Midnight Secret - Johanna Marthens - E-Book

Midnight Secret E-Book

Johanna Marthens

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Beschreibung

»Er ist reich, unverschämt attraktiv und sexy. Sein Lächeln bringt mein Herz zum Schmelzen. Und für eine Woche gehöre ich ihm. Er hat mich gekauft, damit ich ihm für seine Vergnügungen zur Verfügung stehe. Tag und Nacht. Je mehr Zeit ich mit ihm verbringe, desto mehr verliebe ich mich in ihn. Ich weiß, dass es ein Fehler ist, denn nach einer Woche sagt er mir Lebewohl und lässt mich mit einem gebrochenen Herzen zurück. Ich kann aber nichts gegen meine Gefühle tun. Doch er verbirgt etwas vor mir. Eine Reihe von Geheimnissen und Lügen, die mich und meine Schwester ins Unglück stürzen können. Ich habe nur wenige Tage Zeit, um das Netz zu entwirren, das sich immer enger um mich zieht. Und um herauszufinden, ob ich ihm vertrauen kann. Die Uhr tickt.« Sawyer Hemingway gehört zu den attraktivsten und interessantesten Junggesellen in Jersey. Und als er dem neuen Escort-Girl Coco das erste Mal begegnet, will er sie unbedingt besitzen. Selbst wenn es nur für eine Woche als Girlfriend auf Zeit ist. Doch Coco stellt eine echte Herausforderung für ihn dar, und Sawyer merkt bald, dass er sich mit ihr eine Menge Ärger ins Haus holt. Er läuft nicht nur Gefahr, dass sie all seine Geheimnisse aufdeckt, sondern sie bringt auch die Mauer um sein Herz zum Einsturz. Und je stärker sie ihn in ihren Bann zieht, desto tiefer gerät er in eine Verschwörung hinein, die ihn und seine Familie bedroht. Doch er kann sich seinen Gefühlen nicht entziehen, und so stürzt Coco ihn in das Abenteuer seines Lebens, das ihn alles kosten kann und vor die schwierigste Entscheidung seines Lebens stellt ... »Rasant, spannend und sexy – ein mitreißendes Lesevergnügen mit überraschenden Wendungen, einem Mann zum Verlieben, einer Prise Erotik und einem beruhigenden Happy End.« Romantic Thriller Midnight Secret ist ein abgeschlossener Roman ohne Cliffhanger.

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MIDNIGHT SECRET

 

 

 

Johanna Marthens

 

 

 

Die oberste Regel eines Escorts lautet: »Du weißt nichts, du hörst nichts, du siehst nichts. Und falls du doch mal etwas Ungewöhnliches hören oder sehen solltest, hast du ein extrem schlechtes Gedächtnis.«

© 2016, 2023 Johanna Marthens

[email protected]

 

Facebook.com/Johanna.Marthens

 

Lektorat: Tilde Zug

Buchcover: © Dangerous Kisses

 

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren, Vervielfältigen und Weitergabe sind nur zu privaten Zwecken erlaubt. Der Weiterverkauf des eBooks ist ausdrücklich untersagt. Abdruck des Textes, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin.

 

Dieses Werk ist reine Fiktion. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie Schauplätzen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Alle darin beschriebenen Vorkommnisse sind frei erfunden.

KAPITEL 1

 

 

 

Der Tag ist perfekt für eine Hochzeit. Sonnig hell und voller Vorfreude auf einen warmen Sommer. Doch ich fühle mich wie eine bleigraue Gewitterwolke, deren Schatten trübe über diesem Tag hängt.

Ich stehe an einem Pfeiler neben der Tür und versuche, mit dem Stein der kleinen Kirche zu verschmelzen. Am liebsten wäre ich nicht hier, aber ich will das Versprechen halten, das ich gegeben habe.

Die Organisatoren haben die Kirche mit Rosen schmücken lassen. An jeder Stuhlreihe befinden sich rosa Gebinde, gleichmäßig wie Perlen an einer Kette. Kerzen in derselben Farbe stecken in der Mitte der Sträuße und wirken wie mahnende Zeigefinger. Oder wie Mittelfinger.

Am Altar stehen zwei riesige Vasen mit ebenfalls rosaroten Rosen, nur mehrere Nummern größer. Ein Kind hätte in den Vasen locker ertrinken können. Aber zum Glück ist gerade keines in der Nähe. Die Kleinen sitzen alle brav in den Sitzreihen und tuscheln mit ihren Müttern oder kritzeln ihre mitgebrachten Malbücher voll.

»Ich frage dich, Suzanne Elizabeth Walters, willst du den hier anwesenden Devon Michael Fitzpatrick zu deinem angetrauten Ehemann nehmen? Dann antworte mit einem lauten und deutlichen ›Ja, ich will‹.« Der Pastor wirkt bitterernst, als wäre die Hochzeit eine Beerdigung. Sein Kragen drückt unvorteilhaft in seinen Hals, sein Gesicht ist schon rot vor Stress. Die Sonnenstrahlen, die durch die bunten Fenster fallen, scheinen genau auf ihn, so dass sogar die winzigen Schnitte von der Rasierklinge auf seiner Wange zu sehen sind.

»Ja, ich will«, sagt die Braut eine Spur zu leise. Jemand in der hintersten Reihe murmelt irritiert, weil er ihre Erwiderung nicht verstanden hat, und fragt neugierig seinen Nachbarn, was sie wohl gesagt haben könnte. Der Nachbar gibt ihm in einer ziemlich guten Imitation die Antwort der Braut wieder.

Ich kenne den rundlichen Kerl. Er besitzt einen Fischereibetrieb in Portugal und eine Villa in St. Helier, er hat drei Töchter und eine hysterische Frau. Die Gattin sitzt in einem dunkelblauen Armani-Kostüm neben ihm und tupft mit einem Taschentuch ihre Augenwinkel trocken. Sie sehen mich beide nicht. Offenbar ist mein Versteck gut.

Seit meinem eigenen Desaster gehören Hochzeiten nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Diese Gelöbnisse, sich zu lieben und zu ehren bis ans Ende aller Tage, empfinde ich genauso verlogen wie die Glückwünsche der Verwandten, die nur zum Essen und Trinken kommen und die man nach der Feier nie wiedersieht. So ist es jedenfalls bei meiner Hochzeit gewesen.

Der Pastor fragt den Bräutigam, ob er die Braut für immer lieben und ehren wolle. Der Bräutigam verspricht ewige Treue und Liebe, und seine kräftige dunkle Stimme erreicht sogar den Kirchenbesucher in der hintersten Reihe. Dann darf er die Braut küssen.

Die Hochzeitsgesellschaft singt gemeinsam ein Lied, anschließend schreitet das Paar durch den Mittelgang auf den Ausgang zu.

Die Braut sieht strahlend schön aus. Gerührt und glücklich. Ihr Ehemann lächelt mit vor Aufregung glänzendem Gesicht. Seine Hand hält die der Braut fest umklammert, als würde er sie niemals loslassen wollen. Vielleicht ist er anders als mein Ex. Vielleicht hält diese Ehe wirklich bis zum Tod. Ich wünsche der hübschen Braut jedenfalls, dass sie mit ihrem Mann mehr Glück hat als ich mit meinem.

Hinter dem Paar laufen die Gäste aus der Kirche. Ich erkenne nicht nur den Fischereibesitzer und seine hysterische Frau, sondern noch ein paar weitere Besucher. Sie tun jedoch so, als würden sie mich nicht sehen.

Und direkt hinter der Braut ist er.

Ich löse mich von der Wand und lasse mich neben ihm aus der Kirche treiben.

»Mr Walters?«, frage ich, als wir auf der Schwelle der Tür stehen und durch die Enge dieses Nadelöhrs näher aneinandergedrückt werden. Er ist um die fünfzig, hat das gleiche lockige Haar der Braut und ihre blauen Augen. Seine leuchten vielleicht noch eine Spur intensiver.

»Ja? Wer fragt?« Er wirkt vergnügt. Ein glücklicher Vater, der das Gefühl hat, seine Tochter in die richtigen Hände gegeben zu haben. »Gehören Sie zur Seite der Braut oder des Bräutigams?«

»Weder noch. Ich will nur zu Ihnen.«

Erstaunt zieht er die Augenbrauen hoch, doch dann verfinstert sich sein Gesicht. »Wenn es etwas Dienstliches ist, muss es bis Montag warten. Ich befinde mich gerade auf der Hochzeit meiner Tochter.«

Wir treten ins Freie. Fotoapparate blitzen auf. Ich versuche, mein Gesicht zu verstecken, damit ich auf den Fotos nicht zu erkennen bin.

»Ich weiß nicht, ob es dienstlich ist«, sage ich. »Ich weiß auch nicht, ob es bis Montag warten kann.«

Missmutig runzelt er die Stirn. »Was soll denn das heißen?«

»Können wir irgendwo in Ruhe miteinander sprechen? Es war schon schwierig genug, Sie ausfindig zu machen. Glauben Sie mir, ich habe auch keine Lust darauf, Sie bei einer Familienfeier zu stören, wenn es nicht wichtig wäre.«

Er mustert mich kritisch, dann nickt er unwillig. »Kommen Sie mit.«

Er zieht mich zur Seite und geht mit mir unter einen Baum. Kleine Äpfel, nur so groß wie Kirschen, hängen an den Zweigen. Die Blätter des Baumes sind von irgendeiner Krankheit befallen, dicke Warzen wölben sich auf der grünen Oberfläche.

»Also, was ist?«, fragt Walters und wirft einen sehnsüchtigen Blick zum Brautpaar, das sich von den Gästen und weiteren Freunden, die vor der Kirche auf sie gewartet haben, feiern lässt.

»Ich muss Ihnen etwas melden«, sage ich leise. Allerdings kann uns sowieso niemand hören. Die anderen sind zu weit entfernt und lassen gerade den Kirchhof von ihrem Lachen widerhallen.

»Wie bitte?«, fragt er ratlos, als hätte er mich nicht verstanden.

»Ein Mann wurde getötet.«

»Das sollten Sie der Polizei melden, nicht mir.«

»Aber er hat gesagt, dass ich es Ihnen sagen soll.«

»Wer?«

»Der unbekannte Mann.«

Nun sieht er mich an, als wäre ich nicht ganz dicht.

»Er hat es mir einfach so gesagt, ohne sich mir vorzustellen«, füge ich schnell hinzu.

»Und wer wurde getötet?«

»Ich habe keine Ahnung. Ich bin mir auch nicht ganz sicher, was es wirklich war, was er mir mitgeteilt hat, da ich nur die Hälfte von dem verstanden habe, was er gesagt hat.«

Er mustert mich, als hätte ich ihm das Rätsel der Sphinx gestellt und er nicht den blassesten Schimmer, wie die Antwort lautet.

»Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen helfen soll«, sagt er schulterzuckend und will sich abwenden.

»Vor ein paar Tagen hat er mir gesagt, wenn eine Leiche auftaucht, die keiner identifizieren kann, soll ich zu Ihnen gehen. Und gestern ist nun der Körper ohne Kopf aus dem Meer gefischt worden. Sie haben vielleicht davon gehört.«

Erschrocken dreht er sich wieder zu mir. »Ich habe davon gehört? Jeder hat davon erfahren, auch wenn es keine wirklich verlässlichen Infos darüber gibt. Ich habe mich schon bei der Polizei erkundigt, aber die rückt nur mit halben Wahrheiten heraus. Keiner weiß, wer der Tote ist. Seine Hände sind zerstört, so dass man ihn nicht anhand der Fingerabdrücke identifizieren kann. Und der Kopf fehlt. Bisher geht man von einem Bootsunfall aus. Sie wissen also, wer er ist?«

»Nein, das weiß ich nicht. Ich vermute nur, dass der Mann es weiß, der mir gesagt hat, ich solle zu Ihnen gehen.«

»Wer ist er?«

»Das kann ich Ihnen eben leider nicht sagen. Er hat mir keinen Namen genannt. Zumindest habe ich ihn nicht verstanden, es war sehr laut.« Ich versuche, mein Unbehagen zu verstecken. Walters muss nicht wissen, unter welchen Umständen ich die Botschaft des Fremden erhalten habe.

»Wie sieht der Mann denn aus? Vielleicht kenne ich ihn.«

Ich lächele, um davon abzulenken, dass ich ihm diese Frage nicht beantworten kann. Ich habe ihn nicht gesehen. Nur seine Stimme gehört.

»Er meinte, ich solle zu Ihnen gehen. Mehr nicht.«

Wieder mustert er mich mit dem kritischen Blick, gemischt mit Ratlosigkeit, als würde er in meinem Hirn versuchen, dem Rätsel auf den Grund zu gehen.

»Und warum gerade ich?«

»Vielleicht weil Sie überblicken, was Sie mit dieser Information anfangen können. Ich weiß es nicht.«

»Warum sagen Sie mir nicht einfach, wann und wo und unter welchen Umständen Sie ihn getroffen haben? Möglicherweise ergibt sich daraus ein Anhaltspunkt.«

Ich beiße mir auf die Lippen. Das kann ich ihm nicht sagen, denn dann würde er mich sofort in die falsche Schublade einsortieren.

»Ich muss los, Mr Walters. Ich habe Ihnen mitgeteilt, was ich Ihnen sagen soll. Meine Pflicht ist erfüllt.« Ich wende mich ab, doch er hält mich fest.

»Wer sind Sie? Falls ich etwas in Erfahrung bringe, wie kann ich Sie kontaktieren?«

Ich reiße mich los. »Ich möchte nicht mit der Sache in Verbindung gebracht werden. Ich habe mit dem Toten nichts zu tun.«

Sehnsüchtig starre ich zu der ausgelassenen Hochzeitsgesellschaft. Auf einmal lechze ich danach, ebenfalls verheiratet zu sein, glücklich mit einem Mann und der Hoffnung auf eine kleine Familie, die zu mir hält bis zum Ende meiner Tage. Ich wünsche mir, ich wäre eine ganz normale Frau mit einem Haushalt, den sie zu führen hat. Jemand mit einem Ziel im Leben und einem ordentlichen Job.

»Warum hat der Mann ausgerechnet Sie ausgesucht, um Ihnen das zu sagen?«, fragt Walters misstrauisch.

»Glauben Sie mir, Mr Walters, das habe ich mich auch schon gefragt.«

»Wenn Sie mir nicht sagen, wer Ihnen diese Nachricht gegeben hat, kann ich in der Sache nichts tun. Wenigstens einen kleinen Hinweis benötige ich, um recherchieren zu können.«

Ich könnte einfach gehen. Ich könnte Leonard Walters den Rücken kehren und mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Mein Leben würde einfach weiter auf seiner schiefen Bahn irgendwohin schlittern, ohne dass ich in eine Angelegenheit hineingezogen werde, die mich und die Menschen, die ich liebe, vermutlich Kopf und Kragen kosten wird.

Aber ich kann mich nicht einfach abwenden. Irgendetwas in mir scheint auf Ärger aus zu sein und lässt mich verweilen.

»Ich konnte ihn nicht sehen, weil es in der Nacht geschah«, lüge ich. »Es war so stockfinster, dass nicht zu erkennen war, wer da mit mir sprach. Ich traf ihn auf der Düne, wo weit und breit kein Licht leuchtet. Er sagte, wenn demnächst eine Leiche auftaucht und nicht zu identifizieren ist, soll ich zu Ihnen gehen. Ich schwöre, ich habe nichts mit seinem Tod zu tun.«

Er glaubt mir nicht. Ich kann es an seinem Blick sehen. »Sie haben doch vorhin gesagt, es sei so laut gewesen! Auf der Düne ist es nicht laut.«

Verdammt! »Doch! Der Wind heulte und die Wellen klatschten ans Ufer. Es war höllisch laut.«

Zweifelnd schüttelt er den Kopf. »Ich glaube Ihnen kein Wort.«

»Denken Sie, ich komme aus lauter Spaß und Langeweile zu Ihnen?« Langsam habe ich genug. Ich habe meine Pflicht getan und mein Versprechen gehalten. Alles andere liegt nicht mehr in meiner Hand. Ich wende mich ab.

»Wenn Sie einen Hinweis auf den Täter haben, müssen Sie zur Polizei gehen!«, ruft er mir hinterher.

Ich habe keinen Hinweis auf den Täter. Ich habe lediglich eine Stimme im Ohr.

»Du musst so tun, als würde ich dir einen Witz erzählen«, hat der fremde Mann beim Partylärm geflüstert.

Gehorsam habe ich gekichert. Die Binde um meine Augen verhinderte, dass ich ihn sehen konnte. Ich habe niemanden auf der Party sehen können. »Geh zu Leonard Walters«, wisperte er. »Wenn demnächst auf der Insel eine Leiche auftaucht, die niemand identifizieren kann, dann geh zu ihm und rede mit ihm.« Er hat noch etwas gesagt, aber das konnte ich nicht verstehen, weil im Hintergrund jemand so laut grölte, dass seine Worte untergingen. Und es hat eine Glocke geläutet. Es war genau Mitternacht. Ich habe nicht gewagt, den Mann zu bitten, alles zu wiederholen, was er geflüstert hat. »Lach!«, hat er schließlich gesagt, und ich habe gelacht. Dann hat er mich losgelassen.

»Ich habe mit dem Toten nichts zu tun«, rufe ich Leonard Walters über meine Schulter zu, während ich mich von ihm entferne. Ich kann seine Blicke in meinem Rücken spüren, während ich durch die ausgelassen lachenden Gäste spaziere und zu meinem Fahrrad gehe, das an der Mauer lehnt.

Als ich mich noch einmal zur Hochzeitsgesellschaft umdrehe, sammeln sich die Besucher am Parkplatz. Das Brautpaar steigt in eine rosa geschmückte Kutsche. Leonard Walters lehnt an der brüchigen Mauer, hält ein Handy in der Hand und telefoniert.

Bei meiner Hochzeit waren über hundert Gäste geladen. Meine Großeltern haben darauf bestanden, jeden noch so entfernten Verwandten mit einer Einladung zu beglücken, sogar Großtante Siobhan aus Irland. Die Hochzeit hat mich und meine Großeltern ein Vermögen gekostet, das wir nicht besitzen. Und wofür? Für ein gebrochenes Herz und einen Haufen Papierkram. Mein Mann hat mich nach einem Jahr mit einer anderen Frau betrogen und ist auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Er war ein amerikanischer Unternehmer, der in Jersey ein Offshore-Unternehmen gegründet hat, um Steuern zu sparen, nur um sich kurz darauf in die Finanzbeamtin zu verlieben. Immerhin hat er recht zügig die Scheidung bezahlt. Aber seitdem versuche ich, um Hochzeiten einen großen Bogen zu machen.

Die Kirche blitzt weiß und unschuldig im Sonnenschein, zwischendurch fliegen die Schatten von dicken, blaugrauen Wolken wie Geister darüber hinweg. Früher ist an der Stelle ein Sumpf gewesen, in dem eine Familie erstickt ist. Daraufhin wurde der Sumpf trockengelegt und auf dem Gelände eine Kirche errichtet. Es heißt, jedes Jahr sinkt sie einen Zentimeter tiefer in den fauligen Grund ein, der unter ihr lauert.

Ich habe plötzlich das Gefühl, als würde, wie die düsteren Wolken, ein Unheil über mir lauern. Es ist neblig und farblos, besitzt weder einen bestimmten Geruch noch irgendeinen Klang. Es ist nur ein bedrückendes Gefühl der Angst und Bedrohung, das feine Schweißperlen auf meine Haut treibt.

Ich versuche, die Empfindung abzuschütteln, steige aufs Fahrrad und radele davon, in der Hoffnung, das Unangenehme bei der langsam verfallenden Kirche zurückzulassen. Aber das Gefühl folgt mir, gemeinsam mit den grauen Wolken, die sich über mir zu vermehren scheinen.

KAPITEL 2

 

 

 

Es kostet mich einige Überwindung, in dem beständigen Nieselregen durch die Dünen zu rennen. Die sonnigen Abschnitte vom Mittag sind diesem unangenehmen, feinen Regen gewichen, der sich mit dem Schweiß auf meiner Haut vermischt. Der Himmel hängt schwer und grau über dem Meer. Nebelschwaden kriechen vom Wasser kommend die Dünen hinauf, als wollten sie den Blick freimachen für die ungemütlich brausenden Wellen. In den Gischtkronen tauchen Möwen nach Fischen, die sich im trüben Wasser verirrt haben und Richtung Ufer schwimmen.

Der Pfad, auf dem ich regelmäßig jogge, windet sich die Düne hinauf, die von niedrigen Sträuchern bewachsen ist. Bei Sonnenschein tummeln sich hier Eidechsen und gelegentlich auch Schlangen, und Schmetterlinge konkurrieren mit den Bienen um die besten Blüten der wilden Blumen. Aber bei dem Wetter heute scheinen die Büsche und das Gras fast leblos und leer zu sein.

Am Ende einer Landzunge stehen die Reste eines alten Leuchtturms. Darunter gibt es einen Bunker, der sich metertief durch die Erde zieht.

Als ich die alten Mauerreste erreiche, gehe ich schwer atmend und schwitzend in das Gemäuer. Jersey ist voller solcher Bunker. Die Kanalinseln dienten im zweiten Weltkrieg als Verteidigungsstellung der Nazis und sind mit Bunkern und Tunneln durchzogen. Diese Ruine liegt vergessen an der Landspitze, doch in St. Peter’s Valley gibt es ein Museum mit historischen Nazitunneln, die regelmäßig von den Touristen heimgesucht werden.

Ich krieche an eine trockene Stelle hinter einem Pfeiler, wo eine riesige Fensteröffnung einen atemberaubenden Ausblick auf den Kanal bietet. Möwen tanzen mit dem stürmischen Wind am Fenster vorüber. Am Horizont ist die französische Küste zu sehen.

Als Kind bin ich mit meiner Schwester Fran oft hierhergekommen. Es ist unser Versteck gewesen, wo wir uns versprachen, niemals auseinander zu gehen und gegenseitig auf uns aufzupassen. Sie lebt jetzt in Guernsey, ich bin in Jersey geblieben. Wir treffen uns nicht mehr täglich, wie wir uns früher geschworen haben, sondern einmal im Monat. Der Alltag erlaubt uns nicht mehr Zeit füreinander. Fran hat eine gute Stelle als Sekretärin bei einem Arzt gefunden, ist aber vor zwei Wochen gefeuert worden, weil sie in ihrer Arbeitszeit zu viel im Internet gesurft hat. So lautete jedenfalls die offizielle Version. Von Fran weiß ich, dass sie sich gern in irgendwelchen Internetforen herumtreibt, auch in zwielichtigen, wo Hacker ihre Tricks austauschen. Vermutlich hat das ihrem Arbeitgeber nicht sonderlich gefallen.

Wenn ich nicht mehr weiterweiß, komme ich an diese Stelle. Hier habe ich schon Stunden verbracht, um herauszufinden, was ich mit meinem Leben anstellen soll. Irgendwo in meinem Kopf schwirrt der Traum nach einem eigenen Geschäft als Schneiderin herum, aber dieser Wunsch ist so unerreichbar wie ein Flug in eine andere Galaxie.

Ich berühre den Umschlag, den ich in meine Hose gesteckt habe. Er ist trocken geblieben, trotz des Regens. Hoffentlich werden in nächster Zeit noch mehr folgen.

Ich lehne meinen Kopf an den feuchtkalten Stein und träume von den Dingen, die ich mir vielleicht bald leisten kann: eine schöne Wohnung, edle Stoffe für traumhafte Kleider, schicke High Heels, ein kleines Auto und die kostbare Vase, die in Mr Perns Laden steht und die mir so gut gefällt. Sie ist sündhaft teuer, doch ich würde sie gern kaufen, weil ich weiß, dass Mom sie lieben würde, wenn sie mich mal besucht. Vielleicht werde ich morgen zu Mr Perns gehen und sie anzahlen.

Unwillkürlich muss ich lächeln. Der neue Job ist sehr angenehm, viel besser als erwartet. Und mein erster Einsatz als Escort hat sogar richtig Spaß gemacht. Und wenn dabei so viel Geld herausspringt, dass ich mir und meinen Liebsten ein paar Wünsche erfüllen kann, umso besser. Da sind ein paar merkwürdige geflüsterte Worte von einem fremden Mann so gut wie nebensächlich.

Eine Hummel fliegt am Ausblick vorbei und kommt nur einen Augenblick später zurück, um sich auf dem trockenen Stein niederzulassen. Sie krabbelt ein wenig hin und her, dann hält sie still, als müsste sie sich von ihrem anstrengenden Flug im Regen ausruhen. Gemeinsam warten wir, dass der Niederschlag endlich nachlässt.

Die Hummel ist die Erste, die bemerkt, dass der Himmel aufklart. Sie entfaltet prüfend ihre Flügel, dann hebt sie brummend ab und fliegt davon. Als ich mich aufrichte, blitzt hinter den Wolken die Sonne hervor.

Ich krieche nach draußen und setze mich mit einem leichten Trab wieder in Bewegung. Ich verlasse die Landzunge und laufe um die Düne, bis ich einen Bauernhof zwischen den Büschen liegen sehe. Darauf laufe ich zu und renne durch das verfallene Tor. Der Hof ist schlammig, ein uralter, verrosteter Mercedes steht zwischen Hühnerdreck und Strohresten. Die leeren Fenster am Stallgebäude wirken wie blinde Augen, der Zeiger an der Sonnenuhr ist abgebrochen. Hier sieht es aus, als wäre die Zeit stehengeblieben. Mehrere Hühner gackern empört, als ich über den Hof auf ein Wohnhaus zugehe, das mit der Scheune und den Stallungen ein U bildet.

Die Tür ist nur angelehnt.

»Grappy? Grams?«, rufe ich in die Stille des Hauses. Obwohl, so still ist es gar nicht. In der Küche läuft leise das Radio und überträgt ein Oboenkonzert von Mozart. Doch dort befindet sich kein Mensch.

»Grams? Grappy? Wo seid ihr?«

Ich will das Wohnhaus wieder verlassen und in den Nachbargebäuden nachsehen, als ich die Stimme meines Großvaters aus dem Keller höre.

»Coco, bist du das?«

»Ja, ich komme runter.«

Ich gehe durch die enge Kellertür in einen mit mehreren nackten Glühbirnen beleuchteten Keller, wo mein Großvater am Regal mit den Konserven steht. Als er meine Schritte auf der Treppe vernimmt, dreht er sich lächelnd um. Sein Gesicht ist noch faltiger geworden. Irgendwie habe ich jedes Mal, wenn ich ihn und meine Großmutter besuche, das Gefühl, dass er viel älter wirkt als beim letzten Besuch. Dass er in meiner Abwesenheit immer weniger wird.

»Hallo Grappy«, begrüße ich ihn mit einem Kuss auf die verwitterte Wange. »Bringst du die Ernte ein?«

»Wir haben gestern den ganzen Tag Marmelade gemacht.« Er deutet auf zwei Reihen von Gläsern, die frisch beschriftet und mit köstlich rotem Inhalt im Regal stehen.

»Hmm, Erdbeermarmelade, mein Lieblingsgericht.«

Er lacht. »Das habe ich mir gedacht.« Seine schwieligen Hände legen sich liebevoll auf meinen Arm. »Komm hoch, ich mach dir einen Tee.«

Ächzend steigt er die Stufen nach oben. Ich folge ihm.

»Wie geht es dir? Meldet sich das Rheuma wieder?«

»Das will einfach nicht weichen.« Wir gehen in die Küche, wo er Wasser aufsetzt. »Dagegen kann man nichts machen.«

»Und wie geht es Grams?«

»Der Doktor hat ihr etwas Neues gegen den Husten gegeben, aber es hilft nicht richtig.«

»Wo ist sie?«

»Bei den Doyles nebenan. Sie hat ihnen neulich einen Schrank gegeben, den sie restaurieren wollten. Nun schaut sie sich das Ergebnis an.«

»Ist sie etwa gelaufen?«

»Nein, mit dem Fahrrad gefahren.«

»Ich habe etwas für euch.«

Ich hole den Umschlag aus meiner Hose und lege ihn auf den Tisch. Er ist immer noch trocken.

»Was ist das?«

»Geld, Grappy. Damit ihr endlich aus diesem alten Hof verschwinden und euch in der Stadt eine Wohnung oder ein Haus kaufen könnt, das euch gefällt. Wo ihr nicht den ganzen Tag arbeiten müsst. Wo der Arzt nebenan seine Praxis hat, wo du dein Rheuma behandeln lassen kannst und Grams ihren Husten loswird. Es ist zu einsam für zwei alte Leutchen wie euch hier am hintersten Winkel der Insel. Das Haus ist zu verfallen und zu feucht. Ich möchte euch noch eine Weile haben, deshalb will ich, dass ihr endlich den Hof verkauft und umzieht.«

Die Diskussion haben wir bereits geführt. Meine Großeltern leben ausgerechnet auf dem verlassensten Flecken Jerseys. Viel zu einsam für ihr Alter. Sie sind beide über siebzig und nicht gesund. Die nächsten Nachbarn leben eine Meile entfernt. Und bei Notfällen müssen sie immer eine viel zu lange Strecke in die Stadt fahren. Der Hof hat in den 1930er Jahren seine Blütezeit erlebt, als die Eltern meiner Großeltern ihn gekauft haben. Seit zwanzig Jahren verfällt er jedoch immer mehr. Er macht nur noch Arbeit, aber bringt kaum etwas ein. Die beiden alten Leutchen leben von ihrer kargen Rente, von Eiern und der Marmelade, die sie in Gläsern abfüllen.

Grappy hat Tränen in den Augen. »Du verdienst doch selbst nicht genug«, sagt er leise und wagt es nicht, das Geld anzunehmen. »Und was ist mit deinem Traum von der eigenen Schneiderwerkstatt?«

»Er ist nur ein Traum, mehr nicht. Ich bin nicht geeignet für solche großen Vorhaben, das würde ich alleine niemals hinbekommen. Kannst du dir vorstellen, wie ich als Geschäftsfrau wäre? Eine Katastrophe!« Ich lächele ironisch bei dieser Vorstellung. Beim Schulabschluss bin ich dreimal durch die Matheprüfung gefallen, und die Ausbildung als Schneiderin habe ich auch nur bestanden, weil Mrs Holston mich unbedingt braucht und deshalb beim Ausfüllen meiner Unterlagen geschummelt hat. Ich bin ein hoffnungsloser Fall, was Prüfungen betrifft, insofern würde ich das mit der eigenen Schneiderei niemals hinbekommen. »Aber ich habe einen neuen Job angefangen, der mir mehr Kohle einbringt. Ihr könnt das Geld also ruhig nehmen. Es wird noch mehr folgen.« Als Escort habe ich in einer Nacht knapp zweitausend Pfund verdient, das ist mehr als ich sonst in einem Monat erhalte. Aber die genaue Summe sage ich ihm lieber nicht, das würde ihn misstrauisch machen.

»Was ist das für ein Job?«

Das kann ich ihm nicht erzählen. Er würde ihn mir bestimmt sofort verbieten.

»Etwas, was mir Tiffany versorgt hat«, erwidere ich vage. »Ich schneidere ihr immer schicke Kleider, deshalb hat sie mir den Job vermittelt. Also nimm das Geld ruhig an.« Tiffany ist mit mir zur Schule gegangen. Anfänglich haben wir uns nicht sonderlich gut verstanden, weil wir zu verschieden waren, aber als ich ihr im Laufe meiner Ausbildung ein schönes Kleid genäht habe, bin ich in ihrem Ansehen plötzlich gestiegen. Seitdem kommt sie regelmäßig zu mir und bittet um Nachschub. An ihr kann ich mein Talent austoben, sie trägt gern ausgefallene Sachen. Meine Chefin Mrs Holston sieht es gar nicht gern, wenn ich nebenbei arbeite. Sie neigt von Natur aus zu einer tyrannischen Persönlichkeit, und als sie mitbekam, dass ich ihren Kunden Sonderwünsche erfülle, ist sie regelrecht ausgetickt. Kurz darauf hat Tiffany vor der Schneiderei auf mich gewartet und gefragt, ob ich Lust auf einen anderen Job hätte. Ich habe zuerst abgelehnt. Aber nach ein paar Wochen Bedenkzeit wollte ich dann doch Näheres erfahren. Ich brauchte noch zwei weitere Monate, um darüber nachzudenken, bis ich endlich einwilligte, einen Einsatz als Escort zu probieren. Ich musste aktuelle Fotos von mir machen lassen, in schicker Abendgarderobe und im Badeanzug. Dann wartete ich geduldig, ob sich jemand bei mir meldet, bis vor ein paar Tagen der erste Auftrag kam.

Grappy lächelt dankbar, schüttelt jedoch den Kopf. »Das können wir trotzdem nicht annehmen, Coco. Du musst uns kein Geld geben.«

»Dann kauft euch wenigstens ein neues Auto. Mit dem alten Ding da draußen kommt ihr doch keinen Meter mehr. Gibt es das Benzin überhaupt noch, das der braucht?«

Grappy lacht laut auf. »O ja, das gibt es noch. Aber ein neues Auto wäre schon schön.« Seine Augen beginnen zu leuchten. »Eines mit einer Sitzheizung und einem funktionierenden Radio.«

»Also nimm das Geld, ich kann es nicht gebrauchen. Sonst schlägt die Steuer zu.« Ich schiebe ihm den Umschlag hin, direkt unter seine mit Altersflecken besprenkelte Hand.

Er zögert einen Moment, doch dann nickt er. »Danke, Coco.«

»Aber sag es lieber nicht Grams. Sie würde es nicht haben wollen und könnte es auch nicht genießen, wenn sie wüsste, dass es von mir stammt.«

Er nickt verlegen und legt den Umschlag in eine Schublade im Küchenschrank, dort, wo sie auch Rechnungen und Einkaufsgutscheine aufbewahren.

Sie brauchen das Geld dringender als ich. Ich besitze eine kleine Wohnung am Hafen von St.Helier, die für mich allein völlig ausreichend ist. Und ich bin ihnen so viel schuldig. Sie haben mich aufgezogen, als meine Mutter nach dem Tod meines Vaters für eine Weile nicht mehr in der Lage war, für mich und meine Schwester zu sorgen. Und als ich nach der Katastrophe und dem Ende meiner Ehe am Boden lag, haben sie mich aufgefangen. Ohne ihre Liebe und Fürsorge hätte ich es vielleicht nicht geschafft, auf die Füße zu kommen.

Ich höre meine Großmutter schon von weitem. Ihr Husten hallt durch den Hof und scheucht die Hühner auf. Danach klappert die Haustür.

»Es hat aufgehört zu regnen. Wir können die Johannisbeeren ernten«, sagt sie, während sie in die Küche tritt. »Coco!« Als sie mich entdeckt, strahlt plötzlich ein breites Lächeln in ihrem Gesicht. »Schön, dass du mal wieder da bist!«

Sie hat sich weniger verändert als ihr Mann. Das Alter ist wenigstens rein äußerlich gnädiger zu ihr als zu meinem Großvater. Ihr Haar ist noch immer rötlichbraun und nur von wenigen weißen Haaren durchsetzt. Ihre Haut haben Wind und Wetter zwar gegerbt, aber wenn sie lacht, formen sich die Lachfältchen an den Augen und glätten den Rest des Gesichtes.

»Grams«, sage ich lächelnd und umarme sie zur Begrüßung.

»Wann bist du gekommen?«

»Vor ein paar Minuten.«

»Hat er dir Tee gemacht?«

»Ja, hat er.«

Grappy springt so schnell auf, wie es seine alten Glieder vermögen, um die Teekanne, die er auf der Anrichte vergessen hat, auf den Tisch zu stellen. Er gießt mir eine Tasse ein, dann sich und Grams ebenfalls.

»Wie geht es deiner Schwester?«

»Ich habe Fran seit einer Woche nicht mehr gesprochen«, erwidere ich. »Sie sucht sicherlich einen neuen Job.«

»Ich war so froh, dass sie in dem Ärztehaus untergekommen ist. Das war eine so gute Anstellung und es ist eine Schande, dass sie entlassen wurde. Aber wie geht es dir? Bist du wenigstens noch bei dieser missmutigen Mrs Holston?«

»Sie ist nicht so schlimm, wie man denkt«, schwindele ich. »Gestern hat sie mich sogar gelobt, weil ich den Saum so geschickt genäht habe, dass sie Stoff einsparen konnte.«

Skeptisch zieht sie die Augenbrauen nach oben. »Darüber freust du dich? Über ein mickriges Lob? Du hast etwas Besseres verdient. Ich würde dir die eigene Werkstatt so gönnen. Versuche es doch mal mit einem Kredit, dann kannst du deinen eigenen Betrieb eröffnen.«

»Dann wollen sie mich nur gründlich unter die Lupe nehmen und auf Herz und Nieren testen. Aber du weißt ja, in Prüfungssituationen versage ich kläglich.«

»Das Blackout bei der Prüfung ist vor vielen Jahren passiert. Das muss heute nicht mehr so sein. Du hast dich verändert, bist erwachsen geworden.« Stolz schwingt in ihrer Stimme mit, bevor sie von einem Husten unterbrochen wird. Er klingt hart und schmerzhaft.

Ich hätte gern etwas erwidert, doch in dem Moment klingelt mein Handy. Ich erkenne die Nummer. Das Gespräch dürfen meine Großeltern nicht mitbekommen. Ich entschuldige mich und gehe hinaus in den schlammigen Hof.

»Coco, wie sieht dein Zeitplan in den nächsten Wochen aus?« Meine neue Chefin klingt begeistert. Hat sie etwa einen neuen lukrativen Job für mich?

»Ich muss tagsüber arbeiten, aber abends wäre ich frei.«

»Nein, du musst den anderen Job kündigen. Ich brauche dich eine Woche lang, jeden Tag von morgens bis in die Nacht.« Unüberhörbar bricht sich die Begeisterung in ihrer Stimme immer mehr Bahn.

»Eine Woche lang? Was ist das für ein Job?«

»Ein Kunde will dich für diesen Zeitraum ganz allein für sich haben. Er lässt hunderttausend Pfund dafür springen!«

Mein Herz beginnt zu rasen. Ich bekomme dreißig Prozent von dem, was die Kunden zahlen. Ich würde also dreißigtausend Pfund erhalten. Das ist unglaublich viel Geld! Davon kann ich meinen Großeltern so viel abgeben, dass es für ein neues Auto reicht. Und für mich springt auch eins heraus!

»Wer ist es?«

»Sawyer Hemingway. Er ist der Bruder von Nolan Hemingway, dem Schnapsbrenner, der in die Politik einsteigen will. Das mit dem Schnapsbrenner darfst du ihm aber nicht sagen, darauf reagiert er allergisch.«

»Ich habe von Nolan gehört, aber von dem Bruder noch nicht.«

»Er ist ein Playboy, wie die reichen Männer so sind. Heute eine hübsche Frau, morgen eine andere, aber bloß keine feste Freundin, bei der man sich anstrengen müsste. Er will dich eine Woche lang haben. Wie gesagt, nichts Festes, du wärst nur jemand zum Zeigen und Vorführen.«

»Was muss ich tun?«

»Du bist seine Gefährtin bei gesellschaftlichen Anlässen und Partys und musst vor allem hübsch aussehen, damit er mit dir angeben kann.«

»Ich meine ... Sex?« Das Wort bleibt mir fast im Halse stecken. Ich habe keine Ahnung, wie es wäre, mit einem wildfremden Mann intim zu werden, falls er es verlangen sollte. Es wäre eine völlig neue Erfahrung für mich.

»Er hat nicht ausdrücklich danach gefragt, aber ich gehe davon aus, dass er es will. Ich hoffe, das ist kein Problem für dich?«

»Äh, naja, doch. Ich würde gerne ... geht es ohne? Können Sie ihm sagen, dass ich ihn nur begleite und mehr nicht?«

Sie knurrt etwas, was ich nicht verstehen kann. »Okay«, willigt sie schließlich ein. »Ich bin ja eigentlich auch keine Zuhälterin, sondern leite einen Escort Service für Freundinnen auf Zeit. Kein Sex. Nur wenn ihr euch einig werdet, dann könnt ihr machen, was ihr wollt.«

»Okay.« Ich atme erleichtert auf. Ich bin noch zu neu in dem Job, um gleich mit einem Mann ins Bett zu steigen, den ich vorher noch nie gesehen habe.

»Also kann ich ihm sagen, dass du ihm zur Verfügung stehst?«

»Ja, das können Sie sagen.«

Das bedeutet, dass ich Mrs Holston schonend beibringen muss, dass ich eine Woche verhindert bin. Für einen Moment huscht der Gedanke durch meinen Kopf, die Stelle bei ihr komplett zu kündigen, aber diesen Einfall schiebe ich als verfrüht zur Seite. Wer weiß schon, ob dieser Job bei Sawyer Hemingway nicht vielleicht in einer Katastrophe endet und ich wieder darauf angewiesen bin, Mrs Holstons Launen zu ertragen?

»Wir sprechen uns schon bald wieder, Coco. Dann erkläre ich dir, wann und wo der Kunde dich erwartet.«

»Miss Delilah«, sage ich schnell, bevor sie auflegen kann. »Ich habe noch eine Frage. Was passiert eigentlich, wenn jemand im Nachhinein wissen will, wer von uns Escorts bei gewissen Partys dabei war? Nennen Sie die Namen?«

»Natürlich nicht! Eure richtigen Namen und die Adressen erfährt niemand!«

»Auch nicht die Polizei?«

Sie zögert einen Moment, bevor sie antwortet. »Was hast du getan?«

»Nichts! Ich habe nichts getan. Es kann doch aber sein, dass man mit seltsamen Dingen oder Menschen in Zusammenhang gebracht wird, die bei den Partys passieren. Was dann?«

»Was ist geschehen? Hast du etwas mitbekommen, was du nicht wissen sollst? Drogen?«

»Naja, nicht direkt. Es ist möglich, dass ein Mann, der bei der Party war, in einen Todesfall verwickelt ist. Er hat mir so etwas angedeutet.«

»Okay, Kindchen, dann erkläre ich dir jetzt die oberste Regel eines Escorts, die du unbedingt verinnerlichen musst: Du weißt nichts, du hörst nichts, du siehst nichts. Und wenn du doch mal etwas hören oder sehen solltest, hast du ein extrem schlechtes Gedächtnis. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«

»Ja, haben Sie.«

»Wenn die Polizei herumschnüffelt, muss ich eure Daten herausgeben. Davor kann ich mich nicht drücken. Aber wenn sie dich befragen, hast du keine Ahnung, was geschehen ist. Wir arbeiten für reiche und wichtige Leute, die es gar nicht witzig finden, wenn man ihre Geheimnisse breitträgt.«

»Danke, dann weiß ich Bescheid«, sage ich.

Verdammt. Und ich habe das Geheimnis bereits zu Leonard Walters getragen. Es kann durchaus sein, dass das jemandem ganz und gar nicht gefällt.

»Wir sprechen uns, Coco.« Sie klingt freundlicher.

»Ja, bis bald.«

Ich lege auf und gehe zurück zu meinen Großeltern. Ich hoffe, dass sie mich nicht zu gründlich nach der Anruferin befragen, damit ich sie nicht belügen muss, aber sie sind glücklicherweise schon mit anderen Dingen beschäftigt. Grappy befindet sich wieder im Keller, Grams steht in der Küche und reicht mir eine einfache, braune Schachtel.

»Die habe ich neulich beim Aufräumen gefunden. Es sind alte Sachen von dir drin.«

Neugierig öffne ich die Schachtel und sehe mir die Schätze an. Das meiste ist Müll. Ein paar Steine und Muscheln, die ich am Strand gefunden und als Kind für wertvoll oder wenigstens hübsch erachtet habe. Ein paar selbst gemalte Bilder, zwei Zeichnungen, die ich als Teenager gemacht habe, ein gebastelter Untersetzer und eine zottelige Puppe.

Lächelnd runzele ich die Stirn. »Das hast du alles aufgehoben?«

»Manches hat mir deine Mutter gegeben, bevor sie nach Frankreich gegangen ist. Du kannst die Kiste behalten.« Erneut wird sie von einem Hustenanfall geschüttelt.

»Danke, aber ich weiß nicht, was ich damit anstellen ...«

Ich entdecke plötzlich ganz unten in der Falte des Kartons eine Kette mit einem Medaillon daran. Es hat meiner Mutter gehört, und ich habe es immer an ihr geliebt. Da hat Mom es mir eines Tages einfach geschenkt. Das ist vor dem Tod meines Vaters gewesen.

»Es ist sehr hübsch«, murmele ich und nehme es aus der Kiste, so dass es an meiner Hand hängt.

»Dann behalte es, und den Rest werfe ich weg.«

Ich stecke die Kette in meine Hosentasche. »Okay.«

»Malst du wieder? Du hast früher viel Talent gehabt.«

»Dafür bleibt mir leider keine Zeit.«

»Schade, mir haben deine Zeichnungen immer sehr gefallen.«

Ich sehe zur Wand neben dem Küchenschrank, wo eine Zeichnung vom Yachthafen von St.Helier hängt, die ich gemacht habe. Damals war ich noch voller Träume und Hoffnungen, dass ich in meinem Leben glücklich würde. Ich saß fast jeden Nachmittag am Hafen und habe die Yachten gezeichnet. Auf diese Weise lernte ich Jonas kennen, der eines Tages eine Yacht kaufte und mich zur Jungfernfahrt einlud. Nach der Ehe-Katastrophe habe ich nicht einmal mehr am Hafen gesessen. Und seitdem auch nicht mehr gezeichnet. Nur noch Entwürfe für Kleider.

Ich reiße mich vom Anblick der Zeichnung los und sehe zu Grams.

»Wann gehst du wieder zum Arzt?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Der kann doch sowieso nichts machen. Oder er will mich ins Krankenhaus stecken. Ich verbringe lieber noch ein paar schöne Monate oder sogar Jahre in meinem eigenen Heim mit meinem Mann, als ein paar Wochen länger in den kahlen Wänden eines Krankenzimmers. Mach dir keine Sorgen um mich, mir geht es gut.«

»Pass auf dich auf, Grams. In der Zwischenzeit sorge ich dafür, dass ich für euch eine schöne Wohnung in der Stadt finde, wo ihr nicht mehr so viel arbeiten müsst und die restlichen Jahre mehr genießen könnt.«

Sie lächelt und drückt mich an sich. »Danke, Coco. Ich hab dich lieb. Ganz doll lieb.«

»Ich dich auch.«

Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange, dann streicht sie eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. »Und du passt auch auf dich auf, Kindchen! Du bist heute etwas blass, iss richtig.«

Ich nicke lächelnd. »Ja, das mache ich. Bis bald!«

»Bis bald.«

Ich gehe hinunter in den Keller, wo ich mich auch von meinem Großvater verabschiede, dann laufe ich hinaus in den trüben Tag und zur nächsten Bushaltestelle.

 

Tiffany ruft mich zu Hause an, als ich gerade den Fernseher einschalten und die neue Folge von »Outlander« sehen will.

»Kommst du mit ins Harbour Café? Eine Band aus Edinburgh ist da, die sind total cool! Sie werden dir gefallen!«

Ich muss nicht lange überlegen, um zuzustimmen.

»Okay, ich bin dabei!«

Tiffany ist ein ganz anderer Typ als ich, viel unternehmungslustiger und quirliger. Es macht Spaß, mit ihr auszugehen. Sie erinnert mich ein wenig an meine Schwester Fran. Nur dass Tiffany es liebt, pausenlos über Klatsch und Tratsch zu reden, während Fran davon überhaupt nichts hält und ihre Geheimnisse meistens für sich behält.

Wir treffen uns im Harbour Café, einem hübschen Pub direkt am Hafen mit Blick auf die Fähre, die Jersey mit Frankreich verbindet. Unsere Inseln kurz vor der französischen Küste sind schon etwas Besonderes. Ein kleines Stück Frankreich, das die Engländer aufgesammelt haben. Wir sprechen Englisch, doch essen wie in Frankreich. Wir besitzen eigene Gesetze und Gerichte und sogar eine besondere Währung. Und wir sind stolz darauf, so gut wie keine Kriminalität zu haben. Wenn ein Toter ohne Kopf an den Strand gespült wird, ist das gleichbedeutend mit einem Vulkanausbruch und Meteoriteneinschlag.

Als ich ankomme, hat die Band noch nicht begonnen, und Tiffany sitzt mit zwei jungen Männern an einem Tisch in der Nähe des Fensters. Doch bevor ich zu ihnen gehe, wird meine Aufmerksamkeit von dem Fernseher über der Bar in Anspruch genommen. Ein Bericht über Ermittlungen zu dem Toten am Strand flimmert über den Bildschirm. Offenbar ist der Mann noch immer nicht identifiziert. Die Polizei lässt nichts über die Ermittlungen durchsickern, es gibt noch nicht einmal ein Foto für die Öffentlichkeit.

Ich wende mich ab und gehe zu Tiffany. Sie sieht wahnsinnig gut aus, sogar in dem schlechten Licht des Pubs. Sie besitzt langes, blondes Haar und niedliche Sommersprossen auf der Nase. Sie versucht sie immer mit Buttermilch wegzuätzen, jedoch vergeblich. Aber die meisten Männer fliegen ohnehin auf die Sommersprossen. Und auf ihren großen, schlanken Körper. Sie ist fast einen Kopf größer als ich und träumt von einer Karriere als Model. Nach der Schule ist sie nach London gegangen, weil sie hoffte, entdeckt zu werden. Doch als das Geld zur Neige ging und sie noch keinen Erfolg verbuchen konnte, ist sie nach Jersey zurückgekommen. Sie arbeitet als Escortgirl und sucht nebenbei Jobs als Model, die aber nur sehr spärlich kommen.

»Coco!« Sie winkt, als sie mich erblickt. »Das ist meine beste Freundin Coco«, stellt sie mich den beiden jungen Männern vor, die sie bei jedem Wort anhimmeln.

»Hi.« Ich lasse mich auf dem freien Stuhl nieder, so dass ich mit dem Rücken zum Fenster und dem Blick zum Fernseher sitze.

»Wir arbeiten zusammen«, erklärt Tiffany den beiden Jungs. Sie sehen beide etwas farblos aus, typisch britisch, mit schmutzig-blonden Haaren und verwaschenen Augen. Einer von ihnen besitzt – mit viel Fantasie – etwas Ähnlichkeit mit Prinz William.

»Was arbeitet ihr?«, will Prinz William wissen.

Ich sehe zu Tiffany, die süß lächelt. »Wir sind im Unterhaltungs- und Dienstleistungsgewerbe tätig, und ich bin außerdem Model.«

Die beiden nicken zufrieden, ich muss schmunzeln. Unterhaltungs- und Dienstleistungsgewerbe ist eine schöne Umschreibung für unsere Jobs als Escorts. Die Jungs nehmen ihr das ohne mit der Wimper zu zucken ab.

Als die Kellnerin kommt, bestelle ich ein Glas Rotwein, und als ich es ausgetrunken habe, bin ich etwas lockerer und nehme rege am Gespräch teil. Die Jungs sind ganz amüsant, Biologiestudenten, die auf der Insel ein Praktikum absolvieren. Prinz William heißt eigentlich Freddy, und der Name des anderen lautet Tom. Sie scherzen gern und ziehen über ihre Professoren her, während Tiffany kein gutes Haar an den Leuten lässt, die sie in London kennengelernt hat. Hin und wieder wandert mein Blick zum Fernseher, aber dort erscheint nichts mehr über den Toten, sondern ein Special über die Arbeit von Forensikern. Offenbar haben die Fernsehleute nicht die leiseste Ahnung, wer der Tote ist. Und die Behörden von Jersey wollen die Touristen nicht verschrecken, die immer noch glauben, auf unseren Inseln gäbe es partout nichts Böses.

Wir sitzen bis kurz vor Mitternacht im Harbour Café. Die Band, die später spielt, ist tatsächlich sehr gut. Insgesamt trinke ich drei Gläser Rotwein und fühle mich langsam richtig entspannt. Dann bezahlen wir die Rechnung und stehen auf. Die Jungs wären gerne noch länger mit Tiffany zusammengeblieben, doch sie schickt sie, mit ein paar vagen Versprechungen auf ein baldiges Wiedersehen, davon.

»Es ist schade, dass die Kerle immer gleich so aufdringlich werden müssen«, seufzt sie, als wir unsere Jacken schnappen und hinaus zum Taxistand gehen. »Bloß, weil man sich mal ein bisschen mit ihnen unterhält. Das interpretieren sie gleich als Einladung für mehr, womit sie aber völlig falsch liegen.«

»Sie mögen dich.«

»Ach wo. Sie denken nur an Sex, mehr nicht. Ich kann es in ihren Augen sehen. Aber Coco, ist es wahr, Nolan Hemingway hat dich für eine Woche gebucht? Miss Delilah hat es vorhin erzählt. Das ist der Schnapsbrenner, der in die Politik einsteigen will. Der Kerl ist verheiratet, ist er verrückt?«

»Nicht Nolan, es ist sein Bruder.«

Sie winkt erleichtert ab. »Dann muss ich mich nicht wundern. Sein Bruder ist noch schärfer als Nolan, und nicht unter der Haube. Ich habe ihn mal auf einer Party gesehen. Er flattert wie ein Schmetterling von einer Blume zur anderen, als könne er nicht genug bekommen. Aber in seinem Herzen ist er kalt wie ein Fisch, genau wie sein Bruder. Mit dem wirst du bestimmt viel Spaß haben, aber verlieben darfst du dich niemals.«

»Das habe ich auch nicht vor.«

»Das ist gut. Dann genieße nur die guten Seiten des Jobs. Eine Woche lang überwältigender Sex mit einem extrem attraktiven Mann, der sein Handwerk versteht.«

»Und wenn ich das gar nicht will?«

»Dann ist das Pech für dich. Er ist bestimmt ein Kracher, so wie er aussieht.«

»Das reicht mir normalerweise nicht. Ich lege Wert auf andere Dinge in einem Mann, zum Beispiel muss ich ihm vertrauen können.«

»Das mag sein, meine Liebe, privat kannst du das ja auch gern tun. Aber beim Job ist es unwichtig. Hauptsache, er bezahlt gut und du hast deinen Spaß. Das musst du strikt trennen.«

Die Theorie ist mir bekannt, ich weiß nur nicht, ob ich das in der Praxis so gut kann.

Ich möchte mit Tiffany gern noch über die Partynacht sprechen, um sie zu fragen, ob sie den Mann gesehen hat, der mir seine Worte über die Leiche ins Ohr geflüstert hat, aber sie steigt in das nächstbeste Taxi.

»Gute Nacht, Coco! Viel Spaß mit Sawyer Hemingway! Und sag niemals das mit dem Schnapsbrenner, das hören die Hemingway-Jungs überhaupt nicht gern.«

»Ich weiß. Gute Nacht!«

Ich laufe nach Hause in mein kleines Apartment, das nicht weit entfernt vom Pub liegt, und will mich gerade ins Bett legen, als mein Handy klingelt. Um diese Uhrzeit? Das kann nichts Gutes bedeuten.

Die Nummer sagt mir gar nichts.

»Ja?«, melde ich mich.

»Es tut mir leid, dass ich so spät störe. Spreche ich mit Coco? Mit der Frau, die die Hochzeit meiner Tochter gestört hat?«

Erschrocken halte ich die Luft an. Plötzlich bin ich wieder hellwach. Es ist Leonard Walters, der Journalist. »Woher haben Sie diese Nummer?«

»Nicht nur Sie können jemanden ausfindig machen. Offenbar kennt man Sie auf dieser Insel. Ein paar Gästen der Hochzeitsfeier waren Sie jedenfalls bekannt.«

Was für ein dummer Fehler! Ich hätte mich besser verstecken müssen. Es hätte mir eigentlich klar sein müssen, dass es keine Einbahnstraße ist, wenn ich die Leute erkenne. Sie können mich genauso gut einordnen. »Was wollen Sie von mir? Ich habe Ihnen schon gesagt, was ich weiß.«

»Ich fürchte, Sie haben ein paar Details weggelassen. Aber das spielt keine Rolle. Was ich Ihnen sagen möchte, ist, dass Sie sich in Acht nehmen müssen. Ich habe heute noch angefangen, ein bisschen in der Sache zu recherchieren. Plötzlich steht mein Chef vor meinem Schreibtisch und sagt mir, ich solle mich um andere Dinge kümmern. Das hat er noch nie getan. Irgendetwas ist an der Geschichte faul.«

Ich spüre, wie sich die feinen Härchen auf meinem Arm aufstellen. Im Fernsehen gab es kaum Neuigkeiten, die Polizei rückt gegenüber den Medien nicht mit der Sprache heraus. Ich habe auch das Gefühl, dass da an der Sache etwas seltsam ist.

»Ich habe damit nichts zu tun.«

»Ich glaube Ihnen. Aber nehmen Sie sich trotzdem in Acht.«

»Das mache ich immer.«

»Noch etwas. Können Sie sich morgen mit mir treffen? Vielleicht fällt Ihnen doch noch etwas ein.«

Ich denke an die Regeln eines Escorts und an den Rat von Miss Delilah. »Ich weiß wirklich nichts, was Sie interessieren könnte. Ganz sicher nicht. Ich will auch nicht, dass mein Name in einem Artikel erscheint.«

»Ihren Namen halte ich auf jeden Fall heraus.«

»Trotzdem nicht, tut mir leid. Auf Wiederhören.«

Das unbehagliche Gefühl ist zurückgekehrt. Es breitet sich in Windeseile von meinem Magen in alle Richtungen aus. Leonard Walters will noch etwas sagen, aber ich lege schnell auf.

KAPITEL 3

 

 

 

Der Montag beginnt mit Sonnenschein. Allerdings weht ein kräftiger Wind, und als ich am Morgen zur Fähre radele, die mich auf die Nachbarinsel nach Guernsey bringen soll, wo Mrs Holstons Schneiderwerkstatt liegt, wehen die Böen ständig meine Haare ins Gesicht.

Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass mich die Sache mit dem nicht identifizierten Toten mehr beschäftigt, als mir lieb ist. Und ich versuche verzweifelt, die Gedanken daran von mir fernzuhalten. Ich will der Polizei nicht erzählen, was vorgefallen ist. Zumal ich, wenn es nach Miss Delilah geht, lügen müsste. Das gefällt mir ganz und gar nicht. Wer wegen eines kleinen Problems lügt, bekommt irgendwann ein ganz großes an den Hals. Und wer von Anfang an wegen eines großen Problems nicht die Wahrheit sagen kann, mit dem geschieht etwas, worüber ich lieber nicht nachdenken möchte.

Und wer weiß schon, was und wer wirklich hinter dem Mord steckt? Es gibt zu viele unbekannte Variablen, um ein echtes Rätsel daraus zu machen und eine Lösung zu bekommen. Also sollte ich lieber gleich ganz die Finger davon lassen. Ich habe den Fremden nicht gebeten, mir sein Geheimnis anzuvertrauen.

Nachdenklich gehe ich in das Innere der Fähre und steuere den Kiosk an, um mir einen Schokoriegel zu kaufen. Ich habe das Gefühl, heute dringend etwas Süßes und vor allem Schokolade zu brauchen, um mich besser zu fühlen. Als ich kurz aufsehe, bemerke ich einen Mann, der mich anstarrt. Unsere Blicke treffen sich, und er lächelt. Er hat ein umwerfendes Lächeln, als würde in seinem Gesicht die Sonne aufgehen. Bei dem Anblick macht sich in meinem Bauch plötzlich ein merkwürdiges Flattern breit, und ich sehe schnell wieder auf die Schokoriegel. Ich nehme zwei einfache Riegel und steuere die Kasse an, ohne noch einmal zu dem Mann mit dem umwerfenden Lächeln zu sehen. Dafür betrachte ich umso intensiver die Zeitungen des heutigen Tages, um nach Schlagzeilen mit dem Toten Ausschau zu halten. Es ist nichts Neues dabei. Dabei entdecke ich jedoch die neue Ausgabe der »Mistress«, eine Zeitschrift für Frauen, nach der meine Kollegin Laura süchtig ist. Kurzerhand nehme ich das Magazin ebenfalls mit und gehe zur Kasse.

»Ist das wahr? Stehen Frauen auf Männer, die ihnen alle Freiheiten gewähren?«, fragt auf einmal eine angenehme, dunkle Stimme hinter mir, während ich in der Schlange darauf warte, an der Reihe zu sein. Ich drehe mich um und sehe in ein Paar dunkelgraue Augen. Er ist es. Der Mann mit dem atemberaubenden Lächeln. Er ist Ende zwanzig, mit dunklen, welligen Haaren und faszinierenden Augen. Er steht direkt hinter mir an der Kasse und blickt auf die Überschrift der Zeitung. »Das wäre wohl das Ende der Welt für uns Männer.« Dann sieht er schmunzelnd zu mir.

Ich lächele und versuche, meinen Kreislauf in den Griff zu bekommen, der plötzlich Eskapaden schlägt. Zumindest mein Herz stolpert, weil der attraktive Mann so nah bei mir ist. »Das kann ich nicht beurteilen. Ich mag es sicherlich, wenn ein Mann mich nicht einengt, aber mir ist es wichtiger, dass er ehrlich zu mir ist.« Mein Lächeln friert ein wenig ein, weil ich plötzlich an meinen Ex-Mann denken muss.

Der Fremde merkt meinen Stimmungsumschwung. »Schlechte Erfahrungen?«

»Haben wir nicht alle Narben von den Wunden, die uns Menschen zugefügt haben, die wir lieben oder geliebt haben?«

Er runzelt nachdenklich die Stirn. »Ich fürchte, das ist leider wahr.«

»Ich glaube, die Kunst ist es, diese Narben so gut wie möglich zu verstecken.«

»Und sich trotzdem auf neue Abenteuer einzulassen.«

Er lächelt wieder. Es ist ein Lächeln, das einem die Knie weich werden lässt.

---ENDE DER LESEPROBE---