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Sind wir eine Gefahr für alle anderen?
1948: Der Astronom Walter Blade entdeckt den Kleinplanet Ikarus, der seine exzentrische Bahn zwischen Mars und Merkur zieht und sich der Erde dabei bis auf 6,4 Millionen Kilometer nähert.
1997: Ein rätselhafter Gasausbruch auf Ikarus bringt ihn auf Kollisionskurs mit der Erde. Ein Astronautenteam soll ihn mit Wasserstoffbomben sprengen. Die Männer machen eine sensationelle Entdeckung: Ikarus ist in Wirklichkeit ein getarntes, automatisiertes Raumschiff. Im Moment seiner Sprengung setzt es ein Notsignal ab. Es wird gehört.
2012: Ein Robotspäher taucht im Sonnensystem auf: der Schnark. Die Militärs sehen in ihm eine Bedrohung und greifen an. Die Sonde kann entkommen.
Die Menschheit hat sich damit selbst als aggressive Lebensform eingestuft. Bedeutet dies das Todesurteil?
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Seitenzahl: 592
GREGORY BENFORD
IM MEER DER NACHT
»CONTACT«-ZYKLUS
Erster Roman
Widmung
Zitat
Erster Teil – 1999
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
Zweiter Teil – 2014
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
Dritter Teil – 2014
Vierter Teil – 2015
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
Fünfter Teil – 2018
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
Sechster Teil – 2018
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
Epilog – 2019
Für Joan,
Wir werden nicht vom Suchen lassen,
Und das Ende all unseres Suchens
Wird es sein, dort anzukommen,
wo wir begannen,
Und den Ort erstmals zu kennen.
ERSTER TEIL
*
Aus der »Encyclopaedia Britannica«, 17. Ausgabe, 2073:
Ikarus
('i:-ka-rus)
Ikarus
In der griechischen Sage der Sohn von Dädalus. Nachdem Dädalus, ein Architekt und Bildhauer, für König Minos von Kreta das Labyrinth erbaut hatte, verlor er die Gunst des Königs. Er modellierte Flügel aus Wachs und Federn für sich selbst und Ikarus und floh nach Sizilien. Ikarus jedoch flog der Sonne zu nahe, und seine Flügel schmolzen; er fiel ins Meer und ertrank. Die Insel, an dessen Küste sein Leichnam gespült wurde, wurde später Ikaria genannt. Die Sage wird oft als Symbol für das Streben des Menschen nach Wissen und neuen Horizonten um jeden Preis angeführt. Ikarus wurde in van Hovens Meisterwerk »Der stürzende Ikarus« (1997) als Sinnbild für den Verfall der Vormachtstellung der westlichen Kultur aufgeführt …
Er entdeckte den fliegenden Berg durch dessen Schatten.
Vor ihm wurde die Sonne von einem wirbelnden Staubschleier verdüstert, und Nigel sah Ikarus zuerst auf der Spitze eines die Wolken durchbohrenden fingerförmigen Schattens.
»Der Kern ist hier«, sagte er über Funk. »Er ist fest.«
»Bist du sicher?«, erwiderte Len. Seine Stimme, die durch das sprudelnde Funkrauschen gefiltert wurde, klang dünn und undeutlich, wie aus großer Ferne, obwohl die »Dragon«-Einheit nur tausend Kilometer entfernt wartete.
»Ja. Irgendetwas verdammt Großes wirft einen Schatten durch den Staub und die Koma.«
»Lass mich mal mit Houston reden. Bin gleich wieder da, mein Junge.«
Ein Summen milderte die Stille. Nigels Mund fühlte sich weich an, voller Baumwolle: Er empfand eine Mischung aus Angst und Aufregung, die seine Zunge schwer und unförmig werden ließ. Er dirigierte seine Flugeinheit sachte auf den Schattenkegel zu, der gerade nach vorn zeigte, in Richtung der Sonne, und regulierte die Fluglagenkontrolle. Ein Steinchen prallte krachend gegen den hinteren Teil der Einheit.
Er drang in den Schattenkegel ein. Die Sonne verblasste und flackerte dann, als vor ihm ein größer werdender Punkt vor der Sonnenscheibe vorbeizog. Nigel ließ sich treiben, von Gelb umspült. Die Korona schimmerte und umflutete einen harten Klumpen aus Schwärze: Ikarus. Er war der erste Mensch, der den Asteroiden nach mehr als zwei Jahren sehen konnte. Für Beobachter auf der Erde verhüllte sein neu entstandener Mantel aus dichtem Staub und Gas dieses feste Zentrum.
»Nigel«, sagte Len hastig, »wie schnell näherst du dich an?«
»Schwer zu sagen.« Der Klumpen war zu der Größe eines auf Armeslänge gehaltenen Groschens angewachsen. »Ich bewege mich jetzt seitwärts, aus dem Schatten hinaus, nur für den Fall, dass er zu schnell herankommen sollte.« Zwei Steine schlugen dumpf gegen die Hülle; der Staub schien hier dichter zu sein, planlos brachen Splitter von Ikarus weg, um den Flammenschweif zu bilden.
»Jup. Houston hat das gerade vorgeschlagen. Wird irgendein Magnetfeld angezeigt?«
»Nein – wart mal, ich habe gerade zufällig eins aufgefangen. Vielleicht, oh, ein Zehntel Gauß.«
»Au – oh. Ich werd's ihnen besser sagen.«
»Richtig.« Sein Magen zog sich leicht zusammen. Auf geht's!, dachte er.
Die schwarze Münze wuchs an; er ließ die Flugeinheit weiter vom Rand der Scheibe weggleiten, wegen des Sicherheitsabstandes. Ein kurzer Stoß der Steuerdüsen verlangsamte ihn. Er musterte die ungleichmäßige Kante von Ikarus durch das kleine Teleskop, aber die weiß glühende Sonne verwischte jede Einzelheit. Er fühlte sein Herz träge in der Enge seines Anzugs pochen.
Ein Klicken, statisches Rauschen. »Hier ist Dave Fowles von Houston. Nigel, ich bekomme über ›Dragon‹ so einigermaßen mit, was du machst. Herzlichen Glückwunsch zu deiner Beobachtung. Wir wollen die Stärke dieses Magnetfeldes überprüfen – kannst du das automatische Log senden?«
»Roger«, sagte Nigel. Gespräche mit Houston zogen sich in die Länge; die Zeitverzögerung betrug mehrere Sekunden, sogar bei der Lichtgeschwindigkeit der Radiowellen. Er legte Schalter um, es piepte schrill. »Erledigt.«
Der Rand der Scheibe raste auf ihn zu. »Ich fliege jetzt um ihn herum, Len. Könnte die Verbindung mit dir eine Zeitlang verlieren.«
»Okay.«
Er strich über die scharfe Licht-Schatten-Grenze und in das volle Sonnenlicht hinein. Unter ihm war die ausgebrannte Schlacke einer Welt. Kleine Erhebungen und flache Täler warfen lange Schatten, und überall war das Gestein bräunlich-schwarz. Seine stark elliptische Umlaufbahn hatte Ikarus gebraten, als ob er auf einem Spieß stecken würde, da sie ihn in jedem Jahr der Sonne doppelt so nahe brachte, wie Merkur war.
Nigel passte seine Geschwindigkeit dem rotierenden Felsen an und aktivierte eine Reihe automatisch durchgeführter Experimente. Die Lichter der Instrumententafel blinkten, und ein tiefer, leiser, rhythmischer Klang der Betriebsamkeit drang durch die enge Kabine. Ikarus drehte sich langsam im Bogen der grellweißen Sonne; er sah rau und öde aus … und ganz und gar nicht wie der Todesbote für Millionen von Menschen.
»Kannst du mich hören, Nigel?«, fragte Len.
»Jawohl.«
»Ich bin jetzt aus deinem Funkschatten heraus. Wie sieht er aus?«
»Steinig, vielleicht einige Eisen-Nickel-Legierungen. Keinerlei Anzeichen von Schnee oder Konglomeratstrukturen.«
»Kein Wunder, er ist schließlich Milliarden Jahre lang gebraten worden.«
»Woher stammt dann der Kometenschweif? Warum das Flammen?«
»Zutage tretendes Eis wurde freigelegt, oder vielleicht öffnete sich ein Spalt in der Oberfläche – du weißt, was man uns gesagt hat. Was auch immer es für ein Zeug war, vielleicht ist es mittlerweile völlig verdunstet. Ist jetzt zwei Jahre her, das sollte eigentlich reichen.«
»Sieht so aus, als ob er sich – hmmm, lass mich mal nachsehen – ungefähr alle zwei Stunden einmal um die eigene Achse drehte.«
»Au, ha«, sagte Len. »Das haut dann ja nicht mehr hin.«
»Nichts außer festem Gestein könnte soviel Zentrifugalkraft aushalten, stimmt's?«
»Das sagt man. Vielleicht ist Ikarus der Kern eines verbrauchten Kometen, vielleicht aber auch nicht – er besteht aus Gestein, und das ist alles, was uns im Moment interessiert.«
Nigel hatte einen bitteren Geschmack im Mund; er trank etwas Wasser, das er zwischen seinen Zähnen hindurchpresste.
»Sein Durchmesser liegt so bei einem Kilometer, er ist annähernd sphärisch, hat wenig Oberflächenstruktur«, sagte er langsam. »Keine deutliche Kraterbildung, aber einige flache, kreisförmige Vertiefungen. Ich weiß nicht; es könnte so sein, dass der Zyklus von Erwärmung und Abkühlung, der durch das nahe Vorbeifliegen an der Sonne zustande kommt, ein wirkungsvoller Erosionsmechanismus ist.«
Er sagte das alles automatisch, versuchte, die leichte Niedergeschlagenheit zu ignorieren, die er empfand. Nigel hatte gehofft, dass sich herausstellen würde, dass Ikarus ein Konglomerat aus Eis war und nicht ein Gesteinsbrocken, auch wenn er wusste, dass die Indizien stark dagegen sprachen. Zusammen mit einigen wenigen Astrophysikern hatte er gehofft, dass der Flammenschweif von 1997 – ein strahlendes, orangefarbenes Gebilde von dreißig Millionen Kilometern Länge, das sich wand und tanzte und drei Monate lang den nächtlichen Himmel der Erde erleuchtete – das Ende von Ikarus angezeigt hatte. Kein Teleskop, das Instrument des die Erde umkreisenden Skylab X eingeschlossen, war in der Lage gewesen, die Wolke aus Staub und Gasen zu durchdringen, die in den Weltraum hinaus wogte und die Stelle verbarg, wo der Asteroid Ikarus gewesen war. Eine Denkrichtung behauptete, dass eine felsige Hülle durch einen unaufhörlichen, feinen Regen aus Teilchen von der Sonne her – dem Sonnenwind – erodiert worden wäre und dass ein verbleibender Kern aus Eis plötzlich verdampft sei, wodurch der Flammenschweif entstand. Folglich blieb kein Kern mehr. Aber die Mehrzahl der Astronomen empfand es als unwahrscheinlich, dass das Zentrum von Ikarus aus Eis bestehen sollte; wahrscheinlich befand sich der größte Teil des felsigen Asteroiden irgendwo in der Staubwolke.
Die NASA genoss die Kontroverse und hoffte, dass sie Spenden anregen würde, mit denen ein zukünftiger Vorbeiflug an Ikarus finanziert werden könnte. Der gewundene Schweif, der die Form eines Propellerblattes hatte, war heller als alles, was nach dem Halley'schen Kometen aufgetaucht war. Die Menschen bemerkten ihn sogar durch die verschmutzte Luft der Großstädte hindurch. Er machte Schlagzeilen.
Aber im Winter des Jahres 1997 wurde die Frage der Zusammensetzung von Ikarus zu mehr als einem beiläufigen, rein akademischen Problem. Der Gasstrahl, der aus dem Kopf dessen herausschoss, was jetzt der Komet Ikarus war, schien ihn abgelenkt zu haben. Die Staubwolke bewegte sich ein wenig seitwärts, während sie Ikarus' alter Bahn folgte; und es war logisch anzunehmen, dass sich der Kern, falls einer verblieben war, irgendwo in der Nähe des Zentrums der dahintreibenden Wolke befand. Die Ablenkung war geringfügig. Exakte Messungen waren schwierig, und eine gewisse Unsicherheit blieb. Aber es war klar, dass spätestens Mitte 1999 das Zentrum der Wolke und das, was von Ikarus übrigblieb, mit der Erde kollidieren würde.
»Len, wie sieht's denn von deiner Position her aus?«, sagte Nigel.
»Ganz schön trübe und langweilig. Kann kaum was sehen wegen dem Staub. Die Sonne hat eine blasse Farbe, die durch die Wolke durchscheint. Ich steh' jetzt ziemlich weit seitwärts, um dein Funk- und Radarbild von dem der Sonne zu trennen.«
»Wo bin ich?«
»Genau an der richtigen Stelle, im Zentrum des Staubes. Unterwegs nach Bengalen.«
»Hoffentlich nicht.«
»Stimmt. He – da kommt gerade eine Nachricht für dich aus Houston.« Einen Augenblick lang summendes Schweigen, während sich die schwarze, pockennarbige Welt unter ihm drehte. Nigel fragte sich, ob sie aus der Äonen alten, ursprünglichen Materie bestand, aus der das Sonnensystem beschaffen war, was die Astrophysiker sagten, oder ob sie der Kern eines auseinandergebrochenen Planeten war, wie es die populären Medien hinausposaunten. Er hatte gehofft, dass sie ein Schneeball aus Methan- und Wasser-Eis sein würde, der zerbräche, sobald er auf die Erdatmosphäre aufprallte – wobei er vielleicht den Himmel mit blauen und orangefarbenen Lichtstrahlen erfüllen und über den ganzen Globus eine Morgenröte ausbreiten würde, aber keinerlei Schaden anrichten. Er starrte hinunter auf die Schlackenwelt, die seine Hoffnungen enttäuscht hatte, indem sie so massiv war, so todbringend. Die automatischen Kameras klickten systematisch, vermaßen ihre unregelmäßigen Erhebungen und Vertiefungen; die Kabine roch nach heißem Metall und saurem, scharfem Schweiß. Jetzt gab es keine gemächlichen Expeditionen mit Len; keine Spaziergänge, um Löcher zu bohren; keine Messungen; keine Proben, die abgebrochen werden mussten; keine Zeit.
»Hier wieder Dave, Nigel. Diese magnetischen Feldstärken machen alles klar, mein Junge – er besteht aus Eisen-Nickel-Legierungen, wahrscheinlich achtprozentig rein oder noch mehr. Nach den Abmessungen schätzen wir, dass die Gesteinsmasse so um die vier Milliarden Kilogramm beträgt.«
»Gut.«
»Lens Radarpeilungen haben uns auch dabei geholfen, die Bahnkurve genauer zu berechnen. Diese Felskugel, die du da gerade anschaust, wird in der Mitte von Indien herunterkommen, genau wie wir vermutet haben. Ich …«
»Du möchtest, dass wir in den Geflügelhandel einsteigen«, sagte Nigel.
»Genau. Liefert das Ei ab.«
Nigel ließ eine Reihe Systemmonitore aufleuchten. »Mache das Ei jetzt einsatzbereit«, sagte er mechanisch, während er die Lichterfolge beobachtete.
»Viel Glück, Junge«, meldete sich Len dazwischen. »Du suchst wohl jetzt besser eine Stelle, wo wir es unterbringen können. Wir haben jede Menge Zeit. Schrei, wenn du Hilfe brauchst«, sagte er, obwohl sie beide sehr wohl wussten, dass er die »Dragon«-Einheit nicht in die Wolke manövrieren konnte, ohne zeitweilig den größten Teil der Verbindungen mit Houston zu verlieren.
Nigel verbrachte eine Stunde mit den zeitraubenden Arbeiten, die nötig waren, um die Fünfzig-Megatonnen-Wasserstoffbombe zum Leben zu erwecken, die wenige Meter hinter seiner Kabine verankert war. Er wiederholte die Fachausdrücke – Redundanzüberprüfungen, Funktion der Sicherheitsverriegelung, Konturprüfung –, ohne seine Aufmerksamkeit gänzlich von den verkohlten Flächen unter ihm abzuwenden. Gegen Ende der Zeit erspähte er das, was er erwartet hatte: eine zerklüftete Ritze an der Dämmerungsgrenze von Ikarus.
»Ich glaube, ich habe die Spalte gefunden«, rief Nigel. »Ungefähr so lang wie ein Fußballfeld, an einigen Stellen vielleicht zehn Meter breit.«
»Ein Bruch?«, sagte Len. »Möglicherweise fällt das Ding auseinander.«
»Könnte sein. Es wird interessant sein nachzusehen, ob es noch mehr gibt und ob sie ein Muster bilden.«
»Wie tief ist er denn?«
»Das kann ich noch nicht sagen; der Grund liegt im Moment im Schatten.«
»Falls du die Zeit dafür hast … wart mal, Houston will wieder mal zu dir durchkommen.«
Eine Pause, dann: »Wir haben uns sehr über die telemetrischen Angaben gefreut, die du übermittelt hast, Nigel. Für uns hier im Kontrollzentrum sieht es ganz so aus, als ob das Ei flugbereit wäre.«
»Es muss erst mal ausgebrütet werden, ehe es fliegen kann.«
»Stimmt, Junge, jetzt hast du mich auf dem falschen Fuß erwischt«, sagte Dave mit plötzlicher überschwänglicher Leichtigkeit.
Eine Unterbrechung, dann klang Daves Stimme voller, modulierter. »Weißt du, ich wünschte, du könntest die Drei-D-Übertragung von den Menschenmengen sehen, die hier um die Anlage herumstehen, Nigel. Im Umkreis von zwanzig Kilometern ist der Verkehr zum Erliegen gekommen. Überall sind Menschen. Ich glaube, das hier erweckt das Interesse der ganzen Menschheit und regt ihre Fantasie an, Nigel, ein edles Unternehmen …«
Er fragte sich, ob Dave wusste, wie sich das alles anhörte. Naja wahrscheinlich wusste der Mann es: Was dem Schauspieler recht ist, ist dem Astronauten billig. Jeder Astronaut ein anerkanntes Mitglied der Gemeinschaft der Schauspieler.
Er schnitt Grimassen, als, einen Augenblick später, die sanfte Stimme das Gedränge der zahllosen verschwitzten Körper um die NASA-Gebäude in Houston herum beschrieb, die inmitten der wartenden Massen erlittenen Hitzschläge und geborenen Babys, die aufwühlenden Gebetsfolgen der Neuen Söhne Gottes, ihre nächtlichen Vigilien um die züngelnden, öligen Flammen der Freudenfeuer. Der Mann war gut, daran konnte kein Zweifel bestehen: Die Millionen Lauscher glaubten, dass sie original an der Quelle mithörten; eine offene Leitung zwischen Houston und Ikarus bedeutete für sie, dass alles ernst gemeint war, was hier gesagt wurde, während in Wirklichkeit das Gespräch von Daves Seite aus gestellt und sorgfältig inszeniert war.
»Möchtest du mit irgendjemandem hier unten auf der Erde sprechen, Nigel, während du Pause machst?«
Er erwiderte, dass das nicht der Fall wäre, es gäbe niemanden, sagte, dass er beobachten wollte, wie sich Ikarus drehte, den Spalt studieren. Doch gleichzeitig sah er vor seinem geistigen Auge seine Eltern in ihrer vollgestopften, unaufgeräumten Wohnung, wollte mit ihnen reden, spürte, auf welche unsichere, untaugliche Weise er versucht hatte, ihnen zu erklären, warum er diese Sache machte.
Sie lebten immer noch in jener liebgewordenen, toten Welt, in der Weltraum gleich Forschung, gleich nüchterner Wahrheit war. Sie wussten, dass er sich auf Programme vorbereitet hatte, die niemals durchgeführt werden würden. Er würde als besserer, weil bekannterer, Mechaniker seine Zeit in der Erdumlaufbahn ableisten, und damals hatte es so ausgesehen, als sei das ganz in Ordnung.
Aber dies hier. Sie konnten nicht begreifen, wie er dazu gekommen war, einen Einsatz zu akzeptieren, der nichts versprach außer der Chance, eine Bombe zu legen, falls er Erfolg hatte, und den Tod, falls er scheiterte. Einen mühseligen, überkomplizierten Einsatz mit nur notdürftiger Ausrüstung, bei dem die Misserfolgswahrscheinlichkeit sechzig Prozent betrug; das jedenfalls meinten die Systemanalytiker.
Sie waren aus England emigriert, waren ihrem Sohn gefolgt, als er, kurz vor Beginn seines letzten Studienjahres in Cambridge, für das US-amerikanisch-europäische Gemeinschaftsprogramm ausgewählt worden war. Als vielseitiger Wissenschaftler hatte er den Eindruck erweckt, dass er leicht auszubilden sein würde, er war in guter körperlicher Verfassung gewesen (Squash, Fußball, Amateurpilot), liebenswürdig, anpassungsbereit (schließlich war er Engländer, froh, überhaupt irgendeinen Beruf zu haben) und vorzeigbar. Als er hervorragende Reflexe erkennen ließ, sich beim Flugtraining geschickt anstellte und für das misslungene Mars-Programm angenommen wurde, fühlten sich seine Eltern bestätigt, ihre Opfer hatten sich ausgezahlt.
Er würde eine neue Ära der Erforschung des Mondes einleiten glaubten sie; ihre Flucht aus einem verschlafenen, gemütlichen England in diesen Technokratenzirkus in Technicolor rechtfertigen.
Deshalb hatten sie, als die Ikarus-Geschichte anfing, gefragt: Warum sollte er seine Jahre in Cambridge, seine Astronautenausbildung in dem großen Vakuum zwischen Venus und Erde aufs Spiel setzen? – Und er hatte gesagt …?
Nichts, genaugenommen. Er hatte in ihrem Schaukelstuhl gesessen, ungeduldig nach Luft geschnappt und von Arbeit gesprochen, von Plänen, Verwandten, der Zweiten Depression, Politik. Er erinnerte sich kaum noch an ihre Argumente, nur noch an den ungleichmäßigen Sprechrhythmus ihrer Stimmen. In seiner Erinnerung verschmolzen seine Eltern zu einer einzigen Person; er entsann sich an einen schwerfälligen Suffolker Dialekt, der seine Jugend ausfüllte. Seine eigene Stimme könnte niemals in jene weichen Vokale verfallen; er könnte niemals sie sein. Sie waren eine separate Wesenheit, und obwohl er ihr Sohn war, befand er sich jenseits einer unausgesprochenen Grenzlinie, die sie in ihrem Leben zogen. Diesseits dieser Linie war Sicherheit, waren klare Formen. In ihrem Wohnzimmer gab es Luftzonen, Stellen, die nach süßlichem Tee oder modrigen Bucheinbänden oder Topfpflanzen rochen, Dinge die wirklicher waren als seine Worte. Dort in ihrem stickigen, alten Haus schwand seine überzüchtete, überfüllte Welt dahin, und auch er empfand es als schwierig, an die Menschenmassen zu glauben, die in die Großstädte drängten, die Welt beschmutzten und auch das Beste, was irgendjemand für sie tun oder planen konnte, wie ein Schwamm aufsaugten, so dass es folgenlos blieb.
Es gab herzlich wenig Geld für Forschungszwecke, für neue Ideen, für Träume. Aber seine Eltern begriffen diese Tatsache nicht. Sein Vater schüttelte den Kopf einen Millimeter in jeder Richtung, während er zuhörte, wie Nigel redete; der ältere Mann war sich wahrscheinlich nicht bewusst, dass er seine Reaktion verriet. Als Nigel seine Beschreibung des Ikarus-Einsatzplans beendet hatte, warf sein Vater seiner Mutter einen dieser unidentifizierbaren Blicke zu und gab Nigel dann in sehr ruhigem Ton den Rat, den Einsatz abzulehnen, auf etwas Besseres zu warten. Bestimmt würde sich etwas ergeben. Bestimmt, ja. Von ihrer Seite der Grenzlinie aus sahen sie alles sehr deutlich. Er hatte ihnen bis jetzt noch keine Schwiegertochter beschert, keine Enkel, hatte in den letzten Jahren wenig Zeit zu Hause verbracht. All das schwang unausgesprochen in der unscheinbaren Kopfbewegung seines Vaters mit, und Nigel nahm sich vor, dass er sie öfter besuchen würde, wenn die Ikarus-Geschichte vorbei und erledigt war.
Sein Vater, der in der Angelegenheit offensichtlich sehr belesen war, erwähnte die unbemannten Unterstützungsflüge. Robotsonden, ausgestattet mit einer Reihe atomarer Antriebe. Warum konnte sich Houston nicht allein auf sie verlassen? Es sei eine Frage der Wahrscheinlichkeiten, erklärte Nigel, der froh war, sich auf der Ebene der Tatsachen bewegen zu können. Aber er wusste trotz der Berichte der Kommission, dass die Vorteile angezweifelt werden konnten. Vielleicht war ein Mensch besser, aber wer war sich da schon sicher? Selbst wenn nur Menschen den Kern von Ikarus inmitten all dieses Staubes aufspüren konnten, warum sollte es ausgerechnet Nigel sein? Leichte Antworten: Jugend; Reflexe; und schließlich deshalb, weil nicht mehr so furchtbar viele ausgebildete Männer übriggeblieben waren. Nigel erwähnte nichts von alledem, als er den Schaukelstuhl bewegte, Tee trank, etwas in die geschichtete, unbewegte Luft des alten Hauses hineinmurmelte. Er würde es machen, so oder so. Sie wussten es. Und jener letzte Abend endete in Schweigen.
Im Flugzeug, das ihn zurück zum Ameisenhügel Houston brachte nahm er das eine Buch in die Hand, das ihm im Bücherregal seines alten Schlafzimmers aufgefallen war und das er spontan mitgenommen hatte. Der Rücken des vergilbten Buches war gebrochen, die Seiten steif und voller Flecken durch die Unfälle der Jugendzeit. Er erinnerte sich daran, dass er es kurz nach seiner Bewerbung für das US-amerikanisch-europäische Gemeinschaftsprogramm gelesen hatte, um ein Gespür für die Amerikaner zu bekommen. Er überblätterte Szenen, an die er sich noch immer entsann, und gegen Ende der Geschichte stieß er auf die eine Stelle, die er unabsichtlich auswendig gelernt hatte:
Und dann redete Tom und redete und sagt da, los, wir haun alle drei hier ab, in einer der nächsten Nächte, und besorgen 'ne Ausrüstung und gehn zu die Injaner, drüben in dem Gebiet, tolle Abenteuer erleben wir da, so für'n paar Wochen oder zwei; und ich sag' da, prima, das gefällt mir …
Während er da so in dem der Körperform angepassten Flugzeugsessel saß, fühlte er sich mehr wie Huck Finn als wie der berechnende Europäer, für den ihn die anderen hielten.
Dave Fowles' Stimme unterbrach seine Gedanken.
»Wir haben eine Neuberechnung der Aufschlagschäden, Nigel. Sieht ziemlich übel aus.«
»Oh?«
»Zweikommasechs Millionen Menschen tot. Folgeschäden im Umkreis von vierhundert Kilometern um die Aufschlagstelle. Keine größeren indischen Städte werden getroffen, aber Hunderte von Dörfern …«
»Was ist mit dieser Hungersnot?«
Er seufzte. »Schlimmer als wir erwartet haben. Ich nehme an, die Kleinbauern ließen ihre Äcker im Stich und begannen sich auf das Leben nach dem Tode vorzubereiten, als durchsickerte, dass Ikarus aufschlagen könnte. Das verschlimmerte die Hungersnot noch. Die UN glauben, dass es in den nächsten sechs Monaten mehrere Millionen Tote geben wird, trotz unserer Luftbrücke, und unsere Soziometriker meinen das auch.«
»Und die Abwanderung aus dem Aufschlaggebiet?«
»Schlecht. Herb sagte, dass sie einfach aufgäben und keinen Schritt mehr gehen wollten. Es muss an ihrer Religion liegen oder so. Ich begreife es nicht, wirklich nicht.«
Nigel dachte nach, und ein Gedanke regte sich in seinem Hinterkopf.
»Dave, ich habe da eine Idee.«
»Klar. Wir sind gerade aus der offenen Leitung rausgegangen, Nigel, die Fernsehanstalten bekommen das hier nicht mit. Schieß los!«
»Ich soll doch nach dieser Ruheperiode gleich das Ei legen, richtig? Das Ding besteht aus massiven Metallerzen, das Magnetfeld beweist das. Abwarten wäre sinnlos.«
»Korrekt. Der Einsatzleiter hat mir gerade die Bestätigung dafür gegeben. Wir haben einen Zeitplan erstellt, nach dem du in ungefähr dreizehn Minuten mit dem Abstieg beginnen sollst.«
»Okay. Es geht um folgendes: Ich möchte das Ei in dem Spalt deponieren, den ich entdeckt habe. Es ist ein tiefer, ungleichmäßiger Riss. Wir werden eine bessere Energieübertragung haben, wenn das Ei in einem Loch losgeht, und dies hier sieht schon ziemlich tief aus.«
Das statische Rauschen wurde periodisch lauter und leiser und machte so deutlich, wie die Zeit verstrich. Er sah einen Augenblick lang eine winzige Facette der Oberfläche von Ikarus weiß aufblitzen und wieder dunkel werden; er brannte darauf, sie zu suchen, eine Probe zu entnehmen. Er fühlte sich unter der weißen Sonne zur Bewegungslosigkeit verurteilt.
»Für wie tief hältst du es?« Daves Stimme klang reserviert.
»Ich habe die ganze Zeit über die Bewegung der Schatten beobachtet, als sich der Spalt in der Sonne drehte. Ich glaube, sein Grund muss mindestens vierzig Meter tief liegen. Deshalb wird es einen kräftigen Rückstoß geben, wenn das Ei losgeht. Gleichzeitig kann ich da unten einige interessante Gesteinsproben abschlagen«, endigte er müde.
»Gebe dir in einer Minute Bescheid.«
Len unterbrach die Pause, die darauf folgte. »Meinst du, du kannst das schaffen? Das Ding anzubringen, könnte ganz schön knifflig werden, wenn dort zu wenig Platz ist.«
»Wenn ich es nicht bis zum Boden bringen kann, lasse ich es hängen. Auf der Oberfläche wird das Ei nicht einmal ein Kilo wiegen, ich kann es einfach wie ein Gemälde an die Wand des Risses hängen.«
»In Ordnung. Hoffe, sie lassen sich darauf ein.«
Und dann kam die Übertragung aus Houston herein.
»Wir erteilen Genehmigung für Landeanflug in der Nähe des Randes. Wenn die Spalte weit genug ist …«
Er war bereits dabei, seine Kontrolltafel einsatzbereit zu machen.
Es war eine Welt der geraden Linien, ohne beschwingte Parabeln. Er brachte seine Flugeinheit – zylinderförmig; dünne, strahlig angeordnete Speichen zur Verbesserung der Flugstabilität; ein insektenähnliches Profil, das in einem runden Fortsatz auslief, der das Ei war – langsam heran und beobachtete dabei seinen Radarschirm. Es war schwierig, in dieser kieselsteingroßen Welt unter ihm das Potenzial zu erahnen, auf der Erde einen Krater von vierzig Kilometern Durchmesser schlagen zu können. Sie sah träge aus, schwerfällig.
»Bist du sicher, dass du keine Hilfe brauchst?«, meldete sich Len.
Nigel lächelte, und sein gebräuntes Gesicht wurde faltig. »Du weißt, Houston wird nicht zulassen, dass wir die Verbindung verlieren. Der Hochleistungsantennenverstärker von ›Dragon‹ funktioniert vielleicht nicht in all dem Staub und …«
»Ich weiß«, sagte Len, »und wenn wir beide auf der sonnenzugewandten Seite von Ikarus wären, würde die Erde in meinem Funkschatten sein. Gut. Lass mich bloß wissen, wenn …«
»Natürlich.«
»Mach sie ein, alter Junge.«
Die strukturierte Oberfläche wurde größer. Er flog auf die Dämmerungslinie zu, und die kleinen Pockennarben und Kanten wurden deutlicher. Die Steuerraketen flüsterten hinter seinem Rücken. Er konzentrierte sich auf Entfernungen und relative Geschwindigkeiten und darauf, die automatischen Kameras schneller laufen zu lassen, bis er genau über dem Spalt schwebte. Er wendete die Flugeinheit, um bessere Sicht zu bekommen, und schob sich Zentimeter um Zentimeter näher heran.
»Er ist tiefer, als ich dachte. Ich kann fünfzig Meter tief hineinsehen, und der Eingang ist ziemlich groß.«
»Klingt ermutigend«, sagte Dave.
Ohne eine weitere Durchsage abzuwarten, brachte er die Flugeinheit hinunter zum oberen Ende des Spaltes. Verbranntes Gestein erhob sich vor ihm; Braun verfärbte sich dort zu Schwarz, wo winzige Spuren von Gas weggebrannt worden waren.
In seinen Kopfhörern krachte und sprudelte es. »Ich bekomme deine telemetrischen Angaben nicht mehr«, kam Lens Stimme herein.
Nigel brachte die Flugeinheit zum völligen Stillstand. »Schau mal, Len, ich kann nicht weiter hineinfliegen, ohne dass mich das Gestein abschirmt.«
»Wir können den Kontakt nicht unterbrechen.«
»Also …«
»Vielleicht sollte ich näher heranfliegen.«
»Nein, bleib aus dem Staub raus. Bewege dich in Richtung Sonne und hinter mich – dort wird immer noch eine kegelförmige Zone mit gutem Empfang sein.«
»Okay, bin schon unterwegs.«
»Hört mal zu, Leute«, sagte Dave, »falls ihr mit dieser Sache Probleme habt, sollten wir vielleicht einfach …« Nigel schaltete ihn aus. Die Minuten verrannen.
Er drehte die Flugeinheit, um eine komplette Folge von Aufnahmen zu bekommen. Ikarus war ein unebener, runder Hügel, der schräg abfiel, wohin er auch schaute. Gebräunte Erhebungen und Spalten ergaben eine Miniaturlandschaft; sie sahen größer aus, als sie tatsächlich waren, da das Auge versuchte, sie einer vertrauten Sichtweise anzupassen. Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war genug Zeit verstrichen; er berührte einen Schalter, und das Surren der Statik kehrte zurück.
»Wie läuft's denn, Len?«, fragte er.
»He, hast du Schwierigkeiten mit der Übermittlung? Ich habe dich da drüben einen Augenblick lang verloren gehabt.«
»Musste über etwas nachdenken.«
»Oh. Dave sagt, dass sie sich da unten die Sache gerade reiflich überlegen.«
»Das habe ich vermutet. Aber andererseits sind sie nicht hier oder?«
Len lachte leise. »Ich glaube nicht.«
»Wie weit bist du jetzt herumgekommen? Bist du soweit, dass ich hineinfliegen kann?«
»Fast. Brauche noch ein paar Minuten. Wie sieht's denn da unten aus?«
»Ganz schön öde. Ich frage mich, warum Ikarus beinahe die Form einer Kugel hat. Ich habe etwas Gezacktes erwartet.«
»Kann nicht an der Gravitation liegen.«
»Nein, die ist nicht mal stark genug, um Geröll auf der Oberfläche zu halten – alles ist kahl, es liegt kein bisschen Schutt herum.«
»Vielleicht hat die Sonnenerosion den ganzen Asteroiden abgerundet.«
»Ich fliege jetzt hinein«, sagte Nigel plötzlich.
»Okay, ich glaube, ich kann deinen Weg von hier aus verfolgen.«
Die Drehung von Ikarus hatte die linke Wand nähergebracht. Mit einem winzigen Kraftstoß brachte er das Fahrzeug wieder zur Mitte zurück, wobei er sich daran erinnerte, als er zum ersten Mal aus irgendeinem längst vergessenen wissenschaftlichen Lehrbuch erfahren hatte, dass sich die Erde drehte. Wochenlang war er davon überzeugt gewesen, dass immer, wenn er hinfiel, sich die Erde unter ihm bewegt hatte, ohne dass er es bemerkte. Er hatte es für eine erstaunliche Tatsache gehalten, dass jeder Mensch fähig war, aufrecht zu stehen, wo doch die Erde offensichtlich versuchte, ihn umzustoßen.
Er lächelte und steuerte das Fahrzeug hinein.
Ein steinerner Rachen öffnete sich um ihn herum. Unregelmäßige Bruchstücke von etwas Glimmerähnlichem glitzerten aus den verbrannten Felsen. Nigel hielt ungefähr auf halbem Wege nach unten an und kippte seine Suchscheinwerfer hoch, um die Unterseite eines Felsvorsprungs sehen zu können; sie war rau und rissig, von bräunlicher Farbe. Er glitt auf die Wand der Spalte zu und fuhr eine Greifklaue aus. Ihre Zähne gruben sich mit dumpfem Krachen geschickt in die Wand und brachten einige Pfund ausgedörrten Gerölls zurück. Len meldete sich; Nigel antwortete einsilbig. Er bewegte die Flugeinheit ein wenig weiter abwärts; seine Bewegungen waren in der verdüsterten Stille äußerst vorsichtig. Er benutzte ein Transportgefäß in Gestalt einer Vertiefung auf der Außenhaut des Fahrzeugs, um die Probe zu lagern, und fügte weitere Klauen voll Gestein in anderen Vertiefungen hinzu.
Er war beinahe am Boden angelangt, ehe er es bemerkte.
Der narbige Boden war ein Durcheinander von Felsen, die sich aus pechschwarzen Pfützen erhoben. Nigel konnte keinerlei Einzelheiten erkennen; er wandte seine Suchscheinwerfer nach unten.
Ein tiefer Riss zog sich in der Mitte durch den rauen Boden. Er war vielleicht fünf Meter breit und völlig schwarz.
In unregelmäßigen Abständen ragte etwas aus dem Riss hervor, eckige Dinge, die stumpf waren und verkohlt. Einige warfen funkelndes Licht zurück, als ob sie teilweise geschmolzen wären und sich verbunden hätten.
Nigel glitt näher heran.
Eines der Objekte war ein langes, gewundenes Band eines kupferhaltigen Metalls, das ein kompliziert verschränktes Gewebe von Spiralen beschrieb.
Er saß in der Stille da und sah es an. Die Zeit verging.
In zehn Metern Entfernung war ein zerknittertes, vormals quadratisches Gebilde in dem Spalt eingeklemmt, als ob es von einem starken Wind zum Teil herausgetrieben worden wäre. Er sah noch weitere; er fotografierte sie.
Len hatte schon seit einiger Zeit versucht, ihn zu erreichen.
Houston brauchte eine Stunde, um zuzustimmen, dass er die Flugeinheit verlassen musste. Sowohl er als auch Len mussten sich mit einem Projektleiter auseinandersetzen, der glaubte, dass sie jetzt schon zu viel Zeit vergeudet hatten; der Mann nahm ihnen offensichtlich nichts von dem ab, was sie berichteten; er hielt alles für ein Lügenmärchen, das sie sich ausgedacht hatten, um Nigel mehr Zeit für das Einsammeln von Proben zu geben. Len konnte kaum davon abgehalten werden, selbst in die Wolke hineinzufliegen, und nur die Notwendigkeit, den Einsatz neu zu beurteilen, bremste ihn.
Selbst nachdem Houston zugestimmt hatte, verlangten sie einen Preis. Das Ei sollte zuerst am Boden des Spaltes angebracht werden. Dies konnte erledigt werden, ohne dass Nigel die Flugeinheit verließ, und anstatt sich auf eine Debatte einzulassen, arbeitete er schnell und geschickt, damit er es rasch erledigt hatte.
Das Ei war eine matte, graue Kugel, in deren Außenhaut Sicherungsbolzen eingelassen waren. Nigel manövrierte es in die Nähe der dunklen Wand des Risses und sprengte die Bolzen ab, die es festhielten. Die Kugel schwebte frei im Spalt.
Bevor sie zu weit abtreiben konnte, zündete er die hinteren Sicherungsbolzen. Sie flogen im Bogen durch den freien Raum zur Wand und gruben sich in das Gestein ein. Stahlkabel rollten sich auf und zogen das Ei dicht an den Fels heran. Nichts konnte es jetzt bewegen, und nur Len oder Nigel konnten seine fünfzig Megatonnen detonieren lassen.
Nigel aß etwas, ehe er die Flugeinheit verließ. Houston war uneinig über Eventualprogramme; Dave gab ihm eine Zusammenfassung, der er nur halb zuhörte. Er und Len hatten noch Luft für weitere zweiundzwanzig Stunden, und an ihrer Bremsflugbahn zurück zur Erde konnten einige Veränderungen vorgenommen werden.
Die beiden unbemannten Unterstützungsflüge wurden jetzt forciert, aber sie machten inzwischen einen weniger aussichtsreichen Eindruck. Die automatischen, radargesteuerten Flugeinheiten mussten sich Ikarus mit hoher Geschwindigkeit nähern, und der Staub und die Steinchen in der Wolke, die bei diesen hohen Geschwindigkeiten mit großer Wucht aufprallten, konnten die Sprengköpfe unbrauchbar machen, ehe sie Ikarus selbst ausfindig gemacht hatten.
»Lasse jetzt den Deckel aufspringen«, meldete sich Nigel und schaltete auf das Funkgerät in seinem Raumanzug um. Die Luke schwang mit einem dumpfen Bums auf. Er tastete sich behutsam hinaus, seilte sich Hand über Hand an der Sicherungsleine der Flugeinheit ab und stand schließlich auf Ikarus.
»Die Oberfläche knirscht etwas unter meinen Füßen«, sagte er, da er wusste, dass Len ihn mit Fragen durchlöchern würde, wenn er nicht für eine beständige Flut von Kommentaren sorgte. Sie waren beide fünf Wochen lang in einer kleinen, verschwitzten Kabine geflogen, um Ikarus aufzuhalten, und jetzt entging Len ein Lohn, der größer war als alles, was sie sich erträumt hatten. »Es muss so etwas Ähnliches wie Schlacke sein. Ausgedörrt. So sieht's jedenfalls aus.«
Eine Pause.
»Ich bin an der Kante des Risses. Er ist hier ungefähr zwei Meter breit, und die Seiten sind ziemlich glatt. Ich hänge jetzt über dem Riss, schaue hinein. Die Wände reichen ungefähr vier Meter tief, und dann ist es nur noch schwarz. Meine Lampen können nichts erfassen, was darunter liegt.«
»Vielleicht ist da drin ein Loch«, sagte Len.
»Könnte sein.«
Ehe ihn Dave unterbrechen konnte, fügte Nigel hinzu: »Ich gehe jetzt hinein«, und griff nach einer Felskante, um sich in den Riss hineinzuziehen.
Als hinter ihm der Fels abbrach, sah er vor sich nur eine matt schimmernde Spiegelung. Ein weißes Rechteck kam undeutlich in sein Gesichtsfeld, während er weitertrieb. Es schien auf einer Seite einer größeren Platte eingesetzt zu sein, die mit einer geraden, glatten Kante am Gestein abschloss und eine Seitenlänge von wenigstens hundert Metern hatte. In dieser Platte waren merkwürdig geformte Öffnungen, einige mit Schnörkeln verziert und gemaserten, steinernen Bögen, die wie plastische Satzzeichen aussahen. Nigel verlor die Orientierung, als er näher kam, und er musste mit den Armen rudern, um seine Füße herumzudrehen. Es gab ein schwaches, hell klingendes Geräusch, als er aufkam.
Das weiße Material hatte den dumpfen Glanz von Metall. Nigel benutzte ein Schneidwerkzeug, um einen Splitter herauszubrechen. Direkt daneben tauchte ein gewundenes, rotes und grünes Gebilde auf, das aus dem weißen Metall herauswuchs, ohne dass eine Fuge erkennbar war. Für Nigel sah es wie eine abstrakte Plastik aus. Als er es berührte, verspürte er ein leichtes Zucken in seinen Fingern; ein Arm des Gebildes bewegte sich ein winziges Stückchen, verharrte dann reglos. Sonst geschah nichts.
Er ging weiter, untersuchte andere Gegenstände, und dann schien ein Licht aus einem der Löcher in der Fläche herab. Die Öffnung war ein großes Oval, und in der Ferne konnte er sehen, wo es andere dunkle Gänge kreuzten.
Er ging hinein.
Eine lange Röhre, die aus dem Gestein herausgeschlagen worden war. Er entnahm eine Probe. Vulkanischen Ursprungs? Etwas seltsam seine körnige Struktur.
Ein Gewölbe. Graue Wände, von grellem Licht gebranntes Braun.
Dahintreiben.
Ausgedehnte Linien nehmen Gestalt an … über … eine eifrige Bündelung zu Schwellungen. Sollte er noch weiter gehen? Unterhalb seines Scheinwerfers pendelten Schatten mit jeder Bewegung seines Armes; sie ähnelten Augen, die sich nichts entgehen lassen wollten. Dahinfließende Muster.
Muster.
In den Wänden?
Sollte er? Hinter jedem Lächeln lauern Zähne.
Tiefer, tiefer jetzt. Ebene. Gleiten. Beine baumeln
baumeln
weich
etwas Ähnliches wie ein Kissen, aber er sieht nichts, nur die Schatten, die jetzt zerfließen, verschmelzen – etwas wird
heiß
dann kalt – alt
und zieht ihn wieder hinunter, schiebt ihn zusammen, in neue Würfel von Räumen, allesamt schräg, jetzt in eine Kugel, die rot glüht, wo das Licht seiner Lampe auftrifft, oder spielen ihm die Augen einen Streich? – Sie haben Schwierigkeiten, sich anzupassen, wahrscheinlich Verlust der vertikalen Orientierung, ein altes Problem in der Schwerelosigkeit; eine einzige Drehung des Kopfes wird das in Ordnung bringen …
Ausgetretene, steinerne Stufen führen unmöglich weit hinauf, hinauf in eine jetzt zerknitterte Decke, die mit orangefarbenen Tropfen gesprenkelt ist, die in seinem fahlen Licht wie Öl schimmern. Plötzlich erinnert sich Nigel, undeutlich … Ein alter Film. Ein Film über das Grab von Tutanchamun, der Schakalgott Anubis fällt über neun besiegte Feinde her. In der Schatzkammer stand eine Truhe; nach einem Raub war sie von den Wächtern der Totenstadt an eine Wand nahe der Grabkammer gezerrt worden. Sie enthielt die mumifizierten Leichen zweier totgeborener Säuglinge, vielleicht der Kinder Tutanchamuns, in Gummi, Harzen und Ölen.
Das Grab öffnen.
Hineintreten.
Und hervor aus dem Tal der Könige, aus Karnak und Luxor, sich den Nil entlang nach Alexandria winden, eine Frau, uralt, mit geröteten Handgelenken und empfindungslosen Beinen, die von einer nagenden, auszehrenden Krankheit dahingerafft wird …
Nigel schüttelte benommen den Kopf.
Die Stufen waren nur Markierungen. Sie führten nirgendwo hin. Er fotografierte sie klick surr und bewegte sich weiter.
Wieder das merkwürdige Summen. Es gab keine Luft hier drin – wieso konnte er es hören? Er tastete sich eine enger werdende Röhre entlang. Das Summen war hier stärker. Vor ihm ragte eine Kugel auf. Sie war nicht mit den Wänden verbunden. Nigel berührte sie. Sie bewegte sich nicht. Das Summen nahm zu. Er presste das haftende Gewebe auf den Außenseiten seiner Handschuhe gegen die Kugel und benutzte den festen Halt, um sich um sie herumzuschwingen. Dahinter gähnte schwarze Leere. Seine Lampe lugte hinein und fand nichts. Das Licht schwand einfach. Nichts reflektierte das Licht. Das Summen hielt an.
Er bewegte sich zur anderen Seite der Kugel und spähte in den Abgrund. Nichts.
Plötzlich verstärkte sich das Summen, jammerte, schrie, gellte – und hörte auf.
Nigel blinzelte, war verblüfft. Stille. Um ihn herum war eine Zone der Dunkelheit. Die Kugel sah, als er sich umdrehte, um sie zu betrachten, irgendwie träge aus, erschöpft.
Nigel runzelte die Stirn. Er ließ sich von seinen Antriebsdüsen zurück zur Kugel tragen, kämpfte sich um sie herum und bewegte sich auf dem gleichen Weg durch den Tunnel zurück, auf dem er gekommen war, und suchte.
Drei Stunden später, als er seine Filmdosen aufgebraucht hatte und müde zu werden begann, kehrte er zurück. Das Netz der Gänge war ein einfaches, aber platzsparendes Geflecht raffiniert gekreuzter, kugelförmiger Hohlkörper, und er hatte keine Schwierigkeiten, den Weg nach draußen zu finden.
»Ich bin wieder in der Kabine«, sagte er aufseufzend; er verspürte eine bleierne Müdigkeit.
»Mein Gott, wo hast du bloß gesteckt, Nigel? Stundenlang keinen einzigen Ton ich war fast schon soweit, dass ich runterkommen wollte, um dich zu holen.«
»Es gab dort eine ganze Menge zu sehen.«
»Houston ist in der Leitung und noch dazu verdammt sauer , also fang an zu reden.«
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