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Privatdetektivin Grace Boticelli wird von ihrer Nachbarin gebeten, die sechzehnjährige Ivy zu finden, die nach der Schule nicht nach Hause gekommen ist. Als Grace ihre Nachforschungen beginnt, begegnet sie immer wieder ihrer Freundin Mabel, die für einen Freund ebenfalls ein verschwundenes Mädchen sucht. Als sie merken, dass ihre Fälle miteinander verknüpft sind, machen sie eine grausige Entdeckung. Und ihnen wird klar, dass die Zeit für Ivy abläuft ... ***** Die Spannung nimmt zu. Jede freie Minute saß ich vor dem Reader und bereue keine Sekunde, es hat einen stressigen Tag perfekt ausgeglichen. Vielen Dank für das Lesevergnügen! ***** Ich werde alle Folgen lesen, denn ihre Geschichte, die Geschichte von Rosi und der anderen lassen mich nicht los. ***** Auch wieder wow! Ich kann nicht glauben, dass alle Teile so spannend sind. Ich kann es jedem raten zu lesen. Ein Dankeschön an die Autorin
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IMMORTAL
Die Maske des Mörders
Johanna Marthens
Dieses Werk ist reine Fiktion. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie Schauplätzen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle darin beschriebenen Vorkommnisse sind frei erfunden.
Copyright © Johanna Marthens, 2015, 2021
Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren, Vervielfältigen und Weitergabe ist nur zu privaten Zwecken erlaubt. Der Weiterverkauf des eBooks ist ausdrücklich untersagt.
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PROLOG
EINE FRAGE DES VERTRAUENS
ÜBERRASCHUNGSGAST
GEDÄCHTNISPROBLEME
JASPER UND JUNIPER
DIE CLIQUE
SCHATTIERUNGEN DER DUNKELHEIT
MEHRERE EISEN IM FEUER
GEMEINSAME SACHE
DIE MASKE FÄLLT
SPIELVERDERBER
GANZ ALLEIN
SCHÖNHEITSFLECK
DER AUFTRAG
REISE IN DIE VERGANGENHEIT
DER SCHWERE WEG
WOLKIG BIS HEITER
IMPRESSUM
Niemand kann lange eine Maske tragen; Verstellung kehrt schnell zur eigenen Natur zurück.
Lucius Annaeus Seneca
SIE WIRKTE SO UNSCHULDIG! Wenn ihr blondes Haar im Wind wehte und ihr die Sicht versperrte, lachte sie. Das Lachen flatterte wie ein Schmetterling in der Nachmittagssonne und zwitscherte förmlich über dem Rauschen des Verkehrs. Ihre Haut war leicht gebräunt. Sie zeigte viel davon. Ihre Shorts waren so knapp, dass sie kaum ihren kleinen, knackigen Po verdeckten. Ihr Shirt ließ den Rücken frei, die schlanken Arme sahen aus, als hätten sie nie etwas anderes gekannt als die Freiheit außerhalb eines Kleidungsstücks. Er sah zu ihrem Gesicht. Das Blau ihrer Augen machte dem Himmel Konkurrenz. Das Weiß darin leuchtete. Als ihr Blick seine Gestalt streifte, konnte er den glücklichen Ausdruck in ihrem Gesicht so deutlich erkennen, als wäre ihr Antlitz ein offenes Buch. Er seufzte kaum hörbar.
»Lass mich gehen«, sagte sie plötzlich und riss ihn aus seiner Erinnerung. Verschwunden waren der warme Wind, der mit ihrem Haar spielte, ihr Lachen, ihre glitzernden, glücklichen Augen und die verführerische, braune Haut. Sie saß wie ein Häufchen Elend auf dem Stuhl. Tränen liefen aus ihren Augen und verschmierten ihren Mascara, so dass er ihr perfektes Gesicht schwarz färbte.
»Reiß dich am Riemen«, knurrte er. »Du siehst hässlich aus, wenn du heulst.«
»Bitte, lassen Sie mich gehen!«, weinte sie und schluchzte laut. Sie konnte nichts gegen die Tränen tun.
»Du bist jämmerlich«, sagte er abfällig. »Du hast keine Ahnung, welch große Aufgabe ich dir zugedacht habe. Dann würdest du nicht so jammern wie ein Waschweib.«
Sie saß auf einem einfachen Holzstuhl, ihre Hände waren auf ihren Rücken gebunden. Ein Seil hielt ihre Beine am Stuhl fest. Sie zitterte. »Ich tu alles, was Sie sagen, aber bitte, binden Sie mich los.«
Er stand auf und schritt um sie herum. Sie wirkte wie ein Blatt im Wind, das bei jeder Brise bebte und davonflattern wollte.
»Buh!«, sagte er plötzlich und machte einen raschen Schritt auf sie zu.
»Nein!«, schrie sie erschrocken auf und begann noch heftiger zu weinen.
Er lachte. »Du solltest lachen, Mädchen. Lachen! Das steht dir besser als weinen.«
Er blieb vor ihr stehen und strich mit den Fingern über ihre Schulter. Er konnte die Stelle sehen, an der der Riemen ihrer Tasche gerieben hatte. Sie war noch immer leicht gerötet.
»Wir werden vor der Arbeit noch ein bisschen Spaß haben«, sagte er und öffnete das Band in ihrem Nacken, das ihr Shirt zusammenhielt. Es löste sich und fiel nach vorne, so dass es ihre hübsche Brust entblößte.
Sie schluchzte auf. »Bitte nicht«, stammelte sie.
Er achtete nicht darauf. Er erinnerte sich an ihr Lachen, das er gesehen hatte, bevor sie zu ihm gekommen war. Es war wunderschön gewesen. Der Wind hatte mit ihren Haaren gespielt, ihre Augen hatten geleuchtet.
Er strich mit dem Daumen über ihre Nippel und wog ihre Brust in seiner Hand. Sie weinte still. Dann beugte er sich weiter herab und strich mit den Händen über ihre nackten Oberschenkel bis hinauf in ihren Schritt.
»Lassen Sie mich in Ruhe!«, kreischte sie plötzlich und versuchte sich zu wehren. Sie bäumte sich auf, aber die Fesseln waren zu fest. Sie schnitten in ihr Fleisch ein, gaben jedoch kein bisschen nach.
»Du zerstörst nur deine Haut«, murmelte er, während er ihre Shorts öffnete. »Es ist schade um deine Haut.«
Als sie nicht aufhörte, kniff er sie derb in ihre Brustwarze, so dass sie aufschrie und stillhielt. »Wenn du nicht ruhig bist, schneide ich sie dir ab«, knurrte er. Dann strich er über ihre Wange. »Oder das Ohr. Wie klischeehaft!« Er lachte, dann wurde er wieder ernst und beugte sich zu seiner Werkbank hinter ihr, um ein Messer zu holen.
Angstvoll beobachtete sie seine Hand, die das Messer hielt. Er strich damit über ihre Haut, umspielte ihre Brustwarze, dann schnitt er ihre Hose auf, anschließend das Shirt, das um ihren Leib lag. Sie wehrte sich nicht mehr. Sie ließ es geschehen, dass er in ihre Hose fuhr, sie streichelte und an ihren intimsten Stellen berührte. Sie bekämpfte ihn auch nicht, als er ihre Fesseln an den Knöcheln lockerte, um ihre Schenkel zu öffnen und in sie einzudringen. Sie weinte nur leise und versuchte, sein Stöhnen und den Schmerz auszublenden, den er ihr bereitete.
Als er mit ihr fertig war, fühlte sie sich wie eine zerbrochene Porzellanfigur. Als wäre in ihr etwas in tausend Teile zersprungen. Wie eine leblose Puppe ließ sie sich von ihm in den Kerker führen, der hinter einer hässlichen Tür auf sie wartete. Als die Tür ins Schloss fiel und sie allein war, waren ihre Tränen versiegt. Etwas in ihr war unwiederbringlich zerstört. Sie setzte sich in die Ecke und wusste plötzlich, dass sie diesen kalten, düsteren Raum nicht lebendig verlassen würde.
GRACE SPÜRTE, WIE DAS BLUT IN IHR GESICHT schoss. Etwa dreißig Augenpaare waren auf sie gerichtet, genauso viele Ohrenpaare warteten auf ihre Antwort.
»Ich … äh … weil es mir Spaß macht«, erwiderte sie unsicher und wünschte sich ein tiefes Loch im Boden, in dem sie verschwinden könnte.
Nun bewegten sich dreißig Augenbrauenpaare fast synchron nach oben. »Es macht Spaß?«, fragte eine Frau ungläubig. Sie trug ein rotes Chiffonkleid, das farblich genau auf ihren Lippenstift abgestimmt war. Ihre Augenbrauen waren kunstvoll gezupft und vermutlich gefärbt. Wie ihre Haare, in die sich kein Grau verirrt hatte, obwohl sie bereits scharf die sechzig streifte. Der Tönung sei Dank.
»Ja, es ist ein toller Job. Ich kann Menschen helfen«, verteidigte sich Grace und wusste, dass sie inzwischen knallrot angelaufen war. »Ich brauche keinen Ruhm und keine Diplome, um etwas zu bewirken. Wenn Sie einmal Hilfe brauchen, können Sie mich gerne ansprechen.«
»Ihre Hilfe werde ich hoffentlich niemals benötigen! Bei dem Beruf denkt man sofort an einen rauchenden Säufer, der hinter jedem Rock her ist. Das ist doch kein Broterwerb für Frauen!«, empörte sich eine andere Frau. Sie war in einem ähnlichen Alter wie die in dem roten Kleid. Sie trug jedoch ein hellblaues Kostüm, das zu ihren kühlen, blauen Augen passte. Allerdings war das Kleidungsstück eine Nummer zu klein und spannte unvorteilhaft über ihren Hüften und an der Brust, so dass ihr faltiges Dekolleté viel zu gut zu sehen war. »Privatdetektivin!« Die Frau versuchte, so viel Abscheu wie möglich in das Wort zu legen. Jemand in ihrer Nähe lachte leise. Es klang verächtlich.
»Die Zeiten von einem Mann wie Philipp Marlowe sind längst vorbei«, konterte Grace, es klang jedoch etwas lahm, fand sie. »Es ist ein anständiger Beruf, wie Sekretärin oder Bankangestellte. Ich bin ausgebildete Polizistin.« Wieder ertönte ein verächtliches Schnauben, und Grace wurde klar, dass für die Menschen in diesem Raum auch Bankangestellte, Sekretärinnen und sogar Polizistinnen keine anständigen Berufe waren. Sie betrachtete die Frau im blauen Kostüm genauer. Die Kette um ihren faltigen Hals bestand aus Platin, der Anhänger besaß mehrere Diamanten, die im Licht strahlten und funkelten. Am Haaransatz konnte Grace winzige Narben entdecken, als Zeichen, dass die Frau mehrere Schönheitsoperationen hinter sich hatte. An jedem Finger ihrer beiden Hände saßen teure Ringe. Sie hatte in ihrem Leben vermutlich nie einen ordentlichen Beruf ausgeübt. Sie war reich. Genau wie die Frau im roten Kleid. Sie trug eine Uhr von Blancpain, ihr Kleid stammte von Versace, die Handtasche von Chanel. Sie hatte ihre Hand auf den Arm eines Mannes gelegt, der gelangweilt auf seine Rolex blickte und dann einen Schluck vom Champagner nahm.
»Nun lasst die arme Grace in Ruhe!«, rief Sophie laut und eilte an Grace‘ Seite, um ihr moralisch Unterstützung zu leisten. Sie war klein, nur knapp über einssechzig, etwa fünfzig Jahre alt und mit einem hübschen, freundlichen Gesicht gesegnet. Ihre Augenbrauen waren nicht verächtlich in die Höhe gewandert, sondern hatten sich mitfühlend geschwungen »Grace Boticelli ist eine Bereicherung für unsere Stadt. Ich bin froh, dass sie hier ist. Ich fühle mich gleich viel sicherer in dieser Straße. Mal davon abgesehen, dass Grace eine sehr angenehme Person ist, die ich gerne auf meine Party eingeladen habe.« Demonstrativ legte sie ihren Arm auf Grace‘ Schulter und zog sie an sich. Nun blickten dreißig Augenpaare zuerst überrascht, danach entspannten sich zwanzig davon sichtlich, während zehn sogar freundlich blickten.
»Trotzdem ist das kein Beruf für Frauen«, murmelte eine besonders hartnäckige Frau. Ansonsten hatte sich die Stimmung im Raum zugunsten von Grace gewandelt, und Grace atmete auf. Doch die Röte ihres Gesichts blieb erhalten. »Ich bin trotzdem für Sie da, wenn Sie Hilfe brauchen«, sagte sie und gab sich Mühe, ihrer Stimme einen sicheren Klang zu geben, obwohl sie sich alles andere als selbstbewusst fühlte.
»Trinkt noch mehr Champagner! Ich habe genügend Flaschen da, weil ich doch weiß, wie gern ihr den trinkt«, rief Sophie, was die Atmosphäre gänzlich auflockerte und von Grace ablenkte. Der Pulk der Gäste zerstreute sich und steuerte das Büfett an, wo tatsächlich mehrere Flaschen mit Wein und Champagner standen.
»Danke für die Rettung«, sagte Grace leise zu Sophie, die sie entschuldigend anblickte.
»Nichts zu danken. Das habe ich absolut ehrlich gemeint. Du musst bitte meine Gäste verstehen. Sie kommen aus einer anderen Welt. Die Kunstszene ist manchmal etwas eigen.«
Grace lächelte schief. »So eine Reaktion auf das Wort ‚Privatdetektivin‘ hatte ich nicht erwartet. Aber man lernt nie aus.«
»Ich hätte dich anders vorstellen sollen. Ich hätte einfach nur sagen können, dass du meine neue, nette Nachbarin bist. Aber ich hatte keine Ahnung, dass sie so auf deinen Job reagieren würden. Auch ich habe offensichtlich noch nicht ausgelernt.« Sie lachte leise, wurde aber sofort wieder ernst. »Ich hoffe, du bereust nicht, gekommen zu sein?«
»Nein, ganz bestimmt nicht. Mir gefallen die Bilder.« Grace blickte an die Wände der Galerie, an denen Gemälde in verschiedenen Größen hingen. Auf den großen Bildern waren Szenen aus San Francisco abgebildet: die Brücke im Nebel, der Strand, eine belebte Straße. Die Gemälde strahlten die für San Francisco typische Atmosphäre aus, so dass sich Grace wie eine heimliche Beobachterin fühlte, wenn sie die gemalten Szenen betrachtete. »Das hier gefällt mir besonders.« Sie deutete auf ein Kunstwerk, das eine Frau auf einer Bank darstellte. Ein Kind spielte vor ihr im Sand, ein Mann mit einem Hund hockte vor dem Kind. Alles war in freundlichen Farben gehalten, im Hintergrund schimmerte die Skyline von San Francisco durch den Dunst.
»Ja, das ist hübsch. Eine Familienidylle«, erwiderte Sophie. »Die Künstlerin ist auch außerhalb Amerikas sehr beliebt. Ich bin froh, dass ich einige ihrer Werke hier ausstellen darf.«
»Es ist toll!«
»Du kannst es kaufen. Es kostet etwa zwanzigtausend Dollar.«
Grace schluckte. So viel Geld für ein Gemälde? Sie besaß mehrere Millionen auf dem Konto, sie könnte es sich locker leisten. Dennoch kam ihr die Summe für das Bild extrem hoch vor.
»Ich denke darüber nach«, sagte Grace.
»Wenn es dir so gut gefällt, solltest du zuschlagen«, ermunterte sie Sophie.
»Grace, wir wollen dich unbedingt persönlich kennenlernen«, sagte auf einmal eine helle Stimme hinter Grace, so dass Grace um eine Antwort herumkam. Das Gesicht, das zu der Stimme gehörte, wirkte vergnügt. Die junge Frau besaß lange, dunkelblonde Haare und leuchtend blaue Augen. Ihre vollen Lippen hatte sie zu einem breiten Lächeln verzogen. »Hi, ich bin Anna, das ist Jimmy.« Sie deutete auf einen attraktiven, jungen Mann mit dichten, schwarzen Haaren und braunen Augen, die er hinter einer Brille verbarg. Er lächelte nicht ganz so breit, aber trotzdem einnehmend und reichte Grace seine Hand. »Hi Grace«, sagte er kurz.
Grace schüttelte die Hand, als sie sie wieder losließ, nahm die Frau, die sich Anna nannte, ihren Arm, um Grace an sich zu drücken. »Ich hoffe, du hast dir nicht zu Herzen genommen, was die alten Spießer von sich gegeben haben«, sagte sie munter, dann ließ sie Grace wieder los. »Die haben doch keine Ahnung. Es ist verdammt cool, Privatdetektivin zu sein.«
Grace lächelte, während sie neben sich das dezente Räuspern von Sophie vernahm.
»Ich gehe mal zurück zu den alten Spießern«, sagte Sophie und verabschiedete sich mit einem Augenzwinkern von der Gruppe, um sich den anderen Gästen zu widmen.
»Sophie ist nett«, sagte Grace. »Sie ist keine Spießerin.«
»Ich weiß«, erwiderte Anna und winkte ab. »Sie hat uns ja auch eingeladen, obwohl sie uns kaum kannte. Wir sind junge Künstler und auf der Suche nach einer Galerie, in der wir ausstellen können. Diese hier wäre perfekt.« Sie strahlte Jimmy an, der zustimmend nickte.
»Nur das Publikum ist etwas gewöhnungsbedürftig, aber Hauptsache, sie kaufen unsere Bilder.« Er grinste.
»Seid ihr aus San Francisco?«, fragte Grace interessiert nach. Sie kannte sich in der Kunstszene überhaupt nicht aus und war überrascht gewesen, dass ihre Nachbarin Sophie sie nach einem kurzen Schwätzchen an der Straßenecke zur Party eingeladen hatte. Seit fünfzehn Jahren besaß Sophie mit ihrem Mann diese Galerie und wollte das Jubiläum mit einigen erlesenen Gästen feiern. Aber wie Grace feststellen musste, hatte sie mit diesen Gästen nicht viel gemeinsam und war nun heilfroh, ein Paar in ihrem Alter gefunden zu haben.
»Nein, wir kommen aus einem Nest in New Hampshire und reisen durchs Land, um Motive zu sammeln oder Ausstellungen zu organisieren und uns bekannter zu machen. Und du?«
»Ich wohne nebenan.«
»Cool!«, rief Anna. »Das ist eine schöne Gegend hier. Nur etwas spießig.« Sie lachte, und Grace konnte nicht anders, als in das Lachen mit einzustimmen.
»Wollen wir gehen?«, fragte auf einmal Jimmy. »Ich halte das bei den Leuten nicht lange aus.«
»Er hat eine Spießerallergie«, lachte Anna. »Sie erinnern ihn an sein Zuhause.«
Grace nickte. »Ich fühle mich hier auch nicht sonderlich wohl unter den Leuten. Vielleicht sollten wir wirklich gehen.«
»Abgemacht«, sagte Anna. »Gehen wir in das alte Viertel, dort soll es coole Bars geben, in denen wir abhängen können.«
»Ich sage nur kurz Sophie Bescheid.« Grace ließ die beiden stehen und wanderte durch die Galerie, um Sophie zu finden. Mehrere Räume schlossen aneinander an, in denen vereinzelt Menschen standen und sich unterhielten oder die Bilder an den Wänden betrachteten. Oder sich über die Gemälde unterhielten, meistens in kritischem Ton.
Im dritten Raum, am Ende der Galerie, fand Grace schließlich die Gastgeberin. Sie stand neben einem sechzehnjährigen jungen Mädchen, das sich mit großen Augen mit einem Gast unterhielt, der dem Teenager offenbar ein paar Geheimnisse der Kunst erklärte.
»Ein Bild besitzt einen Rhythmus, den gibt es nicht nur in der Musik«, sagte er. Er war um die vierzig, an seinen Fingern klebten Farbreste. Sogar am Hals zog sich ein blauer Strich bis fast zum Ohr. »Im Bild ist der Rhythmus abstrakt definiert als eine Pause innerhalb einer Sequenz. Er beschreibt die Verteilung von Formen, Farben und Schattierungen. Er ist sehr wichtig.«
Das Mädchen nickte hingebungsvoll. »Ich merke es mir. Der Rhythmus ist wichtig.«
»Die Intensität eines Gemäldes wird durch die Schattierung, die Kontrastierung und den Einsatz von benachbarten Elementen mit unterschiedlichen Farbintensitäten definiert«, fuhr der Experte fort. »Das Nebeneinanderstellen von Bildelementen mit der gleichen Farbintensität kann nur symbolische Differenzierung hervorrufen. Ein bedeutender Punkt, den jeder Maler beachten muss.«
Wieder ein eifriges Nicken. »Die Intensität eines Gemäldes ist sehr bedeutend.«
Grace trat zu Sophie, die das Mädchen mit einem warmen Lächeln betrachtete. Als Sophie Grace entdeckte, wandte sie sich ihr zu. »Das ist meine Nichte Ivy. Sie will später Kunst studieren«, flüsterte sie in Grace‘ Ohr, um den Dialog des Mädchens mit dem Maler nicht zu stören.
»Sie wirkt sehr wissbegierig«, erwiderte Grace genauso leise.
»Das ist sie. Sie ist klug und sehr interessiert. Ihre Eltern wollen allerdings, dass sie etwas Richtiges macht, du weißt schon, Jura studieren oder Ärztin werden. Aber ich ermutige sie, auch andere Richtungen in Erwägung zu ziehen, wenn sie ihr Spaß bereiten. Und das ist nun mal die Malerei. Meine Schwester hasst mich deswegen, aber letztlich muss jeder das tun, was ihn glücklich macht, oder?« Sie sah Grace mit einem fragenden Lächeln an, das darauf zu hoffen schien, dass Grace ihr zustimmte.
»Ich denke, sie ist noch sehr jung, sie kann vieles ausprobieren«, erwiderte Grace diplomatisch.
»Das stimmt«, seufzte Sophie leise. »Sie ist wunderbar jung. Das ganze Leben liegt noch vor ihr.«
»Apropos«, sagte Grace und ärgerte sich sofort über die Überleitung, da Ivys Zukunft überhaupt nichts damit zu tun hatte, dass sie jetzt mit Anna und Jimmy die Party verlassen wollte. »Ich … äh … ich wollte fragen, ob es okay ist, dass ich mit den beiden Künstlern noch woanders hin gehe? Ich bin dir sehr dankbar, dass du mich eingeladen hast, aber ich habe das Gefühl, dass ich nicht richtig hierher gehöre.«
Sophie nickte verständnisvoll. »Ich weiß, dass du vorhin am liebsten im Boden versunken wärst, als sie dir wegen deines Jobs Löcher in den Bauch gefragt haben. Das tut mir leid. Ich will dich nicht aufhalten und bin dir auch nicht böse.«
»Wirklich nicht?«
»Wirklich nicht. Frag die beiden ein bisschen nach ihrer Kunst aus, wenn du Gelegenheit hast. Sie wollen bei mir ausstellen, aber ich habe noch nie etwas von ihnen gehört. Und ich hatte noch keine Chance, ihnen auf den Zahn zu fühlen.«
»Das mache ich. Danke, Sophie.«
»Viel Spaß.«
»Danke.« Grace wandte sich ab und ging zu Anna und Jimmy zurück, die ungeduldig auf sie warteten.
»Können wir?«, fragte Anna.
»Ja, alles geklärt«, erwiderte Grace. Dann verließen die drei die Galerie.
IM STADTTEIL SOMA, wo viele Kunsthallen untergebracht waren und jede Menge künstlerische Aktivitäten stattfanden, herrschte reges Treiben. Die Sonne war gerade untergegangen, eine angenehme Wärme lag in den Straßen. Touristen und Einheimische gleichermaßen zog es in die Bars und Cafés, in Kunsthallen und zu Workshops.
Grace bummelte mit Anna und Jimmy durch die belebten Straßen, blieb mit den beiden bei Straßenmusikanten stehen und warf denen ein paar Dollars in die Mützen. Dann schlenderte sie weiter, während sie erzählte, wie sie nach San Francisco gekommen war. Die wahre Höhe der Erbschaft, die sie erhalten hatte, verschwieg sie allerdings. Sie berichtete nur von dem Haus, das sie neu eingerichtet hatte und nun bewohnte. Als sie gerade bei dem Geheimnis um das Verschwinden von Rachel angekommen war, hielt sie jedoch inne und blieb stehen. Dort vorn war Roan! Sie konnte seinen Schopf mit dem unordentlichen Haar ganz deutlich erkennen. Er hatte ihr zwar nur den Rücken zugedreht, aber das musste er sein! Er war schlank und groß wie Roan und bewegte sich wie er. Sie hatte ihn seit Wochen nicht gesehen, aber sie würde ihn unter Tausenden erkennen. Hastig rannte sie ihm hinterher.
»Hey, Roan, warte!«, rief sie atemlos, als sie ihn endlich erreicht hatte, und zog ihn am Arm. Doch als sich der Mann ihr erstaunt zuwandte, wich sie enttäuscht zurück. Er war nicht Roan. Er besaß zwar ein Kinn, das an das von Roan erinnerte, auch die Augenbrauen konnte man mit viel Fantasie als ähnlich bezeichnen, aber sonst sah er völlig anders aus.
»O, Entschuldigung«, murmelte Grace. »Ich habe Sie verwechselt.«
Der Fremde nickte verzeihend, dann lief er weiter.
Mit hängenden Schultern ging Grace zurück zu Anna und Jimmy. Sie hatte Roan inzwischen seit mehreren Wochen nicht mehr gesehen. Seit ihrem letzten Treffen, der wunderschönen Nacht in ihrem Bett, war er wie vom Erdboden verschluckt. Sie besaß nicht einmal mehr die Möglichkeit, mit ihm Kontakt aufzunehmen, weil er das Handy mitgenommen hatte, das extra nur dafür da gewesen war, dass sie mit ihm sprechen konnte. Ihr Herz schmerzte, die gute Laune, die sie verspürt hatte, war wie weggeblasen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Anna. »Kanntest du den Typen?«
»Nein, es war ein Irrtum«, gab Grace kleinlaut zu. »Ich erlebe in letzter Zeit ständig solche Irrtümer. Es geht um einen Freund von mir. Ich sehe ihn überall, obwohl er es gar nicht ist.«
Anna schmunzelte. »Bist du etwa verknallt in ihn?«
»Nein«, wehrte Grace ab. »Ich kenne ihn kaum.« Das Herzklopfen, das sie bei dem Gedanken an ihn verspürte, versuchte sie zu ignorieren.
»Komm, lass uns was trinken«, schlug Anna vor. »Ich kann was Starkes gebrauchen.«
»Ich auch«, stimmte Grace ein. Alkohol war immer gut, um Roan zu vergessen.
»Also, wer ist er?«, wollte Anna wissen, kaum dass sie in einer Bar saßen und Drinks bestellt hatten.
Grace biss sich auf die Lippen. Sie konnte den beiden nicht erklären, wer Roan war und warum er verschwunden war. Sie wusste es ja selbst nicht. »Er ist … äh … etwas geheimnisvoll«, sagte sie schließlich vage.
»Geheimnisvoll? Was meinst du damit?«
»Er kommt und geht, wie es ihm passt, und ich habe keine Ahnung, wann er wieder auftaucht. Es liegt an seinem Job, denke ich.«
»Ist er verheiratet?«
»Nein!«, rief Grace entsetzt. »Das heißt, ich weiß es nicht. Ich denke nicht.«
»Du weißt es nicht? Wenn Männer sich so seltsam verhalten, sind sie meistens anderweitig involviert. Da ist noch eine andere Frau im Spiel, glaub mir. Du solltest ihn in den Wind schreiben.«
Grace schluckte, schüttelte jedoch den Kopf. »Er hat gesagt, ich solle ihm vertrauen. Es ist sein Job, keine andere Frau.«
Anna zuckte mit den Schultern. »Wenn du so gutgläubig sein willst, dann bitte. Möglicherweise lacht er sich ins Fäustchen, während er gerade eine andere vögelt. Entschuldige meine drastische Sprache, aber so ist es nun mal. Stimmt’s, Jimmy?«
Jimmy runzelte die Stirn, dann nickte er. »Vermutlich. Wenn ein Mann mit einer Frau zusammen sein will, findet er einen Weg.«
»Aber er kann nicht. Sein Job verhindert es«, beharrte Grace, merkte jedoch, dass sie äußerst kläglich klang. Was war das nur für ein Abend heute? Eine Demütigung folgte der anderen. »Ich möchte nicht mehr über ihn sprechen«, beschloss sie schließlich. »Erzählt lieber noch etwas von euch. Warum habt ihr New Hampshire verlassen?«
»Es war uns zu klein«, erwiderte Anna und nahm einen Schluck von ihrem Cosmopolitan, den der Kellner inzwischen gebracht hatte. »Spießig und kleinkariert. Wir brauchen eine große Stadt für unsere Kunst, nicht wahr, Jimmy?«
Jimmy trank gerade seinen Wodka, nickte jedoch zustimmend.
»Was macht ihr für Kunst?«, wollte Grace wissen.
»Große Kunst«, lächelte Anna mysteriös, dann holte sie ihr Handy hervor. Sie suchte einen Ordner, den sie schließlich Grace zeigte. Darin kamen Fotos von Gemälden zum Vorschein, die Grace die Sprache verschlugen. Sie waren wunderschön und ausdrucksvoll. »Das sind ein paar unserer Werke, die bereits mit einigen Auszeichnungen versehen wurden. Jimmy malt etwas abstrakter als ich. Ich gehe mehr in die Richtung wie Georgia O’Keefe.« Grace hatte den Namen zwar schon mal gehört, aber mehr wusste sie nicht über die Malerin. Sie war wirklich absolut ahnungslos, was die Kunst betraf.
»Das sind sehr schöne Bilder«, sagte sie anerkennend. »Ihr solltet unbedingt ausstellen.«
»Ja, das machen wir auch«, bestätigte Anna. »Die Galerie von dieser Sophie wäre wirklich geeignet für uns.«
»Ich werde sie für euch fragen«, sagte Grace und trank nun endlich auch von ihrem Manhattan. Der Drink war nicht so ganz ihr Geschmack, tötete aber ziemlich schnell die schmerzende Erinnerung an Roan und die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihm. Kurz nach Roans Verschwinden nach ihrem letzten Date war sie noch ganz sicher gewesen, dass sie es schaffen würde, ihm zu vertrauen und sich zu gedulden. Aber mit jedem Tag, an dem sie nichts von ihm hörte und sah, war ihre Sicherheit immer mehr geschrumpft. Und jetzt war sie ein Alkohol trinkendes Häufchen Sehnsucht auf einem Barhocker irgendwo in Soma und versuchte, das letzte Zipfelchen Zuversicht festzuhalten, dass er sie nicht vergessen habe und bald zu ihr zurückkehren würde.
»Sophie wird es nicht bereuen«, plapperte Anna. »Wir sind großartig. Wir wollen ihre Galerie auch gar nicht lange in Anspruch nehmen. Ein oder zwei Wochen würden ja reichen, um auf uns aufmerksam zu machen. Wir würden Flyer drucken lassen, das ist alles kein Problem.«
Grace lächelte. Wegen des Drinks klappte das Lächeln sogar ganz gut. »Das klingt gut. Wo wart ihr denn schon?«
»Washington D.C.«, erwiderte Anna. »Tampa, Atlanta und noch ein paar kleine Städte.« Sie nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Drink.
»Und nun San Francisco. Habt ihr unterwegs nicht ein paar große Stationen ausgelassen?«
Anna nickte. »Wir wollten Dallas und Pheonix gerne mitnehmen, aber dann hätten wir die Vernissage von Kurt Baxter verpasst. Die findet morgen hier in San Francisco statt. Da wollten wir unbedingt dabei sein. Jimmy liebt ihn.«
Jimmy nickte. Seine Augen begannen zu leuchten. »Er ist fantastisch.« Damit war sein Ausbruch an Begeisterung aber auch schon vorüber und er widmete sich wieder seinem Wodka.
Grace nickte verständnisvoll. »Wer auch immer dieser Baxter ist, den müsst ihr euch natürlich anschauen, wenn er so wichtig ist.«
»Alles, was Rang und Namen in der Szene hat, wird zu seiner Vernissage kommen. Das wird super!«, strahlte Anna. »Vielleicht können wir ja sogar einen guten Deal bei einem Mäzen landen.«
Grace lächelte. »Könnt ihr vom Verkauf eurer Bilder nicht leben?«
Anna winkte ab. »Wir verkaufen sie nicht. Noch nicht. Wir brauchen sie, um auf uns aufmerksam zu machen. Und wenn wir auf Tour sind, können wir ja schlecht neue malen.«
»Warum macht ihr auf euch aufmerksam, wenn ihr gar nichts verkaufen wollt?«, hakte sie nach.
»Das ist Publicity, Kleines. Das Wichtigste an der Kunst. Malen kann fast jeder, aber sich gut zu vermarkten ist eine Kunst, die man lernen muss. Deshalb touren wir durchs Land.«
Grace nickte, obwohl sie langsam den Faden verlor. Irgendetwas ergab keinen Sinn.
»Warum seid ihr dann Künstler geworden, wenn es euch nur ums Marketing geht?«
»Weil wir nichts anderes studiert haben und sonst nichts können.« Anna lachte, als sollte es ein Witz sein. Danach bestellte sie eine neue Runde.
Grace beobachtete sie nachdenklich. Etwas war seltsam an dem Pärchen. Sie konnte jedoch nicht genau sagen, was es war. Sie wirkten wie Künstler, waren jedenfalls etwas eigenwillig gekleidet. Anna trug ein weites, schwarzes Kleid, dazu schwarze Stiefel. In ihren Haaren befanden sich bunte Strähnen und auch eine Feder. Jimmy hatte einen lila Schal um seinen Hals gebunden, trug einen abgewetzten Anzug und Gamaschen-Schuhe. In seiner linken Augenbraue und in seiner Nase steckten Piercings. Und doch waren die beiden anders, als Grace sich Künstler bisher vorgestellt hatte. Sie hatte gedacht, Künstler würden für ihre Werke brennen und sie unter die Leute bringen wollen. Aber vielleicht stimmte ihre Vorstellung nicht.
»Du kennst Kurt Baxter nicht?«, fragte Anna, als sie sich wieder Grace zuwandte.
»Nein, noch nie gehört. Aber das heißt nichts. Ich kenne mich in der Szene nicht aus.«
»Er ist eigentlich Kanadier, lebt aber jetzt hier in San Francisco. Er ist ein lebendes Phänomen. Er malt die schönsten Stillleben, die du dir nur vorstellen kannst. Himmlisch! Früher hat er auch Porträts gemalt, aber das macht er nicht mehr. Wenn jemand ein Porträt in Auftrag gegeben hat, hat das ungefähr eine Million gekostet. Der Mann ist echt gut.«
Grace verschluckte sich fast am letzten Schluck ihres Drinks. »Eine Million? Das ist ja irre! Ich dachte schon, das Bild für zwanzigtausend sei teuer!«
»Zwanzigtausend ist ein Schnäppchen«, winkte Anna ab. »Wenn du ein echtes Kunstwerk haben willst, musst du tief in die Tasche greifen. Kunst ist nichts für Arme.«
»Nein, offensichtlich nicht. Falls ich mal pleite sein sollte, fang ich an zu malen.« Sie merkte den Alkohol bereits. Sie hatte noch nie einen Pinsel in der Hand gehalten, jedenfalls nicht außerhalb der Schule. Dass sie daraus eine Karriere machen könnte, war so gut wie ausgeschlossen.
»Das denken alle«, seufzte Anna. »Deshalb ist der Markt auch so überlaufen und voller Mist.«
»Und deshalb müsst ihr durch das Land fahren und eure Werke zeigen«, sagte Grace. »Ich verstehe langsam.«
»Genauso ist es.«
Der Kellner brachte die nächste Runde.
»Ich muss pinkeln«, sagte Anna plötzlich und stand auf.
»Ich auch«, stimmte Grace zu und erhob sich ebenfalls. Gemeinsam gingen die beiden durch die volle Bar. Aus den Lautsprechern drang Musik, aber nicht so laut, dass man sich nicht mehr verstehen konnte.
»Was bearbeitest du eigentlich für Fälle?«, fragte Anna, als sie mit Grace den Toilettenraum betrat. »Untreue Ehemänner? Betrüger? Oder Mörder?« Sie stellte ihre Handtasche auf dem Waschbecken ab und ging in die Kabine, um ihr Geschäft zu verrichten. Grace versuchte, die Nebenkabine zu öffnen, doch die war besetzt.
»Ich habe es mit allen möglichen Fällen zu tun«, erwiderte Grace und schielte zu Annas Tasche, die einladend auf dem Waschbecken stand. Sollte sie hineinschauen, um etwas über Anna zu erfahren? Berufsleiden, rechtfertigte sich Grace. Sie musste wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Vorsichtig ging sie einen Schritt auf die Tasche zu und öffnete sie leise. »Mein erster Fall war eine Frau, die fünfzehn Jahre unschuldig im Knast gesessen hatte«, erzählte sie, während sie heimlich die Tasche durchsuchte. »Das war ziemlich dramatisch, aber wir konnten den wahren Mörder finden. Dann hatte ich eine Pop-Sängerin, die von Menschenhändlern gejagt wurde. Und zwischendurch immer mal wieder ein gestohlenes Auto oder eine entführte Katze. Wir haben genug zu tun.«
Grace konnte nichts Verdächtiges in der Tasche entdecken. Lippenstift, Tampons, die Geldbörse, ein Schlüssel zu einem Motelzimmer. Ganz unten sah sie jedoch einen versteckten Reißverschluss im Futter.
»Wer ist wir?«, fragte Anna. Ihre Hose raschelte. Sie war offensichtlich fertig und zog sich wieder an.
»Mabel und ich«, sagte Grace und musste sich Mühe geben, nicht die Luft anzuhalten. In dem versteckten Fach befanden sich mehrere Reisepässe, alle mit Annas Bild, aber einem anderen Namen dazu. Anna Foster lag obenauf. Darunter befand sich Ellen McBrady, darunter Georgia Smith und Fanny Longston.
Die Klospülung lief. Anna war fertig. Grace musste sich beeilen und die Tasche wieder in seinen ursprünglichen Zustand bringen.
»Wer ist Mabel?«
»Eine Freundin. Sie war Polizistin wie ich und arbeitet jetzt auch als Privatdetektivin.«
Geschafft. Keine Sekunde zu früh, denn in dem Moment, in dem Grace die Tasche wieder verschloss, öffnete sich die Kabinentür und Anna kehrte zurück.
»Du hast Glück, eine Freundin zu haben, der du vertrauen kannst«, sagte Anna und lächelte Grace an.
»Ja, das ist wahr«, erwiderte Grace und ging mit klopfendem Herzen in die nun leere Kabine. Doch sie verspürte kein dringendes Bedürfnis mehr. Sie überlegte fieberhaft, wie sie mit Anna und Jimmy umgehen sollte. Hatten die beiden Dreck am Stecken, oder warum sonst benötigten sie falsche Pässe? Was hatten die beiden zu verstecken? Solange Grace nicht wusste, was mit Anna und Jimmy los war, sollte sie besser nichts unternehmen. Am besten wäre es, sie würde sie beobachten, um herauszufinden, ob sie etwas im Schilde führten.
Sie betätigte die Klospülung und ging zurück zum Waschbecken, wo Anna ihren Lippenstift nachzog. Grace lächelte Annas Spiegelbild an, als wäre nichts gewesen, und wusch sich die Hände, dann kehrten die beiden zu Jimmy zurück.
ES WAR SPÄT, ALS GRACE in die Sacramento Street zurückkehrte, in der sie lebte. Die Straße lag still, die meisten Fenster waren dunkel, nur die Straßenlaternen beleuchteten den Asphalt und die Vorgärten. Grace stieg aus dem Taxi, bezahlte den Fahrer und ging zum Gartentor ihres Hauses. Das zweistöckige Haus lag an der Straßenecke und war selbst im Dunkeln eine Augenweide. Es besaß ein kleines Türmchen, das im Erdgeschoss wie ein gemütlicher Erker wirkte, im Obergeschoss jedoch wie ein Turmzimmer aussah. Eine breite Treppe führte zur Haustür hinauf. Sie hatte das Haus von einer fast fremden Frau geerbt, weil sie ihr in einer Notsituation geholfen und den Tod ihres Sohnes aufgeklärt hatte. Über dem Haus lag ein Geheimnis, aber das hatte Grace noch nicht lösen können.
Sie schloss das Tor auf, als sie plötzlich ein Lachen vernahm, das vom Haus auf der anderen Seite ertönte. Sie ging die paar Schritte zurück und sah um die Ecke. Im Eckhaus auf der gegenüberliegenden Straße war noch Leben. Die Galerie von Sophie Mondahl im Erdgeschoss war hell erleuchtet, die Tür stand offen und ließ eine Hand voll Menschen heraus. Die letzten Gäste verließen Sophies Party. Einige waren sichtlich angetrunken, eine Frau musste sich an der Straßenlaterne festhalten. Von der eleganten Arroganz der Leute vom Abend, die sie gezeigt hatten, als sie sich verächtlich über Grace geäußert hatten, war nichts mehr zu sehen. Der Alkohol veränderte jeden. Sophie verabschiedete sich höflich von den Gästen, dann ging sie zurück ins Haus, um die Galerie abzuschließen, doch Grace eilte zu ihr. Gerade als der Schlüssel im Schloss drehte, klopfte sie an.
»Etwas vergessen?«, fragte Sophie müde. Als sie Grace erkannte, hellte sich ihr Gesicht jedoch merklich auf. »Grace! Schön, dass du noch einmal zurückgekommen bist! Wie war eure Gegenparty?« Sie schmunzelte verständnisvoll.
Grace verzog entschuldigend das Gesicht. »Es tut mir leid, dass ich dich einfach so allein gelassen habe, aber im Nachhinein war es gut, dass ich es getan habe. Du solltest die Finger von den beiden Künstlern lassen.«
»Warum?« Erstaunt zog Sophie die Augenbrauen nach oben. »Haben sie dich auch geärgert? Sie wirkten so begeistert von dir.«
»Nein, darum geht es nicht. Sie scheinen nicht die zu sein, die sie behaupten zu sein.« Sie berichtete von dem Fund in Annas Handtasche.
»Sie haben falsche Pässe? Wieso?«
»Das ist eine gute Frage. Nachdem ich die Pässe entdeckt habe, habe ich versucht, ihnen unauffällig auf den Zahn zu fühlen, aber ich habe nichts herausfinden können. Sie meinen, sie seien Künstler und auf der Suche nach Galerien, um ihre Werke auszustellen. Mehr haben sie nicht preisgegeben. Entweder sind sie Profis als Lügner und Betrüger, oder sie haben die Pässe aus einem anderen Grund.«
»Welcher Grund könnte das sein?«
Grace zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Ich versuche, mich wieder mit ihnen zu verabreden. Vielleicht finde ich dann mehr heraus.«
»Sie wollen morgen zur Baxter-Vernissage gehen«, meinte Sophie nachdenklich. »Ich bin mit meinem Mann und Ivy ebenfalls eingeladen. Ich könnte versuchen, dich mit auf die Gästeliste setzen zu lassen.«
»Das wäre eine gute Gelegenheit, die beiden weiter zu beobachten. Wenn es nicht zu viele Umstände macht?«
»Nein, ganz bestimmt nicht. Das Problem ist nur, dass dieselben Gäste anwesend sein werden, die auch heute hier waren. Es wird dir nicht gefallen.« Sie sah Grace bedauernd an.
Doch Grace winkte ab und lächelte. »Wenn ich beruflich und nicht privat da bin, stört es mich nicht. Es soll ja kein Vergnügen sein, sondern ein Dienstausflug.«
»Ein Dienstausflug!« Sophie lachte leise. »Wenn das die Kunstwelt hören würde, wie du über den viel gelobten Baxter sprichst, würden sie dich schon wieder aufs Korn nehmen.«
Grace zuckte lässig mit den Schultern. »Vielleicht werde ich eines Tages darüber stehen. Jetzt tue ich einfach nur so, als wäre es mir egal.«
»Schade, dass es für dich heute so unangenehm war«, entschuldigte sich Sophie erneut. »Das hatte ich wirklich nicht erwartet.«
»Es ist nicht schlimm, mach dir keine Gedanken. Es ist auch etwas Gutes dabei herausgekommen.« Grace wandte sich ab und sah sich suchend um. Als sie das Bild an der Wand entdeckte, ging sie darauf zu. »Ich bin noch aus einem anderen Grund zurückgekehrt. Ich würde das Bild gerne kaufen.