Jene unvergessliche Nacht - Johanna Marthens - E-Book

Jene unvergessliche Nacht E-Book

Johanna Marthens

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Beschreibung

»Meine Gefühle für Jace waren wie eine Naturgewalt, die ich nicht kontrollieren konnte. Das waren sie schon immer gewesen und würden es immer bleiben. Ich war hoffnungslos verloren, und merkwürdigerweise fühlte sich diese Erkenntnis wie pures Glück an.« Als Bad Boy Jace im Moonriver Café Sydney plötzlich einen Kuss gibt, haut es Sydney völlig aus den Socken. Die junge Frau ist nämlich glücklich mit Channing verlobt und versucht seit langem krampfhaft, ihre vergangene Schwärmerei für Jace zu vergessen. Zumal Jace sie vor Jahren nach einer Liebesnacht einfach sitzenließ. Doch Jace taucht immer wieder bei ihr auf, und langsam beginnt Sydneys Abwehr zu bröckeln. Vor allem, als Jace ihr erzählt, was in jener Nacht vor sieben Jahren wirklich passiert ist ... AUSSCHNITT AUS DEM ROMAN: »Warum hast du mir das nie gesagt?«, flüsterte ich. Er zuckte mit den Schultern. »Du kennst doch jetzt meine Familie. Ich bin genau wie sie.« Ich betrachtete sein attraktives Gesicht und blickte in seine braunen Augen, die so warm und gefährlich funkelten. »Jetzt bist du noch schöner als damals«, sagte er plötzlich leise und rückte näher an mich heran. Ich hielt die Luft an. Mein Herz raste. Alles in mir schrie, dass ich mich ihm an den Hals werfen und ihn nie wieder loslassen sollte. Ich sehnte mich so nach ihm, dass es schmerzte. Er nahm mein Gesicht in seine Hände, wie er es in jener Nacht getan hatte, und näherte seine Lippen den meinen. »Es geht nicht, Jace«, sagte ich so leise, dass ich mich selbst kaum hören konnte. »Ich bin mit Channing verlobt.« Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut. Sein Daumen strich sanft über meine Wange, als ich die Augen wieder öffnete. Er war mir immer noch so nah, aber das Funkeln in seinen Augen war verschwunden. »Bitte nicht, Jace«, hauchte ich. ... Abgeschlossener Kurzroman, ca. 150 Taschenbuchseiten

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Dieses Werk ist reine Fiktion. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie Schauplätzen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle darin beschriebenen Vorkommnisse sind frei erfunden.

 

Copyright © Johanna Marthens, 2015, 2022

 

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren, Vervielfältigen und Weitergabe sind nur zu privaten Zwecken erlaubt. Der Weiterverkauf des eBooks ist ausdrücklich untersagt. Der Abdruck des Textes, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

Korrektorat: Tilde Zug

Coverbild: © Dangerous Kisses

NOAH UND FLUFFY

 

 

 

DIE EINLADUNG LAG unübersehbar auf der Kommode neben der Tür. Ihr Papier schimmerte aufreizend weiß und fast unschuldig. Und trotzdem hatte ich sie noch nicht einmal angesehen. Mein Fehler.

»Wir sollten eine Liste anfertigen mit unseren Geschenkewünschen«, sagte ich, während ich mir die Haare bürstete.

»Das wäre gut, damit es keine gleichen Geschenke gibt. Alex und Sammy haben damals drei Toaster und zwei Reisen nach Mexiko erhalten. Die Reisen gingen sogar in dasselbe Hotel! Sie waren wohl gerade im Angebot.« Channing strich seinen Smoking glatt. Er sah umwerfend aus. Ich lächelte glücklich. Wie hatte ich es nur geschafft, mir so eine Sahneschnitte anzulachen? Und zu halten? Die Beziehung zu ihm war das Beste, was ich je zustande gebracht hatte.

»Ich kümmere mich darum. Vorher sollten wir uns aber überlegen, was wir überhaupt brauchen. Toaster haben wir schon.« Ich steckte die Ohrringe in meine Ohrläppchen: kleine Perlen, die mir Channing zu meinem Geburtstag geschenkt hatte.

»Du machst das schon«, sagte Channing und drückte einen Kuss auf mein gebürstetes Haar. »Ich denke nicht, dass ich mich darum kümmern kann. Immerhin ist ja nicht mehr viel Zeit.«

»Nur noch fünf Wochen.« Ich seufzte innerlich. In fünf Wochen, Ende Januar, würde ich meinen Traummann heiraten. Channing war alles, was ich mir je gewünscht hatte: Er sah super aus, war einer der angesehensten Chirurgen in Alabama, und er verdiente hervorragend. Besser könnte ich es niemals treffen, zumal er mich tatsächlich heiraten wollte! Warum, war mir immer noch ein Rätsel. Aber ich wollte mein Glück lieber nicht hinterfragen, sondern mein Leben mit ihm genießen.

»Sobald dieses Weihnachtsfest vorüber ist, kümmern wir uns darum. Kommst du?«

Ich steckte zwei Klemmen in mein Haar, um es am Hinterkopf zu halten. Dann stand ich auf und betrachtete mich im Spiegel. Ich trug ein silbernes Kleid, das bis zum Boden reichte. Meinen Hals schmückte eine Perlenkette, ebenfalls ein Geschenk von Channing. Er hatte sie mir zu unserem zweijährigen Jubiläum im Sommer überreicht. Mein rötliches Haar hob sich von dem silbrigen Kleid ab. Meine blauen Augen funkelten. Mein Blick fing den von Channing auf, der mich lächelnd im Spiegel betrachtete. Offenbar gefiel ihm, was er sah. Ich lächelte zurück, dann drehte ich mich zu ihm um.

»Wir können gehen«, sagte ich und ging zur Tür. Ich griff nach der Einladung und steckte sie ein, ohne hineinzuschauen.

Wir fuhren in Channings BMW aus Mobile. Mehr als eine Stunde Fahrt lag vor uns, um nach Moonriver zu kommen. Zeit, die ich ganz allein mit Channing verbringen konnte. Eine Seltenheit.

»Weißt du, wie viele Gäste zu dieser Party kommen?«, fragte ich, sobald wir die Stadt hinter uns gelassen hatten und uns auf dem Highway befanden.

»Nein. Soviel ich weiß, ist es kein so großes Fest. Mein Kollege meint, es sei Tradition bei den Lindbergs, kurz vor Weihnachten ein Fest zu geben. Sie laden enge Bekannte und Freunde aus Alabama ein. Und verdiente Menschen, so wie mich.« Er grinste.

Ich hatte nach dem Namen Lindberg aufgehört zuzuhören. »Hast du gerade Lindberg gesagt?«, fragte ich heiser.

»Ja. Lindberg. Kennst du sie? Die Großmutter hat von mir einen Bypass erhalten, deshalb gehöre ich jetzt auch zum erwählten Kreis der Eingeladenen.«

Hastig griff ich in meine Handtasche und holte die Einladung heraus. Ich öffnete den Umschlag so heftig, dass ich ihn fast zerriss. Dann las ich den kurzen Text und wurde blass. Oder fast blau. Denn ich hatte das Gefühl, dass meine Atmung aussetzte und mein Körper nicht mehr mit Sauerstoff versorgt wurde. »Edward Lindberg und Familie geben sich die Ehre, Mr. Channing Winter plus Begleitung zu einem kleinen Weihnachtsempfang auf das Anwesen einzuladen«. Dann die Adresse und noch ein paar Grüße.

»Und? Irgendwelche Erinnerungen?«

Ich konnte nicht antworten. Das war ein Albtraum. Das musste einer sein. Ich konnte nie und nimmer zu dieser Party gehen.

»Ich ... äh ... mir ist schlecht, Schatz. Können wir nicht wieder nach Hause fahren?«

»Dir ist schlecht?« Entsetzt sah Channing zu mir. »So plötzlich? Du hast doch gar nichts gegessen.«

»Das muss es sein. Ich bin unterzuckert. Ich muss zurück nach Hause.«

»Die Lindbergs laden uns ein. Ich bin mir sicher, dass es dort auch etwas zu essen gibt.« Er schmunzelte. »Es würde mich sogar sehr wundern, wenn es nicht so wäre.«

Ich stöhnte laut. »Es geht mir wirklich nicht gut.«

Channing runzelte die Stirn. »Meinst du nicht, du kannst dich ein bisschen am Riemen reißen? Mir zuliebe? Es werden wichtige Männer anwesend sein, die dafür sorgen können, dass ich Chefarzt werde. Also bitte, Syd, nimm dich zusammen.«

Ich schluckte. »Okay«, sagte ich leise. Ich durfte ihm den Abend nicht versauen. »Ich kann ja im Auto auf dich warten.«

»Mach dich nicht lächerlich, Schatz. So schlimm kann es nicht sein.«

Ich antwortete nicht, sondern dachte mit Grausen an das Fest, das ich gleich besuchen sollte. Wenn er da war und mich verriet, wäre meine Zukunft im Eimer. Channing würde mich verlassen. Ich würde alles verlieren, wofür ich so hart gearbeitet hatte. Das wäre mein Ende.

Ich rutschte im Sitz nach unten und wollte nicht einmal mehr über das Armaturenbrett schauen, um nicht ansehen zu müssen, wie Moonriver immer näher rückte.

»Hast du für den Notfall Tabletten dabei?«, fragte Channing.

»Ja«, antwortete ich heiser. Nur dass ich wusste, dass Tabletten in meinem Fall nicht helfen würden. Ich sagte nichts mehr, sondern wartete schweigend und mit zunehmender Panik in den Eingeweiden, dass wir in knapp einer Stunde die Plantage der Lindbergs erreichen und mein Leben dort ein jähes Ende finden würde.

 

Das Haus schimmerte bunt beleuchtet hinter den Tulpenbäumen. Das Dach leuchtete knallrot. Der Plastik-Weihnachtsmann, der gerade in den Schornstein einsteigen wollte, hatte einen extra hellen Scheinwerfer bekommen. Die Tür funkelte blau. Auch der Schneemann aus Schaumstoff wurde von einem bläulichen Licht beschienen, so dass er fast echt wirkte.

Ich nahm die Pracht, die sich mir bot, kaum wahr. Wie ein Roboter lief ich an Channings Seite auf den Eingang zu, nachdem wir den Wagen auf dem Rasen vor dem Haus neben anderen Limousinen geparkt hatten.

»Es scheint wirklich viel Prominenz gekommen zu sein«, sagte Channing anerkennend und betrachtete die teuren Autos.

»Aha«, murmelte ich. Meine Kehle war trocken, dafür meine Handflächen so feucht, dass ich mich auf keinen Fall dazu hinreißen lassen sollte, jemandem die Hand zu geben.

»Geht es dir besser?«

»Nein.« Mir würde es erst besser gehen, wenn dieser Abend vorüber war. Oder vielleicht nie mehr.

»Kennst du denn nun die Lindbergs?«

Das war die Frage, die ich nicht beantworten sollte, wenn mir meine Zukunft mit Channing lieb war. Ich täuschte einen Hustenanfall vor. Channing ging zum Glück nicht weiter darauf ein, und dann waren wir am Haus angekommen. Channing hatte kaum den Finger auf die Klingel gelegt, als ein Diener in einem weißen Anzug die Tür öffnete. Der Mann deutete ein Lächeln an.

»Dr. Channing Winter und Sydney Mancuso«, stellte Channing uns vor. Ich erwartete fast, dass der Angestellte eine Liste zückte und unsere Namen darauf abhakte. Er schien jedoch die Namen der Eingeladenen im Kopf zu haben, denn er ließ uns wortlos herein.

Ich war noch nie im Haus der Lindbergs gewesen, nur immer mit Bewunderung daran vorübergefahren. Es war groß, eines der typischen Plantagenhäuser in den Südstaaten. Die Eingangshalle war alleine schon so groß wie der Grundriss eines einfachen Einfamilienhauses. Ein riesiger Weihnachtsbaum stand links vom Eingang, dahinter führte eine Tür in die Küche. Ein schwarzes Dienstmädchen in einer weißen Schürze trug ein Tablett mit Sektgläsern in den Salon auf der rechten Seite. Durch die offenen Doppeltüren waren Musik und Stimmengemurmel zu hören. Dort fand offenbar die Party statt.

»Hier entlang«, sagte der Diener und deutete mit einer weiß behandschuhten Hand auf die Flügeltür. Ich schluckte. Gleich kam die Stunde der Wahrheit. Mein Herz schlug noch schneller, als ich neben Channing durch die Tür in den Salon schritt. Meine Hände waren so feucht, dass ich kein Glas hätte halten können. Es wäre unweigerlich auf den Boden gerutscht.

»Vielleicht sollte ich doch lieber im Auto warten?«, schlug ich leise vor, doch Channing hörte mich schon nicht mehr. Lächelnd trat er ein und betrachtete die Anwesenden.

»Dr. Winter!«, ertönte die Stimme einer kleinen, dünnen Frau. Sie trug ein Kleid aus Brüsseler Spitze, das tief unter ihre Knie reichte. Ihre knochigen alten Hände hielten einen Stock fest, mit dem sie auf uns zukam. Ich hätte mich am liebsten hinter Channing versteckt, aber das wäre unangenehm aufgefallen.

»Mrs. Lindberg!«, erwiderte Channing erfreut. »Wie ich sehe, geht es Ihnen gut.«

»Dank Ihrer begnadeten Finger weile ich noch unter den Lebenden.« Sie drückte Channing die Hand und schüttelte sie zart. »Nochmals vielen Dank, dass Sie mich operiert haben.«

»Wenn mir mein Handeln eine Einladung zu dieser wunderbaren Party eingebracht hat, haben sich die fünf Stunden im Operationssaal schon gelohnt.«

Die alte Frau nickte wohlwollend. In der Andeutung eines Lächelns verzog ich den Mund. Offenbar erkannte sie mich nicht sofort. Wenn ich jetzt fliehen würde, wäre noch nichts verloren.

»Kennen Sie meine Verlobte, Sydney Mancuso? Sie stammt aus Moonriver.« Zu spät für eine Flucht. Ich hielt die Luft an und schloss die Augen. Gleich war alles vorbei. Sobald sie wusste, wen sie vor sich hatte, konnte ich meine Zukunft an Channings Seite vergessen. Gemma Lindberg musterte mich von Kopf bis Fuß. Als ich die Augen wieder öffnete, lächelte sie mich an und reichte mir die Hand. »Ms. Mancuso, es war mir bisher leider nicht vergönnt, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Sie kannte mich nicht? Tat sie nur so oder wusste sie mit meinem Namen wirklich nichts anzufangen? Sie wirkte tatsächlich, als wäre ich ihr völlig neu. Das war gut. Ich wusste allerdings nicht, ob ich wirklich erleichtert sein durfte. Sie war nur eine von mehreren. Zu viele andere mögliche Wissende befanden sich in dem Haus und konnten mich verraten. Vor allem Jace. Er war damals Augenzeuge gewesen.

»Hallo, Mrs. Lindberg«, grüßte ich heiser. »Und weiterhin gute Besserung.«

»Mein Herz hält noch mindestens zwanzig Jahre durch«, sagte sie. »Auch wenn das den meisten in meiner Familie nicht gefällt. Denen wäre es lieber, wenn es nur noch zwei Tage wären.«

»Das kann ich mir gar nicht vorstellen«, murmelte ich.

»O doch, das können Sie ruhig tun. Mein Enkelsohn will die Plantage unter meinem Hintern weg verkaufen. Ich bin die Einzige, die dagegen ist. Deshalb wäre es ihm am liebsten, ich würde für immer schweigen.«

»Jace?«, fragte ich atemlos.

»Nein, Edward. Mein ältester Enkel. Er leitet die Plantage und will sie loswerden, weil sie angeblich keinen Gewinn mehr abwirft. Dass sie seit Jahrhunderten im Familienbesitz ist, interessiert ihn nicht.« Sie klang verletzt.

»Und was ist mit Jace?« Ich versuchte, so locker wie möglich zu klingen, während mein Herz bis zum Hals schlug. Wo war er? Wann würde er mich verraten?

»Er interessiert sich nicht für die Plantage. Er ist kaum noch im Haus. Heute werden Sie ihn auch vergeblich suchen.«

Jetzt genehmigte ich mir doch ein erleichtertes Aufatmen. Wenigstens eine gute Nachricht. Mein Herz bremste langsam ab.

»Sie kennen ihn?«

Ich winkte ab. »Nur flüchtig. Er war früher der Freund einer Freundin. Es ist lange her.«

Sie nickte. »Ja, die Zeit vergeht. Wir sind alle nicht mehr die, die wir früher einmal waren.« Sie wandte sich an Channing. »Viel Spaß bei der Party. Amüsieren Sie sich!«

Channing nickte. »Danke, den werden wir mit Sicherheit haben.« Dann wandte er sich mir zu. Doch als er in mein Gesicht sah, wurde er ernst. »Hast du Fieber?« Er hielt seine Hand an meine Stirn.

Ich merkte jetzt, dass Schweiß von meiner Stirn tropfte, während sich mein Gesicht heiß anfühlte. »Das kann sein«, murmelte ich, obwohl ich mich etwas besser fühlte, seitdem ich wusste, dass Jace nicht hier sein würde. »Soll ich nicht doch lieber im Auto warten?«

»Nein, ich frage Mrs. Lindberg, ob sie eine Tablette für dich hat. Dann setzt du dich hin.«

»Okay.«

Channing verschwand für einen Moment von meiner Seite, so dass ich Gelegenheit bekam, in Ruhe nach bekannten Gesichtern Ausschau zu halten. Die meisten Gäste waren älter als ich und stammten aus anderen Kreisen. Die Frauen trugen teure Kleider und erlesenen Schmuck mit Juwelen, nicht nur Perlen. Die Männer rauchten Zigarren und trugen maßgeschneiderte, italienische Schuhe. Mrs. Charles Lindberg erkannte ich, Jaces Mutter. Sie war eine Frau um die fünfzig, mit langen, grauen Haaren, die sie hochgesteckt trug. Sie war die Schwiegertochter von der alten Mrs. Lindberg und hatte deren Sohn Charles geheiratet. Ihr Mund wirkte verkniffen, ihre Augen müde, obwohl sie sich Mühe gab, mit jedem Gast ein paar Worte zu wechseln.

Edward entdeckte ich an der Seite seiner Frau Joana. Edward war Jaces Bruder und älter als ich, ungefähr dreißig. Seine Frau wirkte etwas jünger. Aber genau wie die alte Mrs. Lindberg erkannten mich die beiden nicht. Ich war wohl immer zu unbedeutend für sie gewesen. Nicht nur für Jace, sondern für die ganze Familie.

Sonst war niemand unter den Gästen, der mir auf Anhieb bekannt vorkam. Langsam entspannte ich mich.

Als Channing zurückkehrte, hatte meine Gesichtsfarbe schon fast zu ihrer normalen Blässe zurückgefunden. Der Schweiß war getrocknet. Trotzdem schluckte ich brav die Tablette, die Channing mir reichte. Und ich ließ mich zu einem Sofa am Fenster führen. Dort saß ich äußerst bequem und hatte einen hervorragenden Blick auf die Party.

»Macht es dir etwas aus, wenn ich mich unter die Gäste mische?«, fragte Channing.

»Nein, bitte, tu dir keinen Zwang an«, erwiderte ich.

»Danke, Schatz.« Er drückte einen Kuss auf meine Stirn, dann ging er zu Edward Lindberg und schüttelte ihm die Hand. Ich blieb auf dem Sofa zurück und beobachtete die Party. Die Männer unterhielten sich über die aktuelle Politik, vor allem den Wahlkampf und die Flüchtlingskrise in Europa. Themen, zu denen ich nichts beisteuern könnte. Channing hatte sich inzwischen mit einem älteren Mann zusammengetan, der ein Freund des Gouverneurs war. Ich hatte sein Bild mal in einer Zeitung gesehen. Die alte Mrs. Lindberg ging von Gast zu Gast und wechselte mit jedem ein kurzes Wort. Nur ihre Schwiegertochter mied sie, Mrs. Charles Lindberg. Einmal bemerkte ich die beiden zusammen, da fauchte Mrs. Lindberg ihre Schwiegertochter an. Aber diese zischte zurück. Es schien ein ausgeglichenes Scharmützel zu sein.

Gerade, als ich langsam anfing, mich wohlzufühlen und überlegte, ob ich mich auch unter die Gäste mischen sollte, zumal Channing mir zuwinkte, sah ich eine kleine Figur, die so gar nicht hierher passte. Der Junge war etwa sechs Jahre alt und schlich heimlich an der großen Flügeltür vorbei Richtung Küche. Ich sah mich um, ob ihn jemand bemerkt hatte, aber er schlüpfte unentdeckt durch die Küchentür.

Ich stand auf und folgte ihm. Als ich den Kopf in die Küche steckte, war nur eine junge, attraktive Köchin zu sehen, die sich um einen riesigen Teller mit Häppchen kümmerte. Sie legte feine Roastbeefscheiben mit einer zart rötlichen Mitte auf selbstgebackenes Brot. Darauf kamen eingelegte Gurken und getrocknete, aus Italien importierte Tomaten. Auf einem anderen Tablett befanden sich Kaviar und Wachteleier. Die Köchin sah kurz auf, als sie mich bemerkte. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Nein, ich wollte nur mal einen Blick in die Küche werfen«, sagte ich. Sie nickte kurz, dann kümmerte sie sich wieder um den Teller. Jemand schob sich von hinten an mir vorbei und flitzte auf eine Anrichte an der Seite, wo sich leere Gläser befanden. Es war das Dienstmädchen, das ich vorhin schon gesehen hatte. Sie nahm die Sektgläser und stellte sie auf ein Tablett, bevor sie an mir vorbei zurück in den Salon eilte. Ich sah mich nach dem kleinen Jungen um. Schließlich entdeckte ich ihn hinter einem großen Mülleimer. Mit einer Hand versuchte er vorsichtig, in den Müll zu greifen, ohne ein Geräusch zu machen. Als er merkte, dass ich ihn entdeckt hatte, zog er die Hand schnell zurück.

»Was ist das Leckeres, was Sie da zubereiten?«, fragte ich die Köchin und stellte mich zu ihr, so dass sie nicht zum Mülleimer sehen konnte. Mit einem Winken meiner Hand hinter meinem Rücken bedeutete ich dem Jungen, dass ich ihn nicht verraten würde.

Die Köchin richtete sich auf. »Das sind Rinderscheiben in Weißweinsud gebraten, mit Rosmarin und irischer Butter.«

»Das klingt delikat.«

»Das Brot ist im Steinofen gebacken. Mrs. Lindberg hat darauf bestanden, dass einer dieser Öfen für die Küche zugelegt wird. Er gibt dem Brot ein besonderes Aroma. Wollen Sie mal kosten?«

Sie taute förmlich auf. Wahrscheinlich interessierte sich sonst niemand näher für ihre Arbeit. »Gerne.« Sie reichte mir ein Stückchen Brot. Hinter meinem Rücken in der Nähe des Mülleimers konnte ich ein leises Rascheln hören. »Hmmm«, sagte ich schnell genießerisch, um das Rascheln zu übertönen. »Das schmeckt hervorragend. Nach Erdnüssen und Oliven.« Es war wirklich köstlich.

Die Köchin strahlte. »Dann hat sich die Anschaffung wohl gelohnt«, sagte sie und zwinkerte mir zu.

»Da bin ich mir sicher.«

»Wollen Sie noch etwas von dem Eiersalat probieren? Er ist mit spanischem Essig zubereitet, den Mrs. Lindberg extra aus Barcelona hat schicken lassen.«

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass der Junge aus der Küche schlich.

»Danke, vielleicht beim nächsten Mal«, erwiderte ich der freundlichen Köchin.

Sie nickte verständnisvoll. »Genießen Sie die Party.«

»Danke.« Ich ging zur Tür und sah gerade noch, wie der Junge durch eine Pforte am hinteren Ende der Eingangshalle schlüpfte. Ich eilte hinterher und ging hinaus. Es war kühl draußen. Und total dunkel. Hier, hinter dem Haus, wurde nichts mehr von Scheinwerfern beschienen. Ich konnte kaum sehen, wohin ich trat.

»Hallo?«, rief ich leise. »Wo steckst du?«

Der Junge antwortete nicht, ich hörte jedoch ein leises Kichern rechts von mir. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, so dass ich dem Kichern nachging. Schließlich entdeckte ich ihn. Er kauerte am Boden vor einer Apfelkiste.

»Wer bist du?«, fragte ich ihn, als ich mich zu ihm hockte. »Und was machst du hier?«

»Ich bin Noah. Er hat sich verlaufen«, sagte er und deutete auf ein Bündel Fell in der Kiste. »Ich habe ihn gehört, als ich im Bett lag, und bin sofort hergelaufen. Dann wollte ich ihn füttern. Er hat mich gerade abgeleckt.« Er wischte mit der Hand über sein Gesicht und grinste.

»Ein Hund?«, fragte ich erstaunt und betrachtete das schmutzige Etwas vor mir. Es war ein Welpe, vielleicht ein halbes Jahr alt, und fraß ein paar Brotreste, die der Junge offensichtlich für ihn aus dem Müll gefischt hatte.

»Ich habe ihn Fluffy genannt.«

»Ich bin Sydney«, sagte ich und reichte dem Jungen meine Hand. »Dein Geheimnis ist bei mir sicher.«

Er ergriff die Hand und schüttelte sie zögerlich. »Wirklich? Mommy und Daddy erlauben mir nämlich nicht, einen Hund zu haben. Er macht mich krank.«

Ich wurde hellhörig. »Reagierst du allergisch auf Hunde?«

»Ja, so was in der Art.«

»Dann solltest du aber auch keinen kleinen Streuner füttern.« Ich zog ihn sanft von dem Hund weg.

»Ich habe noch mehr Allergien. Und Fluffy braucht mich. Er verhungert sonst!«

»Was meinst du, soll ich mich um ihn kümmern, während du wieder ins Haus gehst? Dann wirst du nicht krank und der kleine Kerl hier wird trotzdem betreut.«

»Würdest du das für mich tun?«

»Ja, das würde ich tun. Ich würde sogar versuchen, herauszufinden, ob er jemandem gehört. Vielleicht wird er schon vermisst.«

Er betrachtete nachdenklich den Welpen, der sich das Mäulchen leckte, weil er das ganze Brot vertilgt hatte. »Okay«, sagte er schließlich. »Aber du sagst mir, wie es ihm geht.«

»Das mache ich. Versprochen.«

»In Ordnung.« Er trat zurück.

»Welche Allergien hast du noch?«

»Erdnüsse und Milch.«

Mist. In dem Brot hatten sich Erdnüsse befunden.

»Hast du auch von dem Brot genascht?«

»Nein.«

Aber Fluffy hatte ihm einmal quer über das Gesicht geschleckt und bestimmt die Lippen mit erwischt. Noah wollte auf das Haus zugehen, doch es war zu spät. Ich hörte, dass er plötzlich anfing zu röcheln.

»O nein, Noah, nicht doch!«

Er hustete stark und rang nach Luft, dann taumelte er. Ich konnte ihn auffangen, bevor er fiel. Mit ihm im Arm eilte ich auf die Hintertür zu. Sie ließ sich jedoch nicht von außen öffnen. Hastig rannte ich über den Rasen am Haus vorbei nach vorn. Als ich mit dem Jungen ins Licht trat, konnte ich sehen, dass er bereits blau angelaufen war. Seine Augen waren geschlossen.

Panisch klingelte ich. Sobald sich die Tür öffnete, stürzte ich mit ihm hinein und rannte in den Salon. »Hilfe! Der Junge braucht Hilfe!«, schrie ich. Dann legte ich ihn auf dem Sofa ab. Ich zog seinen Schlafanzug aus, um seinen Körper sehen zu können. Er hatte eine leichte Rötung auf der Haut, außerdem geschwollene Arme und Beine.

»O Gott! Noah! Was ist passiert?«, kreischte eine Frau und stürzte zu mir. Es war die junge Mrs. Lindberg, die Mutter des Jungen. Ich hatte sie vorhin kurz bei Edward und Channing gesehen. Sie war nur unwesentlich älter als ich, sehr hübsch, hellblond mit großen, himmelblauen Augen. Jetzt allerdings wirkte sie panisch und aufgelöst.

»Er war bei einem Hund und hat vermutlich Erdnüsse aufgenommen«, erklärte ich schnell. »Er braucht Kortison und Adrenalin.«

»Es ist alles da!«, rief sie und sprang auf, um das Nötige zu holen.

Ich überprüfte den Puls des Jungen. Er war ganz schwach. Nicht mehr lange, dann würde er aussetzen. Inzwischen hatte sich eine Traube um das Sofa gebildet. Ich sah mich nach Channing um. Er war nicht zu sehen. Ich blickte wieder zu dem Jungen. Ich streichelte seine Stirn und wischte ein paar braune Haarsträhnen aus seinem Gesicht. »Noah, bleib bei uns! Hörst du?« Ich flüsterte nur, dann maß ich wieder seinen Puls. Er war kaum noch zu spüren. »Noah! Hörst du mich?«

Channing war nun endlich auch auf uns aufmerksam geworden. Er kniete sich neben mich. »Ich kann einen Luftröhrenschnitt machen«, schlug er vor.

»Vielleicht ist sie rechtzeitig wieder hier.«

»Es ist nicht mehr viel Zeit.«

»Ich weiß, aber das schafft er. Noah, halt durch«, flüsterte ich. Doch dem Kind liefen die Minuten davon. »Ich hole ein Messer«, sagte ich nach einer weiteren qualvollen Minute des Wartens zu Channing. Wenn sie nicht rechtzeitig zurückkam, musste Channing den Schnitt vornehmen, damit der Junge nicht erstickte. Ich wollte aufspringen und ein Messer aus der Küche holen, doch in diesem Moment rannte Noahs Mutter durch die Tür. Sie eilte zu mir und reichte mir die Notfallspritze mit Adrenalin. Ich setzte sie sofort an und injizierte dem Jungen das Mittel in den Oberschenkel. Dann nahm ich eine weitere Spritze aus der Hand der Mutter. »Das sind Kortison und Antihistamine«, sagte sie. »Wir haben sie immer für den Notfall im Haus.« Ihre Hand zitterte. Ich setzte die Spritze an, dann warteten wir. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis der Junge wieder atmete. Das Adrenalin half sofort. Sein Atem ging noch röchelnd, doch dann verbesserte sich sein Zustand zusehends.

Noahs Mutter atmete erleichtert auf.

---ENDE DER LESEPROBE---