Homilien über den ersten und zweiten Brief an Timotheus - Johannes Chrysostomos - E-Book

Homilien über den ersten und zweiten Brief an Timotheus E-Book

Johannes Chrysostomos

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Beschreibung

Die beiden Bücher des Neuen Testaments sind eigentlich Hirtenbriefe über die Kirchenordnung, gerichtet vom Apostel Paulus an die asiatischen Christengemeinden in und um Ephesus. Sie sind in der literarischen Form von Briefen an Paulus' Mitmissionar Timotheus gerichtet, aber, wie die abschließende Grußformel andeutet, hat der Schreiber tatsächlich die ganze Zeit über die gesamte Kirche im Sinn. Obwohl die Hirtenbriefe unter dem Namen des Paulus geschrieben wurden, unterscheiden sie sich von seinen anderen Briefen, und seit dem frühen 19. Jahrhundert haben Gelehrte sie zunehmend als das Werk eines unbekannten Schülers der paulinischen Lehre angesehen. Sie sprechen nicht die üblichen Themen des Paulus an, wie z. B. die Einheit der Gläubigen mit Christus, und sie spiegeln eine kirchliche Hierarchie wider, die organisierter und definierter ist, als die Kirche zur Zeit des Paulus war.

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Seitenzahl: 479

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Homilien über den ersten und zweiten Brief an Timotheus

 

JOHANNES CHRYSOSTOMOS

 

DIE SCHRIFTEN DER KIRCHENVÄTER

 

 

 

 

 

 

Homilien über den ersten und zweiten Brief an Timotheus, J. Chrysostomos

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849660208

 

Cover Design: Basierend auf einem Werk von Andreas F. Borchert, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=35892522

 

Der Text dieses Werkes wurde der "Bibliothek der Kirchenväter" entnommen, einem Projekt der Universität Fribourg/CH, die diese gemeinfreien Texte der Allgemeinheit zur Verfügung stellt. Die Bibliothek ist zu finden unter http://www.unifr.ch/bkv/index.htm.

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT:

Homilien über den I. Brief an Timotheus. 2

Einleitung von Chrysostomus2

Erste Homilie.4

Zweite Homilie.12

Dritte Homilie.20

Vierte Homilie.27

Fünfte Homilie.35

Sechste Homilie.41

Siebente Homilie.47

Achte Homilie.54

Neunte Homilie.60

Zehnte Homilie.66

Elfte Homilie.73

Zwölfte Homilie.80

Dreizehnte Homilie.90

Vierzehnte Homilie.100

Fünfzehnte Homilie.112

Sechzehnte Homilie.123

Siebenzehnte Homilie.129

Achtzehnte Homilie.137

Fußnoten. 143

Homilien über den II. Brief an Timotheus. 153

Erste Homilie.153

Zweite Homilie.162

Dritte Homilie.171

Vierte Homilie.178

Fünfte Homilie.188

Sechste Homilie.196

Siebente Homilie.206

Achte Homilie.215

Neunte Homilie.225

Zehnte Homilie.233

Fußnoten. 244

 

 

Homilien über den ersten und zweiten Brief an Timotheus

 

Bibliographische Angaben:

 

Titel Version: Homilien über den I. Brief an Timotheus (BKV) Sprache: deutsch Bibliographie: Homilien über den I. Brief an Timotheus In: Ausgewählte Schriften des heiligen Ambrosius, Bischofs von Mailand. Übersetzt von J. Wimmer. (Bibliothek der Kirchenväter, 1 Serie, Band 74), Kempten 1883. Unter der Mitarbeit von: Uwe Holtmann.

 

Titel Version: Homilien über den II. Brief an Timotheus (BKV) Sprache: deutsch Bibliographie: Homilien über den II. Brief an Timotheus In: Ausgewählte Schriften des heiligen Ambrosius, Bischofs von Mailand. Übersetzt von J. Wimmer. (Bibliothek der Kirchenväter, 1 Serie, Band 74), Kempten 1883. Unter der Mitarbeit von: Uwe Holtmann

 

 

 

 

Homilien über den I. Brief an Timotheus

 

Einleitung von Chrysostomus

 

 Von den Schülern des Apostels war auch Timotheus einer. Und zwar bezeugt Lukas,1 daß er ein vortrefflicher junger Mann war, empfohlen durch die Brüder in Lystra und Ikonium, Schüler und Lehrer zugleich. Und so verständig war er, daß, obschon er hörte, wie Paulus mit seiner Predigt ausserhalb der Beschneidung stand, und wie er sogar deßhalb dem Petrus opponirte, er es doch vorzog, nicht bloß gegen die Beschneidung nicht zu predigen, sondern dieselbe sogar anzunehmen. Paulus ließ ihn nämlich in vorgerücktem Alter beschneiden, wie es heißt. Und so vertraute er ihm die Heilsverwaltung in ihrem ganzen Umfange2 an.

Übrigens würde schon die innige Zuneigung des Paulus genügen, um den Mann zu charakterisiren. Auch anderwärts nämlich gibt er Zeugniß für ihn in Schrift und Wort: „Seine Bewährung kennet ihr, daß er gleich einem Sohne mit dem Vater dem Evangelium mit mir diente.“3 Und  im Brief an die Korinther sagt er: „Ich schickte euch den Timotheus, der mir ein lieber und treuer Sohn in dem Herrn ist;“ und wiederum: „Sehet, daß Keiner ihn gering achte; denn er wirket das Werk des Herrn gleichwie auch ich.“4 Und im Brief an die Hebräer: „Erkennet den Bruder Timotheus an, der entsandt worden ist!“5 Und allenthalben kann man Beweise für diese große Zuneigung finden. Auch die Wunder, welche gegenwärtig geschehen, sind ein Beweis für die hohe Tugend des Mannes.6

Man könnte aber fragen, warum denn der Apostel an Titus und Timotheus allein schreibt, obschon auch Silas zu den ausgezeichneten Männern gehörte und ebenso Lukas. Er schreibt ja selber: „Lukas allein ist bei mir.“7 Auch Clemens befand sich in seiner Umgebung; denn er sagt von ihm: „Mit Clemens und meinen übrigen Mitarbeitern.“8 Warum schreibt er also an Titus und Timotheus allein? Weil er Diesen bereits kirchliche Gemeinden anvertraut, die Anderen aber noch auf seinen Reisen zu Begleitern hatte. Den Beiden hatte er berühmte Orte zum ständigen Sitze zugewiesen. So groß war nämlich bei Timotheus das Übermaß der Tugend, daß dessen jugendliches Alter gar kein Hinderniß bildete. Es heißt deßhalb im Briefe: „Niemand soll deine Jugend verachten;“ und wiederum: „Gleich jüngeren Schwestern.“9 Wo nämlich Tugend ist, da ist Alles im Überfluß, und Nichts ist hinderlich. Und indem der Apostel von den Bischöfen spricht und ausführlich über sie handelt, befaßt er sich nirgends näher mit dem Alter.

 Wenn aber im Briefe die Rede ist von „Kindern, die im Gehorsam erhalten werden sollen,“ und von dem „Manne eines einzigen Weibes“,10 so will der Apostel damit nicht sagen, daß ein Bischof Weib und Kind haben müsse, sondern falls es sich einmal treffen sollte, daß weltliche Leute zu dieser Würde gelangten, so müßten sie im Stande sein, einem Hause vorzustehen, den Kindern u. s. w. Denn falls Einer dem weltlichen Stande angehörte und nicht einmal zu diesen Dingen zu brauchen wäre, wie könnte ihm die Besorgung einer kirchlichen Gemeinde anvertraut werden?

Warum schrieb aber der Apostel dem Schüler, der bereits als Lehrer aufgestellt war? Hätte er nicht erst vorher vollständig unterrichtet und dann erst abgesandt werden sollen? Allerdings; allein die Belehrung, die er bedurfte, war nicht diejenige, die einem Schüler, sondern die einem Lehrer ziemte. Man beachte also, wie der Apostel im ganzen Briefe Belehrungen gibt, wie sie ein Lehrer braucht! Gleich im Eingang sagt er nicht: „Höre nicht auf Solche, die anders lehren,“ sondern wie? „Verkünde ihnen, daß sie nicht anders lehren!“11

 

 

 

 

 

Erste Homilie.

 

I.

 

Kap. I.

1. Paulus, der Apostel Jesu Christi, im Auftrage Gottes, unseres Heilandes und Herrn Jesu Christi, der unsere Hoffnung ist,2. dem Timotheus, dem ächten Sohne im Glauben, Gnade, Erbarmen und Friede von Gott, unserm Vater, und Jesus Christus, unserm Herrn.

I. Groß war die Würde des Apostels, groß und wunderbar. Und überall sehen wir, wie Paulus die Berechtigungstitel seiner Würde vorausschickt; er usurpirt seine bevorzugte Stellung nicht selber, sie ist ihm überantwortet und aufgenöthigt. Denn wenn er sich einen „Berufenen“ nennt, wenn er vom „Willen Gottes“ spricht, durch den er bestimmt wird, und wieder anderswo: „Ein Zwang ist mir auferlegt,“ wenn er ferner sagt: „Ich bin dazu auserlesen,“12  so sind das lauter Verwahrungen gegen den Vorwurf des Ehrgeizes und der Anmaßung. Gleichwie nämlich Derjenige, der eine von Gott nicht angebotene Bevorzugung usurpirt, den schärfsten Tadel verdient, so setzt sich Derjenige, der eine solche zurückweist und ablehnt, einem anderen Vorwurfe aus, dem des Ungehorsams und der Widerspenstigkeit.

Dieß spricht nun Paulus auch jetzt im Eingange Briefes an Timotheus aus, indem er sagt: „Paulus, Apostel Jesu Christi, im Auftrage Gottes.“ Er sagt hier nicht: „Paulus, der Berufene,“ sondern: „im Auftrage Gottes.“ Damit nämlich dem Timotheus nicht ein Irrthum begegne und er nicht auf den Glauben komme, der Apostel rede mit ihm so wie mit den Schülern, daher dieser Eingang.13

Wo hat ihm Gott einen Auftrag gegeben? Es findet sich in der Apostelgeschichte eine Stelle, wo der hl. Geist sagt: „Sondert mir den Paulus und Barnabas ab!“14 Und allenthalben in seinen Briefen fügt er den Namen „Apostel“ bei, um den Zuhörer aufmerksam zu machen, daß seine Worte nicht Menschenwerk seien. Denn der Abgesandte (ἀπόστολος) spricht nicht in seinem eigenen Namen, und wenn er das Wort „Abgesandter“ ausspricht, so lenkt er sofort die Gedanken des Zuhörers auf den Absender. Deßhalb schickt er allen seinen Briefen Das voran; er macht seine Rede glaubwürdig und sagt: „Paulus, der Apostel Jesu Christi, im Auftrage Gottes, unseres Heilandes.“ Und nirgends erscheint der Vater als der Auftraggeber, sondern es ist Christus, der mit ihm spricht.  Was sagt er denn? „Gehe hin, weil ich dich weit fort zu den Heiden senden werde;“15 und wiederum: „Stelle dich dem Kaiser!“16 Aber was der Sohn aufträgt, Das bezeichnet er zugleich auch als Aufträge des Vaters, sowie die des hl. Geistes auch vom Sohne ausgehen. Denn man sehe! Der Apostel wurde ausgeschickt vom hl. Geiste, er wurde abgesondert vom hl. Geiste, und er sagt, es sei da ein Auftrag Gottes (des Vaters). Wie nun? Beeinträchtigt es die Kompetenz des Sohnes, daß sein Apostel im Auftrage des Vaters geschickt worden ist? Keineswegs. Man sehe nur, wie der Apostel den Auftrag zu einem gemeinsamen macht! Denn nach den Worten: „Im Auftrage Gottes, unseres Heilandes,“ fährt er fort: „Und unseres Herrn Jesus Christus, der unsere Hoffnung ist.“ Man beachte, mit welcher Prägnanz er die Bezeichnung gewählt hat! Der Psalmist sagt Das vom Vater mit den Worten: „Die Hoffnung aller Grenzen der Erde (ist er).“17 Und wiederum der hl. Paulus sagt an einer andern Stelle seiner Briefe: „Deßhalb leiden wir Mühsal und Schimpf, weil wir hoffen auf den lebendigen und wahren Gott.“ Ein Lehrer muß auf Gefahren gefaßt sein und zwar auf viel mehr als die Schüler. „Ich werde den Hirten schlagen,“ heißt es, „und die Schafe werden zerstreut werden.“18 Da also dem so ist, so hat es der Teufel besonders auf die Hirten abgesehen, weil mit ihrer Beseitigung auch die Heerde sich zerstreut. Tödtet er nämlich Schafe, so hat er die Heerde bloß verringert; beseitigt er aber den Hirten, so ist die ganze Heerde ruinirt. Weil er also mit geringerer Mühe Größeres ausrichtet und durch einen einzigen Menschen das Ganze verderben kann, geht er mehr den Hirten zu Leibe.

Gleich im Eingange also richtet der Apostel die Seele des Timotheus auf, indem er sagt, daß wir Gott zum  Heiland und Christus zur Hoffnung haben. Vieles dulden wir, aber wir haben große Hoffnungen. Wir sind von Gefahren und Nachstellungen umgeben; aber wir haben einen Retter, nicht einen Menschen, sondern Gott. Der Retter verliert also seine Kraft nicht. Denn Gott ist’s, und wie schwer die Gefahren auch sein mögen, sie werden nicht über uns Herr werden. Auch unsere Hoffnung wird nicht zu Schanden, denn Christus ist’s. Mit Hilfe dieser beiden überstehen wir die Gefahren; sei es, daß wir rasch von denselben befreit werden, oder uns mit guten Hoffnungen nähren.

Warum sagt aber der Apostel nirgends, daß er der Abgesandte des Vaters sei, sondern der Christi? Es gilt ihm Alles als gemeinsam, und vom Evangelium selber sagt er, es sei das Gottes des Vaters.

„Dem Timotheus, dem ächten Sohn im Glauben.“ Auch das ist ein Wort des Trostes. Wenn er nämlich einen solchen Glauben bewies, daß er der Sohn des Paulus wurde, und zwar nicht bloß schlechthin ein Sohn, sondern ein „ächter“, dann wird ihm auch für die Zukunft nicht bange sein. Es ist aber eine Eigenthümlichkeit des Glaubens, auch wenn die Wirklichkeit in Widerspruch steht mit den Verheissungen, nicht zu fallen und nicht in Unruhe zu gerathen.

Seltsam indeß! Ein „Sohn“ heißt er, und ein „ächter Sohn“, und er ist es doch keinesfalls in physischem Sinne. Wie nun? Ist Das sinnlos? Er war nicht aus Paulus entsprossen, meinst du. Es kann also dieser Ausdruck keine physische Abstammung bezeichnen. Wie also? War er anderweitiger Herkunft? Auch Das nicht. Nämlich nach dem Worte „Sohn“, fügt der Apostel bei: „im Glauben“, deßhalb, um zu zeigen, daß er ein ächter Sohn war und von ihm abstammte. Er war nicht aus der Art geschlagen, im Glauben hatte er das Merkmal der  Ähnlichkeit, wie es auch in menschlichen Verhältnissen mit der physischen Ähnlichkeit der Fall ist. Der Sohn ist dem Vater ähnlich, doch nicht in dem Grade wie in göttlichen Dingen hier ist die Ähnlichkeit frappanter. Dort nämlich sind Vater und Sohn, wenn auch physisch verwandt, doch in vielen anderen Dingen von einander verschieden. Im Teint, in der Haltung, in der geistigen Begabung, im Alter, in den Neigungen, in psychischen und körperlichen Eigenschaften, im ganzen Aussehen und in mehreren andern Beziehungen sind sie entweder von einander verschieden oder sie gleichen sich einander. Auf göttlichem Gebiete aber gibt es keine solchen Scheidewände. (Der Ausdruck „im Auftrage“ ist stärker als „berufen“, wie man auch anderwärts sehen kann.19 ) ähnlich wie „dem Timotheus, dem ächten Sohne,“ lautet auch die Anrede des Apostels an die Korinther: „In Christus Jesus habe ich euch gezeugt,“ d. h. im Glauben. Der Beisatz „ächt“ aber hat den Zweck, die genaue und bei Timotheus stärker als bei Andern vorhandene Ähnlichkeit mit dem Apostel zu zeigen. Aber nicht bloß Das, sondern die Liebe des Apostels zu ihm und den hohen Grad seiner Zuneigung. Man beachte hinwiederum das Wörtchen „in“ (ἐν) bei „Glauben“! Dem „ächten Sohn im Glauben“ heißt es. Und welches Lob ist es, wenn er ihn nicht bloß einen „Sohn“, sondern auch einen „ächten Sohn“ nennt!

  

II.

 

„Gnade, Erbarmen und Friede von Gott, unserem Vater, und Jesus Christus, unserem Herrn.“ Warum setzt der Apostel sonst nirgends an die Spitze seiner Briefe den Ausdruck „Erbarmen“, wohl aber hier? Auch Das ist ein Ausfluß seiner zärtlichen Liebe. Für seinen Sohn erfleht er mehr, indem er für ihn zagt und zittert. Er war ja so besorgt für ihn,  daß er, was er sonst nirgends gethan, ihm sogar für seine leibliche Gesundheit Vorschriften gab, indem er sagt: „Trinke etwas Wein wegen deines Magens und deiner häufigen Schwächen!“ Eine größere Fülle göttlichen Erbarmens bedürfen ja die Lehrer.

„Von Gott, unserm Vater, und Jesus Christus, unserm Herrn.“ Ein neuer Trost. Wenn Gott ein Vater ist, so kümmert er sich um uns wie um Kinder. Höre, was Christus sagt: „Welcher Mensch ist unter euch, der, wenn ihn sein Sohn um Brod bittet, ihm einen Stein geben wird?“20

3. Wie ich dir zuredete, in Ephesus zurückzubleiben, als ich nach Macedonien abreiste.

Man merke auf den milden Ausdruck, wie der Apostel nicht im Tone eines Lehrmeisters spricht, sondern in einem fast familiären! Er sagt nicht: „Ich trug dir auf“ oder: „Ich befahl dir“ oder: „Ich forderte dich auf“, sondern wie? „Ich redete dir zu“ (παρεκάλεσάσε). Nicht gegen alle Schüler dürfen wir einen solchen Ton anschlagen, sondern gegen die braven und tugendhaften. Gegen die andern, die verderbten und nicht ächten, spricht man in anderem Tone, wie auch der Apostel selbst anderwärts in einem Briefe sagt: „Tadle sie mit allem Nachdruck!“ Auch an dieser Stelle höre, was er sagt: „Damit du gewissen Leuten befehlest,“ — nicht damit du „zuredest“, sondern damit du „befehlest,“ — „nicht Anderes zu lehren.“

Wie ist Das zu verstehen? Genügte denn der Brief des Paulus nicht, den er ihnen sandte? Er genügte wohl. Allein gegen das geschriebene Wort verhalten sich die  Menschen weniger respektvoll. So kann man Das erklären oder auch damit, daß dieser Auftrag in die Zeit vor dem Briefe fällt. Der Apostel hat ja selbst lange Zeit in dieser Stadt gelebt, und hier war der Tempel der Artemis, hier hat er jene Drangsale erduldet. Als nämlich die dortige Schaubühne abgebrochen war, berief und tröstete er die Schüler, segelte ab und kehrte wieder zu ihnen zurück. Es ist übrigens der Mühe werth, zu untersuchen, ob er jetzt dem Timotheus einen ständigen Sitz dort angewiesen hat. Er sagt: „Damit du gewissen Leuten befehlest, nicht anders zu lehren.“ Er nennt sie nicht mit Namen, damit er sie durch öffentlichen Tadel nicht noch frecher mache. Es waren daselbst falsche Apostel aus jüdischen Kreisen, welche die Gläubigen wieder zum Gesetze hinüberzuziehen wünschten, eine Beschuldigung, die der Apostel allenthalben in seinen Briefen erhebt. Sie thaten aber Dieß nicht von ihrem Gewissen, sondern vom Ehrgeiz angetrieben und von dem Wunsche, Schüler zu haben. Sie waren eifersüchtig auf den heiligen Paulus und traten als seine Rivalen auf. Das heißt „anders lehren“ (ἑτεροδιδασκαλεῖν).

4. Und nicht zu hören auf Fabeln und endlose Geschlechtsregister.

Unter „Fabeln“ versteht der Apostel nicht das Gesetz, — bewahre! — sondern die nachgemachten, durch Falschmünzerei entstandenen und unächten Glaubenslehren. Wahrscheinlich haben diese Juden sich bei ihren Vorträgen bloß mit Lappalien befaßt, mit Aufzählung von Vätern und Großvätern, damit sie sich den Ruhm großen Wissens in der Geschichte verschafften. „Damit du ihnen befehlest, nicht anders zu lehren und nicht zu hören auf Fabeln und endlose Geschlechtsregister.“ Was heißt „endlose“ Register? Das sind entweder solche, die kein Ende nehmen, oder die keinen Nutzen verschaffen, oder die schwer aufzufassen sind. Merkst du, wie der Apostel hier  die Forschung anklagt? Wo nämlich der Glaube ist, da braucht es keine Forschung. Wozu eine Forschung, wo keine neugierigen Fragen am Platze sind? Die Forschung ist der Tod des Glaubens. Wer sucht, hat noch nicht gefunden; der Forscher vermag nicht zu glauben. Darum heißt es, wir sollen uns nicht mit Forschungen abmühen; denn wenn wir forschen, so ist das kein Glaube. Der Glaube macht ja dem Grübeln des Verstandes ein Ende. Warum spricht nun aber Christus: „Suchet, so werdet ihr finden! Klopfet an, so wird euch aufgethan werden! Forschet in der Schrift, weil ihr in derselben das ewige Leben zu haben glaubet!“21 Hier hat das Wort „Forschet!“ die Bedeutung des Verlangens und sehnlichen Wunsches. Und mit dem Ausdruck: „Forschet in der Schrift!“ wird die Forschungsarbeit nicht empfohlen, sondern abgelehnt. Denn es heißt: „Forschet in der Schrift!“ d. i. forschen, damit man sie genau kennen lernt und weiß. Nicht fortwährend wissenschaftliche Forschungen anstellen sollen wir, sondern mit ihnen ein Ende machen. Und trefflich heißt es: „Befiehl ihnen, nicht anders zu lehren und nicht zu hören auf Fabeln und endlose Geschlechtsregister, welche eher Streitfragen herbeiführen als die Heilsanstalt Gottes im Glauben.“ Trefflich ist der Ausdruck „Heilsanstalt Gottes“. Großes wollte uns Gott schenken, aber die Vernunft faßt die Größe seiner Heilsanstalten nicht. Also muß Das durch den Glauben geschehen, der das größte Heilmittel der Seelen ist. Die wissenschaftliche Forschung ist somit der Gegensatz zur Heilsanstalt Gottes. Was vermittelt uns denn der Glaube? Daß wir die Wohlthaten Gottes ausnehmen, daß wir besser werden, daß wir über Nichts zweifeln und schwanken, sondern ruhig sein können. Was der Glaube zuwege bringt und aufbaut, Das ruinirt die Forschung, indem sie Untersuchungen anstellt und den Glauben  verscheucht. „Nicht zu hören,“ heißt es, „auf Fabeln und endlose Geschlechtsregister.“ Christus hatte gesagt, daß wir durch den Glauben selig werden. Jene forschten und sagten (damit), daß dem nicht also sei. Weil die Verheissung in die Gegenwart fiel, die Erfüllung der Verheissung aber in die Zukunft, deßhalb bedürfte es des Glaubens. Jene aber, voreingenommen für die Vorschriften des Gesetzes, waren dem Glauben hinderlich. Übrigens bin ich der Ansicht, daß auch die Heiden damit gemeint sind, wenn der Apostel von „Fabeln und Geschlechtsregistern“ spricht. Sie wußten ja ihre Götter nach einander herzuzählen.

  

III.

 

Hören wir also nicht auf Forschungen! Gläubige heissen wir deßhalb, damit wir dem Gesagten zweifellos glauben und in keiner Weise schwanken. Freilich, wenn das Gesagte Menschenworte wären, dann müßte man sie prüfen; wenn aber Gotteswort, dann hat man sich bloß zu beugen und zu glauben. Glauben wir es nicht, dann glauben wir auch nicht an die Existenz Gottes. Denn wie kannst du Etwas von der Existenz Gottes wissen, wenn du Argumente von ihm verlangst? Dieß ist der erste Beweis von der Erkenntniß Gottes, daß man an seine Worte glaubt ohne Zeugnisse und Beweise. Das wissen sogar die Heiden. Denn sie glaubten ihren Göttern, obschon dieselben für ihre Worte keine Beweise beibrachten. Warum? Weil sie dem Geschlechte der Götter angehörten. Man sieht, daß auch die Heiden Das wissen. Und was rede ich von Göttern? Sie thaten Das bei einem Menschen, einem Zauberer und Magier, bei Pythagoras meine ich: „Er selber hat’s gesagt“ (αὐτὸςἔφα). Und auf den Tempeln war die Gestalt der Schweigsamkeit eingemeißelt; sie hielt den Finger an den Mund, und indem sie die Lippen zusammenpreßte, gebot sie allen Vorübergehenden Schweigen. Also die heidnischen Dinge waren so ehrwürdig, die unsrigen aber wären es nicht, im Gegentheile sie wären lächerlich? Die heidnische Religion unterliegt mit Recht der Forschung, — dahin ge  hören die wissenschaftlichen Kämpfe, das Bezweifeln und die logischen Operationen, — aber die unsere steht allem Dem ferne. Jene ist eine Erfindung der Menschenweisheit, diese wurde gepredigt durch die Gnade des heiligen Geistes. Jenes sind Lehrsätze der Thorheit und des Unverstandes, Dieses Dogmen der wahren Weisheit. Dort gibt es nicht Schüler und nicht Lehrer, sondern nur Forscher; hier muß Einer, sei er Lehrer oder Schüler, lernen von dem wahren Lehrer; er muß gehorchen, nicht zweifeln; glauben, nicht Syllogismen bauen. Durch den Glauben sind die Männer der alten Zeit berühmt geworden, und ohne ihn geht Alles zu Grunde. Und was rede ich von himmlischen Dingen? Auch wenn wir die irdischen betrachten, wird man finden, daß sie auf dem Glauben beruhen. Weder ein Vertrag noch eine Kunst noch irgend etwas Anderes wird ohne ihn bestehen. Wenn es aber hienieden, hier, wo Alles Täuschung ist, des Glaubens bedarf, um wie viel mehr in himmlischen Dingen. Am Glauben also wollen wir festhalten, ihm wollen wir nachgehen! Auf diese Weise werden wir die verderblichen Lehrsätze aus unserer Seele entfernen, z. B. die fatalistische Weltanschauung.22 Glaubst du, daß es eine Auferstehung und ein Gericht gibt, dann wirst du alles Das aus deinem Herzen entfernen können. Glaube, daß Gott gerecht ist, und du wirst nicht glauben, daß es ein ungerechtes Fatum gibt! Glaube an die Vorsehung, und du wirst nicht glauben, daß das Fatum Alles beherrscht! Glaube, daß es Hölle und Himmel gibt, und du wirst nicht glauben, daß das Fatum unsere Persönlichkeit aufhebt und uns dem Zwang und der Nothwendigkeit  unterwirft! Säe nicht, pflanze nicht, thue keinen Kriegsdienst, thue überhaupt Nichts mehr! Das Fatum hat ja jedenfalls seinen Lauf mit und ohne deinen Willen! Was brauchen wir weiter Gebete? Warum willst du ein Christ sein, wenn das Fatum regiert? Es gibt ja kein Gericht mehr für dich! Woher kommen die technischen Fertigkeiten? Vom Fatum? Ja, heißt es; es ist eben Dem oder Jenem vom Fatum bestimmt, daß er durch eigenes Bestreben Etwas lerne. Zeige mir aber Einen, der irgend eine Kunst gelernt hat ohne eigenes Bestreben! Du kannst es nicht. Also liegt es nicht an dem (zwingenden) Fatum, sondern an dem (freien) Bestreben. Warum, sagt man, ist Der oder Jener reich, obwohl ein Verbrecher und Schuft, indem er vom Vater das Erbe übernahm? Ein Anderer aber, der sich endlos abmüht, bleibt arm? Darauf läuft ja die ganze Argumentation immer hinaus, auf Reichthum und Armuth, nicht auf Laster und Tugend. Allein bei dieser Frage muß man nicht von solchen Dingen reden, sondern man muß zeigen, ob schon Einer, der guten Willen hat, ein schlechter Mensch, und Einer, der schlecht gesinnt ist, ein guter Mensch geworden ist. Wenn nämlich das Fatum eine Gewalt hat, dann muß es diese Gewalt an großen Dingen beweisen, an Laster und Tugend, nicht an Reichthum und Armuth. Und warum, heißt es weiter, ist Der und Der kränklich und der Andere strotzt von Gesundheit? Warum ist der Eine berühmt, der Andere verrufen? Warum geht dem Einen Alles nach Wunsch, dem Andern Alles krumm? Entsage der fatalistischen Weltanschauung, dann wirst du’s wissen! Glaube fest an Gottes Vorsehung, dann wird dir Das ganz klar sein! Ich kann es nicht, sagt man. Der Wirwarr in der Welt läßt den Gedanken an eine Vorsehung nicht aufkommen. Wenn Das Werke Gottes sind, wie kann ich denn glauben, daß Gott, der die Güte ist, einem Lüstling, einem Schuft, einem Geizigen Schätze in den Schoß wirft und dem Braven nicht? Wie soll ich Das glauben? Auf Thatsachen muß der Glaube beruhen. Ganz recht. Sind Das Werke eines gerechten  oder ungerechten Fatums? Eines ungerechten, sagst du. Wer hat nun ein solches in’s Dasein gerufen? Etwa Gott? Nein, antwortet man, es ist von Ewigkeit. Und wenn es von Ewigkeit ist, wie kann es in solcher Weise wirken? Das ist ein Widerspruch! Also Gott ist ganz und gar nicht der Urheber von diesen Dingen. Gut, untersuchen wir: Wer hat den Himmel geschaffen? „Der blinde Zufall.“ Wer die Erde? wer das Meer? wer die Jahreszeiten? Also bei den leblosen Dingen hat der blinde Zufall eine so schöne Ordnung bethätigt, eine solche Harmonie, bei uns aber, derentwegen Alles da ist, solche Mißverhältnisse? Gerade als ob Einer für ein Haus Sorge trüge, daß es ganz vortrefflich sei, für die Bewohner aber nicht. Wer wacht über den Wechsel der Jahreszeiten? Wer hat die wohlgeordneten Naturgesetze gegeben? Wer hat den Lauf von Tag und Nacht vorgezeichnet? Das sind Dinge, die über jenen blinden Zufall hinausgehen. Nein, erwidert man; Das ist von selber so geworden. Wie könnte eine so schöne Ordnung von selber entstehen! Woher also, frägt man, kommen die reichen, gesunden, berühmten Leute, reich theils durch Geiz, theils durch Erbschaft, theils durch Gewaltthat? Warum hat Gott zugegeben, daß die schlechten Menschen glücklich sind? Weil es sich nicht in dieser Welt um Belohnung und Bestrafung nach Verdienst handelt, sondern erst im Jenseits. Dort zeige mir einen solchen Fall! Einstweilen will ich’s hier auf Erden haben, sagt man; was im Jenseits geschieht, darum kümmere ich mich nicht. Allein deßhalb bekommst du das irdische Gut nicht, weil du dich (gerade darum) so kümmerst. Wenn du schon ohne den Genuß desselben dich so sehr darum kümmerst, daß du es dem jenseitigen vorziehst, so wäre es noch viel ärger, wenn du in lauter Genuß schwimmen würdest. Das beweist dir also, daß irdisches Gut Nichts ist, daß es gleichgiltig ist. Denn wenn es nicht gleichgiltig wäre, so hätte Gott dasselbe auch den Andern mitgetheilt. Sage mir, ist es nicht etwas Gleichgiltiges, schwarz zu sein oder klein oder groß? So verhält es sich auch mit dem Reichthum.  Sage mir, was die nothwenigen Dinge betrifft, sind sie nicht Allen gleichmäßig verliehen, z. B. die Disposition zur Tugend, die Vertheilung der Geistesgaben? Wenn du die Wohlthaten Gottes kennen würdest, dann würdest du nicht, während du an geistigen Gütern gleichen Antheil hast, wegen der materiellen dich alteriren und würdest nicht Angesichts der Gleichstellung in Bezug auf erstere nach einem Mehrbesitz bei den letzteren trachten. Es ist Das gerade, als wenn ein Knecht, welcher vom Herrn Nahrung, Kleidung und Wohnung hat und in allem Übrigen gerade so gehalten wird wie seine Mitknechte, sich den Anderen gegenüber Etwas darauf zu Gute thun würde, wenn er mehr Haare auf dem Kopf oder längere Nägel besäße. Auf dieselbe Weise bildet sich also auch der oben geschilderte Mensch umsonst Etwas auf solche Dinge ein, die er nur eine Zeit lang genießen darf. Deßhalb hat Gott uns diese Dinge versagt, damit er diesen rasenden Durst nach denselben in uns auslösche, damit er das Verlangen, das auf sie gerichtet ist, zum Himmel ablenke. Wir kommen ja nicht einmal so zur Vernunft. Gleichwie der Vater, wenn das Kind ein Spielzeug hat und sich mit demselben mehr abgibt als mit den nothwendigen Dingen, ihm das Spielzeug wegnimmt, damit er es auch wider seinen Willen zum Rechten hinlenke: so thut auch Gott Alles, um uns zum Himmel emporzulenken. Warum läßt also Gott die Schlechten reich werden? frägst du. Weil er sich um dieselben nicht mehr viel kümmert. Und warum die Gerechten? Er macht sie nicht selber reich, er gestattet bloß, daß sie es sind.

Ich habe über diesen Punkt für jetzt nur flüchtig zu euch gesprochen als zu Leuten, welche die hl. Schrift nicht kennen. Wenn ihr aber den Worten Gottes Glauben und Gehör schenken wolltet, dann würde ich darüber kein Wort zu verlieren brauchen. Aus der Schrift könnten wir Alles lernen. Und damit du lernest, daß der Reichthum Nichts ist, sowie Gesundheit und Ruhm, so weise ich dich hin auf Viele, die einen Geldgewinn machen könnten und es nicht  thun, auf Viele, die gesund sein könnten und ihren Körper abmagern lassen, auf Viele, die Ruhm ärnten könnten und Alles aufwenden, um gering geachtet zu werden. Einen Menschen aber, der gut ist und schlecht werden möchte, gibt es nicht. Also hören wir auf, nach den Gütern dieser Erde zu streben und streben wir nach den himmlischen! Auf diese Weise können wir derselben auch theilhaftig werden und in die ewigen Freuden eingehen durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, mit welchem dem Vater und zugleich dem hl. Geiste sei Lob, Ruhm und Ehre jetzt und immerdar und in alle Ewigkeit. Amen.

 

 

Zweite Homilie.

 

I.

 

5. Das Ziel aber der Ermahnung ist Liebe aus reinem Herzen und gutem Gewissen und ungeheucheltem Glauben.6. 7. Weil Einige hierin das Ziel verfehlten, sind sie auf eitles Gerede verfallen, indem sie Gesetzeslehrer sein wollen, ohne zu verstehen, was sie sagen und wofür sie Beweise beibringen.

I. Nichts bildet einen so dunklen Fleck am Menschengeschlechte wie die Mißachtung der brüderlichen Liebe und der Mangel an dem eifrigen Bestreben, sie lebendig zu erhalten, wie im Gegentheil Nichts eine so schöne Zierde ist als die Bruderliebe mit aller Kraft zu erstreben. Und Das will Christus sagen mit den Worten: „Wenn Zwei in Bezug auf das Nämliche mit einander übereinstimmen, dann werden sie Alles erhalten, um was sie bitten;“ und wiederum: „Wenn die Schlechtigkeit überhand nimmt, wird die Liebe erkalten.“23 Dieses Erkalten ist die Mutter aller  Häresien. Die mangelnde Bruderliebe erzeugte den Neid gegen Diejenigen, welche mehr Auszeichnungen genoßen, der Neid die Herrschsucht, und die Herrschsucht wurde die Mutter der Häresien. Deßhalb hat auch Paulus nach den Worten: „Daß du Einigen befehlest, nicht anders zu lehren,“ die Art und Weise erörtert, wornach Das geschehen kann. Welches ist nun diese Art und Weise? Die Liebe. Gleichwie also in der Stelle: „Christus ist das Ziel des Gesetzes“24 die volle Erfüllung des Gesetzes gemeint ist und das Gebundensein des Gesetzes an Christus, so ist auch hier die Ermahnung an die Liebe gebunden. Das Ziel der Heilkunst ist die Gesundheit. Ist diese vorhanden, dann bedarf es keiner ärztlichen Hilfe. Und ist die Liebe vorhanden, dann bedarf es keiner Ermahnung. Von was für einer Liebe spricht aber der Apostel? Von der ächten, nicht von der, welche bloß bis zu Worten geht, sondern die aus dem Gemüthe, der Gesinnung, aus dem Mitgefühle kommt. „Aus reinem Herzen“ sagt er. Entweder vom guten Lebenswandel, meint er, oder von der ächten Liebe. Ein schlechter Lebenswandel nämlich ruft Zwistigkeiten hervor. „Ein Jeder, der Böses thut, hasset das Licht.“25

Es gibt allerdings auch eine Liebe unter schlechten Menschen. Ein Räuber z. B. ist der Freund des andern, ein Mörder der Freund des andern. Aber das ist keine Liebe „aus einem guten Gewissen“, sondern aus einem schlechten, keine aus einem „reinen Herzen“, sondern aus einem unreinen, keine aus „ungeheucheltem Glauben“, sondern aus einem fingirten und erheuchelten. Der Glaube ist ein Spiegel der Wahrheit; der ächte Glaube ist der Vater der Liebe. Wer wirklich an Gott glaubt, der bringt es niemals über sich, von der Liebe zu lassen.

Weil Einige hierin das Ziel verfehlten, sind sie auf eitles Gerede verfallen.“ Trefflich  ist der Ausdruck „das Ziel verfehlen“ (ἀστοσχήσαντες). Denn es gehört eine Kunst dazu, richtig zu treffen und nicht neben das Ziel zu schießen. Man muß vom heiligen Geiste dirigirt werden. Es gibt nämlich gar viele Dinge, die von der rechten Richtung ablenken, und man muß das Auge auf einen einzigen Punkt gerichtet haben.

„Indem sie Gesetzeslehrer sein wollen.“ Da sieht man eine weitere Anschuldigung: die der Herrschsucht. Deßhalb sagte auch Christus: „Ihr sollt Niemanden Rabbi nennen.“26 Und wiederum der Apostel: „Denn nicht einmal sie selber beobachten das Gesetz, sondern damit sie sich rühmen in euerem Fleische.“27 Sie streben nach Würden, will der Apostel sagen, und deßhalb haben sie ihr Auge nicht auf die Wahrheit gerichtet.

„Ohne zu verstehen, was sie sagen und wofür sie Beweise beibringen.“ Hier macht er ihnen den Vorwurf, daß sie das Ziel des Gesetzes nicht kennen und den Zeitpunkt, bis zu welchem dessen Herrschaft reichen sollte. Warum bezeichnest du also, Paulus, Das als eine Sünde, wenn es in der Unwissenheit wurzelt? Es ist ihnen Das begegnet, nicht bloß weil sie Gesetzeslehrer sein wollten, sondern auch weil sie an der Liebe nicht festhielten. Auch sonst entsteht die Unwissenheit aus solchen Dingen. Wenn nämlich die Seele sich fleischlichem Thun hingibt, dann stumpft sich ihr scharfer Blick ab. Und wenn sie von der Liebe läßt, geräth sie in Streitsucht, und das Auge des Verstandes wird geblendet. Denn wer von irgend einer Begierde nach diesen irdischen Dingen befallen wird, ist berauscht von der Leidenschaft und kann kein unbestochener Richter über die Wahrheit sein.

„Sie wissen nicht, wofür sie Beweise bringen.“ Wahrscheinlich haben sie über das Gesetz groß gesprochen und viel daher geredet über Reinigungen und die sonstigen körperlichen Vorschriften.

Der Apostel verschmäht es übrigens, über diese Dinge sich weiter auszulassen, da sie ja doch Nichts sind als ein Schattenbild von Ideen, und befaßt sich mit einem dankbareren Gegenstande. Was ist das für einer? Er preist das Gesetz, versteht aber hier unter dem Gesetze den Dekalog. Von diesem aus aber verwirft er auch das mosaische Gesetz. Denn wenn selbst dieses die Übertreter straft und für uns unnütz wird, um wie viel mehr dann das erstere!

8. Wir wissen aber, daß das Gesetz gut ist, falls Jemand dasselbe gesetzmäßig gebraucht,9. Indem wir wissen, daß für den Gerechten das Gesetz nicht vorhanden ist.

Es ist gut, sagt er, und es ist nicht gut. Wie so? frägt man; wenn Jemand es nicht gesetzmäßig gebraucht, ist es dann nicht gut? Gut ist es auch so. Aber was der Apostel sagen will, ist Dieses: wenn er es (das Gesetz) in Werken erfüllt. Das will er hier ausdrücken in den Worten: „Wenn Jemand dasselbe gesetzmäßig gebraucht.“ Wenn man es zwar in Worten hochhält, durch Thaten aber übertritt, das heißt einen ungesetzlichen Gebrauch davon machen. Auch ein solcher Mensch macht einen Gebrauch davon, aber nicht zu seinem eigenen Vortheil.

Es läßt sich noch eine andere Erklärung geben. Welche ist das? Etwa folgende: Wenn du das Gesetz gesetzmäßig  gebrauchst, dann verweist es dich an Christus. Denn da sein Zweck in der Rechtfertigung des Menschen besteht, diese aber nicht im Bereiche seiner Macht liegt, so verweist es an Den, der sie zu bewirken vermag.

Eine andere Art von „gesetzmäßigem Gebrauch des Gesetzes“ besteht darin, wenn man es so beobachtet, daß es überflüssig wird. Was will Das sagen? Gleichwie ein Pferd vom Zügel einen guten Gebrauch macht, nicht wenn es sich bäumt und knirscht, sondern wenn es denselben einfach gleich einem Schmuck umhängen hat: so macht auch vom Gesetze einen gesetzmäßigen Gebrauch Derjenige, welcher nicht als Sklave von dessen Buchstaben recht handelt, sondern wer macht einen gesetzmäßigen Gebrauch davon? Derjenige, der sich bewußt ist, daß er desselben gar nicht bedarf. Wer es nämlich in der Tugend soweit gebracht hat, daß er das Gesetz beobachtet nicht aus Furcht vor demselben, sondern aus reinem Pflichtgefühl, der macht einen gesetzmäßigen und richtigen Gebrauch davon. Wenn Jemand einen solchen Gebrauch davon macht, daß er nicht das Gesetz fürchtet, sondern die Verurtheilung zu der darin ausgesprochenen Strafe vor Augen hat.28

  

II.

 

Unter dem „Gerechten“ versteht übrigens der Apostel hier Den, der die Tugend übt. Also Derjenige macht einen rechten Gebrauch vom Gesetze, welcher nicht verlangt von demselben geleitet zu werden. Denn gleichwie man den Knaben Vorschriften zum Schreiben vorlegt, und wie der Knabe, der nicht nach der Vorlage, sondern aus dem Kopfe schreibt, mehr versteht und seine Buchstaben besser kann: so läßt sich auch Derjenige, welcher über dem Gesetze steht, nicht von demselben leiten. Wer es nicht aus Furcht erfüllt, sondern aus Drang zur Tugend, der befolgt  das Gesetz in höherem und höchstem Maaße. Diejenigen, welche Strafe fürchten, und Die, welche das Ehrgefühl spornt, erfüllen das Gesetz nicht auf gleiche Weise. Es besteht keine Ähnlichkeit zwischen Dem, welcher über, und Dem, welcher unter dem Gesetze steht. In seinem Lebenswandel über dem Gesetze stehen, das heißt einen „gesetzmäßigen Gebrauch davon machen“. Derjenige macht einen guten Gebrauch vom Gesetz und beobachtet es wirklich, welcher mehr thut, als das Gesetz verlangt, welcher es nicht zum Erzieher haben will. Das Gesetz besteht ja zum größten Theile nur aus Verboten. Das Meiden der Sünde macht aber nicht den Gerechten, sondern die Übung des Guten. Also wer sklavenartig bloß von Sünden sich enthalt, der erfüllt nicht den Geist des Gesetzes. Darum ist es gegeben, damit es die Übertretung bestrafe. Auch die Andern machen einen Gebrauch davon, aber zitternd vor der Strafe. „Willst du die Gewalt nicht fürchten,“ sagt der Apostel, „dann thue das Gute!“29 Als wollte er sagen: Nur für die Bösen ist das Gesetz ein Verkünder von Strafen; welchen Nutzen aber hat es für Den, welcher durch seine Werke die ewige Seligkeit verdient? Der Arzt gehört für den Verwundeten, nicht für den Gesunden und sich wohl Befindenden.

„Für die Gesetzlosen (heißt es weiter) und Unbotmäßigen, für die Gottlosen und Sünder.“ Unter den „Gesetzlosen“ sind die Juden zu verstehen, ebenso unter den „Unbotmäßigen“. „Das Gesetz,“ sagt der Apostel, „bewirkt Zorn.“ Das bezieht sich auf die Übelthäter. Wie gälte Das in Bezug auf den Ehrenhaften? „Durch das Gesetz kommt Erkenntniß der Sünde.“30 Was geht Das den Gerechten an? „Für den Gerechten  ist das Gesetz nicht vorhanden.“31 Weßhalb? Weil er ausserhalb des Bereiches der Strafe steht, und weil er nicht darauf zu warten braucht, daß er seine Pflichten durch das Gesetz kennen lerne, indem er in seinem Innern die Gnade des heiligen Geistes hat, die ihm dieselben diktirt. Das Gesetz wurde gegeben, damit die Menschen durch Furcht und Drohung in Schranken gehalten werden. Bei einem gehorsamen Pferde bedarf es keines Zügels und keine Erziehung bei Einem, der keinen Erzieher braucht.

„Für die Gesetzlosen und Unbotmäßigen, die Gottlosen und Sünder, Unheiligen und Entweihten, Vatermörder und Muttermörder.“ Der Apostel bleibt dabei nicht stehen, bei den „Sündern“ allein, sondern er spezifizirt sie, um die Vertreter des Gesetzes zu beschämen. Und nach der Spezifizirung spricht er auch davon, daß man sie meiden soll, obschon das Gesagte schon geeignet wäre, um von ihnen abzuschrecken. Wen meint er nun damit? Die Juden. Diese sind „Vater- und Muttermörder,“ und sie sind „Unheilige und Entweihte“. Sie bezeichnet er mit den „Gottlosen und Sündern“. Da sie aber solche Leute waren, war es nothwendig, das Gesetz zu geben. Sage mir, beteten sie nicht fortwährend die Götter an? Haben sie nicht den Moses gesteinigt? Haben sie nicht ihre Hände mit Verwandtenmord befleckt? Werfen ihnen nicht die Propheten allenthalben diese Dinge vor? Für die Erforscher der himmlischen Dinge waren jene Vorwürfe überflüssig. „Für die Vater- und Muttermörder,“

 10. die Menschenmörder, Hurer, Knabenschänder, Menschenräuber, Lügner, Meineidigen, und was sonst noch der gesunden Lehre widerstreitet;

Treffend heißt es: der „gesunden“ Lehre. Denn jene Dinge sind lauter Leidenschaften einer kranken Seele.

11. gemäß dem Evangelium des Ruhmes des seligen Gottes, das mir anvertraut worden ist.

Also zur Bekräftigung des Evangeliums ist das Gesetz auch jetzt noch nothwendig, die Gläubigen jedoch brauchen es nicht. „Evangelium des Ruhmes“ nennt es der Apostel wegen nichts Anderem als wegen Derjenigen, die sich der Verfolgungen und des Leidens Christi schämen. Also um der andern Ursachen willen sowie gerade dieser Menschen wegen spricht er von einem „Evangelium des Ruhmes“, um zu zeigen, daß das Leiden Christi ein Ruhm ist. Oder auch er deutet auf die Zukunft im Jenseits. Wenn die Gegenwart voll Schmach und Schimpf ist, in der Zukunft gibt es Das nicht. Ein Evangelium bezieht sich überhaupt auf die Zukunft, nicht auf die Gegenwart. Warum sagt dann aber der Engel: „Siehe, ich verkündige euch, daß euch der Heiland geboren wurde?“32 Der Neugeborene sollte ein Heiland erst werden. Er wirkte nicht schon bei seiner Geburt Wunder.

„Gemäß dem Evangelium des Ruhmes des seligen Gottes.“ Unter (Gottes) Ruhm (δόξα) versteht der Apostel entweder die Anbetung Gottes, oder er will sagen, daß die Gegenwart voll ist von seinem Ruhm, noch viel mehr aber die Zukunft. Er spricht von der Zeit,  wo Gottes Feinde unter seinen Füßen liegen, wo er keinem Widerspruch mehr begegnet, wo die Gerechten all die Herrlichkeiten schauen, die kein Auge geschaut, kein Ohr gehört, und die in keines Menschen Herz gekommen. „Ich will,“ spricht der Herr, „daß, wo ich bin, auch Diese seien, damit sie schauen meinen Ruhm, den du mir gegeben.“33 Lernen wir, wer denn wohl Diese sind, und preisen wir sie glücklich Angesichts der Seligkeit, welche sie genießen, des Ruhmes und des Lichtes, deren sie theilhaftig sind! Der irdische Ruhm ist eine Bagatelle und ist unbeständig, und selbst wenn er aushält, so hält er nur bis zum Tode aus, und dann erlöscht er für immer. Denn es heißt: „Sein Ruhm wird nicht in die Gruft steigen hinter ihm.“34 Bei Vielen aber hält er nicht einmal hienieden bis zum Ende aus. Von jenem andern Ruhme aber läßt sich so Etwas nicht annehmen, sondern ganz das Gegentheil, daß er nämlich bleibt und niemals ein Ende nehmen wird. So ist Das, was von Gott kommt: bleibend und erhaben über Wechsel und Ende. Der jenseitige Glanz stammt nicht von aussen, sondern von innen; nicht von kostbaren Gewändern z. B. oder von einem Troß von Bedienten, nicht von prächtigen Equipagen stammt der jenseitige Glanz, sondern sein Schimmer umfließt ohne solchen Tand die Gestalt des Menschen selber. Jetzt ist Einer, dem solche Dinge mangeln, des Ruhmes entkleidet; im Jenseits ist es nicht so. In den Bädern sehen wir Entkleidete, berühmte und unberühmte Männer; wir sehen auch schlechte. Mancher Marktbesucher geräth in Verlegenheit, wenn ihn seine Diener irgend eines Bedürfnisses wegen (auf einen Augenblick) verlassen. Im Jenseits aber trägt Jeder seinen Glanz allenthalben mit sich.35 Und gleichwie die Engel, wo sie auch erscheinen  mögen, von ihrem Glanze umflossen sind, so auch die Heiligen. Oder vielmehr gleichwie die Sonne keines Mantels bedarf, und sonst Nichts bedarf, sondern sobald sie aufgegangen, auch sofort den ihr innewohnenden Glanz ausstrahlt, so wird es auch dereinst sein.

  

III.

 

Streben wir also diesem Glanze nach, den an Werth Nichts erreicht; lassen wir jenen andern bei Seite, dem an Werthlosigkeit Nichts gleichkommt. „Brüste dich nicht mit der Falte des Gewandes,“ heißt es.36 Solches ward in alter Zeit kleinen Kindern37 zugerufen. Auch der Tänzer, die Hure, der Komödiant hat Gewänder an und zwar schönere und kostbarere als du. Und überdieß brüstest du dich mit einem Ding, um dessen Besitz dich die Motten bringen, wenn sie sich daran machen. Siehst du, welch unbeständiges Ding es ist um den Glanz des irdischen Daseins? Du brüstest dich mit einem Ding, welches Würmer erzeugen und Würmer vernichten. Man sagt, es seien winzige Thierchen in Indien, von welchen diese Gespinnste gefertigt werden. Du kannst dir einen Mantel kaufen, wenn du willst, der aus himmlischem Stoffe gewoben ist, ein wunderbares und herrliches Gewand, einen Mantel von ächtem Gold. Dieses Gold ist kein Metall, das Verbrecherhände38 aus der Erde gruben, sondern ein Produkt der Tugend. Umhüllen wir uns mit diesem Kleide, das nicht arme Leute und Sklaven herstellen, sondern Gott der Herr selber. Aber, wirst du sagen, ist denn in diesen Mantel Gold hineingewoben? Was geht Das dich an? Den Verfertiger (des Mantels) bewundert Alles, nicht den Träger. Jener ist ja in Wirklichkeit der Schöpfer des Prachtstückes. Gleichwie wir bei gewöhnlichen Kleiderstoffen  nicht das Holz in der Walkerstube bewundern, worauf der Stoff ausgespannt ist, sondern den Mann, der denselben verfertigt, obwohl das Holz es ist, das ihn trägt und woran er befestigt ist; wie also diese Gewandstoffe nicht des Holzes wegen da befestigt sind, so ist’s auch bei jenen anderen Gewändern nicht der Fall. Es handelt sich nämlich um den Stoff selber, damit er tüchtig geschwungen und nicht ein Fraß der Motten wird.39

Wie sollte es also nicht die ärgste Thorheit sein, auf Nichts solchen Eifer zu verwenden (wie auf irdischen Tand). Alles dafür in Bewegung zu setzen, sein ewiges Heil preiszugeben, an die Hölle nicht zu denken, gegen Gott zu freveln, den hungernden Christus zu vergessen? Was soll man sagen zu dem Luxus mit wohlriechenden Dingen aus Indien, Arabien und Persien, trockenen und flüssigen? zu dem Luxus mit Salben und Parfüm, was Alles einen hohen und unnützen Aufwand verursacht? Wozu salbst du, o Weib, deinen Körper, der innen voll Unreinigkeit ist? Warum lassest du dich wegen deines üblen Geruches so viel kosten und thust Dasselbe, wie wenn Jemand eine Salbe in den Koth wirst oder Balsam auf einen Ziegelstein gießt? Es gibt wirklich eine Salbe, wenn du willst, es gibt wirklich ein Parfüm, womit du deine Seele salben kannst, nicht aus Arabien, nicht aus Äthiopien, nicht aus Persien, sondern vom Himmel selber stammend, gekauft nicht mit Gold, sondern mit freier Wahl des sittlich Guten und mit ungeheucheltem Glauben. Diese Salbe kauf’ dir, deren Wohlgeruch die ganze Welt zu erfüllen vermag! Von ihr dufteten die Apostel. „Wir sind ein herrlicher Wohlgeruch,“ sagt ja der Apostel, „den Einen zum Tode, den Andern zum Leben.“40 Was heißt Das? Nun, man  sagt ja, daß auch die Schweine am Wohlgeruch ersticken. Übrigens nicht bloß der Leib der Apostel duftete von der geistigen Salbe, sondern auch ihre Kleider. Die Gewänder des hl. Paulus dufteten ja so herrlich, daß sie die Dämonen verscheuchten. Welches aromatische Blatt, welche Kassia, welche Myrrhe übertrifft nicht an Annehmlichkeit und Nützlichkeit ein solcher Wohlgeruch! Wenn er die Dämonen verscheuchte, was vermochte er nicht sonst noch Alles? Diese Salbe wollen wir uns anschaffen! Sie verschafft uns aber die Gnade des heiligen Geistes mittelst Almosen. Von dieser Salbe sollen wir auch dereinst duften bei unserem Hingange in’s Jenseits und sollen so die Aufmerksamkeit der Heiligen auf uns lenken. Und wie hienieden die mit Wohlgerüchen Gesalbten Aller Augen auf sich lenken, und gleichwie dann, wenn der Salbenduftende ein Bad betritt oder eine Kirche oder sonst einen frequenten Ort, Alles mit den Blicken an ihm hängt und Alles sich ihm zuwendet: so ist’s auch in jener Welt. Wenn die Seelen, welche geistigen Wohlgeruch aushauchen, eintreten, dann steht Alles auf und schaart sich um sie. Und auch hienieden wagen die Dämonen und die Laster sich nicht an sie heran und vertragen ihren Wohlgeruch nicht; sie ersticken daran. Also in diese Dunstwolke wollen wir uns hüllen! Jene andere verleiht uns auch den Schein von unmännlicher Weichlichkeit, diese aber den von Seelenstärke; sie macht uns zu einem richtigen Gegenstand der Bewunderung. Auch viel Vertrauen flößt sie uns ein. Dieser Dunst ist nicht ein Produkt der Erde, sondern ein Kind der Tugend. Er welkt nicht, sondern blüht fort. Er macht seinen Besitzer werthvoll. Mit diesem Wohlgeruch werden wir gesalbt bei der Taufe, und dann duften wir herrlich. Und daß wir auch in der Folge davon duften, das ist Sache unseres Eifers. Deßhalb sind auch vor Alters die Priester gesalbt worden. Das war ein Symbol der Tugend. Der Priester soll angenehm duften. Die Sünde aber ist das Uebelriechendste, was es gibt. Vernimm, wie der Prophet  sie schildert: „Es stanken und faulten meine Striemen.“41 Wahrhaft schlimmer und stinkender als Fäulniß ist die Sünde. Was stinkt denn z. B. ärger als Unzucht, sag’ es mir? Wenn du es auch im Momente der That nicht empfindest, so betrachte, was es um die Sünde ist nach der That, dann wirst du ihren Gestank, ihren besteckenden Schmutz, ihr schmerzliches Brennen, ihre Abscheulichkeit schon wahrnehmen! So ist’s mit jeder Sünde; bevor sie begangen ist, hat sie etwas Süßes, nachdem man sie aber vollbracht, dann ist’s mit der Süssigkeit aus und zu Ende, dann kommt die Traurigkeit und Beschämung. Bei der Gerechtigkeit ist das Gegentheil der Fall. Anfänglich macht sie Beschwerden, zuletzt aber bringt sie Vergnügen und Wohlbehagen. Übrigens kann bei der Sünde auch der Genuß kein ächter sein wegen der bevorstehenden Schande und Strafe, und andererseits bei der Gerechtigkeit die Beschwerde nicht wirklich eine solche wegen der Hoffnung auf Belohnung. Sag’ mir, wie ist’s bei der Trunksucht? Gewährt sie nicht höchstens nur beim Trinken selber einen Genuß? oder vielmehr nicht einmal beim Trinken? Wenn nämlich dem Trunkenbold die Sinne vergehen, und wenn er von den Anwesenden Niemand mehr sieht, wenn er sich schlimmer geberdet als ein Wahnsinniger, wo ist da noch ein Vergnügen? Auch in der unzüchtigen Handlung liegt kein Genuß. Denn wenn die Seele als Sklavin der Lust das Urtheil verliert, was ist das für ein Vergnügen? Wenn sich’s so verhält, dann ist auch das Vergnügen ein schäbiges. Das nenne ich keinen ächten Genuß, wenn die Seele in der Lust vom Körper gefesselt und gezerrt wird. Was ist das für ein Vergnügen, mit den Zähnen knirschen, die Augen verdrehen, einen Kitzel empfinden und sich über Gebühr erhitzen! Es ist Das so wenig ein Vergnügen, daß wir uns beeilen, um es schnell hinter uns zu haben, und Mißbehagen empfinden, wenn es vorbei ist. Wenn es wirklich ein Genuß ist, dann gib ihn nicht auf, beharre bei dem Vergnügen! Siehst du, daß es sich hier nur um den Namen eines Vergnügens handelt? Aber bei uns verhält sich’s nicht so. Da ist ächte Süssigkeit, nicht ein Genuß, der Etwas von der zehrenden Flamme hat, sondern ein solcher, der die Seele frei schalten läßt und sie mit Wonne ganz durchtränkt. So war die Wonne des Paulus beschaffen, wenn er sagt: „Darin freue ich mich (nicht bloß jetzt), sondern werde mich auch freuen;“ und: „Freuet euch im Herrn allezeit!“42 Jene sündhafte Lust bringt Schande und Strafe; sie sucht das Dunkel auf und schafft Sorgen ohne Zahl; diese aber weiß Nichts von all Dem. Ihr also wollen wir nachstreben, damit wir der ewigen Seligkeit theilhaftig werden durch die Gnade und Liebe unseres Herrn Jesus Christus, mit welchem dem Vater sowie dem heiligen Geiste sei Ruhm, Herrlichkeit und Ehre jetzt und in alle Ewigkeit. Amen.

 

 

 

 

Dritte Homilie.

 

I.

 

12. Ich danke Dem, der mir Kraft verliehen hat, Christo Jesu, unserm Herrn, weil er mich für treu erachtete, indem er mich zum Dienste bestimmte.13. Mich, der ich früher ein Lästerer war und ein Verfolger und Mißhandler. Aber ich fand Verzeihung, weil ich unwissend gehandelt im Unglauben.14. Es erwies sich aber übergroß die Gnade unseres Herrn mit Glauben und Liebe in Christo Jesu.

I. Daß die Demuth vielen Gewinn bringt, davon können wir uns überzeugen, nirgends indeß findet man sie so leicht. Die Demuth in Worten ist häufig, häufiger als nothwendig, die demüthige Gesinnung aber zeigt sich nirgends. Der heilige Paulus aber erstrebte sie so eifrig, daß er sogar allenthalben nach Vorwänden sucht, um seinen Sinn zur Demuth zu stimmen. Da es nämlich natürlich ist, daß Männer, die sich guter Thaten bewußt sind, Mühe haben,  sich demüthig zu stimmen, so mußte sich natürlich auch der Apostel große Gewalt anthun. Sein gutes Gewissen hob ihn empor wie ein Wogenschwall. Man sehe nun auch an dieser Stelle, wie er es anfängt! Er hatte gesagt: „Das Evangelium des Ruhmes Gottes ist mir anvertraut worden, das Evangelium, woran Diejenigen keinen Theil haben dürfen, die noch vom Gesetze Gebrauch machen.“ Es steht nämlich noch im Gegensatz zum Gesetze, und der Unterschied ist derart, daß die Anhänger des Gesetzes noch gar nicht würdig sind, am Evangelium Theil zu haben. Gerade als wollte Jemand sagen, daß Menschen, denen Kerker und Strafe gebührt, nicht das Recht haben, in den Kreis von Philosophen einzutreten. Nachdem also der Apostel sich gebrüstet und den Mund voll genommen hatte, demüthigt er sich sofort und sucht auch die Andern zu überreden, Dasselbe zu thun. Nachdem er geschrieben: „Ich wurde betraut,“ korrigirt er sich sofort selber, damit man nicht meine, er spreche so aus Stolz. Man sehe also, was er für eine Korrektur anbringt, indem er fortfährt und sagt: „Ich danke Dem, der mir Kraft verliehen in Christo Jesu, unserm Herrn, weil er mich für treu erachtete, indem er mich zum Dienste bestimmte.“ Siehst du, wie der Apostel allenthalben seine Vollkommenheit verhüllt und Alles auf Gott zurückführt, freilich nur insoweit, als der freie Wille nicht gefährdet ist. Denn da würde der Ungläubige vielleicht sagen: „Wenn Alles an Gott liegt, und wenn von uns gar Nichts beigetragen wird, sondern wenn uns Gort wie ein Stück Holz oder Stein vom Laster zur Tugend hinüberschiebt, warum hat er dann den Paulus so hergerichtet, den Judas aber nicht?“ Man sehe, wie klug der Apostel den Ausdruck wählt, um diesem Einwand zu begegnen! „ Ich wurde betraut,“ sagt er. Das ist an ihm eine Ehre und Auszeichnung, aber nicht ausschließlich von ihm ausgehend. Denn man sehe, was er sagt: „Ich danke Dem, der mir Kraft verliehen, Christo Jesu.“ Das ist Gottes Verdienst. Dann kommt wieder sein eigenes: „Weil er  mich für treu erachtete.“ Ganz richtig, weil er mit seiner eigenen Person Nutzen stiften sollte. „Indem er mich zum Dienste bestimmte, mich, der ich früher ein Lästerer war und ein Verfolger und Mißhandler. Aber ich fand Verzeihung, weil ich unwissend gehandelt im Unglauben.“ Man sehe, wie er sein persönliches und Gottes Verdienst neben einander stellt, dabei aber den Hauptantheil der göttlichen Vorsehung zuschreibt, seinen Antheil aber tief herabschraubt, nur daß er, wie oben gesagt, dem freien Willen nicht zu nahe tritt. Was soll aber Das heissen: „Der mir Kraft verliehen“? Merk’ auf! Der Apostel nahm eine gewaltige Last auf sich und bedurfte gar sehr des Einflusses von oben. Bedenke, was es hieß, gegenüber den täglichen Mißhandlungen, Schmähungen, Nachstellungen, Gefahren, Spöttereien, Beschimpfungen und Angriffen auf das Leben fest zu stehen, nicht zu ermüden, nicht zu straucheln, nicht den Rücken zu wenden, sondern Tag für Tag aus allen Seiten von Pfeilen getroffen dazustehen, unverwandten Auges ohne eine Spur von Furcht! Das war nicht Sache menschlicher Kraft, übrigens aber auch nicht Sache göttlicher Stärkung allein, sondern auch Sache seines freien Willens. Denn daß Gott den Apostel erwählte auf Grund Dessen, daß er sein künftiges Wirken im Voraus erkannte, darüber höre man, was er sagte, bevor Paulus sein Predigtamt begann: „Dieser ist mir ein Gefäß der Auserwählung, um meinen Namen zu tragen vor Völker und Könige.“43 Gleichwie nämlich Diejenigen, welche im Kriege die königliche Fahne, das gewöhnlich so genannte Labarum, tragen, vieler Kraft und Erfahrung bedürfen, damit sie es dem Feinde nicht preisgeben, so bedürfen auch Diejenigen, welche den Namen Christi tragen, nicht bloß im Kriege, sondern auch im Frieden vieler Kraft, damit sie denselben nicht schmähenden  Mäulern preisgeben, sondern daß sie ihn mit Würde tragen und die Last des Kreuzes auf sich nehmen. Es gehört in der That eine große Kraft dazu, den Namen Christi zu tragen. Wer nämlich etwas Unwürdiges sagt, thut oder denkt, der trägt diesen Namen nicht, der hat Christum nicht in sich. Der Christusträger schreitet in feierlichem Aufzuge dahin, nicht über den Marktplatz, sondern durch den Himmelsraum, und Alles bebt in heiligem Schauer. Engel bilden das Geleite und sind in Staunen versunken.

„Ich danke Dem, der mir Kraft verliehen, unserm Herrn Jesus Christus.“ Man beachte, wie der Apostel auch für sein eigenes Verdienst Gott dankt! Er weiß ihm nämlich Dank dafür, daß er ein „Gefäß der Auserwählung“ ist. Aber Das ist ja deine Sache, heiliger Paulus! Gott sieht ja nicht auf die Person. Aber, sagt er, ich weiß ihm Dank, daß er mich dieses Dienstes gewürdigt hat. Denn Das ist mir ein Beweis dafür, daß er mich für treu erachtet. Denn gleichwie in einem Hauswesen der Verwalter dem Herrn nicht bloß dafür Dank weiß, daß er ihm die Verwaltung anvertraute, sondern wie Dieß auch als Beweis gilt, daß der Herr ihn für treuer hält als Andere: gerade so verhält es sich auch hier.

Ferner sehe man, wie der Apostel das Erbarmen und die Liebe Gottes preist, indem er einen Blick auf sein früheres Leben wirft! „Mich, der ich ein Lästerer war, ein Verfolger und Mißhandler.“ Wenn er von den noch ungläubigen Juden spricht, dann drückt er sich milde aus: „Ich gebe ihnen das Zeugniß,“ sagt er, „daß sie Eifer für Gott haben, aber nicht mit Einsicht.“ Von sich selber aber sagt er: „Ich war ein Lästerer, Verfolger und Mißhandler.“ Siehst du, wie er sich erniedrigt, wie wenig er Eigenliebe hat, welch demüthige Gesinnung ihm innewohnt? Es genügte ihm nicht, einfach zu sagen, er sei ein Verfolger und Lästerer gewesen, sondern daß er Das in einem besonders hohen Grade gewesen sei. Ich blieb, will er sagen, in der Schlechtigkeit bei mir selber nicht stehen, ich war nicht zufrieden mit dem Lästern, sondern ich verfolgte auch noch Die, welche fromme Christen sein wollten. Die Lästerung wurde zur wilden Wuth.

  

II.

 

„Aber ich fand Erbarmen, weil ich unwissend handelte im Unglauben.“ Warum also fanden die anderen Juden kein Erbarmen? Weil sie nicht aus Unwissenheit, sondern mit Bewußtsein und vollem Verständniß thaten, was sie gethan. Und damit du dich davon vollständig überzeugst, höre den Evangelisten, wenn er sagt, daß „Viele von den Pharisäern und Juden zwar glaubten, aber den Glauben nicht bekannten. Sie liebten nämlich die Ehre bei den Menschen mehr als die Ehre bei Gott.“44 Und wiederum sagt Christus: „Wie könnt ihr glauben, da ihr Ehre von einander annehmet?“45 Und abermals heißt es: „Dieses sagten die Eltern des Blindgebornen wegen der Juden, damit sie nicht aus der Synagoge gestoßen würden.“46 Und die Juden selber hinwiederum sagten: „Sehet, wir richten Nichts aus, weil die ganze Welt ihm nachläuft!“47 Allenthalben quälte sie ja die Leidenschaft der Herrschsucht. Und doch sagten sie selber: „Niemand kann Sünden vergeben als Gott allein.“48 Und sofort that Christus, was sie für ein Zeichen Gottes erklärt hatten. Wo war aber zu jener Zeit Paulus? Vielleicht, könnte man behaupten, zu den Füßen Gamaliels, fern von dem Getriebe des großen Haufens. Gamaliel war ein Mann, der um der Herrschsucht willen Nichts that. Wie finden wir nun Paulus später unter dem großen Haufen? Er sah, wie das Christenthum wuchs und dann zur Herrschaft kam, und wie Alles ihm zuströmte. Zu Christi Lebzeiten schaarten die Leute bald sich um seine Person, bald um die Schriftgelehrten. Als sie sich aber gänzlich von diesen abgewandt hatten, da erst that Paulus, was er that, nicht aus Herrschsucht wie die Übrigen, sondern aus Eifer. Weßhalb reiste er denn nach Damaskus? Er hielt das Christenthum für eine faule Sache und fürchtete, die Predigt desselben möchte sich überallhin verbreiten. Anders die Juden. Nicht aus Rücksicht auf das Volk thaten sie Alles, sondern um der Herrschsucht willen. Man höre nur, wie sie sprachen: „Sie werden unser Volk und unsere Stadt verderben.“49 Welche Furcht war es, die sie erbeben machte? Menschenfurcht.

Übrigens ist der Punkt einer genaueren Betrachtung werth, wie Paulus, der genaue Kenner des Gesetzes, ein „Unwissender“ sein konnte. Er selber hat ja gesagt, daß „Gott das Evangelium in der Vorzeit durch seine Propheten verheissen hat.“50 Wie konntest also du, der Eiferer für das Gesetz der Väter, du als Schüler zu den Füßen Gamaliels sitzend, ein Unwissender sein? Männer, die auf Flüssen und Seen sich herumtrieben, und Leute von der Zollbank liefen herbei und nahmen den Glauben an, du aber, der Gesetzeskundige, übernimmst die Rolle eines Verfolgers? Deßhalb hat er über sich selbst das Urtheil gesprochen mit den Worten: „Ich bin nicht werth, ein Apostel zu heissen.“51 Deßhalb bekennt er sich zu einer Unwissenheit, welche ein Kind des Unglaubens war. Darum sagt er, daß er „Erbarmen gefunden“.

Was heißt: „Er hat mich für treu erachtet“? Der Apostel gab Nichts preis von Dem, was des Herrn ist. Er schreibt ihm Alles zu, auch sein Eigenes. Er eignete Gottes Ehre nicht sich zu. Höre, wie er auch anderwärts spricht: „Männer, warum hört ihr auf uns? Wir sind  Menschen wie ihr.“52 Das heißt: „Er hat mich treu befunden.“ Und wiederum anderwärts: „Ich habe mehr gearbeitet als sie alle, aber nicht ich, sondern die Gnade Gottes mit mir.“53 Und wiederum: „Er, der in uns das Wollen und Vollbringen bewirkt.“54 Der Apostel erklärt sich mit jenen Worten als strafwürdig; denn solche Leute sind es, welche des Erbarmens bedürfen. Und anderwärts spricht er wieder: „Blindheit war zum Theil in Israel; aber die Gnade Gottes war überströmend mit dem Glauben und der Liebe in Christo Jesu.“55 Wie steht es also damit? Wenn du von einem „Erbarmen“ hörst, so sollst du nicht an Das allein denken. „Ich war ein Lästerer, Verfolger und Mißhandler“ spricht der Apostel. Also war er auch strafwürdig. Aber die Strafe wurde nicht verhängt: „Ich fand Erbarmen.“ Aber hat es damit sein Bewenden und erstreckt sich das Erbarmen nur darauf, daß ihm die Strafe geschenkt wird? Keineswegs, sondern es sind noch gar viele andere und große Dinge damit verbunden. Denn nicht bloß von der drohenden Strafe hat uns Gott befreit, sondern er hat uns auch gerecht gemacht, hat uns zu Kindern gemacht, zu Brüdern. Freunden, Erben und Miterben (Christi). Deßhalb heißt es: „Die Gnade war überströmend,“ um anzudeuten, daß die Geschenke über das Mitleid noch hinausgingen. Denn so Etwas thut nicht Jemand, der bloß Mitleid hegt, sondern Jemand, der freundschaftliche Gesinnung hat, der zärtliche Liebe empfindet.

Nachdem nun der Apostel Vieles und Großes gesagt hat über die Barmherzigkeit Gottes, daß Gott mit ihm, dem Lästerer, Verfolger und Mißhandler, Erbarmen hatte, und daß er dabei allein nicht stehen blieb, sondern ihn noch vieler anderen Dinge würdigte, wendet er sich dann gegen den  Einwand der Ungläubigen, gegen die Behauptung, daß die Willensfreiheit aufgehoben sei. Er fügt also bei: „Mit dem Glauben und der Liebe, die da ist in Christo Jesu.“ Darin allein besteht unsere Leistung will er sagen; wir haben geglaubt, daß Gott uns das Heil verleihen kann.

  

III.

 

Wollen wir ihn also lieben durch Christus! Was heißt Das: „durch Christus“ (διὰΧριστοῦ)? Daß er es ist, welcher uns Das vermittelt, nicht das Gesetz. Siehst du, welche Güter uns durch die Vermittlung Christi zugeflossen sind, und welche durch die des Gesetzes? Auch hat der Apostel nicht einfach gesagt: „Die Gnade war in Fülle vorhanden (ἐπλεόνασεν), sondern: „sie war überströmend“ (ὑπερεπλεόνασεν). Und wahrhaftig, Das war ein Überströmen, wenn sie Menschen, welche zahllose Strafen verdient hatten, plötzlich zur Kindschaft (Gottes) hinführt! Man beachte ferner das Wörtchen „in“ (ἐν)! Es ist so viel wie „durch“ (διά). Nicht bloß Glauben ist nothwendig, sondern auch Liebe. Es gibt auch heutzutage noch Viele, welche an die Gottheit Christi glauben, aber ihn nicht lieben und die Werke der Liebe nicht ausüben. Wie wäre es möglich, da ihnen alles Andere lieber ist: Geld, Geburt, Schicksalsglaube, Beobachtung des Vogelfluges, Wahrsagereien und Augurien? Wenn wir aber durch unseren Wandel Gott Unehre machen, sage mir, was ist das für eine Liebe? Wenn Jemand einen Freund hat, den er warm und feurig liebt, so soll er wenigstens auch Gott so lieben, ihn, der seinen Sohn hingegeben hat für seine Feinde, obwohl wir gar kein Verdienst aufzuweisen hatten. Ja, was sage ich, ein Verdienst! Wir hatten die ärgsten Sünden begangen und uns die Frechheiten erlaubt ohne jede Ursache. Aber Gott hatte uns nach allen Wohlthaten und Liebesbeweisen auch jetzt nicht verworfen, sondern gerade jetzt, wo wir noch mehr Böses verübten, uns seinen Sohn geschenkt. Wir dagegen haben ihm trotz all des Guten, das wir ihm verdanken, nicht einmal die Liebe erwiesen, die  man einem Freunde zollt. Welche Hoffnung bleibt uns noch? Ihr erschrecket über dieses Wort! Möchtet ihr über euere Werke erschrecken!

Und wie kannst du behaupten, erwidert man, daß wir Gott nicht einmal jene Liebe erweisen, die wir einem Freunde