer Wucht, daß er auf der Stelle jedwedes Bedenken dahinfahren ließ, so gelb ragten von fern die Türme der Kathedrale, so blau standen an allen Horizonten die Berge. In der Ferne hupte ein Lkw. Ganz in der Nähe flimmerte eine Libelle.

Da hatten sie ihn bereits umringt.

 

Eine Horde Halbstarker,

lautlos waren sie herangekommen, gleich würden sie ihre Messer zeigen. Aber dann wollten sie alle bloß seine Hand schütteln und hören, woher er stamme, daß er Kuba prima finde, niemals Schnee und schlechte Laune, nicht wahr, der Rum, die Musik, jaja, das-kennt-ihr-in-Deutschland-gar-nicht, und erst die Frauen, ob er schon begriffen habe, wie schön sie hier seien? Am schönsten allerdings im Süden, ja, aus Guantánamo oder Baracoa oder eben aus Santiago, da kämen die schönsten Frauen der Welt her. Ob das klar sei?

Es war klar.

Als sie ihn zurückgeführt hatten zum Hotel, eine schnatternde Schar von Nichtsnutzen, keine Frage, wollten sie am Ende noch nicht mal eine Belohnung. Auch das also gab es, und indem Broschkus sein Geld zurückstopfte in die Hemdtasche, bemerkte er, daß es sich nicht um Dollar-, sondern um Pesoscheine handelte, um drei Zehnpesoscheine, die er aus Versehen angeboten hatte.

 

»Wo wollen Sie gewesen sein?«

Der Barmann blickte in gespieltem Entsetzen: Das glaube er nicht, da würde Broschkus ja gar nicht mehr hierher zurückgekommen sein. Chicharrones, das sei so ziemlich das gefährlichste Viertel, was er denn dort zu suchen habe?

Eine Frau, sagte Broschkus.

Das verstand der Barmann.

Als er ihm einen angemeßnen Drink zurechtgeschüttelt hatte, konnte er sich trotzdem den Hinweis nicht verkneifen, Frauen gebe’s doch auch im Stadtzentrum reichlich:

»Bruder, tu mir den Gefallen und geh da nie mehr hin, ja?«

 

Folglich ging Broschkus zur Markthalle,

zur Schweinskopfbetrachtung, jeden Tag aufs neue sollte’s ihn dorthin ziehen. Bald kannte man ihn und versuchte nicht mehr, ihn mit einem Touristen zu verwechseln, ausgerechnet hier ließ man ihn in Ruhe, wahrscheinlich hielt man ihn für leicht verrückt. Wie in einer Art Wachtraum stand er, zur Gänze durchflirrt von diesem leeren Gefühl, das sich angesichts der vernähten Augenlider sofort einstellte, das sich noch steigerte, sobald er sich ins offne Maul des Schweinskopfes versenkte – ein großes Dunkel tat sich da auf, ein Schlund hinab in nächtliche Schrecknis, auch wenn man davon deutlich erst die äußersten Zahnhälse erkennen konnte. Wie zum Hohn verzog das Schwein dazu die Lippen, grinste ihn aus.

Vielleicht war’s kein Zufall, daß Broschkus dann von dort sich weitertreiben ließ, hügelabwärts einem noch größeren Erschauern entgegen, durchs leere Industrieviertel, über die Bahngleise in Richtung einer Plattenbausiedlung nördlich des leeren Hafenbeckens, dorthin, wo bereits eine staubig leere Ausfallstraße ins Gebirg begann und der große Friedhof Santa Ifigenia lag, mit seinen Prunkgräbern auch er eine Touristenattraktion.

 

Auf dem Weg dorthin zeigte sich erstaunlicherweise,