Jules Vernes Kapitän Nemo - Neue Abenteuer 04: Krakatau stirbt - Alfred Wallon - E-Book

Jules Vernes Kapitän Nemo - Neue Abenteuer 04: Krakatau stirbt E-Book

Alfred Wallon

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Beschreibung

Während einer Expedition zum Krakatau-Archipel wurde die Nautilus beschädigt und Kapitän Nemo schwer verletzt. Erst nach Wochen erwacht er aus dem Koma und erkennt, in welcher Lage er sich befindet. Der holländische Geschäftsmann Pieter de Bruyn hält die Mannschaft der Nautilus gefangen und verlangt von Nemo, dass er ihn und seine Männer zur Insel Krakatau bringt. De Bruyn besitzt Hinweise auf den versunkenen Kontinent Lemuria, einer davon führt zum Vulkan Krakatau.Nemo willigt notgedrungen zu dieser Expedition ein, aber er weiß um das Risiko. Bereits vor zwei Monaten stand der Vulkan kurz vor einer Explosion und es gibt weitere Zeichen, dass ein neuer Ausbruch unmittelbar bevorsteht. Eine risikoreiche Suche beginnt.KRAKATAU STIRBT ist der Auftaktband einer neuen spannenden Trilogie mit Kapitän Nemo und der legendären Nautilus.

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Seitenzahl: 184

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Alfred WallonKRAKATAU STIRBT

In dieser Reihe bisher erschienen

1701 Tötet Nemo!

1702 Das Vermächtnis der Eissphinx

1703 Der Gott von Amazonien

1704 Krakatau stirbt

1705 Kurs auf die Kokos-Inseln

1706 Die Station unter dem Eis

Alfred Wallon

Krakatau stirbt

Neue Abenteuer der NautilusBand 4

Diese Reihe erscheint als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2022 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Mario Heyer/123RFUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-968-3Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Kapitel 1 – Das Erwachen

Nemo lächelte, als die Nautilus in See stach. Der Wind strich durch sein Haar, in dem sich bereits zahlreiche graue Strähnen befanden. Er blinzelte, als er direkt in die aufgehende Sonne schaute und dabei registrierte, wie sich deren helles Licht auf der Wasseroberfläche spiegelte. Er drehte sich um und blickte zurück zum Heck, auf dem drei seiner Weggefährten standen, die mittlerweile zu seiner festen Crew gehörten und wofür er dankbar war.

„Auf in ein neues Abenteuer!“, rief eine hoffnungsvolle Stimme, aber Nemo konnte nicht erkennen, ob es Robur oder Baron von Greifenberg war, der ihm das zugerufen hatte. Die Stimme klang irgendwie seltsam verzerrt, als wenn sich Nemo in einer großen unterirdischen Höhle befand und die Stimme als Echo von den Händen widerhallte.

Gleichzeitig fühlte Nemo plötzlich, dass er zu wanken begann. Er wollte sich an einer Verstrebung festhalten, aber seine Hände gehorchten ihm seltsamerweise nicht. Alles begann sich um ihn herum zu drehen, während plötzlich eine weitere Stimme erklang, allerdings irgendwo hoch über ihm.

„Er kommt zu sich“, sagte jemand.

„Ganz vorsichtig“, sagte eine zweite Stimme, die noch etwas entfernter klang. „Er ist noch sehr schwach.“

„Geben Sie ihm noch etwas Laudanum“, sagte die erste Stimme. „Wir dürfen kein Risiko eingehen, sonst ...“

Nemos Herz begann zu rasen, als er versuchte, das Taumeln aufzuhalten. Aber das Gegenteil war der Fall. Eine unsichtbare Faust packte ihn und zog ihn einfach mit sich. Seine Freunde am Heck der ­Nautilus wirkten bestürzt und schienen in Panik zu geraten, weil Nemo sich auf geheimnisvolle Weise von ihnen zu entfernen begann, ohne dass das jemand verhindern konnte.

Nemo wollte seinen Gefährten etwas zurufen, aber sie schienen ihn nicht mehr zu hören. Er befand sich mittlerweile weit über der Nautilus und kam sich vor wie ein Vogel, der hoch über den Wellen seine Kreise zog und in Richtung Horizont weiterflog.

Aber das ist doch völlig unmöglich! sagte sich Nemo, während die Panik in ihm immer stärker wurde. Was geschieht hier mit mir? Träume ich? Oder sterbe ich etwa und bin auf dem Weg zum Himmel … oder vielleicht zur Hölle?

Er fühlte, eine unerklärliche Sogwirkung seinen Körper umschloss und ihn auf einen Strudel zutrieb, der sich irgendwo über ihm am Himmel befand. An den Rändern dieses Schachtes funkelten unzählige bunte Lichter, und Nemo konnte sehen, dass sich in diesem Strudel die Konturen von Gestalten ­bewegten. Gestalten, die ihn zu erkennen schienen und ihn offensichtlich schon erwarteten.

„Die Körperfunktionen sind stabil“, sagte die Stimme von vorhin. „Normaler Herzschlag und Puls.“

„Dem Himmel sei Dank“, meinte die zweite Stimme. „Es wurde höchste Zeit.“

Nemo drehte sich um sich selbst, als er in den Strudel geriet und nicht mehr erkennen konnte, was genau um ihn herum geschah. Die Geschwindigkeit, mit der ihn eine unbekannte Kraft in den Strudel zog, war jetzt so groß, dass er um Hilfe zu schreien begann. Aber niemand schien ihm helfen zu können.

Der Sog schien eine halbe Ewigkeit anzudauern, obwohl es gerade mal wenige Sekunden waren. Aber Nemos Psyche befand sich in einem Zustand, der sich irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit befand, und zumindest in diesem Moment wusste er nicht, was wirklich war und was eben nicht.

Der bunte Farbenwirbel, der ihm die klare Sicht nahm und ihn ansonsten nur vage Konturen sehen ließ, verwandelte sich auf einmal in ein konkretes Bild. Oder besser gesagt in eine kahle Wand, vor der zwei Menschen standen, die er im ersten Augenblick nicht kannte und die ihn sehr ernst anschauten.

„Ganz ruhig, Kapitän“, sagte der Mann rechts von Nemos Bett.

Bett! dachte Nemo nur den Bruchteil einer Sekunde später. Warum liege ich in einem Bett, und warum kann ich mich kaum bewegen? Ich bin auf einmal so schwach und …

„Sie sollten besser auf Dr. Vandersteens Ratschlag hören, Nemo“, ergriff nun der zweite Mann das Wort und trat einen Schritt ans Bett heran. „Es geschieht alles zum Guten, verlassen Sie sich darauf. Sie sind in guten Händen.“

„Wer sind Sie?“, murmelte Nemo mit einer Stimme, die zuerst nur wie ein heiseres Krächzen klang. „Und wo bin ich?“

„Sie brauchen Zeit, um sich an alles zu erinnern, Kapitän Nemo“, erwiderte der Mann, der jetzt ganz nahe an seinem Bett stand und ihn besorgt anschaute. Zumindest deutete der erste Eindruck darauf hin. Erst dann bemerkte Nemo, dass die Augen des Mannes irgendwie kalt wirkten. Als wenn es ihm in Wirklichkeit um etwas ganz anderes ging. „Verzeihen Sie bitte, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Pieter de Bruyn. Ich betreibe in Batavia verschiedene Geschäfte, und der Zufall, oder besser gesagt vielleicht auch das Schicksal, haben dafür gesorgt, dass wir beide uns begegnet sind. Wenn auch zunächst unfreiwillig. Aber das wird sich schon noch ändern. Sie müssen sich nur genügend Zeit geben.“

„Ich … ich verstehe nicht, wovon Sie sprechen“, erwiderte Nemo und versuchte, seine wirren ­Gedanken zu ordnen. „Wie komme ich … hierher? Und wo ist meine Mannschaft?“

„Darüber sprechen wir noch, wenn Sie wieder zu Kräften gekommen sind, Nemo“, erwiderte der Mann, dessen Name auf eine holländische Nationalität hinwies. „Wir werden noch genügend Zeit haben, um in Ruhe über alles zu sprechen. Bis dahin bleiben Sie hier unter ärztlicher Aufsicht. Man wird alles tun, damit Sie bald wieder gesund werden. Danken Sie dem Himmel dafür, dass das überhaupt der Fall ist. Es gab eine Zeit, in der wir schon das Schlimmste befürchten mussten. Aber ich wusste, dass Sie ein Kämpfer sind, Kapitän Nemo. Jemand wie Sie gibt nicht so schnell auf.“

„Woher kennen wir uns?“, fragte ihn Nemo und versuchte sich im Bett aufzurichten. Daraus wurde jedoch nur ein kläglicher Versuch. Seufzend fiel er wieder zurück und schaute zu dem Arzt. „Ich habe Durst“, sagte er. „Ich möchte etwas trinken.“

„Selbstverständlich“ erwiderte Dr. Vandersteen mit einem freundlichen Lächeln, das im Gegensatz zu de Bruyns Mimik ehrlich wirkte. „Ich werde das gleich veranlassen. Sie werden übrigens gleich wieder einschlafen. Zur Stabilisierung Ihrer Funktionen habe ich Ihnen ein Beruhigungsmittel verabreicht. Im Schlaf wird sich Ihr Körper rasch erholen.“

Mit diesen Worten wandte er sich ab und verließ den Raum wieder. Nemo wollte ihm noch etwas nachrufen, unterließ es dann aber, als er bemerkte, wie de Bruyn nur mit dem Kopf schüttelte. Das verstand er auch ohne weitere Worte.

„Wer sind Sie?“, versuchte es Nemo nun noch einmal. „Ist das eine Klinik? Und wo ist meine Mannschaft und mein ...“

„Alles zu seiner Zeit!“, unterbrach ihn de Bruyn. „Sie wissen wirklich nichts, oder? Der Zwischenfall hat Ihnen offenbar doch mehr zugesetzt, als wir vermutet haben. An was erinnern Sie sich noch?“

„An mein Schiff und meine Mannschaft natürlich“, antwortete Nemo ohne zu zögern. „Robur, Baron von Greifenberg und Ahmik. Warum fragen Sie?“

„Seit wann gehört ein Baron zu Ihrer Mannschaft, Nemo?“ De Bruyns Stimme klang ein wenig spöttisch. „Ich könnte mich nicht daran erinnern, dass sich unter Ihren Leuten Männer dieses Namens befanden.“

„Aber das ist doch nicht möglich!“, entfuhr es Nemo. „Sie müssen sich irren. Was haben Sie mit meinen Leuten gemacht, de Bruyn? Reden Sie endlich!“

„Sie werden es sein, der redet, Nemo“, lautete die Antwort des holländischen Geschäftsmannes. Sein Blick spiegelte Sicherheit und Arroganz wider. Als wenn er genau wusste, dass er Nemo in der Hand hatte und nach Belieben mit ihm verfahren konnte. „Der Zeitpunkt dafür wird bald kommen. Bis dahin genießen Sie noch unsere Gastfreundschaft. Auch wenn sie mittlerweile schon fast zwei Monate anhält.“

„Zwei Monate?“ Nemo zuckte bei diesen Worten zusammen. „Das ist doch unmöglich. Sie lügen, de Bruyn. Was bezwecken Sie damit?“

„Wir reden in Ruhe darüber, Nemo“, sagte de Bruyn. „Alles zu seiner Zeit. Erholen Sie sich erst einmal, und dann kommt eins nach dem anderen.“

Eigentlich hatte er noch mehr sagen wollen, unterließ es aber, als Dr. Vandersteen wieder zurück kam. In seiner rechten Hand hielt er ein Glas mit einer farblosen Flüssigkeit. Ist das Wasser oder etwas anderes? kam es Nemo plötzlich in den Sinn. Was geschieht hier eigentlich mit mir? Das Ganze ist doch völlig surreal.

Ein Gedanke jagte den anderen, während Dr. Vander­steen nun zu ihm ans Bett kam und ihm das Glas reichte.

„Trinken Sie“, forderte er ihn auf. „Danach wird es Ihnen bald besser gehen. Ich kann verstehen, dass Sie verwirrt sind und erst einmal wieder ins Leben zurückfinden müssen. Nehmen Sie sich dafür Zeit.“

Er setzte Nemo das Glas an die Lippen, und ihm blieb nichts anderes übrig, als einfach zu schlucken. Auch wenn er befürchtete, dass dies kein reines Wasser war, was man ihm verabreichte. Es schmeckte etwas zu bitter, aber es tat auch gut, die trockene Kehle endlich wieder etwas anzufeuchten.

„Ich komme wieder, und dann setzen wir unser Gespräch fort, Nemo“, sagte de Bruyn. „Bis dahin kommen Sie bestimmt wieder zu Kräften. Es gibt keinen besseren Ort als diesen, um Sie wieder auf die Beine zu bringen. Das garantiere ich Ihnen.“

Er lächelte noch einmal und ging dann zur Tür. Bevor Nemo noch etwas sagen konnte, hatte de Bruyn auch schon die Tür geöffnet, trat hinaus und schloss sie wieder hinter sich. Nemo gefiel das alles nicht. Er fühlte sich zusehends unwohl bei dem Gedanken, in diesem Zustand zwei Monate in diesen Räumen verbracht zu haben. Wie krank war er wirklich gewesen? Hatte er schwere Verletzungen erlitten?

Noch während er das dachte, schaute er an sich herab, aber er konnte keine Verbände oder sonstige Einschränkungen sehen. Er fühlte sich eben nur sehr schwach, sein Kopf tat weh, und beim Atemholen spürte er ein leichtes Stechen in seinen Lungen.

„Was ist passiert?“, fragte er den Arzt. „Ich habe ein Recht, das zu erfahren, Dr. Vandersteen.“

„Es geht Ihnen nicht schnell genug, oder?“, stellte Dr. Vandersteen die Gegenfrage. „Geben Sie Ihrem Körper doch lieber all die Zeit, die er braucht. Zwei Monate sind eine verdammt lange Zeit. Sie sollten besser nicht darüber nachdenken, Kapitän. Es würde Sie nur beunruhigen, wenn Sie dadurch ins Grübeln kommen. Das könnte den Heilprozess womöglich gefährden.“

„Reden Sie nicht um den heißen Brei, verdammt noch mal!“, sagte Nemo mit gepresster Stimme. „Was ist wirklich geschehen? Ich verlange eine Antwort!“

„Nun gut“, erwiderte der Arzt. „Anscheinend kann ich Sie nicht vom Gegenteil überzeugen. Sie können froh sein, dass Sie überhaupt noch am Leben sind. Ihre Lungen haben etwas abbekommen. Sie haben giftige Dämpfe eingeatmet und waren dieser Gefahr zu lange ausgesetzt. Was hat Sie eigentlich dazu veranlasst, sich ausgerechnet in solch einem gefährlichen Moment in der Nähe des Vulkans aufzuhalten?“

„Vulkan?“ fragte Nemo erstaunt. „Was für ein Vulkan?“

„Sie erinnern sich wirklich nicht mehr?“, fragte Dr. Vandersteen und erkannte an Nemos Gesichtsausdruck, dass dem wirklich so war. „Nun, so ein Erlebnis kann durchaus eine partielle Amnesie auslösen. Aber auch das pendelt sich wieder ein, keine Sorge. Sie sind noch verwirrt und leiden noch unter den Nachwirkungen des langen Schlafes und Ihrer Träume. Sie haben doch geträumt, oder?“

„Ich weiß gar nichts mehr“, murmelte Nemo. „Was ist denn nun Wirklichkeit und was nicht?“

„Sie werden das bald selbst erkennen“, lautete die Antwort des Arztes. „Aber um Ihnen das alles etwas leichter zu machen: Sie befinden sich in auf der Insel Sangiang in Indonesien. Zwischen Sumatra und Java. Vor rund zwei Monaten gab es eine Explosion im Vulkan auf der Insel Krakatau. Sie können froh sein, dass die meisten Ihrer Männer das überlebt haben. Aber da sprechen Sie am besten wieder mit Mijnheer de Bruyn, wenn Sie sich erholt haben.“

„Krakatau?“, seufzte Nemo, der sichtlich irritiert war. „Aber wir waren doch am Amazonas. Wir suchten nach einem gewissen Diamanten, um ...“ Er hielt einen Augenblick inne und bat Dr. Vandersteen mit einer kurzen Geste, ihm noch einmal etwas zu trinken zu geben. Das tat der Arzt dann auch. Nemo nahm zwei Schlucke und sprach dann weiter. „Alles verlief zu unserer Zufriedenheit. Danach wollten wir zu einer neuen Expedition aufbrechen. Das alles war so real, Dr. Vandersteen. Sind das alles Träume gewesen? Das ist eigentlich unvorstellbar.“

„Ich kann verstehen, dass Sie berechtigte Zweifel haben, Kapitän Nemo“, erwiderte der Arzt. „Aber wenn sich der Körper so lange in einem Ruhe­zustand befindet, wie es bei Ihnen der Fall war, dann kann viel geschehen. In Ihrem Fall haben Sie diese Erlebnisse wahrscheinlich nur geträumt. Ich kann Ihnen nur sagen, was ich von Mijnheer de Bruyn weiß. Sein Schiff kreuzte in der Nähe der Insel ­Krakatau und kam gerade noch rechtzeitig, um Sie und Ihre Männer zu retten. Aber Ihr Schiff wurde dabei beschädigt. So habe ich es zumindest von Mijnheer de Bruyn erfahren. Ich war nicht dabei, verstehen Sie? Wenn Sie Antworten auf Ihre Fragen haben wollen, die ja durchaus berechtigt sind, dann müssen Sie mit ihm sprechen.“

Nemo ließ jedes einzelne dieser Worte auf sich wirken, während er angestrengt versuchte, sich zu erinnern. Aber nach wie vor gelang es ihm nicht. Obwohl ihm mittlerweile klar wurde, dass vieles dafürsprach, dass Dr. Vandersteen ihm die Wahrheit gesagt hatte. Seine Träume mussten besonders intensiv gewesen sein. Sonst hätte er niemals daran geglaubt, dass alles der Wirklichkeit entsprach. Baron Fritz von Greifenberg, Robur, der geniale Erfinder und ein französischer Schriftsteller: Alle waren an Bord der Nautilus gewesen. Er hatte gegen alte Feinde gekämpft und war in lebensbedrohliche Situationen geraten. Und jetzt sagte ihm Dr. Vander­steen, dass das alles lediglich seinen Träumen geschuldet war?

Er neigte den Kopf zur Seite und entdeckte einen kleinen Stein, der rötlich schimmerte. Plötzlich zuckte er zusammen, weil sich genau in diesem Moment die Schleier des Vergessens wieder zu lichten begannen. Von einer Sekunde zur anderen. Das musste etwas mit dem kleinen Stein zu tun haben, den er jetzt erst erblickte.

Dr. Vandersteen hatte mitbekommen, wohin Nemo jetzt schaute.

„Sie hatten diesen Stein bei sich, als man Sie hierherbrachte“, sagte er zu Nemo. „Wir hatten den Eindruck, dass er irgendwie wichtig für Sie war, denn Sie hielten ihn fest mit der rechten Hand umschlossen und wollten ihn gar nicht hergeben. Also habe ich dafür gesorgt, dass er hierbleibt und Sie ihn sehen können, falls Sie jemals wieder erwachen sollten. Und das war weiß Gott zu Beginn alles andere als sicher. Sie hatten wirklich Glück.“

Nemo hörte nur mit halbem Ohr zu, was ihm Dr. Vandersteen begreiflich zu machen versuchte. Er konnte seinen Blick von dem Stein einfach nicht abwenden. Weil genau dies der Schlüssel zu seinen verschütteten Erinnerungen war, die jetzt Zug um Zug zurückkehrten und ihn wissen ließen, dass seine Erlebnisse im Eismeer und in Amazonien niemals stattgefunden hatten. Auch die Mannschaft, mit denen er in seinen Träumen unglaubliche Abenteuer erlebt hatte, existierte nicht. Für einen winzigen Moment spürte er so etwas wie Bedauern darüber, aber dann fand er sich mit den Gegebenheiten ab. Ein weiteres Zeichen dafür, dass die Wirklichkeit um ihn herum nun alles andere überlagerte.

Nemo erinnerte sich jetzt auch wieder an seine richtige Mannschaft: An den hünenhaften Iren Pat O´Malley, den Mexikaner Pablo Vasquez und einige andere, die schon seit Jahren zu ihm gehörten.

„Sie erinnern sich jetzt, oder?“, riss ihn Dr. Vander­steens Stimme aus seinen vielschichtigen Gedanken.

„Ja“, murmelte Nemo, während seine Gedanken zurückkehrten zu dem verhängnisvollen Tag, als der Vulkan auf der Insel Krakatau zum ersten Mal Feuer gespuckt hatte.

*

Vergangenheit

20. Mai 1883

Zwei Seemeilen vor der Insel Krakatau

Am Vormittag gegen 11.00 Uhr

„Geben Sie Order, aufzutauchen, Mister O´Leary“, sagte Nemo zu seinem Steuermann, dem breit­schultrigen Iren Pat O´Leary, nachdem er einen längeren Blick durch das Periskop die Meeres­oberfläche beobachtet hatte. „Wenn das Wetter mitspielt, werden wir bald an Land gehen können.“

Er bemerkte den zweifelnden Blick O´Learys, der vor drei Jahren an Bord gekommen war und seitdem zur Mannschaft gehörte. Nemo wusste, was O´Leary vermutlich durch den Kopf ging. Er machte sich Sorgen wegen der zunehmenden Eruptionen, die das gesamte Archipel in der Sundastraße zu verändern begannen. Bereits am 9. Mai hatte sich ein Erdbeben kurz vor Mitternacht rund um den Leuchtturm Vierde Punt bei Anyer ereignet, also gar nicht weit von Krakatau entfernt. Der hohe Druck hatte große Verwerfungen verursacht und die Erdkruste an einigen Stellen aufgerissen, so dass Magma hervorgetreten war.

Nemo hatte von diesen Ereignissen erfahren, weil vor nicht allzu langer Zeit in dieser Region ein Tiefsee­kabel verlegt worden war, das dafür sorgte, dass sich auch Nachrichten aus diesem Teil der Welt rasch verbreiten konnten. Nach der ersten Explosion hatten sich einige Erkundungsschiffe auf den Weg gemacht, um weitere wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, aber bisher hatte man kaum verwertbare Neuigkeiten dokumentieren können.

Die Nautilus dagegen verfügte über Möglichkeiten, auf dem Meeresgrund solche Forschungen vorzunehmen und diese entsprechend auszuwerten. Unbeobachtet von den beiden Forschungsschiffen, die in Batavia in See gestochen waren, hatte die Nautilus Kurs auf die Insel Krakatau genommen und verweilte seit zwei Tagen in der Region.

Nemo hatte abgewartet, bis die beiden Schiffe unverrichteter Dinge wieder den Rückzug angetreten hatten und hielt nun den Zeitpunkt für gekommen, einen direkten Vorstoß zum Herz der vulkanischen Aktivitäten zu unternehmen: sein Ziel war die Insel Krakatau und der Vulkan, der seine ­Aktivitäten bereits auf beängstigende Weise dokumentiert hatte.

„Was ist, Mister O´Leary?“, fragte Nemo nochmals seinen Steuermann. „Haben Sie nicht verstanden, was ich gerade gesagt habe?“

„Natürlich habe ich das, Kapitän“, antwortete der Ire mit seufzendem Unterton. „Aber einige der Männer haben trotzdem Angst. Ich habe ihnen zusagen müssen, dass ich Ihnen diese Bedenken vortrage.“

„Das ehrt Sie, Mister O´Leary“, erwiderte Nemo. „Aber keine Sorge, ich weiß genau, was ich tue. Meinen Sie nicht, dass wir der Menschheit helfen, wenn wir uns bemühen, so viel wie möglich über die Ursache dieser Aktivitäten herauszufinden? Schließlich leben Menschen in diesem Inselarchipel. Ihr Leben könnte gefährdet sein, wenn das Beben noch stärker wird.“

„Ist mir schon klar“, meinte O´Leary. „Trotzdem wäre mir wohler, wenn wir die Sache so schnell wie möglich hinter uns bringen. Die Mannschaft und ich haben mit Ihnen zusammen nicht die Weltmeere durchquert, um ausgerechnet hier in einem Vulkanausbruch auf grausame Weise sterben zu müssen.“

Nemo nickte nur, gab aber dem Steuermann mit einem kurzen Zeichen zu verstehen, dass er jetzt und hier nicht weiter darüber sprechen wollte. Er wartete ab, bis O´Leary gegangen war und beugte sich dann über die große Karte, die auf einem großen Tisch ausgebreitet war und auf der er alles markiert hatte, was für die bisherige Auswertung wichtig war: Meeres­strömungen, Temperaturschwankungen, Entwicklung des Wetters und weitere Veränderungen. All dies formierte sich allmählich zu einem immer klarer werdenden Ergebnis, und das bereitete auch einem erfahrenen Mann wie Nemo Kopfzerbrechen. Aber damit wollte er weder O´Leary noch andere Mitglieder seiner Mannschaft beunruhigen. Was er befürchtete, musste nicht zwangsläufig auch eintreten, aber nach Lage der Dinge konnte es passieren.

Die Nautilus, jenes Meisterwerk der damaligen Technik, an deren Entwicklung und Bau er maßgeblich beteiligt gewesen war, verfügte über Gerätschaften und Messmethoden, die manchen Wissenschaftlern unter Umständen wie ein sprichwörtliches Wunder vorkommen würden, wenn sie jemals davon erfuhren. Nemo war nicht nur ein erfahrener Seemann, sondern auch ein sehr fähiger Wissenschaftler. Während seines Exils hatte er sein Studium ständig vorangetrieben und immer wieder erweitert.

Die Männer, die sich mit ihm zusammen an Bord der Nautilus befanden, wussten um Nemos selbst auferlegte Mission, und sie teilten diese auch weitgehend. Der eine mehr, der andere etwas weniger. Aber als Mannschaft konnte sich der einstige indische Prinz, dessen richtiger Name Dakkar war, immer auf die Männer verlassen, und er war stolz darauf, die richtigen Weggefährten an seiner Seite zu haben. Denn die Erforschung der Meere war eines seiner wichtigsten Ziele. Es gab so vieles, was man zum Wohl der gesamten Menschheit entdecken und auch nutzen konnte, und während sich verschiedene Länder und Regierungen gegenseitig an verschiedenen Orten der Welt bekriegten, vollzog Nemo mit der Nautilus eine friedliche Mission.

Seine Gedanken brachen ab, als ihm die Geräusche der Maschinen anzeigten, dass die Nautilus aufstieg und bald die Meeresoberfläche erreicht haben würde. Diesen Moment wollte er aus nächster Nähe erleben und verließ deshalb seine Räumlichkeiten. Auch wenn der Anblick der so friedlichen Meereswelt durch das große Bullauge ihn immer wieder faszinierte.

Er nickte einigen Männern freundlich zu, als er durch den Maschinenraum schritt, verlor hier und da ein freundliches Wort und ermutigte die Mannschaft auf diese Weise, dass er jeden einzelnen von ihnen schätze. Er war nicht der Kapitän, der seine Mannschaft als Menschen zweiter Klasse oder nur als Arbeitsmaterial betrachtete. Wie kein anderer wusste Nemo, dass sie alle auf Gedeih und Verderb untereinander angewiesen waren, und das war für ihn stets das Wichtigste gewesen.

O´Leary hatte zwischenzeitlich die entsprechenden Kommandos gegeben, und wie immer war der hagere Mexikaner Pablo Vasquez besonders eifrig am Werk. Sein Vater hatte Seite an Seite mit Benito Juarez in der Mexikanischen Revolution gekämpft. Pablo hatte seinen Vater und seine Mutter in den Wirren dieses blutigen Krieges sterben sehen und war dann später zu Nemos Mannschaft gestoßen. Er wollte nichts mehr von Kriegen und Tyrannen wissen, sondern sich für den Frieden einsetzen. Deshalb bewunderte er Nemos Wirken mit einem Eifer, der schon fast an Heldenverehrung glänzte. Nemo wusste das, tat aber meistens so, als würde er das nicht bemerken.

„Wir sind gleich oben, Kapitän!“, rief ihm Pablo zu. „Noch sieht es ruhig aus.“

„Umso besser“, sagte Nemo und wartete ab, bis die Nautilus die Meeresoberfläche erreicht hatte. Als O´Leary dem Kapitän signalisierte, dass er nun nach oben gehen konnte, stieg Nemo die Leiter hinauf, entriegelte die Luke und stand wenige Augenblicke später im Freien. Sofort spürte er einen eigen­artigen Geruch in der Luft, bei dem er sofort die Nase rümpfte. Aber noch sagte er nichts. Im Gegensatz zu O´Leary, der ihm ebenfalls nach draußen folgte. Der Ire murmelte einen leisen Fluch, als er den Schwefel roch.