King of Deals - Johanna Marthens - E-Book

King of Deals E-Book

Johanna Marthens

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Beschreibung

»Ich kann Anwälte eigentlich nicht ausstehen. Und erst recht nicht solche arroganten, selbstverliebten Stars im Gerichtssaal wie Cooper King. Und als ich mich an ihn wende, dann nur, damit er mich ins Zeugenschutzprogramm nimmt und vor meinem Exfreund beschützt. Doch dann gibt mir Cooper einen heimlichen Kuss. Und alles ändert sich.« Als Queenie mit einer gestohlenen Million auf der Flucht in einem unpersönlichen Hotelzimmer steht, sieht sie im Gebäude gegenüber einen geheimnisvollen Mann. Sie beschließt herausfinden, wer er ist und warum er die Nacht in seinem kalten Büro verbringt. Doch als sie Cooper King am Morgen kennenlernt, entpuppt er sich als knallharter Anwalt. Queenie will ihn abhaken und vergessen, aber als ihr Exfreund sie ausfindig macht und alles daransetzt, ihr die Million wieder abzujagen – lebendig oder tot – hat Queenie keine Wahl. Sie muss sich an Cooper King wenden, damit er ihr hilft. Queenie kann dem unglaublich verführerischen Anwalt nicht lange widerstehen und landet in Coopers Bett. Und sie merkt, dass hinter der kühlen Fassade des erfolgreichen Anwalts viel mehr schlummert, als an der Oberfläche sichtbar ist. Cooper forscht insgeheim nach dem tragischen Schicksal eines Familienmitglieds ... »Spannung und fesselnde Unterhaltung bis zur letzten Seite von Bestsellerautorin Johanna Marthens!« »Der Moment, wenn du eigentlich aufhören willst zu lesen, weil es schon so spät ist und du morgen früh raus musst, aber immer noch weiterblätterst, weil du unbedingt wissen willst, wie es weitergeht ...« Romantic Thriller, abgeschlossener Roman ohne Cliffhanger am Ende!

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© 2017, 2022 Johanna Marthens

[email protected]

 

Facebook.com/Johanna.Marthens

 

Lektorat: Tilde Zug

Buchcover: © Dangerous Kisses

 

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren, Vervielfältigen und Weitergabe sind nur zu privaten Zwecken erlaubt. Der Weiterverkauf des eBooks ist ausdrücklich untersagt. Abdruck des Textes, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

 

Dieses Werk ist reine Fiktion. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie Schauplätzen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle darin beschriebenen Vorkommnisse sind frei erfunden.

Millionen in der Tasche und die ganze Welt zu meinen Füßen – doch das Einzige, das ich wirklich will, bist du.

INHALTSVERZEICHNIS

 

MR. FLECKCHEN

SEGELMATT1234

MR. KING

AUF DER FLUCHT

MR. KING SENIOR

SUNRISE CORP.

STAATSANWÄLTE BELÜGT MAN NICHT

ÜBERRASCHUNGSGAST

DER SCHLÜSSEL

VERRÄTER

SPORT IST MORD

BIS DIE SONNE AUFGEHT

GLEICHTAKT

DER SCHWARZE ABGRUND

VERDAMMNIS

COOPERS STORY

QUEENIE

LIFE OF PI

NUR EIN BISSCHEN GLÜCK

HOBBITS

IMPRESSUM

MR. FLECKCHEN

 

 

 

NEW YORK? ZU GROSS. Bangkok? Zu heiß. London? Zu kalt. Rio?

Der Bürgersteig war voll, aber die Leute sahen nicht aus, als würden sie sich für eine junge Frau mit einer Reisetasche interessieren. Sie schauten sich die Schaufenster an, viele liefen Hand in Hand. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen. Das waren mit Sicherheit Touristen. Ein paar Geschäftsleute eilten in Anzügen zum nächsten Büro. Teenager lachten und zeigten ihre Haut in extrem kurzer Kleidung.

Ich drehte mich um, um festzustellen, ob mir jemand folgte.

Es sah nicht so aus, als hätte sich jemand an meine Fersen geheftet.

Ich verbot mir das Gefühl der Erleichterung. Ich war noch längst nicht weit genug weg, um in Sicherheit zu sein.

Ich hastete weiter auf den Bahnhof zu. Nur noch ein paar Stationen mit dem Zug, dann war ich am Flughafen. Dort musste ich mich endlich entscheiden, wohin ich fliehen wollte. Kapstadt? Oder Miami? Oder Dubai? Mumbai? Berlin?

Die Reisetasche, die an einem Riemen auf meiner Schulter hing, schien immer schwerer zu werden.

Ich hatte fast die Kreuzung erreicht. Auf der gegenüberliegenden Seite lag Flinders Street Station. Das Bahnhofsgebäude war imposant, und wenn ich mehr Zeit und Muße gehabt hätte, hätte ich es bestimmt bewundert. Aber im Moment besaß ich kein Auge für die architektonischen Details. Ich dachte nur daran, aus der Stadt fortzugehen. Für immer.

An der roten Ampel musste ich stehenbleiben. Ich warf einen letzten Blick auf das bunte Treiben in der Swanston Street. Eine Pferdekutsche stand friedlich neben einem Porsche. Eine Touristengruppe ließ sich von einer französischen Reisführerin die Kathedrale erklären. Ein Filmteam baute an der Ecke die Kameras für einen Dreh auf. Es sah aus, als hätten sie die Linsen auf mich gerichtet.

Schnell wandte ich meinen Blick ab und sah zur Brücke, wo der Verkehrsstrom niemals abzuebben schien. Eine Straßenbahn fuhr Richtung City, mehrere Reisebusse bogen um die Ecke, um Touristen in den Süden an den Ozean zu bringen. An einer Haltestelle stand eine große Traube Menschen und wartete auf die nächste Straßenbahn.

Ungeduldig klopfte ich mit dem Fuß auf den Boden. Immer noch rot. Langsam begann meine Schulter zu schmerzen. Ich hatte das Gefühl, als würde sich der Inhalt meiner Reisetasche mit Absicht immer schwerer machen. Als wäre er lebendig und würde sich bewegen, um mir das Leben zu verbittern.

Ich versuchte, den Gedanken abzuschütteln, und sah mich erneut unruhig um. Hier an der Kreuzung waren noch mehr Leute auf dem Bürgersteig. Es war schwierig, jemanden aus der Masse herauszufiltern, der es möglicherweise auf mich abgesehen haben könnte. Umso wichtiger war es, dass ich so schnell wie möglich aus der Stadt verschwand.

Endlich grün! Ich lief los und wollte den Bahnhof ansteuern. Doch in dem Moment geschah es. Ein Bus fuhr die Haltestelle an, an der eine Menschenmenge stand. Und genau in dem Moment verlor eine Frau in der Traube das Gleichgewicht und fiel vor den Bus. Ein dumpfer Aufprall war zu hören. Ich sah ihren Arm und etwas Braunes, das davonflog. Bremsen quietschten.

Mein Herz setzte mehrere Schläge aus, während ein Aufschrei aus mehreren Kehlen erfolgte. Jeder aus der Menschengruppe bewegte sich besorgt auf das Opfer zu, das nun reglos vor dem Bus lag. Der Busfahrer stieg aus und rannte voller Entsetzen vor das Fahrzeug. Jemand schrie nach der Polizei und einem Krankenwagen.

Nahezu jeder Mensch in der näheren Umgebung des Unfalls war mit dem Opfer beschäftigt. Niemandem fiel auf, dass die Handtasche der Frau beim Aufprall weggeschleudert worden war und achtlos am Straßenrand lag.

Die Tasche war quasi vor meine Füße gefallen.

Entsetzt starrte ich auf die Tasche, als wäre sie ein fremder Organismus. Mein Herz klopfte inzwischen viel zu schnell und aufgeregt, weil nur wenige Meter neben mir ein Mensch mit dem Tode rang. Ich konnte die Frau vor dem Bus nicht sehen, mehrere Menschen standen um den Unfallort herum. Viele redeten entsetzt in ihre Telefone, riefen die Polizei und einen Krankenwagen oder erzählten jemandem von dem Vorfall. Einige filmten das Geschehen mit ihren Handykameras.

Mühsam löste ich mich aus meiner Starre, bückte mich und hob die Tasche auf, um sie zu dem Unfallopfer zu legen. Doch ich kam nicht weit. Ein dicker Mann mit Hawaii-Hemd und grauen Bermudashorts versperrte mir den Weg.

»Bist du Ärztin?«, fragte er mit dickem amerikanischem Akzent.

»Nein, ich will nur ...«

Er ließ mich nicht aussprechen. »Verkrümle dich, wenn du keine Ärztin bist. Das ist ein Unfall, kein Spektakel.«

»Das weiß ich. Ich möchte nur ...«

Er ließ mich wieder nicht ausreden und schob mich so unsanft zur Seite, dass ich wegen meiner schweren Reisetasche fast das Gleichgewicht verlor.

»Verzieh dich endlich! Es gibt genügend dämliche Zuschauer, die den Helfern den Weg versperren. Geh dahin, wohin du gehen wolltest. Und zwar pronto!«

Ich schüttelte den Kopf über den unhöflichen Amerikaner und trat zur Seite, um mich nach einem anderen Weg umzusehen, wie ich die Tasche zum Unfallopfer bringen konnte. Doch in dem Moment war eine Sirene zu hören. Polizei und Krankenwagen waren nicht mehr weit.

Unschlüssig blieb ich stehen. Niemand achtete auf mich, alle schauten zum Unfall. Sogar der Amerikaner hatte sich bereits von mir abgewandt und schickte ruppig ein chinesisches Pärchen auf die andere Straßenseite. Die Handtasche hielt ich immer noch in meiner Hand. Die Sirene ertönte erneut. Dieses Mal ganz in der Nähe.

Sie waren gleich da.

Die Panik, die plötzlich von mir Besitz ergriff, ließ mich nach Luft schnappen. Dennis hatte Kontakte bei der Polizei.

Ich musste sofort weg von hier.

Keine Umwege zu dem Unfallopfer.

Ich würde der Verletzten die Tasche später aus dem Ausland zusenden.

Ich klemmte die Handtasche unter meinen Arm und rannte zum Bahnhof. Niemand lief hinter mir her. Keiner hatte bemerkt, dass ich die Handtasche des Unfallopfers besaß.

Ich lief zum Automaten und löste ein Ticket. Meine Hände zitterten, als ich den schmalen Zettel nahm und in meine Jackentasche steckte. Danach wollte ich mich eigentlich entfernen, aber in dem Moment hörte ich ein leises Piepsen.

Ich sah auf den Boden, wo ein junger Flötenvogel saß und versuchte, wegzufliegen. Doch sein linker Flügel hing kraftlos nach unten.

»Hey Kumpel, dein Tag scheint nicht wesentlich besser gewesen zu sein als meiner und der von der Frau am Bus «, murmelte ich in seine Richtung und sah zur Tür. Vor dem Bahnhof war inzwischen die Hölle los. Ein Krankenwagen war vorgefahren, ein weiteres Polizeiauto war gekommen. Immer noch stand eine Menschenmenge da und schien sogar noch größer geworden zu sein. Unfälle zogen die Leute an wie das Licht Moskitos und Motten.

Ich wandte mich ab und lief zum Bahnsteig. Unter den Reisenden im Bahnhof fiel eine junge Frau mit einer unbequemen Reisetasche und einer fremden Handtasche kaum auf. Ich sah zum Fahrplan und fluchte innerlich. Die nächste Bahn nach Southern Cross, wo ich den Bus zum Flughafen nehmen konnte, fuhr erst in zehn Minuten. Mir wäre es lieber gewesen, sie wäre in zehn Sekunden eingetroffen.

Plötzlich ertönte hinter mir ein Piepsen.

Verwundert drehte ich mich um und entdeckte erneut den Flötenvogel mit dem gebrochenen Flügel. »Bist du mir gefolgt?«, fragte ich leise. Er antwortete nicht, sondern legte den Kopf schief, als würde er sich wundern, wieso ich so dumme Fragen stellte.

Sein Kopf war schwarz, wie auch der Rest seines Körpers, bis auf ein paar weiße Flecken am Hals und am Rücken, wo der Schwanz begann. Er sah mich aus rotbraunen Augen an, als würde er mich intensiv mustern.

»Denkst du, ich habe was zu essen für dich?«, fragte ich und sah mich um, um zu sehen, ob jemand bemerkte, dass ich mit einem Vogel sprach. Aber niemand achtete auf mich oder auf das kleine Tier zu meinen Füßen.

Wieder legte der Vogel den Kopf schief und gab einen Laut von sich. Es klang wie ein Ja.

In der Reisetasche befand sich nichts Essbares, da war ich mir ganz sicher. Aber vielleicht in der Handtasche des Unfallopfers?

Ich öffnete sie vorsichtig und sah so zögerlich hinein, als würde ich erwarten, eine Atombombe darin zu finden. Es lag jedoch ein Portemonnaie darin, außerdem eine Haarbürste und ein paar Halsbonbons. In der Seitentasche steckte ein iPhone, Hausschlüssel klapperten in einem gesonderten Fach.

Es war wie ein Blick in ein anderes Leben.

Ich spürte, wie mein Herz erneut stark klopfte. Ich bereute, die Handtasche genommen zu haben. Die Frau war eine völlig Fremde, der ein Unglück geschehen war. Nun wusste niemand, wer sie war und ob sie vielleicht gegen bestimmte Arzneimittel allergisch war. Falls sie den Unfall überlebte, hätte sie sowieso Mühe, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen. Da musste ich ihr nicht unbedingt noch mehr Komplikationen bereiten, indem ich ihre Handtasche einfach mitnahm. Aber ich konnte jetzt nicht zurückgehen und sie ihr oder den Helfern geben. Jetzt war es zu spät dafür.

Ich musste wenigstens wissen, ob sie bestimmte Medikamente brauchte.

Meine Hände zitterten erneut, als ich das Portemonnaie öffnete. Siebzig Dollar befanden sich darin, außerdem drei Kreditkarten und ein paar Quittungen. In einem Seitenfach steckte ihre Fahrerlaubnis. Ich holte sie aus dem Fach und starrte auf das Bild der Frau. Sie war etwa so alt wie ich, besaß rötliche Haare und ein ovales Gesicht, das auf dem Führerscheinfoto ernst blickte. Ihre Augen waren grün, meine blau. Meine Haare waren braun, aber ansonsten besaßen wir etwas Ähnlichkeit.

Der Vogel piepste wieder und hüpfte vor meine Füße.

»Sie hat nichts bei sich, was darauf hindeuten würde, dass sie spezielle Medikamente bräuchte oder eine Allergie hätte«, sagte ich ihm. Ich fühlte mich erleichtert. Und ich hatte das Gefühl, als würde im Hinterkopf eine Idee sitzen.

Ich ging zu einer Bank am Bahnsteig und stellte die Reisetasche ab. Sie war immer noch schwer, eigentlich sogar noch schwerer als vorher. Als hätte sich der Inhalt mit jedem Schritt, den ich getan hatte, in Blei verwandelt.

Danach setzte ich mich. Die Handtasche behielt ich in meiner Hand.

Der Vogel hüpfte hinterher und ließ sich zu meinen Füßen nieder. Der verletzte Flügel hing auf den Boden.

»Was soll ich denn mit dir machen?«, fragte ich das Tier. »Ich bin auf der Flucht, ich kann mich nicht um dich kümmern.«

Es sah mich an, als würde es mir kein Wort glauben.

»Es ist wirklich so. Ich muss das Land verlassen, weil mich mein Ex-Freund sonst umbringt. Ich habe etwas genommen, was seiner Familie gehört. Und die versteht in manchen Dingen keinen Spaß.«

Der Vogel wirkte immer noch skeptisch und gab ein paar Laute von sich, die wie eine Altflöte klangen. Dabei kam er noch ein paar kleine Hüpfer auf mich zu.

Draußen vor dem Bahnhof war der Klang der Sirene des Krankenwagens zu hören. Sie brachten das Unfallopfer in die Klinik. Ob die Frau noch lebte?

Erneut sah ich auf den Führerschein der Fremden.

Sie hieß Susan Delaney.

Der Vogel hüpfte direkt vor meine Füße, als würde er sich bei mir in Erinnerung bringen wollen.

»Ich bringe dir was zu essen«, sagte ich und stand auf. Ein Kiosk befand sich am Eingang des Bahnsteigs. Ich nahm einen Fünfzig-Dollar-Schein aus meiner Reisetasche und kaufte eine Flasche Wasser, eine Tüte Nüsse und ein Hähnchen-Sandwich. Letzteres war für mich, der Rest für den Vogel. Das Tier war bei der Bank geblieben, als ob es gewusst hätte, dass ich wiederkommen würde. Ich warf ein paar Nüsse auf den Boden und packte das Sandwich für mich aus. Doch der Vogel rührte die Nüsse nicht an. Stattdessen starrte er auf mein Sandwich.

»Willst du das probieren?«, fragte ich und warf ihm ein Stück Fleisch von meinem Brot auf den Boden. Sofort stürzte er sich darauf und fraß es.

Nun war ich es, die den Kopf schief legte. »Das ist nicht wahr, oder?« Ich warf ihm noch ein Stück vom Sandwich auf den Boden, das er hungrig verschlang.

»Okay, also tauschen wir.«

Ich legte ihm mein Brot vor den hellen Schnabel und aß die Nüsse aus der Tüte. Danach kippte ich etwas Wasser in die Plastiktüte und stellte sie vor ihn hin. Er trank tatsächlich daraus.

Anschließend trank ich aus der Flasche.

Der Bahnsteig hatte sich gefüllt. In der Ferne konnte ich das Rattern des Zuges hören, der mich weiter Richtung Flughafen bringen würde.

»Ich könnte eine Weile Susan Delaney sein«, sagte ich leise zu dem Vogel zu meinen Füßen, der das Sandwich tatsächlich bis auf den letzten Krümel verputzt hatte. »Dann könnte ich in Ruhe überlegen, wohin ich ziehen will. Eine Nacht lang nachdenken, wie ich es am besten anstelle, das Land zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen. Als Susan Delaney würde mich Dennis nicht so schnell finden, jedenfalls nicht in dieser Nacht.«

Der Vogel putzte sich seinen Schnabel am Gefieder. Er wirkte zufrieden.

Der Zug fuhr in den Bahnhof ein, die Fahrgäste stiegen aus und die neuen ein.

»Nur eine Nacht, bis ich überlegt habe, was ich mache.«

Es sah aus, als würde der Vogel die Schwingen ausbreiten und zu mir auf die Bank fliegen wollen, aber der verletzte Flügel spielte nicht mit. Der Vogel hüpfte nur ein bisschen, bis er aufgab.

Ich sah zum Zug, der sich wieder gefüllt hatte. Wenn ich mitfahren wollte, musste ich jetzt einsteigen.

Und dann?

New York? Zu groß. Bangkok? Zu heiß. London? Zu kalt. Wohin sollte ich fliehen?

Ich brauchte Zeit.

Die Türen des Zuges schlossen sich. Mit einem Rattern fuhr er davon.

Ich saß immer noch auf der Bank. Die Reisetasche neben mir, die Handtasche von Susan Delaney in meinem Schoß.

Ich könnte für eine Nacht in einem Hotel unterkommen, wo ich sicher wäre.

Entschlossen stand ich auf und nahm meine Reisetasche auf die Schulter. Sie schien noch schwerer geworden zu sein.

Der Vogel zu meinen Füßen sah mich überrascht an, als hätte er mit dieser Wendung nicht gerechnet.

»Ich muss gehen«, sagte ich zu ihm. Er musterte mich ungläubig und hüpfte drei Schritte hinter mir her. »Willst du mitkommen?« Noch drei Hüpfer. Der Flügel schleifte über den Boden. Wenn ihm niemand half, hatte er keine Überlebenschance.

Ich beugte mich zu ihm herab und hielt ihm meine Hand hin. Er kam zu mir gehüpft und klopfte mit dem Schnabel vorsichtig auf meine Finger. Er schien sich Mühe zu geben, mich dabei nicht zu verletzen. Vorsichtig berührte ich ihn. Er zuckte nur leicht zurück, danach ließ er es geschehen. Nun kam ich auch mit der anderen Hand näher. Er wirkte etwas misstrauisch, aber floh nicht. Behutsam umschloss ich seinen kleinen Körper mit meinen Händen und stand auf. Der Vogel steckte in meiner Hand und sah mich erschrocken an. Er wehrte sich jedoch nicht. Ich öffnete mit dem kleinen Finger den Reißverschluss meiner Reisetasche und steckte ihn hinein. Dann schloss ich die Tasche wieder. Seltsamerweise wirkte die Tasche danach etwas leichter, als würde die Anwesenheit des unschuldigen Tieres den Inhalt positiv verändern. Als wäre darin nichts Verwerfliches mehr, sondern etwas Reines.

Ich ging hinaus aus dem Bahnhof. Die Menschenansammlung an der Haltestelle hatte sich zum größten Teil aufgelöst. Ein paar Polizisten waren noch da und befragten Zeugen. Der Bus stand am Straßenrand, der Busfahrer war nicht da. Vermutlich hatten ihn die Sanitäter ebenfalls ins Krankenhaus gebracht, weil er unter Schock stand. Die Fahrgäste waren mit einem anderen Bus zu ihrem Ziel gebracht worden. Die Stadt war erstaunlich effizient, wenn es darum ging, so reibungslos wie möglich Normalität herzustellen.

Ob Susan Delaney noch lebte? Ob sie Familie hatte?

Ich steuerte eines der größten Hotels an, die es in der City gab. Fünf Sterne an einem eleganten Boulevard mit einem Einkaufszentrum im Erdgeschoss. Hier würde ich nicht auffallen und in der Anonymität der Masse untergehen.

Ich ging zur Rezeption und versuchte, wie eine freundliche Touristin auszusehen und nicht wie eine Diebin auf der Flucht.

»Hi, ich hätte gern ein Zimmer für eine Nacht.«

»Sehr gerne. Darf ich Ihnen auch unser Angebot vorstellen? Bleiben Sie drei Tage, aber bezahlen Sie nur zwei! Das gilt momentan noch in diesem Monat. Also wenn Sie flexibel sind, können Sie das gerne nutzen.« Der junge Mann hinter dem Tresen strahlte mich an, als wäre ich eine Kronprinzessin.

»Ich weiß nicht«, murmelte ich. War ich flexibel? Ich hatte genügend Geld. Aber war ich sicher? Mit einem fremden Namen war ich es, jedenfalls so lange, bis jemand herausfand, dass ich nicht Susan Delaney war. Aber mit viel Glück würde das nicht innerhalb von drei Tagen passieren.

»Okay, ich denke, das ist okay«, sagte ich leise. Auf diese Weise hatte ich drei Tage, um herauszufinden, wohin ich fliehen wollte.

»Danke, Miss. Darf ich Ihren Namen wissen?«

Ich zögerte noch einen winzigen Moment, doch dann sagte ich es: »Ich bin Susan Delaney.«

Ich hielt die Luft an und wartete auf seine Reaktion. Irgendwo in meinem Inneren erwartete ich, dass er vielleicht lachte oder die Stirn runzelte und sagte: »Das ist nicht Ihr wahrer Name, Sie heißen Queenie Miller. Wen wollen Sie denn an der Nase herumführen?«

Doch er lächelte und trug den Namen kommentarlos in seinen Computer ein. »Zahlen Sie bar oder mit Karte?«

»Bar.«

Er nannte mir die Summe und ich griff in meine Reisetasche. Als meine Hand im Dunkeln nach dem Geld suchte, spürte ich den Schnabel des Vogels. Er pickte mich ein bisschen, aber nicht so schlimm, dass es schmerzte. Offenbar war er noch nicht wirklich sauer.

Meine Hand tauchte mit ein paar Fünfzig-Dollar-Scheinen wieder auf. Fünf würden reichen für drei Tage Aufenthalt, von denen ich nur zwei bezahlen musste.

Der Mitarbeiter hinter dem Tresen tat so, als würde er sich nicht darüber wundern, dass ich so viele Scheine aus meiner Reisetasche holte. Er nahm das Geld und gab mir etwas Wechselgeld zurück. Dann reichte er mir die Keycard für mein Zimmer in der zwanzigsten Etage.

»Brauchen Sie Hilfe mit dem Gepäck, Miss Delaney?«

»Nein, danke, ich komme zurecht.«

»Einen schönen Aufenthalt wünsche ich Ihnen, Miss Delaney.«

»Danke.«

Es war gut, dass er den Namen so oft sagte. Das gab mir die Chance, mich an den Klang zu gewöhnen. Und ich hatte das Gefühl, als würde ich wirklich die Identität der fremden Frau annehmen.

Ich folgte den Schildern, die auf den Fahrstuhl hinwiesen, und fuhr in den zwanzigsten Stock. Das Zimmer war groß und angenehm temperiert und bot einen fantastischen Blick über die Stadt. Links vom Hotel befand sich ein Bürohochhaus, daneben gab es niedrigere Häuser, die den Blick nicht versperrten. Ich konnte den Fluss und das Konzerthaus sehen, die Werft und sogar das Riesenrad. Die Sonne neigte sich dem Horizont entgegen und spiegelte sich in den Fenstern der Hochhäuser, blitzte im Metall und funkelte im Wasser, das aus den Klimaanlagen tropfte. Mit einem schiefen Lächeln stellte ich mich ans Fenster und genoss die Aussicht wie ein Gemälde.

Ich musste plötzlich an mein Kinderzimmer in Brighton denken. Es hatte im ersten Stock eines schmalen Reihenhauses gelegen. Aus dem Fenster hatte ich den Spielplatz und ein Stück von der Promenade sehen können. Jeden Abend war eine Frau gekommen und hatte den Spielplatz gesäubert. Manchmal hatte sie mir zugewinkt, wenn sie mich am Fenster gesehen hatte. Und wenn ich krank gewesen war und das Haus nicht verlassen konnte, hatte ich den ganzen Tag auf der Fensterbank gesessen und den Kindern zugeschaut. Auf diese Weise hatte ich das Gefühl gehabt, trotzdem irgendwie dabei zu sein.

Das Zimmer hatte ich besessen, bis ich sechs Jahre alt gewesen war. Danach hatte sich alles geändert. Ich bekam einen Raum im Souterrain, wo ich die Auffahrt zur Garage und etwas Unkraut sehen konnte. Der Blick auf den Spielplatz war weg, und ich fragte mich fast jeden Abend, ob mich die Frau, die den Spielplatz säuberte, vielleicht vermisste.

Ich wischte die Erinnerung weg. Mein Blick wanderte zu dem nahen Bürohochhaus. Ein Mann stand am Fenster etwa in derselben Etage wie ich, und starrte hinaus wie ich. Ich hatte keine Ahnung, ob er mich sah. Vielleicht betrachtete er auch die Stadt, die sich vor ihm ausbreitete. Möglicherweise dachte er auch nur nach. Mit der Hand strich er sich durch sein Haar, als würde ihn etwas innerlich stark beschäftigen. Er sah unschlüssig und nachdenklich aus. Und einsam.

Genau wie ich.

Ich beobachtete ihn, bis er vom Fenster zurücktrat und sich an einen Schreibtisch setzte und arbeitete.

Da löste ich mich von seinem Anblick, legte die Reisetasche auf das Bett und öffnete sie. Sofort blinzelte mich der Vogel an und öffnete den Schnabel, um ein paar Töne von sich zu geben. Schimpfte er mit mir, weil ich ihn so lange im Dunkeln gelassen hatte?

»Hey, Mister, ich habe dich gefüttert. Sei nicht so undankbar.« Ich nahm ihn raus und setzte ihn auf den Boden, wo er weiterschimpfte. Aber zwischendurch klang es schon fast wie ein fröhliches Loblied.

Ich ließ ihn links liegen und öffnete die Tasche noch ein bisschen mehr. Da waren sie. Anderthalb Millionen Dollar in Hundert- und Fünfzig-Dollar-Scheinen.

Geld, das seinen rechtmäßigen Besitzern sehr fehlen würde und das sie mit aller Macht zurückholen würden.

Eine Summe, die mir ein neues Leben in irgendeinem anderen Land dieser Welt erlauben würde.

Ich nahm einen Packen Scheine in die Hand und setzte mich neben die Tasche. In Thailand wäre ich damit bis zum Ende meiner Tage reich. In Frankreich könnte ich mir davon ein kleines Haus in den Bergen kaufen.

Der Vogel hatte sich beruhigt und hüpfte neugierig über den Boden des Hotelzimmers. Mit seinem schwarzen Gefieder hob er sich kaum von dem dunklen Teppich ab. Es sah so aus, als würden seine weißen Flecken durch das Zimmer hüpfen.

»Ich nenne dich Mr. Fleckchen«, sagte ich. »Das passt zu dir. Oder bist du ein Mädchen? Dann müsste ich dich Mrs. Fleckchen nennen, aber das würde auch gehen. Was sagst du dazu?«

Er ignorierte mich und betrachtete dafür eingehend die Kabel auf dem Boden unter dem Schreibtisch. Vielleicht hielt er sie für Würmer oder Schlangen.

»Hey, was glaubst du, wenn ich ...«

Ich konnte nicht aussprechen, denn in diesem Moment klingelte das Telefon in Susan Delaneys Handtasche.

SEGELMATT1234

 

 

 

BEI DEM KLANG des Telefons setzte mein Herz einen Schlag aus. Was sollte ich tun?

Es war nicht mein Telefon. Der Anruf ging mich mit Sicherheit nichts an. Allerdings könnte der Anrufer jemand sein, der wusste, dass Susan verunglückt war, und nun nach ihren Sachen suchte.

Ich öffnete die Tasche und holte das iPhone von Susan Delaney heraus. Meine Hand zitterte, als ich den Namen des Anrufers las: SegelMatt1234. Der Name klang wie der Benutzername in einem Datingportal.

Das Telefon klingelte und vibrierte leicht in meiner Hand, bis es schließlich aufgab und verstummte. Einen Moment saß ich wie erstarrt und lauschte der Stille, in der das Klingeln nachhallte.

Das Klingeln war wie der Blick in ihre Handtasche gewesen. Als würde sich ein fremdes Leben mit meinem überlagern. Der Anruf hatte ihr gegolten, nicht mir. Genauso wie mir ihre Tasche und ihr Name nicht gehörten.

Plötzlich ertönte ein kurzer Rufton des Gerätes in meiner Hand. Ich zuckte zusammen und hätte das Telefon fast fallengelassen, weil es sich auf einmal so fremd anfühlte. Eine Nachricht vom Anrufer war angekommen.

SEGELMATT1234: Bleibt es bei unserem Date heute Abend?

Der Anrufer wusste nichts von dem Unfall. Susan Delaney hatte heute Abend eine Verabredung mit ihm. Was passierte, wenn sie nicht auftauchte? Würde der Kerl misstrauisch werden und sie als vermisst melden? Das würde mich in Schwierigkeiten bringen.

Ich musste antworten und absagen.

SUSAN: Sorry, mir ist etwas dazwischengekommen.

Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis die Antwort da war.

SEGELMATT1234: Das ist sehr schade. Ich hatte mich schon sehr gefreut, dich persönlich kennenzulernen.

Was? Er hatte sie noch nie gesehen? Hatte sie ihn wirklich in einem Datingportal kennengelernt? Dann würde er sie also nicht vermisst melden, sondern ihr die Pest und andere Krankheiten an den Hals wünschen, wenn sie ihn eiskalt versetzte. Ich wäre sicher gewesen.

Ich antwortete nicht und wollte das Telefon zur Seite legen, als es erneut piepste.

SEGELMATT1234: Musst du heute die Gruppe leiten? Oder hast du ein anderes Date?

Welche Gruppe leitete sie? Und traf sie sich noch mit anderen Männern? Was führte Susan Delaney für ein Leben?

Mir wurde langsam unwohl. Wenn es viele Menschen gab, die sie vermissten, musste ich doch schon eher als erwartet die Stadt verlassen. Denn sobald die Polizei auf meine Spur kam, war ich geliefert. Nicht nur als Handtaschendiebin.

Das Telefon gab erneut einen Laut von sich.

SEGELMATT1234: Bist du noch da?

Der Kerl war ziemlich anstrengend. Ob er viel über Susan wusste? Vielleicht sollte ich mich kurz mit ihm treffen, alles über Susan erfahren, was wichtig war, um entscheiden zu können, ob ich mit ihrer Identität für zwei Tage sicher war, und dann wieder gehen.

SUSAN: Ja, bin noch da. Versuche gerade, doch noch alles klarzumachen für unser Date. Kannst du früher?

SEGELMATT1234: Ich könnte in einer Stunde im Café sein.

Welches Café? Das musste Susan mit ihm vereinbart haben. Ich scrollte im Chat weiter nach oben, aber da stand nichts von einem Café. Das hatten sie vermutlich über das Datingportal am Computer vereinbart.

SUSAN: Geht auch McDonalds in der Swanston Street? Das ist näher.

SEGELMATT1234: Klar, ich dachte nur, du hasst Fast Food!

SUSAN: Ich muss ja nichts essen. Nur damit wir uns kennenlernen können.

SEGELMATT1234: <3 Ich bin da.

Mein Herz klopfte bis zum Hals, als ich das Telefon zur Seite legte. Vor allem, als mir einfiel, dass er Susan vermutlich vom Bild kannte. Sie hatte rote Haare, ich braune. Ihre Lippen waren etwas voller als meine. Sie hatte Sommersprossen, ich nicht.

»Pass auf meine Sachen auf«, sagte ich Mr. Fleckchen, der immer noch unter dem Schreibtisch hockte und mit den Kabeln spielte. Er sah kurz auf, widmete sich jedoch sofort wieder einem lose hängenden Stecker und pickte daran herum. Ich nahm zwei Scheine aus der Reisetasche und steckte sie in meine Jeanstasche. Dann verließ ich das Zimmer und lief hinunter ins Shoppingcenter, um die Sachen zu besorgen, die ich benötigte, um mein Aussehen dem von Susan Delaney anzunähern.

 

ICH KAM ZEHN MINUTEN zu spät im Fast-Food-Restaurant an und sah mich suchend nach einem jungen Mann um, der allein war und auf jemanden zu warten schien. Ich konnte jedoch keinen entdecken.

Für einen Moment fühlte ich Panik. Was, wenn es eine Falle war? Wenn Dennis oder sein Vater mir getextet hatte, um mir das Geld abzunehmen?

Das war Quatsch. Dennis konnte Susans Nummer nicht haben.

War es vielleicht die Polizei? Sie hatte Susans Identität herausgefunden und suchte nun ihre Handtasche und die Diebin, die sie genommen hatte.

Schnell drehte ich mich zur Tür um. Doch ich prallte mit einem männlichen Körper zusammen. Er war gut gebaut und sah auch so nicht schlecht aus.

»Oh, sorry«, murmelte ich und wollte an ihm vorübergehen, doch er hielt mich fest.

»Susan? Bist du es?«

Ich sah auf und blickte in ein Paar braune Augen, die mich interessiert musterten. Der Typ grinste mich an.

»Bist du Segelmatt1234?«

Er lachte. »Matthew, genau der bin ich.«

Ich wollte ihm die Hand reichen, doch er zog mich an sich und drückte mich in einer Umarmung an seine Brust.

»Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Ich hatte noch einen Patienten, der mich aufgehalten hat.«

»Das ist nicht so schlimm«, sagte ich und schälte mich aus der Umarmung. Er war also Arzt. Dafür sah er noch ziemlich jung aus, erst wie Mitte zwanzig.

»Setzen wir uns.«

Er suchte uns einen Tisch am Fenster, der am weitesten entfernt von einer Familie mit fünf Kindern stand. Die Kinder lärmten am Tisch und spielten mit Plastikflugzeugen, mit denen sie mit lautem Brummen durch das Lokal rannten und so taten, als würden die Dinger fliegen.

»Da sind wir also«, strahlte er mich an. »Ich bin froh, dass du doch kommen konntest.«

»Ich habe es geschafft, den anderen Termin zu verlegen.« Im Fenster sah ich mein Spiegelbild. Ich hatte mir noch eilig die Haare rötlich getönt und mit einem braunen Kajal ein paar Sommersprossen aufgemalt. Außerdem hatte ich meine Lippen voller geschminkt. Ich sah gar nicht schlecht aus. Und vor allem sah ich mehr aus wie Susan Delaney.

»Wie war dein Tag im Job?«, fragte er.

Welcher Job?

»Wie immer«, wich ich aus. »Das Übliche. Du kennst das ja sicher.«

»In meinem Job ist es vielfältiger. Ich dachte nur, weil du erzählt hast, dass du gerade ein paar Probleme hast.«

»Ach, nichts Besonderes.« Ich winkte ab. Ich hatte keine Ahnung, welchen Ärger Susan Delaney bei der Arbeit hatte. Ich war hier, um von ihm mehr über sie zu erfahren. »Das Wichtigste habe ich dir schon erzählt.«

»Das kommt darauf an, wie man wichtig definiert.« Er lachte. »Aber da waren wir uns ja ziemlich einig.«

»Ich muss aufpassen, dass ich dir nicht zu viel über mich erzähle, damit du es eines Tages nicht gegen mich verwenden kannst. Zum Beispiel das über meine Familie.« Ich versuchte, scherzhaft zu klingen, damit er nicht merkte, dass ich im Trüben fischte.

»Dass du ihnen immer erzählst, dass du einen neuen Freund hast, obwohl du immer noch im Internet nach passenden Kandidaten suchst? Ich wüsste nicht, wie ich das gegen dich verwenden könnte.«

Sie belog ihre Eltern über ihren Beziehungsstatus. Das bedeutete, dass sie nicht in der Nähe wohnten und auch nicht ab und zu bei ihr auftauchten. Sie würden sie also nicht so schnell vermissen.

»Du könntest mich erpressen. Das ist bei einem aus der Gruppe schon mal passiert.«

Ich hatte keine Ahnung, um welche Gruppe es sich handelte, die er vorhin erwähnt hatte. Aber in einer Gruppe waren immer viele Menschen, jemanden daraus zu erwähnen, konnte nicht falsch sein.

»Das wäre ja doppelt schrecklich. Du hast genug gelitten, ich würde dir das niemals antun.«

Ich musste einen Moment über seine Worte nachdenken. Weshalb hatte Susan gelitten? Das konnte ich ihn leider nicht fragen, denn dann würde ihm auffallen, dass ich nicht Susan Delaney war.

Ich lächelte kokett. »Das ist nett von dir.«

»Ich finde es selbstverständlich. Aber es gibt wohl sicherlich genügend Menschen, die nicht davor zurückschrecken, anderen noch mehr Leid zuzufügen. Das sehe ich auch täglich im Krankenhaus. Es gibt so viele Kinder, die von ihren Eltern vernachlässigt werden, ohne sich Gedanken darüber zu machen. Das macht mich wahnsinnig, aber ich kann nichts dagegen tun.«

War er Kinderarzt?

»Ja, das ist schrecklich. Die Welt ist leider völlig korrupt.« Das sagte die Frau, die der Familie ihres Ex gerade erst mehr als eine Million Dollar gestohlen hatte.

»Willst du nicht doch was essen? Wir können auch woanders hingehen.«

Ich hatte außer den Nüssen, die eigentlich für den Vogel bestimmt waren, den ganzen Tag noch nichts gegessen. Mein Magen war leer und knurrte.

»Das wäre gut«, sagte ich.

»Okay. Wohin willst du?«

Ich öffnete den Mund, um ein Café vorzuschlagen, das ich von meinem letzten Besuch in Melbournes Zentrum kannte, aber kein Laut verließ meine Lippen. Vor dem Fenster hielt ein Polizeiauto an. Zwei Beamte stiegen aus und sahen durch die getönten Scheiben.

Suchten sie mich?

»Wir könnten auch zu mir gehen«, schlug Matthew zögerlich vor, der mein Entsetzen nicht bemerkt hatte. Er saß mit dem Rücken zum Fenster. Er hatte auch die Polizisten nicht gesehen.

Ich hätte gehen müssen. Das hätte der Punkt sein müssen, an dem ich mich von ihm verabschiedete und zurück ins Hotel ging. Aber ich wollte mehr wissen über Susan, die Frau, deren Identität ich gerade angenommen hatte. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass ich Matthew vertrauen konnte. Er strahlte eine angenehme, sympathische Sicherheit aus, die mich beruhigte.

»Okay«, erwiderte ich.

Er stand auf und ging mit mir aus dem Lokal. Genau in dem Moment, als wir die Tür öffneten, kamen die Polizisten herein. Ich ging an Matthews Seite, sodass sein Körper zwischen mir und den Polizisten war. Sie sahen mich nicht.

Kaum waren wir draußen, steuerten wir einen Parkplatz vor dem Haus an. Matthew besaß einen BMW, dessen Verdeck heruntergeklappt war. Schönes Auto.

Wir stiegen ein, er drehte die Musik laut auf, und wenn ich mich nicht auf der Flucht befunden und die Identität einer fremden Frau angenommen hätte, hätte ich die Fahrt sicherlich genossen. Aber so kroch ich so tief wie möglich in den Sitz des Wagens, um so wenig wie möglich von mir zu zeigen. Die Musik nahm ich nur nebenbei wahr, weil ich aufmerksam darauf achtete, was draußen geschah, ob Polizei kam oder mich jemand seltsam ansah. Oder ob ich jemanden erkannte.

Aber niemand schenkte mir Beachtung. Der BMW mit seinen Insassen ging im Verkehr der Großstadt unter.

Matthew fuhr uns zu einem schmalen Haus in Richmond, wo er mir beim Aussteigen half. So lebte also ein Kinderarzt. Ein hübsches Reihenhaus in einem schicken Stadtbezirk, ein kleiner Vorgarten mit einem sauber gestutzten Rasen und einem blühenden Frangipanibaum.

Er öffnete die Eingangstür und ließ mich hinein. Innen war es kühl. Matthew legte den Autoschlüssel auf ein kleines Brettchen mit Haken neben der Tür. Er nahm mir den Mantel ab und hängte ihn auf einem Bügel an die Garderobe. Sie war erstaunlich leer, nur ein Mantel hing noch daran. Auf der Ablage lag ein Baseballcap. Der Flur war schmal, man konnte kaum zu zweit nebeneinanderstehen. Dahinter lag das Wohnzimmer. Auf der rechten Seite befand sich eine offene Küche, die Matthew ansteuerte.

»Was willst du essen? Hast du Lust auf Spaghetti oder Spaghetti? Oder lieber Spaghetti?«

Ich schmunzelte. »Ich denke, ich nehme die Spaghetti.«

»Das ist gut. Was anderes habe ich nämlich nicht.«

»Das habe ich mir fast gedacht.«

Er holte einen Topf aus dem Schrank und füllte Wasser hinein.

»Dafür, dass du nur Spaghetti kochst, hast du eine erstaunlich gute Ausrüstung.« Ich deutete auf die Töpfe und Pfannen, die im Schrank und unter dem Tisch standen. Die hätten einer ausgebildeten Köchin alle Ehre gemacht.

»Ich denke, man sollte auf alle Eventualitäten vorbereitet sein«, sagte er leichthin und stellte den Herd an. »Sogar darauf, dass man eines Tages noch zum Superkoch mutiert.«

»Das ist weise.« Ich setzte mich auf einen Hocker vor dem Tisch und sah zu, wie er die Büchsen mit der Spaghettisoße öffnete. »Ich kann nicht einmal Spaghetti kochen.«

»Ich denke, du kochst gerne?« Erstaunt sah er zu mir.

Shit. Offenbar hatte Susan ihm erzählt, sie wäre begeistert in der Küche aktiv, ganz im Gegensatz zu mir. Ich hatte mich vertan. »Dass ich gerne koche, heißt ja noch lange nicht, dass ich es kann«, sagte ich schnell. »Ich spiele auch gern Poolbillard, obwohl ich es nicht kann.«

Er lachte. »Das ist wahr. Man muss nicht alles können. Ich spiele Tennis, obwohl mir mein Bruder immer wieder sagt, ich kann es nicht.«

»Du hast einen Bruder?«

»Zwei sogar. Beide sind jünger. Meine Schwester ist älter. Und du?«

Hatte Susan Delaney Geschwister? Offenbar wusste es Matthew nicht, sonst hätte er nicht gefragt.

»Hast du Dessert da?«, wich ich aus und ging zum Kühlschrank, um ihn zu öffnen und hineinzuschauen.

»Irgendwo müsste noch ein Pudding herumfliegen.«

Der Pudding flog nicht, er lag in einem hinteren Fach unter der Butter. Und er war abgelaufen. Schon seit drei Wochen.

»Ich habe schon Schlimmeres gegessen, aber ich weiß nicht, ob du ihn haben willst«, sagte ich und hielt ihm den Plastikbecher hin. Er warf einen Blick darauf, bevor er ihn in hohem Bogen in den Mülleimer beförderte.

»Dann habe ich nichts anderes.«

Im Seitenfach hatte ich eine Flasche Wein entdeckt. »Alkohol tut es auch.«

Er grinste. »Du gefällst mir immer besser.«

Ich suchte im Schrank nach den Gläsern und stellte schließlich zwei auf den Tisch, um sie mit dem Wein zu füllen.

Matthew nahm ein Glas und hob es an, um mir zuzuprosten. »Es ist toll, dich endlich persönlich kennenzulernen, Susan. Wie lange schreiben wir uns schon?«

»Prost. Ja, es wurde Zeit.« Ich hatte keine Ahnung, wie lange sich Susan und Matthew schon schrieben. Und es war mir auch egal. Ich hatte nicht nur Hunger, sondern auch Durst. Ich setzte das Glas an und trank es mit einem Schluck leer.

Matthew beobachtete mich und schüttelte lachend den Kopf. »Offenbar weißt du einen guten Wein zu schätzen.«

»Dafür ist er doch da, oder? Um den Durst zu stillen.«

»Na, das würde ein Weinkenner anders sehen, aber mir ist es egal. Solange er dir schmeckt.«

»Er ist okay.«

Er schmeckte nach Wein, mehr konnte ich dazu nicht sagen.

Zum Glück kochte das Wasser, sodass sich Matthew von mir wegdrehen und dem Topf zuwenden musste. Ich beobachtete, wie er Nudeln aus der Verpackung holte und danach ins Wasser kippte. Er hatte kurze Finger und saubere Fingernägel. Dennis hatte immer schmutzige Fingernägel gehabt, obwohl er nie auch nur einen Finger mit ehrlicher Arbeit krumm gemacht hatte.

»Was war dein interessantester Fall heute?«, fragte ich Matthew und legte meinen Kopf in meine Hände. Ich spürte schon den Alkohol, der meinen Kopf leicht werden ließ. Das Denken schien plötzlich einfacher zu sein, das Reden auch.

»Ein Kind mit ein paar seltsamen Pusteln am Körper. Es waren keine Masern, keine Windpocken, keine Röteln. Nichts, was ich bisher gesehen habe. Ich tippe auf eine Allergie, bin mir aber nicht sicher. Ich habe Fotos gemacht und einem Kollegen geschickt. Mal sehen, was er dazu sagt.«

»Wie alt war das Kind?«

»Vier Jahre alt. Wenigstens jucken die Pusteln nicht.«

»Immerhin.«

Er lächelte mich an. »Du bist eigenartig, Susan. Ich hatte dich mir anders vorgestellt.«

»Anders? So ein Bild kann täuschen.«

»Das meine ich nicht. Ich dachte, du hättest einen anderen Charakter. Ich hatte den Eindruck, dass du sehr konservativ und bodenständig bist. Aber du wirkst viel unkomplizierter und auch ein bisschen geheimnisvoll.«

»Ich sage ja, Bilder täuschen. Und Konversationen im Internet auch.«

»Aber immerhin haben wir ja schon mehrmals telefoniert. Auch da warst du anders. Und deine Stimme klang ein wenig höher. Aber das kann an der Technik liegen. Ich erkenne mich auch kaum, wenn ich meine aufgezeichnete Stimme höre.«

Jetzt brauchte ich unbedingt eine gute Ausrede. »Ich wollte dir sicherlich gefallen, deshalb habe ich mir Mühe gegeben und mich etwas braver gemacht. Doch jetzt weiß ich, dass du mich so nehmen musst, wie ich bin. Es hat keinen Sinn, sich zu verstellen. Und das mit der Stimme ist auch wahr. Man klingt am Telefon immer völlig anders.«

Er lächelte mich an. »Du wolltest mir gefallen? Das höre ich gern. Ich will dir auch immer noch gefallen.« Er sah mich unverwandt an, als würde er mich mit seinen Blicken verführen wollen. Er sah gut aus. Dunkle Haare, dunkle Augen. Eine etwas zu große Nase und ein zu glattrasiertes Gesicht. Er war nicht ganz mein Typ, aber trotzdem sehr attraktiv.

»Ich hätte noch eine andere Idee für ein Dessert«, sagte er leise.

»Warten wir erst einmal die Hauptspeise ab.« Ich klang kühler, als ich mich fühlte. Der Wein war mir bereits zu Kopf gestiegen und seine Worte hatten einen Schauer über meine Haut gejagt. Wollte ich mit Matthew ins Bett? Wollte ich mit einem wildfremden Mann schlafen, den ich gerade mal eine Stunde kannte?

Er glaubte zwar, er kannte mich seit einiger Zeit, aber das änderte nichts daran, dass er für mich ein Fremder war. Allerdings ein attraktiver Fremder.

Meine abwägenden Worte schienen ihn wie einen Schlag in die Magengrube zu treffen. Verlegen sah er weg und widmete sich wieder den Spaghetti. Als sie fertig waren, servierte er zwei Teller mit ordentlichen Portionen und mit einer dampfenden Soße, die so köstlich duftete, dass ich die Gabel nahm und sofort zulangte.

Erst als ich den zweiten Bissen bereits im Mund hatte, bemerkte ich Matthews verwunderten Blick.

»Guten Appetit sollte ich wohl vorher sagen«, sagte ich und schluckte den Bissen schnell runter. »Entschuldigung, ich war so hungrig, dass ich schon angefangen habe.«

Er lächelte, immer noch leicht irritiert. »Lass es dir schmecken.« Dann setzte er sich zu mir und begann ebenfalls. Der Mann konnte kochen, das musste ich ihm lassen. Die Spaghetti schmeckten hervorragend. Die Soße auch. Er hatte sie zwar aus der Büchse geholt, aber er musste damit noch etwas Besonderes angestellt haben, denn bei mir gelang sie nie so gut.

»Das ist klasse«, sagte ich mit vollem Mund.

»Danke.« Er lächelte.

»Willst du noch Wein?«

Er nickte und trank sein Glas leer. Ich schenkte zuerst ihm, danach mir ein. Dieses Mal wartete ich, bis er so weit war und mir zuprostete, bevor ich trank. Als ich das Glas absetzte, musste ich aufstoßen, was er mit einem erstaunten Blick zur Kenntnis nahm.

»Sorry. Mein Magen hat etwas gegen Knoblauch.« Der Knoblauch war in der Soße. Matthew wirkte schon wieder verwundert.

»Ich war wohl zu lange Single«, sagte ich entschuldigend und schob noch eine Gabel mit Spaghetti in meinen Mund.

»Das ist der Preis, den man zahlt. Man vergisst, wie es ist, wenn man Gesellschaft hat.«

»Wie lange bist du schon allein?«

»Acht Monate.«

»Das geht.«

»Ja, aber ich will den Zustand gerne beenden.«

Ich schob noch eine Gabel in den Mund, um nicht antworten zu müssen.

---ENDE DER LESEPROBE---