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"Sechsten Dezember 1913. Speisefolge der Abendtafel. Offizierskasino des zweiten Husarenregiments König Karl Ferdinand." So lauten die Menükarten zu der festlichen Abendveranstaltung. Liebevoll beschreibt die Autorin diese für die damalige Zeit so typische Veranstaltung: Kronleuchter, Tischtafel, Uniformen, eng geschnürte Taillen bei den Damen, Tanzkarten, die regeln, wer mit wem wann tanzt. Mitten drin die jungen Leutnants von Savaburg und von Unterlüß. Beide schneidig, aber doch nicht nur dem Soldatischen zugewandt. Der eine malt, der andere arbeitet an einer Tragödie. Wie aber wird man berühmt, was kann die Karriere befördern? Savaburg gelingt dies, als er die im Schloss Montbijou angebliche umgehende Gräfin gemalt haben soll. Jetzt ist der Erfolg nicht mehr zu bremsen.-
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Seitenzahl: 389
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Nataly von Eschstruth
Roman
Saga
Im Spukschloss Monbijou
German
© 1921 Nataly von Eschstruth
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711472941
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
„Sechsten Dezember 1913. Speisefolge der Abendtafel. Offizierskasino des zweiten Husarenregiments König Karl Ferdinand.“ Darüber der gekrönte, sehr elegante Namenszug, der in der ganzen Provinz ein Ansehen genoss wie der fürstliche Protektor selbst, dessen Farben lustig an den Lanzen über den flotten Schwadronen flatterten.
„Sind dies die neuen Menükarten, die Dellien in der Residenz besorgen liess?“
Leutnant Graf Heitlingen stand an der gedeckten Tafel und hob mit der gepflegten Hand das Kartonpapier näher zu dem Monokel empor.
„Ganz nett; — ein bisschen langer Sums! Hätte eigentlich genügt, wenn unter dem Namenszug Speisefolge gestanden hätte!“
Der Angeredete, die brennende Zigarette im Mund, trat langsam näher aus der offenen Nebentür, die in das Rauch- und Lesezimmer führte.
Er zuckte die Achseln. Ein leicht ironisches Lächeln hob die schmalen Nasenflügel des sehr scharf markierten Gesichts noch höher.
„Sie unterschätzen Delliens Menschenkenntnis, lieber Conte! Er kennt sich auf den Grundton aus, auf den eine ganze Menge Festteilnehmer gestimmt sind, die sich nachher an diese Tafel setzen sollen!“
Graf Heitlingen liess die etwas langen, schweren Augenlider verschleiernd über die Augen sinken und blickte über die drei langen, äusserst geschmackvoll und elegant gedeckten Tafeln des Speisesaals.
Die weissen Damasttücher glänzten wie Seide, Silber und Kristall funkelten, dieses in den verschiedenen Gläsersorten in reizend abgetönten Farben, und das kostbare Porzellan aus Limoges schob seine gold- und blütengezierten Teller dazwischen.
„Heda — Ordonnanz! — Wagen bereits in Sicht?“
„Befehl, Herr Graf. — Etliche Herrschaften sind bereits in der Garderobe!“
„Avanti, Dillfingen! Setzen Sie Ihre Begrüssungsvisage erster Garnitur auf und kommen Sie mit!“
Der Genannte schritt an Heitlingens Seite nach den Empfangssalons, welche die diensteifrigen Hände der Gallonierten vor ihnen öffneten.
Die breiten Flügeltüren schlugen zurück, und eine Flut von elektrischem Licht, aus dem geschliffenen Glas der Kronleuchter und Girandolen hervorbrechend, sowie die dezenten Duftwogen vornehm parfümierter Gemächer schlugen ihnen grüssend entgegen.
Unter den reichen Bronzegehängen eines altvenezianischen Lüsters stand die Gruppe der bereits anwesenden Offiziere, in ihrer Mitte die sehr imposante Gestalt der Kommandeuse.
„Madame la baronne hat zwei Lämmer im Schlepptau!“ — raunte Dillfingen seinem Kameraden Heitlingen zu, und dieser lächelte nur ein wenig ironisch, drückte das Augenglas noch fester ein und betrachtete ungeniert die Damen, die, nach dem Eingang des Saales gewandt, ihm den Rücken zukehrten.
„Wenn der eine Engel nicht sehr viel Geld hat, so trieb der liebe Herrgott Missbrauch mit dem Worte ‚Weib‘!“ flüsterte er zurück „die Grössere mein’ ich. Entweder ist sie verwachsen oder die Taille sitzt schief. Nichts ist mir widerwärtiger als verwahrlost gekleidete Damen!“
„Und hilflos dann so einer Tochter aus fremdem Hause gegenüberstehen ... das ist gleichbedeutend mit Selbstmord!“
„Tochter aus fremdem Hause ist gut! Selbst wenn sie als Ihre Gattin Ihren Namen trägt?“
„Mensch! Das ist doch nur eine standesamtliche Äusserlichkeit!“
„Sehr gut!“
„Oh ... man hat uns gesichtet. — Es hilft nichts. Da sie nun mal die bessere Hälfte vom Oberst ist und bleibt, müssen wir uns zu Füssen legen!“
Der Husar lachte. „Hannemann, geh du voran, du hast die grössten Stiefel an ...“ — persiflierte er, gab sich mit leichtem Aufstöhnen einen Ruck und glitt auf dem spiegelnden Parkett mehr hofmännisch als militärisch der Gruppe unter dem Kronleuchter zu.
Eine stumme Verbeugung; beinah sah es aus, als drückte der junge Offizier das Kinn wie in feiner Opposition steif gegen den Uniformkragen zurück.
Die türkisblaue Samtschleppe der Frau Oberst wogte seitlich.
Das frischwangig volle Antlitz wandte sich den beiden Husaren zu, was Dillfingen mit dem Ausdruck zu bezeichnen pflegte, „sie lässt die Gnadensonne vom Äquator über uns erstrahlen!“
Und Frau von Strombeck lächelte auch tatsächlich sehr liebenswürdig und reichte die Handschuhnummer 6½ zum Kuss.
Ein kalter, beinah feindseliger Blick Heitlingens streift die beiden Nichten der Gnädigsten. Erst die mit der schlecht geschnürten Taille, dann die andre mit der ganz verzwackten Frisur eines Kakadu.
„Darf ich bitten, gnädigste Frau, mich den Damen bekannt zu machen!“
Frau von Strombeck lächelt nach wie vor.
Heitlingen ärgert sich und hört es äusserst gleichgültig, dass die Frau Oberst mit kurzer Handbewegung erst den Namen des Grafen, dann den ihrer beiden Schutzbefohlenen nannte, klar und betont: „Komtesse Plunck, — Fräulein von Waldeck-Wartenfels, meine Nichten.“
Die Sporen klingen zusammen.
Wird er um die Tanzkarte bitten?
Nein, er zieht nur die linke Seite des Gesichts mit leichter Grimasse hoch, um das Augenglas zu balancieren und wendet sich an die junge Gräfin; — die mit der schiefgeschnürten Taille ignoriert er ganz absichtlich. Er kann derartige Toilettenverstösse nicht verzeihen, er kann es nicht.
„Gnädigste Gräfin wollen den Winter hier tanzen?“
Sie steht vor ihm wie ein magerer kleiner Spatz, an dem man alle Knochen zählen kann, reckt die spitze Nase recht impertinent in die Höhe und sagt schroff: „In Ermanglung von besserem. Daheim in der Residenz haben wir Hoftrauer bekommen, da bläst man seine Feder halt weiter!“
Graf Heitlingen hebt den Kopf noch höher als sie den ihren und sieht noch kälter aus als zuvor, es weht wie Gletscherluft zu ihr herüber.
Verwundert ist er nicht, er kennt auch diese neue Art herber Mädchenblüten, die wie die verkörperten Kampfansagen den Mann durch Grobheit brüskieren.
„Dieses Wechselspiel zwischen Residenz und Provinz bleibt niemand erspart, Gräfin. Was das vergewaltigende Schicksal aus der Grossstadt heraustreibt, müssen wir als rettender Hafen aufnehmen, ebenfalls in Ermanglung von besserem!“
„Tanzten Sie schon einen Winter in der Residenz?“ ironisiert sie mit scharfer Stimme.
Er kneift die Augen zusammen. „Noch nicht!“
Sie lächelt noch spöttischer. „Hatten Sie keinen Lotsen für den Hafen?“
Heitlingen versteinert: „Hätte mein Onkel Roderich damals schon die Gardekürassiere als Kommandeur befehligt, würde ich in der angenehmen Lage gewesen sein, unter denselben Auspizien wie Sie jetzt, Gräfin, in der Gesellschaft Anker zu werfen!“
Sie lachte: „Ihr Onkel Roderich? — Wie ist die Welt doch so klein! Vor acht Tagen haben wir noch einen recht netten Künstlerabend bei ihm besucht.“
Eigentlich ärgert er sich — sie ist masslos frech, — aber ihre Toilette schick, ihre Bewegungen rassig, — die Perlenkette auf dem Hals echt.
Das versöhnt ihn.
„Darf ich um einen Tanz bitten, Gräfin?“
„Höchstens die Polka hier.“
„Danke. Ich freue mich, sie untergebracht zu haben, denn Polka tanze ich am schlechtesten.“
Er kritzelte seinen Namen auf ihre Tanzkarte, reichte sie mit steifer Armbewegung zurück und trat unvermittelt zur Seite, um Dillfingen die Bahn freizugeben.
Die Frau Oberst winkte auch gerade herüber.
„Valeska ... ich möchte dich Exzellenz von Ruhnow vorstellen ...“
„Auch noch Valeska! — Valeska heisst sie! Solch eine Persiflage auf den hübschen Namen!“ erboste sich der Graf und trat im Rückwärtsschreiten der andern Nichte mit der schlecht geschnürten Taille ein klein wenig auf den Fuss.
Nicht tollpatschig, nur Streifschuss.
„Pardon, meine Gnädigste!“
Ein sehr liebenswürdiges Gesichtchen mit grossen, freundlichen Kinderaugen blickt zu ihm auf.
Sie lächelt, ohne ihm sein Verbrechen im mindesten zu markieren.
Ganz niedliches, rosiges Mädel, — man sieht ihr ordentlich an, dass ihr dies Tanzfest noch Spass macht!
Eine kurze, kaum merkliche Verbeugung, Graf Heitlingen schreitet weiter.
An ihm vorüber hastet einer seiner Kameraden.
Eine flotte, gedrungene, echte Husarenfigur.
Dunkel blitzende Augen ohne Monokel oder Kneifer, ein kleiner, keck aufgestellter Schnurrbart und ein Zug feinen, liebenswürdigen Geistes charakterisiert das intelligente Gesicht.
„Nicht so eilig, Sigurd! Kommen gerade noch zur Zeit, die neuen Sterne am Himmel Ihrer Memoiren aufgehen zu lassen!“
Leutnant von Savaburg lachte vergnügt und blieb einen Augenblick stehen, da Heitlingen ein Gesicht machte, als wolle er noch etwas Vertrauliches sagen.
Er neigte sich auch flüsternd näher:
„Sterne, die begehrt man nicht, Sigurd! Und sich an ihrer Pracht erfreuen, dürfte in diesem Falle, bei den ‚höchstkommandierenden Nichten‘, ein etwas verfehlter Ausdruck sein. Habe die jungen Damen schon unter die Lupe genommen. Nichts Besonderes. Gräfin Plunck reichlich arrogant, scheint durch schnoddrige Bemerkungen provozieren zu wollen, aber sonst schick und wohlhabend angezogen, während die kleine Waldeck-Wartenfels —“, der Sprecher neigte sich näher und sah geradezu vernichtend aus — „eine schief geschnürte Taille trägt!“
„Donnerwetter! Horribile dictu!“ lachte Sigurd von Savaburg mit aufblitzenden Augen: „Ahnt sie von diesem Schicksalsschlag, der sich hinter ‚ihrem Rücken‘ abspielt, oder hat sie die Ohnmacht noch vor sich, wenn sie heute abend die schräge Schlachtstellung aufgeben muss? — Übrigens, Gräfchen, wenn dies der einzige Stein des Anstosses ist, so hoffe ich mit Fräulein von Waldeck ohne zu stolpern über unser Parkett zu kommen!“
Heitlingen zuckte die Achseln, als täte ihm etwas Unsichtbares weh.
„Scheint reichlich uninteressant zu sein, die Kleine! Die allzu naiven Gesichter mag ich nicht.“
„Weiss schon, Heitlingen, kenne das an Ihnen! Das Wildbret mit etwas Hautgout und die Damen mit einem feinen Stich ins Pikante; — na, da sind wir andern bescheidenen Seelen gern mit den Restbrocken zufrieden! Da Sie sich sicher schon Gräfin Plunck mit Bleistift verschrieben haben, werde ich das gleiche mit dem schief gewickelten Fräulein von Waldeck tun!“
Heitlingen zog die Oberlippe hoch und lachte ein „Hihi!“ im Tenor.
„Schief gewickelt, schlecht geschaukelt und nichts dazu gelernt! — Meine besten Wünsche geleiten Sie, lieber Savaburg!“
Schon im nächsten Augenblick stand Sigurd vor Fräulein von Waldeck, und da gerade das Knäuel von Menschen unter dem Kronleuchter sich löste, um der jüngsten Frau Leutnant und deren Gemahl voll ausgesuchter Devotion entgegenzueilen — es war der Erbprinz von Salgen-Sohm, der am Tag seiner Hochzeit das Offizierspatent erhalten und dem Husarenregiment König Karl Ferdinand zuerteilt war — so klappte Savaburg ritterlich die spornklingenden Hacken zusammen und stellte sich selber vor.
Das Gesichtchen, das sich ihm zuwandte, gefiel ihm schon auf den ersten Blick, denn lichtblondes Haar und blaue Augen waren ihm seit jeher sympathisch.
Es war ihm unbeschreiblich, wie man an die Taille denken konnte, wenn man so freundlich angelächelt wurde. Er bat um einen Tanz.
Noch zwei waren zu vergeben, auch das Souper.
Es ist für eine Dame stets angenehm, den Weg in den Esssaal unter männlicher Eskorte zurückzulegen.
„Sie gestatten, dass ich mich hinter dem Tischwalzer verewige, gnädiges Fräulein?“
Sie lächelte, ein wenig schelmisch und doch lieb und bescheiden.
„Ich esse keine Austern und setze Sie zum Erben ein!“
Er blickte schnell auf; höchlichst amüsiert.
„Gut, dass Sie mir dieses Geständnis einer edeln Seele erst nach meinem Engagement machen, so lastet doch nicht der böse Schein eines schnöden Egoismus auf mir! Wie steht es mit dem alten Portwein?“
„Den trinke ich selber!“ sagte sie mit zwei Grübchen in den Wangen.
Sie sprach so natürlich vergnügt und harmlos, ohne jede Effekthascherei, und das gefiel Sigurd Savaburg wieder so ausnehmend, dass er einen beinah zärtlichen Blick auf die verpönte Taille warf.
Dann ruhte sein Blick nachdenklich auf dem blonden Köpfchen, das in ganz eigenartigem Schein unter den Flammen des Lüsters erglänzte.
„Sind Sie schon einmal gemalt worden, gnädiges Fräulein?“ fragte er ganz unvermittelt.
Sie blickte höchlichst überrascht zu ihm auf.
„Nein! — Weder mit Essig und Öl noch mit Aqua!“
„Sie kennen keine Maler?“
„Noch nicht! Wir leben sehr still und zurückgezogen auf dem Lande, wo ich seit dem Tod meiner Eltern von Grossmama erzogen wurde. — Interessieren Sie sich für futuristisch-sezessionistisch-optimistische Kunstwerke?“
Er musste mitlachen.
„Für diese besonders, denn ich bin Optimist genug, nicht nur meine militärischen Dienstpferde zu reiten, sondern mich sogar manchmal auf einem Pegasus zu versuchen, der vom Parnass geschrammt ist und in die grossen Mischwannen von Kremser Weiss, Krapplack und Ultramarin sauste!“
„Also eine Schecke! Das Götterross muss ja originell aussehen!“
„Eben so verblüffend wie die Farbenkleckse, die er auf meiner Leinwand zurücklässt!“
Sie sah plötzlich ernst aus. „Sie malen? Unter der Pelzmütze vermutet man keinen Künstlerlorbeer!“
Er strich mit der Hand über die braunlockigen Haare. „Zunächst ist auch nur der Platz dafür geschaffen, — es fängt schon an, bedenklich licht hier oben zu werden, womit aber nicht gesagt sein soll, dass dies ‚Innenbeleuchtung‘ ist! Des Dienstes ewig gleich gestellte Uhr holt für mich heute ebenso wie früher im Gymnasium nur zum Schlagen aus, wenn ich die Zeit anders nutzen will, als wie das vom Rektor oder Oberst vorgeschrieben ist!“
„Sie wären gern Künstler geworden?“
Mit langem, wundersam verständnisinnigem Blick schauten ihn die Blauaugen an.
Er strich vergnüglich den kleinen Schnurrbart noch flotter empor.
„Ich bin sehr zufrieden, dass ich mich über diese Jugendeselei in den Sattel eines Streitrosses schwang, das ritterlichem Sinn auch einen Tummelplatz eröffnet, dem ideale Ziele gesteckt sind. Meine Mutter wollte ihren Einzigsten gar zu gern in doppeltem Tuch sehen, und ein gehorsamer Sohn zu sein, ist an und für sich auch ein Stückchen Idealismus!“
„Da Sie sich aber anscheinend noch gern dieser Jugendeselei erinnern, trägt Sie der zugelaufene Pegasus doch wohl hie und da noch in das Land der Träume hinein?“
„In meinen Musestunden lebe ich der Muse — warum hiessen sie sonst so? Und wenn ich irgendwo etwas Reizvolles oder Eigenartiges sehe, so führen meine Augen sofort den Pinsel! — Als ich soeben die wundersamen Lichtreflexe auf Ihrem Haar sah, drängte sich mir die Frage auf, ob wohl schon Künstler von Beruf die gleiche Empfindung gehabt haben wie ich, ein Stücklein Sonnengold auf der Leinwand festzuhalten!“
Sie errötete, blieb aber ganz unbefangen.
„Kennen Sie nicht die ‚Rosenbilder‘, gnädiges Fräulein, in denen ein blondes Weib so entzückend mit Worten gemalt ward:
‚Die Sonne lag auf ihrem Haar —
Als wär’ sie dort zu Haus!‘?“
Der Sprecher unterbrach sich, um durch eine sehr elegante Verbeugung ein paar vorüberschreitende Damen zu begrüssen, dann wandte er sich wieder Fräulein von Waldeck zu und fuhr fort, „Sie sind für längere Zeit bei Ihren Verwandten Strombeck zu Besuch, mein gnädiges Fräulein?“
„Was man lang nennt! Wir Landmenschen rechnen im Sommer mit langen Tagen, an denen man keine Zeit hat, im Winter mit sehr kurzen, an denen man nicht weiss, was mit den vielen Stunden beginnen! Darf ich übrigens fragen, ob Ihre Frau Mutter heute abend hier anwesend ist? — Leider habe ich sie heute nachmittag, als ich meinen Besuch machen wollte, nicht angetroffen!“
Sigurd klappte die Sporen zusammen.
„Sehr liebenswürdig, gnädiges Fräulein, meiner Mutter zu gedenken! Sie wird doppelt bedauern, dass sie für ein paar Tage nach Hannover fahren musste, die Silberhochzeit ihrer Cousine Kloss mitfeiern zu helfen.“
„Ich wollte mich nach langen Jahren bei Ihrer Frau Mutter noch für ein Patengeschenk bedanken, das sie mir ehemals so freundlich in die Wiege legte!“
„Ein Patengeschenk?!“
Wie hübsch es ihr stand, wenn sie so schelmisch lächelte.
„Ihre Frau Mama riskierte es vor langer Zeit —“
„Hm, hm!“
„ein sehr arg schreiendes und zappelndes kleines Mädel über die Taufe zu halten, dieser Unart war ich!“
„Wie?? — Was? ... Sie, meine Gnädigste, ein Patenkind meiner Mutter?!“ — Leutnant von Savaburg machte sehr grosse, überraschte Augen. „Ich habe doch den Vorzug, Fräulein von Waldeck zu begrüssen?!“
Sie hob den geschlossenen Fächer und liess ihn langsam durch die Hand gleiten.
„Der Name ist Ihnen völlig unbekannt? Hörten Sie dahingegen wohl von einer Frau von Hörschelwitz?!“
„Hörschelwitz?“ — einen Augenblick schien der Husar nachzudenken, dann stimmte er lebhaft zu. „Selbstverständlich! Thekla von Hörschelwitz! Soviel ich weiss, standen die Gatten damals zusammen bei den dritten Ulanen in X?“
„Ganz recht. Rittmeister von Hörschelwitz, war mein Stiefvater und stürzte so unglücklich nach kaum dreijähriger Ehe bei einem Rennen, dass meine arme Mutter abermals als Witwe sehr einsam im Leben stand.“
„Ganz recht! Natürlich! Ich entsinne mich! Und Frau Thekla von Hörschelwitz war in erster Ehe mit einem Waldeck-Wartenfels verheiratet! Selbstverständlich ist mir die Sache nun ganz klar, — bloss etwas begreife ich nicht, dass mir eine Patentochter Mamas so unbekannt geblieben!“
„Ihre Frau Mutter war sehr beliebt und viel begehrt! Sicherlich bezog sie die Paten gleich en gros und vergass, das Register dem Sohn vorzulegen.“
„Ich war wohl in jenen Jahren wenig zu Hause, da die kleinen Garnisonen die Eltern zwangen, ihre Söhne ausser dem Hause erziehen zu lassen. Ihre beklagenswerte Frau Mutter blieb wohl nicht in X wohnen, so dass die Damen sich bei ihrem weiteren militärischen Wanderleben etwas aus den Augen verloren? — Bei meiner sonst so gewissenhaften kleinen madame mère allerdings sehr unbegreiflich.“
„Für mich nicht, Herr von Savaburg! Mama trat mit Verwandten eine längere Orientreise an und liess mich bei Grossmutter auf dem Lande zurück. In Kairo schon erkältete sich Mama so schwer, dass sie einer Lungenentzündung erlag. — Die so einsam lebenden Grosseltern kannten kaum die näheren Freunde ihrer Schwiegertochter, und so haben wir tatsächlich erst vor wenig Tagen erfahren, dass Frau von Savaburg meine Pate war.“
„Wie seltsam! Und welch glücklichem Umstand verdanken wir solche Kenntnis, mein gnädiges Fräulein?“
Amarant wies mit einem ganz klein wenig verlegenen Lächeln auf ein Armband, das als breites Goldband, einen edelsteinbesetzten Namenszug tragend, über ihrem Handgelenk glänzte.
„Als Grossmama mich für die hiesigen Feste equipieren wollte, öffnete sie zum erstenmal Mamas versiegelten Schmuckkasten, und da fanden wir in einem Etui mit einem Brief Ihrer lieben Frau Mutter dieses entzückend schöne Schmuckstück, das noch unverändert so eingepackt, wie es gekommen, den anderen Pretiosen beigefügt war.“
„Und unsere hiesige Adresse war bereits angegeben?“
„O nein! Aber eine Überraschung kommt selten allein! Onkel Strombeck ist doch erst kürzlich Kommandeur des hiesigen Regiments geworden. In die Tage seines Umzugs fiel eine Erbschaftsangelegenheit, die in manchen Auskünften schnelle Erledigung verlangte. Da gab Onkel meinen Grosseltern für die acht Tage, während der er sich in der Residenz bei Hofe melden musste, Ihre Adresse als die seines Regimentsadjutanten an!“
„Ah natürlich! Nun bin ich völlig im Bilde! Entsinne mich sogar noch genau, dass ich dem Herrn Oberst ein Telegramm nachsenden musste, das ihn zu einem Auflassungstermin nach Münden berief!“
„Der Name fiel Grossmama auf, da wir gerade das Armband gefunden hatten, sie schrieb an Tante Ena, ob wohl Ihr Herr Vater bei den dritten Ulanen gestanden, und als dies bejaht wurde, konnte ich es nun tatsächlich noch ermöglichen, mich selber für das reizende Angebinde zu bedanken.“
„Und ich werde die Freude haben, meiner guten Mutter zuerst diese Nachricht zu überbringen — —“
Der Oberleutnant musste sich abermals unterbrechen und höflich dem Ruf eines vielbeschäftigten Vortänzers Folge leisten, der ihn „unbedingt“ für ein paar Minuten entführen musste.
Andere Husaren traten herzu, Herr von Strombeck stellte vor, und Frau von Strombeck bedurfte ebenfalls der Nichte, um sie der Frau Erbprinzessin zu präsentieren, die jetzt erst aus der „fürchterlichen Enge“ der sie umringenden Herren und Damen des Regiments auftauchte, um den Knix der Saisonneuheiten huldvoll entgegenzunehmen.
An der geöffneten Türe, die zu dem Rauch- und Lesesalon führte, stand etwas isoliert der Leutnant Bill von Unterlüss.
Unter den jungen Kameraden erschien er älter und würdevoller, als er es in der Tat war.
Man wusste, dass der „Dichter und Denker“ sich die Zeit genommen, bis er den Attila angelegt und sein Schlachtschwert alias Säbel umgeschnallt hatte.
Erst hatte er das Abiturium gemacht, dann eine Zeitlang bei den Borussen in Bonn studiert und schliesslich war er als Opfer eines sehr eigenwilligen Erbonkels seinem angeborenen Beruf, dem eines Schriftstellers, untreu geworden und hatte auf seinen Goldfuchs Desdemona sowie noch auf eine Anzahl anderer eigener und Schwadronsgäule umgesattelt. — Nun war er Offizier.
Die Damen fanden ihn sehr hübsch.
Sehr gross und imposant, eigentlich mehr Kürassierfigur, trug er das Haupt mit den meist nachdenklich und tiefsinnig blickenden Augen hoch erhoben.
Ein dunkelbrauner Sportbart streifte wohlgepflegt das frischwangige Gesicht von etwas englischem Schnitt und gab ihm, dem so ernst und gemessen redenden Mann, das viel ältere Aussehen.
Sein Erbonkel, der ein reicher Herr war und im eigenen Auto fuhr, nannte den Neffen Bill meistens „Billeken“, was Herr von Unterlüss widerwärtig fand und sich bei jedem anderen verbat; im Regiment aber führte er bald einen anderen, herzlich freundschaftlichen Spitznamen, und dieser lautete: „Der Tragöde.“
Das kam so:
Einmal, an einem Silvesterabend, als der Punsch alle Festteilnehmer zu braven Männern gemacht, hatte er — so sagt man — einer Ordonnanz unter Tränen anvertraut, dass „er verrückter Kerl“ mal ein Drama geschrieben habe — schön wie einen echten Shakespeare, historisch wie Max und Moritz und schwierig darzustellen auf der Bühne, wie einen Kampf zwischen Ichthyosaurus und Lindwurm, die beide als Darsteller nicht mehr aufzutreiben sind.
Dass das Stück geschrieben war, galt demzufolge als Tatsache, alles nähere „Wie und Was“ jedoch blieb ein unergründliches Geheimnis.
Nur einmal, anlässlich einer sehr erfolgreichen Premiere, hatte Bill Unterlüss vernehmlich geseufzt: „Der Glückspilz von einem Verfasser hat sicherlich keinen alten Onkel als Zerberus vor dem Tor des Parnasses lagern!“
Dies gab zu der Vermutung Anlass, dass der Erbonkel der Felsblock im Wege zu Bills Dichterruhm war.
Nun exerzierte Billeken zu Fuss und zu Pferd, ritt Parforce und Distanze und begrub alle idealen Hoffnungen und Wünsche unter Waffenrock oder Paletot, je nachdem das Wetter warm oder kalt war.
Aber über seinem ganzen Wesen lag der graue Schleier leichter Melancholie, der Menschen eigen wird, die heimlich leiden.
Ein richtiggehender Hypochonder war er allerdings nicht, er konnte sogar lächeln, — ohne Bitterkeit und Ironie lächeln, aber er sah eigentlich immer ein Missgeschick voraus, und wenn die Sonne strahlend am Himmel stand und alle Leute sich darüber freuten, dann zuckte Billeken wehmütig resigniert die Achseln und stellte die unumstössliche Tatsache fest: „Heute abend geht sie ja doch wieder unter!“ Und wenn die Welt im Blütenschmuck und Maiengrün jauchzte, so seufzte er in all den Singsang hinein: „Wetten, dass es doch wieder Winter wird?“ Und wenn es den Kameraden gut schmeckte, so warnte er: „Verderbt euch man nicht den Magen, Kinder!“ Und wenn er von einer Verlobung hörte, so ward er elegisch und klagte: „Wie glücklich könnte man doch sein, wenn die Weiberherzen nicht so trügerisch wären!“
Aber dennoch erfüllten sich die trüben Zukunftsbilder nicht, sondern schlugen fast jedesmal für Billeken in das strikte Gegenteil, ein recht sonniges Erfreuen um.
Auch jetzt stand der Tragöde und starrte mit düsterer Miene auf das buntbewegte Bild des Salons, das ja doch keinen Bestand haben konnte und höchstens durch all das Getrubel den gesundheitswidrigen Staub aus den Ecken aufwirbelte.
Eine Stimme ertönte neben ihm.
„Aber Bill —! Einsam bin ich nur bis neune! Ich glaube, es ist schon ein viertel zehn Uhr, und du feierst noch?“
Unterlüss warf einen schwermütigen Blick auf die Pendule.
„Kein Gedanke, Savaburg! Zehn Minuten über acht!“
„Hast du schon engagiert?“
„Um alles! Die Herren sind ja in der Überzahl! Ich spreche nicht gern bei Tisch, das soll so ungesund sein!“
„Quatsch! Hast du dich schon den Nichten des Obersten vorstellen lassen?“
„Der kleinen Blonden, ja! Die sieht freundlich aus. Die andre scheint etwas Bissiges zu haben!“
„Gleichviel! Menschenskind, du musst dich doch bekannt machen!“
„Das schon, — ich beabsichtigte es auch, aber erst in vorgerückter Stunde, wenn die Tanzkarte komplett ist.“
„Glaubst du, das sei noch nicht der Fall? Längst reeller Ausverkauf! Frau von Strombeck schaut eben so forschend zu dir herüber. Mal Avant, Bill, hier hilft kein Mundspitzen, es muss gepfiffen sein! Komm schnell! Ich nehme dich ins Schlepptau und laviere dich ran!“
Sigurds Augen blitzten den Zögernden lachend an, und beide Herren schoben sich hastig nach der kleinen Blumennische, in welcher Gräfin Valeska Plunck im Gespräch mit ein paar verheirateten Damen und Herren stand und das Näschen sehr selbstbewusst hob, um mit scharfem Blick die nächststehenden Tänzer zu mustern.
Sie schien nicht ganz befriedigt, ein feines, nervöses Zucken um die Lippen deutete auf schlechte Laune.
Da stehen wieder zwei Husaren vor ihr. Der Regimentsadjutant von Savaburg, der sich vorhin so auffällig lange mit Fräulein von Waldeck unterhalten, wohl der „mütterlichen Patenschaft“ wegen, und den sie bereits den ganzen Abend erwartete.
Jetzt endlich bittet er nicht um einen Tanz, sondern nur um die Erlaubnis, Herrn von Unterlüss vorstellen zu dürfen.
Die junge Gräfin möchte das Wort eigentlich mehr an ihn als den jungen Leutnant richten, aber eine der Regimentsdamen hat eine dringliche Frage wegen einer eventuellen Schlittenpartie an ihn zu richten und ausserdem treten zwei gallonierte Ordonnanzen in den Salon und öffnen die Flügeltüren nach dem Speisesaal, während eine dritte dem Arrangeur Savaburg meldet, dass angerichtet sei. Gleichzeitig hat Oberst von Strombeck Ihrer Erlaucht der Frau Erbprinzessin den Arm geboten und eine gedämpfte Stimme benachrichtigt die umstehenden Herren: „Bitte zu Tisch, meine Herrschaften!“
Just in diesem Augenblick hat Gräfin Valeska das Köpfchen nach Bill Unterlüss, dessen Namen soeben vor ihren Ohren geklungen, umgedreht, und da er zuvor keine Zeit fand, verbeugt sich der Husar mehr feierlich und förmlich als scharmant vor der jungen Dame.
„Ah! Zu Tisch?“ fragt sie mit noch einem schnellen, ruckweisen Blick nach Savaburg zurück, dann nickt sie herablassend und sagt: „Zu Tisch? Meinetwegen, Herr von Unterlüss, ich bin noch nicht engagiert, es scheint vorhin eine kleine Verwechslung gespielt zu haben!“
Bill ist so erschrocken, dass er ganz blass wird.
„Gnädigste Gräfin befehlen?“ stotterte er noch einmal als letzten Rettungsversuch, aber sein Gegenüber hebt nur lakonisch die Hand, sie auf seinen Arm zu legen, und sagt kurz: „Wenn möglich, lassen Sie uns in der Nähe von Baronin Ingelheim Platz nehmen — oder ist eine Tischordnung bestimmt?“
„Ich weiss tatsächlich nicht, gnädigste Gräfin“, stammelt der Leutnant noch immer fassungslos, und sein Blick brennt wie in leidenschaftlicher Anklage auf Savaburgs Antlitz. — Mensch! Das hast du mir angetan — gerade heute eine Tischdame, wo’s Hühnerfrikassee gibt!
Sigurd hat das Empfinden, als müsse er umkommen vor Lachen, er winkt dem Freund schweigend zu, zwingt sein schönes Gesicht in Falten, wie bei einem tief Leidtragenden, und eilt davon seinen Verpflichtungen gegen Fräulein von Waldeck gerecht zu werden.
Bill Unterlüss aber neigt resigniert das Haupt und reiht sich mit seiner Dame dem Trauerkondukt in den Esssaal ein, um geduldig die Suppe auszulöffeln, welche ihm sein lieber Freund Savaburg eingebrockt.
Er blickt düsterer als je in die nächste Zukunft.
Die Unterhaltung wird sicherlich viel märtyrerhaftes Schweigen von ihm erfordern, denn die junge Gräfin hat eine ernergische Art, zu bestimmen.
„Da drüben an der zweiten Tafel steht Baronin
Illfingen! Schnell hinüber, dann erwischen wir noch die freien Plätze am Ende des Tisches.“
Bill stürmt, von ihrem Arm gewaltig dirigiert, der bezeichneten Richtung zu. Der fleischfarbene Flitterschal, den Valeska umgelegt, wogt auf und bläht sich bei dem scharfen Tempo wie ein Ballon um ihre schlanke Gestalt, was er ganz reizvoll, aber für sich doch nicht begehrenswert findet.
Er will schüchtern den Einwand erheben, dass er als einer der jüngsten Herren nach Rang und Würden eigentlich an die dritte Tafel gehört, aber er kommt nicht zu Wort.
Die goldgepresste Tapete, die als Schutz gegen Zugluft vor die Balkontür geschoben, winkt schon in nächster Nähe, und die Lady steuert ihr zielbewusst zu.
Halb zog sie ihn — halb sank er hin.
Die Plätze sind erreicht.
Der Rittmeister Grevenhof, der die Baronin führt, scheint aus der so stürmisch erfreuten Begrüssung der beiden Damen zu merken, dass die Gräfin die Schuld an seiner Anmassung, unter den Würdenträgern zweiter Rangordnung sitzen zu wollen, trägt.
Er starrt ihn weder sprachlos durch das Monokel an, noch markiert er ihm einen Schlaganfall sittlicher und strategischer Entrüstung, er sieht sogar ganz freundlich aus, und während die Gräfin Platz nimmt, flüstert er ihm durch den rechten Mundwinkel zu: „Gott sei Dank, dass Sie als Retter kamen und die Gräfin noch engagierten! Infamer Wirrwarr heut abend! Wer denkt denn, dass die Nichte des Obersten zum Souper noch zu haben ist! — Haben uns famos rausgerissen, Kleiner!“
Na, da freute sich des Erbonkels Billeken und sah das Leben nicht mehr ganz so verzweifelt düster an wie zuvor, wo er medidierte: „Solch ein Reinfall kann für mich ja nie und nimmer gut enden!“
Nun sass er an der Seite der Gräfin Plunck und empfand ihre Nähe kaum unangenehm, denn sie nahm keinerlei Notiz von ihm.
Als die stürmische Fahrt geendet und die junge Dame sich brüsk auf den Stuhl niedergelassen, schwoll sie als Ballon sichtlich ab, denn der Schal sank schlaff an den spitzen kleinen Schultern nieder, dennoch blieb, während der Pilzsuppe in Tassen, noch eine kleine Wurzel der Bitterkeit in seinem Herzen zurück, denn er fühlte sich durch eine aschblonde Dame vergewaltigt, und er liebte nur als Königin und Göttin seines Herzens die Goldblonden, weil diese einen noch sanfteren und anschmiegenderen Charakter garantieren.
Desdemona war immer blond, und sie sowohl wie Shakespeare waren und blieben nun einmal sein Ideal, sie ein Stück seines Herzens, er ein Stück seiner selbst.
Rittmeister von Grevenhof hob das Glas ganz riesig nett gegen ihn und trank ihm mit kokett abgespreiztem kleinen Finger zu, — für einen Vorgesetzten eine beachtenswert liebenswürdige Leistung. Gleicherzeit rief man von der Nebentafel Nummer 1 die junge Gräfin an.
Tante Strombeck hatte daselbst die Lorgnette gehoben und suchte den Saal ab, wo ihre „Kücken“ geblieben seien.
Ein inniges Hinüber- und Herüberwinken mit der Nichte, Unterlüss fährt zusammen und sitzt einen Augenblick stramm, denn der Herr Oberst geruht ebenfalls von ihm und der jungen Schutzbefohlenen Notiz zu nehmen.
Er nickt.
„Haha, Unterlüss!“ — Und dann trinkt er ihm zu.
Der Oberst hat die Eigenart, joviale Unterhaltungen etwas einseitig zu führen.
Sieht er einen Kameraden, dessen Existenz er nicht gut ableugnen oder umgehen kann, so nickt er ihm ein paarmal kurz zu, lacht mit breitem Mund „haha!“ und nennt den Namen des Betreffenden.
Bill Unterlüss seufzte zwar immer noch sehr beklommen, wie dies bei einem Tragöden selbstverständlich ist, aber er sah doch mit Genugtuung, dass seine Tischnachbarin ein anerkennenswert rücksichtsvolles Mädchen war, das ihn nur einmal angeredet und gefragt hatte, ob der Schnellzug nach Leipzig eigentlich um acht Uhr oder acht Uhr fünf Minuten abging.
Allerdings vollführte sie dieses Attentat auf ihn, als er gerade den Mund voll Kaviarsemmel hatte, die zur Pilzsuppe gehörte. — Er wusste es nicht genau, glaubte aber, es müsse wohl Punkt acht Uhr sein.
Valeska nickte: „Na ja!“ dann unterhielt sie sich sehr lebhaft des weiteren mit ihrem Gegenüber.
Der Tragöde hatte vorsichtshalber zwei Kaviarbrötchen genommen, darum konnte er ihr den unterbrochenen Genuss des ersten verzeihen.
Eigentlich hatte er sich so eine Partie mit Tischdame schlimmer gedacht.
Der Ballon war ja energisch und hatte ihn rettungslos sogar an die Seite der Erbprinzessin gezerrt, selbst wenn sie hinter der Tapete gesessen hätte, aber wenn er einmal den Faden fest und sicher an den Essstuhl geknüpft hatte, stieg sie höchstens andern Leuten, aber nicht mehr ihm auf das Dach.
Da kam das Hühnerfrikassee.
Ein Nahrungsmittel, dem gegenüber Bill Unterlüss sterblich war.
Da der Rittmeister schon vor ihm genommen hatte und nach ihm nur noch etliche Zivilisten, das heisst ehemalige Regimentskameraden z. D. in Frack mit Ordensbändchen kamen, — so nahm er ordentlich, vier, fünf ... hm ... sechs Löffel voll.
Man achtet hier nicht so auf ihn wie an der Jugendtafel, wo meist „getobt“ wird, dass man mehr Witze belachen muss als essen kann.
Ist doch ein ganz nettes Mädchen, dieser Ballon.
Allerdings, noch ist nicht aller Tage Abend, und er lobt nie einen solchen, ehe nicht das Morgenrot des neuen den Horizont färbt.
Ein Knall ... ein Krach inmitten des Saales, — ein Klirren, Poltern, eigenartiges Rutschen und Krabbeln ...
„Donnerwetter!“
Alles schnellt empor und starrt entsetzt auf die Ordonnanz, die über irgend etwas Glitscheriges auf dem spiegelnden Parkett ausgeglitten ist und sich momentan mit der hochgefüllten Schüssel voll Hühnerfrikassee um die eigene Achse dreht.
„Infam!“
„Das nenne ich Pech!“
„So ein Tolpatsch!“
„Ach du lieber Augustin — die dritte Tafel darf fasten! —“
„Oh, oh!“
„Na, Nachschub holen!“
„Kann ja passieren!“
„Hoffentlich ist auf Vorrat gekocht!“
Der Tragöde hat das Empfinden, als drehe sich die Weltgeschichte im Kreise um ihn her.
Das Hühnerfrikassee für die dritte Tafel, an der er eigentlich hätte sitzen müssen — hin ... unwiderruflich hin!
Ist es möglich, dass er, er, Bill Unterlüss, der an keine gütige Fügung in seinem lorbeerarmen Leben mehr glaubt, einen solchen Dusel hat?
Beinahe ehrfurchtsvoll sieht er seinen gefüllten Teller an.
Wem verdankt er diesen Hochgenuss, diese Rettung aus Hungersgefahr?
Savaburg!
Guter, treuer Kerl! Er hat ihn immer für eine sehr anständige Seele gehalten, mitteilsam und fürsorgend, ohne Arg und Falsch, ein Prachtmensch in der Potenz!
Allerdings ... wenn der Ballon nicht so wahnsinnig frech hierhergesteuert hätte, so wäre Sigurds freundliche Fürsorge doch gleich dem schönen Frikassee ihm vorüber im Sande verlaufen.
Gemein! Für jeden Unglücklichen, dessen Leib- und Magenspeise es war wie die seine — ein Schicksalsschlag!
Und er isst — isst — isst.
Als er fertig ist, überwältigt ihn die Empfindung.
Er hebt das Glas und wendet sich unaufgefordert an seine Tischdame.
„Sie gestatten, gnädigste Gräfin!“ Und als sie nur flüchtig nickt und seine vor Erregung vibrierende Hand scharf mustert, mit den Worten: „Trippen Sie mir bitte nicht auf das Kleid!“, da findet er sie das vernünftigste, umgänglichste Mädchen, das er jemals kennengelernt.
Ja, er nimmt sich sogar fest vor, ihr nachher bei dem Kotillon einen Strauss zu bringen.
„Unterlüss!“
„Herr Rittmeister?“
„Herr Oberst blicken zu Ihnen herüber!“
Strombeck hatte gerade gesehen, wie der Tragöde mit wundersam feuchtem Blick, tiefsinnig wie noch nie, seine Nichte angesehen und mit ihr angestossen hatte.
„Haha! Unterlüss!“
Bill erhob sich, machte eine kurze, besorgte Schwenkung nach links, um seiner Tischnachbarin die freundliche Sommerseite seiner stattlichen Figur nicht zu entziehen, klappte selbst unter dem Tisch melodisch mit den Tanzsporen und verneigte sich.
„— — Herr Oberst — — —!“
An der Tafel Nummer 3 herrschte ein wahres Mosaik von Stimmungen.
Obenan präsidierte Herr von Savaburg, welcher als Regimentsadjutant der Jugend die Honneurs machte.
Sehr reichlich war diese tanzende Jugend nicht vertreten, wenn es sich um ein intimeres Regimentsfest, eine Vereinigung der Offiziersfamilien vor dem Weihnachtsfest, wie sie heute abend stattfand, handelte.
Und gerade dieser appetitgesegneten Jugend gegenüber krachte das Hühnerfrikassee in alle Tiefen der Vergessenheit hinab.
Sigurd bekam selbstverständlich einen roten Kopf und strich das dunkle Schnurrbärtchen, statt wie gewohnt mit dem kleinen Finger, zwirbelnd mit Daumen und Zeigefinger empor.
„Donnerwetter, wollen Sie uns im Souterrain servieren?“
Savaburg winkte einen der Kasinodiener heran.
„Alles verloren? Oder kann Buschmann noch eine neue Schüssel füllen?“
Der Gefragte zuckte äusserst verlegen die Achseln.
„Es ist schon hinuntertelephoniert — leider kann nichts nachgeliefert werden!“
„Potz Wetter ja! Und jetzt schon die Laune, diese ärgerliche Stimmung! Seltsam, man scheint sich grad’ auf diese Platte kapriziert zu haben!“
„Kann auch kein Ersatz geschaffen werden?“ fragte Amarant leise. „Es gibt doch hier in der Nähe gute Delikatessgeschäfte, in denen man sicher Frikassee in Büchsen erhält!“
„Geht denn das so schnell?“ fragte Sigurd mit erstaunten Augen. Die Zeit für das Souper ist gleich herum!“
„Auf dem Lande sind wir an solche Angstpartien gewöhnt!“ flüsterte Fräulein von Waldeck eifrig. „In zehn Minuten ist eine Büchse erwärmt, und wenn hier oben erst der Braten serviert wird, können wir in abgeänderter Reihenfolge das Frikassee ja nach dem Wildrücken essen!“
Die Ordonnanz horchte hoch auf.
„Das gnädige Fräulein könnte recht haben! Unten verliert man so leicht in der Aufregung den Kopf —! Darf ich Herrn Buschmann den Vorschlag machen, Herr Oberleutnant?“
„Aber selbstverständlich! Los dafür!“
Einen Moment streifte Savaburgs Blick seine Nachbarin.
Diese Ruhe und Gelassenheit gefielen ihm. Wie blieb ihr rosiges Gesichtchen so unverändert freundlich und teilnehmend, wie schnell wusste sie Rat!
Die Stimmung wurde ja durch den soeben zuströmenden Sekt wieder etwas gehoben, aber trotz aller Selbstbeherrschung dominierte doch ein scharfer Ton, der sich ironisch gegen alles und jedes wandte.
Plötzlich brauste ein Ruf wie Donnerhall durch den Esssaal, als nach dem Wildbraten leckere Schüsseln im Speiseaufzug auftauchten und voll Triumph zu der dritten Tafel herübergetragen wurden.
„Hühnerfrikassee!“
Wahr und wahrhaftig echtes, richtiggehendes Hühnerfrikassee!
Da schäumten Hochachtung und Anerkennung für die glänzende Kasinoleitung der König-Karl-Ferdinand-Husaren in gewaltigen Wogen auf — Buschmann, der Ehrenretter, konnte sich so gut wie dekoriert erachten, denn der Oberst sagte mit stolzem Lachen zweimal nacheinander:
„Haha, Buschmann! — Haha, Buschmann!“
Nur einer stimmte nicht in diese hellen Lobposaunen ein.
Sigurd von Savaburg hob mit einem Ausdruck in Gesicht und Augen, der beredter war als alle hochklingenden Worte, das Glas gegen Amarant und sagte sehr herzlich: „Lassen Sie mich mit verbindlichstem Dank im Namen des ganzen Regiments Ihr speziellstes Wohl trinken, mein gnädiges Fräulein!“
Da lächelte sie ihn wieder so unbefangen und freundlich an wie zuvor, und der goldene Lichtschein auf ihrem Haar schien sich zu vertiefen, dass Sigurd nur noch ihn allein sah. Wie eine Vision schwebte plötzlich ein Bild vor ihm.
Ein rosiges Antlitz, zärtlich, warme dunkle Augen und ein Heiligenschein um das Köpfchen!
Madonna!
Frau von Savaburg stand vor dem Teetisch und steckte die bläuliche Flamme unter dem silbernen Samowar in Brand.
Der kleine Salon atmete in feinem Hauch exklusiven Parfüms ein vollendetes Wohlbehagen.
Die Möbel in eigenartigen Farben und Zusammenstellungen, duftende Blumen in hohen und wertvollen Vasen, viel Goldbarock an den Wänden und Etageren, legten Zeugnis für die behagliche Wohlhabenheit des Hauses ab, und inmitten dieses eleganten Rahmens vervollständigte die Hausfrau das vornehme Bild.
Gross und schlank, von jener lässigen Grazie, die aus jedem Lächeln und jeder Bewegung eine Gnade macht, galt sie noch immer für eine reizvolle Frau.
Als ihr Gatte gestorben war, konnte er in Frieden schlafen, denn der Sohn stand an der Seite seiner so verwöhnten und in vielen Dingen recht unerfahrenen Mama, der das Rechnen und alles Geschäftliche seit jeher ein Greul gewesen.
Sie erkannte klugen, fremden Willen gern an, ward jeder Individualität gerecht und arbeitete voll unbemerkten Eifers an der Erziehung ihres „Herzensjungen“, seinem Charakter all die edlen Gesinnungen einzuprägen, deren Keime ihm schon als schönstes Erbteil von seinem Vater überkommen waren.
Eine Tochter hatte sie nie besessen.
Früher, als sie noch jung und lebenslustig war, entbehrte sie eine solch kleine Nebensonne nicht, jetzt, als es immer einsamer und winterlicher um sie ward, die alten Freunde mehr und mehr heimgingen und die neue Welt oft so bizarre Formen schuf, dass sie mit ihren Ansichten und Extravaganzen kaum noch Schritt halten konnte, da kam ihr doch öfters die Sehnsucht nach einem jungen Wesen an ihrer Seite, das verständnisvoller als ein Mann die Brücke zwischen dem Einst und Jetzt schlagen konnte.
Sie hatte nur zwei Patenkinderchen gehabt, die kleine Feodora und das älteste Mädelchen ihrer lieben, so früh geschiedenen Freundin Waldeck-Wartenfels.
Zufällig hatte sie die Todesnachricht der Mutter in der Zeitung gelesen.
Wo war Amarant geblieben?
Bei den Grosseltern, wie die Freundin im letzten Brief geschrieben?
Hätte sie nur die Adresse gewusst!
Nun plötzlich, nach so langer Zeit, taucht die kleine dea ex machina aus der Versenkung auf. — —
Die Lampen waren bereits angesteckt, als der Diener Fräulein von Waldeck-Wartenfels meldete.
Agathe erhob sich aus dem Sessel, in dem sie wartend, ohne weitere Beschäftigung, gesessen und mit den Gedanken noch einmal weit zurück in der Vergangenheit geweilt hatte.
Den Namen Amarant hatte sie sogar ausgesucht, denn auf ihre leicht erregbare und schwärmerisch veranlagte Seele hatten die Redwitzschen Dichtungen grossen Zauber ausgeübt!
Drüben in dem eleganten, geschnitzten Bücherschrank stand noch der kleine Band in Goldschnitt und Franzleinen, der „Amarant“ als Überschrift trug.
Wie war es möglich, dass sie sich so gar nicht mehr um das Kind bekümmert hat? — Amarant hilft ihr gewiss das Rätsel lösen, warum die Grossmama nie ein Sterbenswörtchen über die Kleine berichtete!
Hammerschmidt meldet an.
Nach wenig Augenblicken steht Fräulein von Waldeck vor ihr.
Sie hat auf dem Flur abgelegt.
Ein dunkelblauseidenes Fünf-Uhr-Tee-Kleid sitzt flott und elegant; der sehr zarte Teint und die lichten Haare erhalten eine sehr vorteilhafte Folie.
Ein Strauss langgestielter Narzissen duftet in ihrer Hand und wird mit tiefem und respektvollem Knix der verwitweten Majorin überreicht. Die Verbeugung, der Handkuss — alles tadellos, die graziösen und doch sehr ruhigen Bewegungen erinnern auf den ersten Blick an Theklas eigne gute Kinderstube.
Frau Agathe zieht ihr Patenkind voll herzlicher Freude an die Brust, dankt für die so aufmerksam überreichten Blumen und küsst die weiche Mädchenstirn.
„Blüht auch das Veilchen gar versteckt,
die Sonne hat es doch entdeckt!“
scherzt sie mit langem Blick in die dunkelumwimperten Blauaugen Amarants, legte beide Hände auf ihre Schultern und hält die zierliche Gestalt einen Augenblick von sich ab, um forschend den Gesamteindruck der jungen Dame zu erfassen.
„Ja, Sie gleichen Ihrer Mutter, Amarant! Nicht ganz so gross, nicht ganz so voll in den Formen, auch ernster im Ausdruck, als ehemals unsere lachende kleine Heidelerche! — Aber dennoch Thekla rediviva!“
Noch einmal küsst sie in sichtlicher Erregung beide Wangen ihres kleinen „Findlings“ und sagt herzlich: „Wieviel Altes wird durch Ihren Anblick wieder jung in meinem Herzen! Mir ist’s, als hätte ich ein Stücklein goldene Vergangenheit, die ich längst verloren geglaubt, wiedergefunden! Nun setzen Sie sich erst ein Augenblickchen zu mir und lassen Sie uns viel zusammen plaudern. Mit dem Tee warten wir, wenn es Ihnen recht ist, bis zur Ankunft meines Sohnes, der gewohnt ist, um diese Zeit bei mir auszuruhen!“
Sie legte den Arm um Fräulein von Waldeck und zieht sie auf das kleine Rokokosofa unter dem mächtigen Goldspiegel und den duftenden Azaleen nieder.
„Wo haben Sie eigentlich die langen Jahre gesteckt, Amarant? Immer auf dem Land bei den Grosseltern, oder hat man Sie in ein Töchterpensionat der Residenz geschickt?“
Und das junge Mädchen erzählt.
Ohne jede Befangenheit, frisch und liebenswürdig, ihr unerklärliches Schweigen mit dem weltfernen Leben der alten Leute entschuldigend, welchen der Tod Theklas so überraschend gekommen, dass ihre letzte Lebenszeit eigentlich ohne jeden näheren Kommentar für sie geblieben!
Die Pensionsjahre in Gnadenfrei und ein späterer, kürzerer Aufenthalt bei Verwandten in der Residenz, wo sie noch ein paar Musikstunden nehmen sollte, seien auch nicht sehr abwechslungsreich gewesen, jedenfalls sei sie nie ehemaligen Freunden oder Bekannten ihrer verstorbenen Eltern begegnet, obwohl sie oft recht sehnsüchtig gehofft habe, einmal des Namens wegen auf Vater oder Mutter angesprochen zu werden! Und nun sei plötzlich ein so liebes Wunder geschehen, und in der grossen fremden Welt habe eine Patin zu ihr durch einen Brief geredet, so viel gute, treue Segensworte, dass ihr ganz weich und warm um das Herz geworden sei!
„Ja, der Brief, den ich damals zu dem Armband schrieb, liebste Amarant! Ich war seiner Zeit auch krank, hatte schwermütige Gedanken und wusste nicht, ob ich Ihre Konfirmation noch erleben würde, da legte ich Ihnen ein Andenken in die Wiege!“
„Wie innig, ja am meisten dankte ich es der lieben Mama, dass sie mir gerade diese Zeilen erhalten und bei dem Armband belassen hatte! — Und diese Freude, als Onkel Strombeck schrieb, dass die Mutter seines Adjutanten mit der Schreiberin identisch sei!“
„Sie liebes Kind! Sie ersahen daraus, mit wieviel richtigen Segenswünschen ich Sie an der Schwelle des Lebens begrüsste!“
Wieder legte Frau Agathe den Arm um das junge Mädchen, und in ihren Augen schimmerte es feucht.
„Und nun haben Sie endlich mal einen längeren Urlaub bekommen?“
Amarant sah mehr wehmütig als erfreut aus. „Ja, ich bin beinah überflüssig daheim geworden! Grosspapa leidet an Gicht und ist dadurch viel an das Zimmer gefesselt. Sein ältester Sohn Klaus musste daher den Abschied nachsuchen und die Bewirtschaftung von Riebenow übernehmen. Vor einem Jahr hat er geheiratet, und zwar eine sehr tüchtige kleine Frau, die auch auf dem Lande gross geworden und gewöhnt ist, die Zügel der Regierung tatkräftig mit eignen Händen zu führen! — Tante Lucies älteste Tochter, die ein wenig verwachsen ist und keine Freude an dem Stadtleben findet, siedelte nach dem Tod der Mutter auch zu uns über und hilft als liebenswürdige Enkelin die Grossmama sehr treu zu pflegen! So sind wir viele Leute in Riebenow geworden, und ich bekam ohne Schwierigkeiten den Reiseurlaub bewilligt.“
Hammerschmidt trat ein und überreichte ein kleines Paketchen mit einer Karte.
„Verzeihen Sie, Amarant, sicherlich eine freundliche Liebesgabe für unser Krüppelheim!“ Sie las schnell die wenigen Zeilen. „Wie nett von Frau Sanitätsrat! Sie schickt ein paar Bilderbücher für die Kleinen!“ Die Sprecherin erhob sich und legte Paket und Briefkarte auf den kleinen Spieltisch zur Seite.
„Unsere humanen Veranstaltungen, die Christbescherungen für soviel arme, freudebedürftige Kinder kennen Sie gewiss nicht, liebe Amarant, oder haben Sie auf dem Land in begrenzterer Weise auch die Wohltätigkeit zum Gottesdienst gemacht?“
Fräulein von Waldeck lächelte schelmisch.
„Wir haben für ein ganzes Dorf zu sorgen, allein achtzig Erwachsene und dreiundvierzig Kinder, denen wir bescheren!“
„Du meine Güte! Welch eine rasende Arbeit und Ausgabe muss das sein!“
„Wir haben es schon seit Jahr und Tag ganz praktisch eingerichtet, und da es meist nützliche Geschenke sind, kann man sie selber herstellen. Schafe, die die Wolle liefern, haben wir, und Flachs, der zu Hemden nötig ist, bauen wir an. Nur beizeiten anfangen müssen wir Damen und Mädchen im Hause, um alles rechtzeitig fertigzustellen, denn selber stricken und häkeln müssen wir es! Da wurde einmal sehr gelacht, als am sechsundzwanzigsten Dezember die gute, alte Mamsell Dörte die Damasttücher von den letzten Tafeln der Leutebescherung abnahm.
Sie stand einen Augenblick und starrte bedenklich zu mir herüber.
‚Gnädiges Fräulein!‘
‚Was soll’s, Dörte?‘
‚Die Bescherung ist vorüber.‘
‚Teils leider, teils Gott sei Dank!‘
‚Gnädiges Fräulein!‘
‚Was denn, Dörte?‘
„Es ist die höchste Zeit, dass wir unsre Weihnachtsarbeiten für nächstes Jahr beginnen! Wolle und Stricknadeln habe ich schon bereitgelegt!“
Frau Agathe lachte hell auf.
Welch eine allerliebste, amüsante Art hatte Amarant, zu erzählen.
„Ich bin Ihre Patentante und teile mich von nun an mit Frau von Strombeck in die Rechte und Anteile an der neuen Nichte. — Also künftighin: ‚Tante Agathe‘, nicht wahr, Kleinchen?“
Da jauchzte es ihr leise und zärtlich entgegen.
Voll warmer Inbrunst drückte Amarant die Lippen auf die schlanke, weisse Frauenhand, die sich ihr so treu entgegen bot.
Und Agathe zog ihre „Dieudonnée“ abermals in die Arme und küsste sie, wie eine, die eigentlich nichts mehr im Leben gesucht und plötzlich etwas sehr Liebes gefunden hat.
„So werden Sie meine kleine Stabsordonnanz sein bei den Bescherungen?“ lachte sie lebhaft.
„Oder die Hofdame —“
„Oder meine rechte Hand —“
„Jedenfalls Hans in allen Ecken, wo ich gebraucht werde!“
„Sigurd macht schon seine Witze und bat darum, in dem Missionsgeschäft ‚junger Mann‘ sein zu dürfen.“
„Wenn er flink, fleissig und ehrlich ist, warum nicht?“
„Er ist sehr brauchbar“, nickte die Mutter stolz; „einen sehr schönen und grossen Erfolg des Abends werden wir ihm verdanken!“
„Neugierde ist mein Fehler nicht, doch möcht’ ich gerne wissen!“ zitierte Amarant voll Humor.
„Ich will Ihnen ein Geheimnis verraten. Sigurd hat uns zwei entzückende Transparente zwischen einer Pyramide von kleineren Christbäumen hinter die Krippe gemalt, wenn es Sie interessiert, zeige ich sie Ihnen!“
„Und ob es mich interessiert! Ihr Herr Sohn erzählte mir bereits von seinen so passioniert betriebenen Malstudien.“
„Er erzählte Ihnen?!“ Frau Agathe schlug staunend die Hände zusammen. „Wie ist das möglich? Für gewöhnlich ist es ihm gar nicht angenehm, wenn irgendwelches Aufheben von seinem wirklich grossen Talent gemacht wird. Und nun erzählt er es Ihnen selber?“
„Durch einen Zufall!“ Die Damen schritten nach dem Nebenzimmer, wo in einem Eck, vor dem Schreibtisch ein grosses Transparent, die „Madona mit dem Kind“ darstellend, postiert war.
Agathe knipste die elektrische Flamme ihrer Schreibtischlampe dahinter an, und in zarter, entzückender Schönheit trat das Gemälde plastisch, wie heiligstes Leben, aus dem improvisierten Rahmen hervor.
Ein leiser Aufschrei des Entzückens.
„O liebe, gnädigste Tante, wie ist das so wunderbar schön!“