Leben lernen - Angie Pfeiffer - E-Book

Leben lernen E-Book

Angie Pfeiffer

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Beschreibung

Elisa wächst in den 60er und 70er Jahren im Herzen des Ruhrgebiets auf. Bald schon merkt sie, dass ihre Familie anders ist, als das bürgerliche Umfeld. Während ihr Vater eine verrückte Geschäftsidee nach der anderen produziert und damit die Familie regelmäßig in den Ruin treibt, tyrannisiert die Mutter alle mit ihrem nicht feststellbaren Herzfehler. So muss Elisa sich ihren Platz in der Welt hart erkämpfen, sich in der Ausbildung und im täglichen Leben durchsetzen, was oft gar nicht so einfach ist. Schließlich lernt sie Alfred 'Freddy' Gimpel kennen. Obwohl er alles andere als ein Traumprinz ist, heiraten die beiden. Was Elisa nun mit Freddys merkwürdiger Familie erlebt, spottet jeder Beschreibung und versetzt selbst ihre hart gesottenen Eltern in Erstaunen. Schonungslos, ehrlich und mit viel Humor erzählt Angie Pfeiffer eine ungewöhnliche Geschichte aus dem Ruhrgebiet. "Leben lernen" ist ein Roman über Macker und Tussis, Döppken und Blagen, Hallas und Halligalli, Fissematenten, Sperenzkes und ein ganz schönes Schlamassel.

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Elisa wächst in den 60er und 70er Jahren im Herzen des Ruhrgebiets auf. Bald merkt sie, dass ihre Familie anders ist, als das bürgerliche Umfeld. Während ihr Vater eine verrückte Geschäftsidee nach der anderen produziert und damit die Familie regelmäßig in den Ruin treibt, tyrannisiert die Mutter alle mit ihrem nicht feststellbaren Herzfehler. So muss Elisa sich ihren Platz in der Welt hart erkämpfen, sich in der Ausbildung und im täglichen Leben durchsetzen, was oft gar nicht so einfach ist. Schließlich lernt sie Alfred ‚Freddy’ Gimpel kennen. Obwohl er alles andere als ein Traumprinz ist, heiraten die beiden. Was Elisa nun mit Freddys merkwürdiger Familie erlebt, spottet jeder Beschreibung und versetzt selbst ihre hart gesottenen Eltern in Erstaunen.

Schonungslos, ehrlich und mit viel Humor erzählt Angie Pfeiffer eine ungewöhnliche Geschichte aus dem Ruhrgebiet.

„Leben lernen“ ist ein Roman über Macker und Tussis, Döppken und Blagen, Hallas und Halligalli, Fissematenten, Sperenzkes, und ein ganz schönes Schlamassel.

Statt Traumprinz einen Gimpel

Angie Pfeiffer zieht die Aufmerksamkeit des Leser auf ganz alltägliche Familiengeschichten, gewürzt mit dem Charme der Region in der damaligen Zeit. Kohle, Maloche, einfaches Leben. Es ist spannend, davon zu lesen und entlockt sicher so manchem ein „ja, so war das damals“. Pfeiffer erzählt gekonnt von Familienfreud und -leid, kleinen zwischenmenschlichen Tragödien, falschen und richtigen Entscheidungen. Ein schöner Roman, der einen schmunzeln lässt, aber auch mal nachdenklich stimmt.

Katrin Zill (women's edition)

Obwohl dieser Roman autobiographische Züge hat, entspricht nicht die gesamte Handlung der Realität.

Einige Charaktere sind frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen oder Persönlichkeiten rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Auch ist der zeitliche Handlungsablauf nicht immer korrekt.

„Da kommen meine Eltern mit dem neuen Kind.“

Peter, der auf dem Hof spielte, war ganz aufgeregt.

„Meine Mama war nämlich im Krankenhaus, weil meine Schwester eine Problemgeburt ist. Jetzt haben sie sie rausgelassen, meine Mutter und meine Schwester auch“, erklärte er seinen Spielkameraden.

Vorsichtig näherten sich die Jungen Peters Eltern, die aus dem Auto gestiegen waren. Tatsächlich hielt Ilse Jollenbeck ein Baby im Arm, das fest in eine Decke gewickelt war.

„Frau Jollenbeck, zeigen Sie mir mal das Problem ... ähm ... Problemdings?“, fragte ein vorwitziger Knabe.

Ilse musterte ihn irritiert. „Was möchtest du?“

Peter hatte sich vorgedrängelt und stieß seinem Freund den Ellenbogen in die Seite.

„Er will wissen, wie sie aussieht“, erklärte er. „Wie heißt die noch mal?“ Er konnte sich den Namen seiner neuen Schwester einfach nicht merken.

Kalle, Peters Vater, hatte amüsiert zugehört, jetzt mischte er sich ein. „Dein Schwesterchen heißt Elisa. Wenn du es sehen möchtest, dann musst du mit in die Wohnung kommen.“

Er legte seiner Frau fürsorglich den Arm um die Schulter. „Komm, Liebes. Deine Mutter wartet sicher schon auf uns.“

Er scheuchte die Rasselbande auseinander, die immer noch um ihn und Ilse herumstanden, um einen Blick auf die Problemgeburt zu erhaschen, denn keiner konnte sich etwas unter diesem Begriff vorstellen.

„Jetzt ist es aber gut, macht gefälligst Platz. Und du, Peter, kannst mit nach oben kommen.“

„Och nö, ich spiele lieber weiter.“ Peter fand die Schwester, die auch noch angefangen hatte wie am Spieß zu brüllen hässlich und langweilig.

In der geräumigen Wohnküche angekommen wurde das Ehepaar bereits vom Ilses Mutter Anna erwartet. Behutsam nahm sie ihrer Tochter das Kind aus dem Arm.

„Ich kümmere mich schon um die Kleine“, erklärte sie. „Du bist nach den Strapazen bestimmt noch schlapp und kaputt, Kind. Zudem musst du auf dein schwaches Herz Rücksicht nehmen. Leg dich ruhig ein wenig aufs Ohr. Ich bleibe hier so lange es nötig ist. Dein Vater kann ausnahmsweise noch eine Stunde ohne mich auskommen.“

„Ach, Mutter, was sollten wir bloß ohne dich anfangen“, lächelte Ilse.

„Blödsinn“, brummelte Anna. „Ich passe doch gern auf meine Enkel auf. Schließlich bist du meine einzige Tochter. Und jetzt haben wir auch noch ein Mädchen bekommen.“

Sie wandte sich wieder dem Baby zu, das in ihrem Arm eingeschlafen war und betrachtete es andächtig.

Inhaltsverzeichnis

Ruhrpottklüngel

Ruhrpottliebe

Ruhrpottherzen

Ruhrpottabschied

Ruhrpottklüngel

„Was, du willst nicht hören? Na warte, dir werde ich‘s zeigen. Wegen dir habe ich schon wieder Herzschmerzen.“ Kurzerhand packte Ilse ihre kleine Tochter, stieß sie in die Besenkammer und schloss energisch die Tür. Das tat sie immer, wenn die Kleine nicht gehorchte.

Elisa schnappte nach Luft. Sie fürchtete sich vor der Dunkelheit und der Enge. Die Wände schienen immer näher zu kommen, sie zu erdrücken. Erschrocken kniff das Kind die Augen zu, bedeckte sie mit den Händen. Es versuchte tief einzuatmen, doch die Lungen wollten sich einfach nicht mit Luft füllen. Elisa nahm die Hände von den Augen. Obwohl es stockdunkel war wusste sie, dass die Wände der Kammer immer näher rückten, sie bestimmt gleich zusammenquetschen würden. Während ihr die Tränen über das Gesicht liefen, begann sie zu schreien.

Es klopfte. Die ältliche Nachbarin steckte den Kopf durch die Wohnungstür. „Frau Jollenbeck, ist etwas passiert? Wir hören Elisa deutlich schreien. Mein Mann hat gesagt, ich soll mal nach dem Rechten schauen.“

„Gar nichts ist passiert“, erwiderte Ilse erbost. „Überhaupt schreit das Balg gar nicht mehr.“ Sie öffnete demonstrativ die Besenkammer. Elisa saß zusammengekauert in einer Ecke und schluchzte leise vor sich hin. „Ich schlage meine Tochter eben nicht, ich sperre sie einfach in die dunkle Kammer und schon pariert sie.“

„Aber Frau Jollenbeck, die Kleine ist doch erst drei Jahre alt. Soll ich sie eine Weile mit zu mir nehmen? Dann können Sie in Ruhe Ihre Hausarbeit machen und das Kind läuft Ihnen nicht zwischen den Füßen herum.“

Ilse zuckte mit den Schultern. „Wenn Sie sich das antun wollen. Elisa ist heute wieder besonders bockig.“

Die Nachbarin reichte dem kleinen Mädchen sanft die Hand.

„Magst du mitkommen? Ich will einen Kuchen backen, du kannst mir bestimmt gut helfen.“

Zögernd ergriff Elisa die dargebotene Hand, stieg dann schnell aus der Besenkammer, bevor sich die dunklen Wände noch einmal um sie schließen konnten. Sie holte tief Luft, zog dabei die Nase hoch und nickte heftig. Die Nachbarin griff in ihre Schürzentasche und zog ein Taschentuch hervor. „Jetzt putzen wir dir erst einmal die Nase. Dann backen wir zusammen einen tollen Kuchen.“

Bis auf kleine Unstimmigkeiten war die Nachbarschaft gut. Man traf sich regelmäßig auf dem Vorderhof zum Schlachten, was letztendlich immer in einem Trinkgelage endete. So manches Huhn flatterte kopflos bis zur Dachrinne, weil es in letzter Minute losgelassen wurde.

Das Leben lief, dreizehn Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, endlich in geregelten Bahnen. Kalle hatte eine Anstellung als Anlagenfahrer in der Kokerei. Die Werkswohnung war akzeptabel, bestand aus einer Wohnküche und einem Schlafzimmer. Zwar war der Toilettenraum nur über den Flur zu erreichen und man musste ihn mit den Nachbarn teilen, doch hatte das Klosett eine Wasserspülung.

Natürlich gab es kein Badezimmer. Gebadet wurde einmal in der Woche in einer großen Zinkbadewanne, die unten ganz nippelig war, sodass man nicht darin herumrutschen konnte, ohne sich den Podex aufzuschubbern. Zuerst ging der Hausherr in die Wanne, dann seine Frau und zuletzt die Kinder. Das Wasser wurde im großen Einkochkessel auf den Kohleherd erhitzt und dann vorsichtig umgeschüttet.

Ilse und die Kinder besuchten täglich die Großeltern, um dort zu Mittag zu essen, wobei Ilse meist einen Topf Suppe für ihren Mann mit nach Hause nahm, was die lästige Kocherei überflüssig machte. Die Hausarbeit in der Zweizimmerwohnung hielt sich in Grenzen, sodass Ilse genug Zeit für sich hatte und ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen konnte. Sie verschlang Liebesromane aller Couleur.

Wenn Elisa auch ab und zu störrisch war, was zur Folge hatte, dass sie weiterhin in den dunklen Schrank gesperrt wurde, entwickelte sie sich doch in Ilses Sinn. Das Kind hatte gelernt, dass es seine Mutter möglichst wenig störten durfte.

An den Wochenenden ging das Ehepaar Jollenbeck aus und überließ es dem fünf Jahre älteren Bruder, sich um die Schwester zu kümmern. Wenn Karl und Ilse dann mitten in der Nacht nach Hause kamen, hatte Peter die Kleine in sein Bett geholt, und die Kinder schliefen eng aneinander gekuschelt. „Die hat so geheult, Mama“, erklärte Peter. „Ich wusste nicht, was ich machen sollte, da habe ich sie zu mir geholt.“

Wenn kein Tanzabend angesagt war, traf man sich samstags bei Ilses Bruder Gustav und seiner Frau Betty zum Kaffeetrinken.

Gustav war, wie so viele Bergleute, an Silikose erkrankt und Rentner. Er geriet oft in Atemnot, hustete, spuckte Schleim. Neben der Sofaecke, in der er meist saß, stand ständig ein Eimer mit undefinierbarem Inhalt. Trotzdem war er immer gut gelaunt und freundlich, half, wenn er konnte.

Elisa liebte diesen Onkel heiß und innig. Er zeigte ihr mit unendlicher Geduld alle möglichen Kartentricks und brachte sie zum Kichern. Oft ließ er sie ihre selbst erfundenen Geschichten erzählen. Dabei tat er so, als würde er jedes Wort für bare Münze nehmen. „Du hast den Osterhasen gesehen? Da hast du aber Glück gehabt. Wie hat der denn genau ausgesehen?“

Nach dem Kaffeetrinken kamen die Spielkarten auf den Tisch, man spielte ‚Klammern‘, wobei Kalle und Ilse ein Team bildeten und gegen Gustav und Betty antraten. Bevor es losging, schickte man Bertram, den Sohn des Hauses, zum Kiosk an der Ecke. Er besorgte ein paar Flaschen Bier, einen Schoppen Klaren und ein paar Zigaretten Marke Eckstein. Im Laufe des Abends ging Kalle dann noch einige Male zum Kiosk, denn mit einem Schoppen und ein paar Flaschen Bier kam man nie aus.

Wenn sie genug getrunken hatte, konnte Betty meist nicht mehr an sich halten: „Jollenbeck mach mich´n Kind, der Gustav hat ja bloß eines hingekriegt.“

„Elisabeth, halt die Schnauze, ich hab mein Bestes getan“, ließ sich Gustav vernehmen. „Und überhaupt, achte lieber auf deine Terze.“ Schließlich spielte man immer noch Karten.

„Jollenbeck, biiitte“, Betty war nicht zu bremsen, während Kalle grinste: „Aber Bettykind, sei froh, dass du bloß ein Kind hast.

Aber wenn du drauf bestehst …“

Ilse schaute inzwischen ziemlich gräsig, Gustav war genervt: „Pass auf, ich versuch nachher noch mal dich den Gefallen zu tun, aber jetzt halt endlich die Schnauze und lass uns weiterspielen.“

Sonntagnachmittags besuchte man Elses Eltern. Kalle machte sich häufig einen Spaß daraus, seine Schwiegermutter zu ärgern, indem er gegen den Bundeskanzler wetterte.

So auch heute.

„Der Adenauer, der kann höchstens ein beleuchtetes Stopfei erfinden und das hat er noch abgekupfert. Schau dir bloß an, wie viel braunes Gesocks jetzt wieder etwas zu sagen hat.“

Mehr brauchte es nicht, um Anna auf die Palme zu bringen: „Wähl du ruhig deine SPD, den roten Herbert und den sauberen Herrn Ollenhauer, der ist 1933 auch ins Ausland abgehauen. Da lobe ich mir den Kanzler, der ist hier geblieben und die Rente erhöht er auch immer anständig.“

Kalle setzte zu einer Erwiderung an, aber dazu kam er nicht mehr, denn Ilse griff ein: „Mutter, du hast ja zwei Kuchen gebacken? Ist das nicht ein bisschen viel?“

Anna ließ sich schnell besänftigen: „Nachdem Elisa am letzten Sonntag so geweint hat, weil ich Peters Lieblingskuchen gebacken habe und ihren nicht, da dachte ich: sicher ist sicher. Ihr könnt den restlichen Kuchen mitnehmen.“

„Danke liebe Oma“, Elisa strahlte ihre Großmutter an, was diese schmunzeln ließ. „Gern geschehen, mein liebes Mädchen.“

„Was für ein Theater wegen der Heulsuse“, brummte Adolf und fixierte seine Enkeltochter streng. Elisa machte sich ganz klein.

Sie fürchtete sich immer ein bisschen vor dem grummeligen Großvater, seiner lauten Stimme und seinen buschigen, ständig gerunzelten Augenbrauen.

Überhaupt war das Kind seltsam versponnen, dachte sich Geschichten aus, an die es selbst zu glauben schien. Es stellte seine Puppen nebeneinander auf, unterhielt sich anschließend stundenlang mit ihnen, statt mit den anderen Kindern im Hof zu spielen.

Es aß nicht richtig, war spindeldürr und oft krank. Anna versuchte ihre Enkeltochter mit Lebertran und Milchsuppe aufzupäppeln, aber Elisa verweigerte solche Mästungsversuche mit dem ihr eigenen Starrsinn.

***

Man schrieb das Jahr 1960, die Jollenbecks zogen ins Grüne. Kalle hatte mit viel Mühe eine Neubauwohnung ergattert. Wieder eine Werkswohnung, dieses Mal mit einem richtigen Badezimmer und einem Balkon. Auch die Kinder bekamen ein eigenes Zimmer. Das war ein Riesenunterschied zu der vorherigen Bleibe mit seinem schmuddeligen Hof, den Ställen, in denen die Ratten mit den Schweinen aus einem Trog fraßen und den nahe gelegenen Bahngleisen. Die Wohnungsmiete war zwar höher, aber das stellte kein Problem dar. Kalle verdiente etwas dazu, indem er, zusammen mit einem Arbeitskollegen die Kohlen verkaufte und auslieferte, die von dem großzügigen Deputat, das jedem Kokereiarbeiter zustand, übrig blieben.

„Verdammt, du betrügst mich, gib es schon zu.“

„Was soll ich machen? Du willst ja nicht. Soll ich‘s vielleicht ausschwitzen?“

„Wer ist die Schlampe dieses Mal, sag schon. Bestimmt treibst du es mit Betty. Pfui schäm dich, die eigene Schwägerin.“

Es rumpelte, Kalle wurde um einiges lauter. „Was redest du?

Als ob ich Gustav das antun würde. Wofür hältst du mich eigentlich. Du und deine ständige Eifersucht.“

Elisa schreckte aus dem Schlaf auf. „Peter hast du auch was gehört?“

„Ja, Papa schreit und Mama auch. Wenn du Angst hast darfst du in mein Bett kommen.“ Großmütig rückte Peter etwas beiseite, insgeheim froh, dass die kleine Schwester zu ihm ins Bett kroch.

Ilse murmelte etwas, dann war es ruhig.

„Ich glaube jetzt sind Papa und Mama nicht mehr böse aufeinander. Ich schau mal nach.“ Elisa krabbelte aus dem Bett und ging zur Tür. „Kommst du mit?“

„Nö, ich bleibe lieber hier. Papa meckert bloß herum, wenn ich auftauche. Auf dich ist er ja nie böse“, stellte Peter fest. Er wickelte sich fester in seine Decke.

Elisa huschte in den Korridor und schielte um die Ecke. Die Eltern waren augenscheinlich vom Kegeln gekommen. Beide waren stark alkoholisiert, standen sich in der Küche gegenüber, stierten sich an. Ilse lehnte mit verschränkten Armen vor dem Küchenschrank, während Karl den großen Einkochkessel wie einen Rammbock vor sich hielt. Plötzlich nahm er Anlauf und versuchte seine Frau damit umzurennen. Er verfehlte sein Ziel.

Der Einkochkessel landete in der Scheibe des Küchenschrankes, die in tausend Scherben zersprang.

„Da siehst du, was du anrichtest“, kreischte Ilse. „Alles machst du nur kaputt, du Versager.“ Sie griff sich an die Brust. „Ich bekomme schon wieder Herzrasen. Du wirst mich noch unter die Erde bringen. Dann hast du endlich freie Bahn.“

Elisa brach in lautes Schluchzen aus, was Karl dazu veranlasste, den großen Kessel loszulassen. Er fiel mit einem Scheppern zu Boden. Für einen Augenblick starrte er vor sich hin. Schließlich machte er einen Schritt auf seine Tochter zu und nahm sie auf den Arm. „Komm her Spatz, ist schon gut. Hör auf zu weinen“, versuchte er das aufgelöste Kind zu beruhigen. „Wir machen bloß Blödsinn, ehrlich.“

„Ja, du machst nur Blödsinn und ehrlich bist du doch noch nie zu mir gewesen, du Mistkerl.“ Das war ein Abgang nach Ilses Geschmack. Sie warf den Kopf in den Nacken und stolzierte aus der Küche. Im Hinausgehen blickte sie noch einmal verächtlich auf ihre kleine Tochter. „Wie du dich bloß von deinem Vater anfassen lassen kannst, der stinkt doch.“

„Papa, habt ihr was gespielt?“, fragte Elisa verwirrt. „Dann hast du aber ganz schön Ärger gekriegt. Kein Wunder, wenn du alles kaputt machst.“

„Du weißt, wie Mama ist. Sie wird manchmal ziemlich böse wegen einer Kleinigkeit. Ich glaube, dass ich inzwischen ziemlich viel kaputt gemacht habe“, murmelte Karl, putzte sich umständlich die Nase und wischte sich dabei verschämt über die Augen.

Elisa schaute ihn aufmerksam an. „Du musst nicht traurig sein.

Wenn du alles wieder heil machst, dann ist Mama auch nicht mehr böse auf dich.“ Sie stockte, schaute ihren Vater abschätzend an. „Du hast ganz schön Glück. Mama kann dich nicht in die Besenkammer sperren, dazu bist du zu groß.“

„Ich glaube darüber sollte ich einmal in Ruhe mit Mama sprechen“, sagte Elisas Vater nachdenklich. „Vielleicht bist du in Zukunft auch zu groß dafür. Aber jetzt bringe ich dich wieder ins Bett und decke dich ganz fest zu. Kleine Mädchen müssen nämlich viel Schlaf haben.“

Im Kinderzimmer verrieten Peters all zu regelmäßige Atemzüge, dass er sich schlafend stellte. „Schau, dein Bruder hat gar nichts gehört“, ging Kalle darauf ein. „Jetzt aber hopp ins Bett.“ Er deckte seine Tochter zu und gab ihr einen Gutenachtkuss. Schon schlaftrunken schnüffelte Elisa an seiner Wange. „Papa, du riechst ein bisschen komisch, aber stinken tust du nicht.“

***

Heute war Elisas großer Tag, sie kam in die Schule.

Peter hatte schon vorher die Spielregeln festgelegt: „Wenn du mir hinterherläufst, dann kannst du was erleben. Ich blamiere mich doch nicht vor meinen Kumpels mit dir kleiner Kröte.

Wenn du zu Hause petzt, dann boxe ich dich.“ Das erschien ihm dann doch zu hart. „Wenn dich einer hauen will, dann kannst du mir Bescheid sagen, dann boxe ich den. Meiner kleinen Schwester tut nämlich keiner was“, setzte er großzügig hinzu. Elisa erkannte ihren großen Bruder in der letzten Zeit kaum wieder. Er war komisch geworden, ließ seine Schwester kaum noch mitspielen, kam sich sehr erwachsen vor und kommandierte sie herum.

Neulich erst hatte er Elisa einen furchtbaren Schreck eingejagt.

Eine Schnake hatte sich ins Kinderzimmer eingeschlichen, torkelte unbeholfen durch die Luft und machte schnarrende Geräusche. „Ihhh, das ist aber eine ekelige Spinne. Mach sie bitte weg.

Mama schimpft nur, wenn ich sie jetzt störe“, bat Elisa und verkroch sich unter ihrem Deckbett.

„Nö, mir ist das Vieh egal“, war die Antwort.

„Wenn du die Flugspinne nicht wegmachst, dann sage ich Mama, dass ich dich mit Gudrun im Keller gesehen habe und was ihr da gemacht habt.“ Gudrun war die Nachbarstochter, etwas älter als Peter. Was die Zwei miteinander getrieben hatten, das hatte Elisa nicht so genau sehen können, aber das es verboten war, dessen war sie sich sicher.

„Olle Petzte, dann sag´s doch. Ich schlafe jetzt. Wenn die Spinne dich drei Mal sticht, dann stirbst du. Sie ist höllengiftig“, mit diesen Worten löschte Peter das Licht.

Elisa schauderte, sollte diese Flugspinne wirklich ein so gefährliches Tier sein? Möglich wäre das schon, schließlich gab es giftige Spinnen, das hatte sie neulich im neu angeschafften Fernsehapparat gesehen. Sie zog sich die Decke noch weiter über den Kopf, ließ nur die Nasenspitze hervorlugen. Trotzdem spürte sie genau, wie das, inzwischen ins Unermessliche gewachsene Untier Anflug auf sie nahm. Es steuerte genau ihre Nasenspitze an.

In heller Panik kreischte sie auf.

Die Tür wurde aufgerissen, beide Elternteile stürzten ins Zimmer. „Was ist passiert“, japste Kalle. Elisa schluchzte und warf sich in seine Arme, während Peter ganz cool blieb: „Die hat Angst vor ’ner Schnake, die dumme Heulsuse.“

Die Sache war schnell erledigt. Kalle erlegte das fürchterliche Spinnentier. Anschließend ermahnte er seinen Sohn, wobei seine Mundwinkel zuckten. Ilse erklärte ihrer Tochter, dass eine Schnake weder giftig, noch gefährlich wäre, was Elisa ihr nur bedingt glaubte.

Doch jetzt begann für Elisa der Ernst des Lebens. Angetan mit ihrem besten, fürchterlich kratzenden Wollkleid, den Ranzen auf dem Rücken und der Schultüte im Arm ging es los. Kalle hatte die Schicht getauscht, sodass er seine Tochter zur Schule fahren konnte. „Es ist mir ganz egal, dass sonst nur Mütter ihre Kinder auf dem ersten Schultag begleiten, ich jedenfalls werde das Kind fahren, was, Spatz?“ Er hatte vor einiger Zeit einen nagelneuen, knallroten VW Käfer gekauft, in den Vater und Tochter jetzt einstiegen. Elisa platzte fast vor Stolz, als sie vor der Schule anhielten. Das Fräulein, jung und adrett, gefiel Kalle über die Maßen gut. Geduldig wartete er den Schluss der ersten Schulstunde ab, um seine Tochter wieder nach Hause zu fahren.

Ilse hatte zur Feier des Tages Elisas Leibgericht gekocht. „Na, Fräulein, wie ist die Schule so, hast du denn etwas gewusst?“,

erkundigte sie sich beim Essen.

„Ja, alles“, war die Antwort. „Die Lehrerin hat mich sehr gelobt.“

Das klang vielversprechend, schließlich sollte das Kind, wo es immer so gut Gedichte behielt, später die höhere Schule besuchen.

Auch weiterhin schien Elisa zu den Klassenbesten zu gehören, denn sie erzählte ständig, wie sehr die Lehrerin sie gelobt habe.

„Der Uwe-Andreas, das ist der Klassenbeste, der Udo, der ist am Zweitbesten, dann komme schon ich. Die Lehrerin hat auch gesagt, dass ich die Drittbeste bin weil ich immer alles weiß“, pflegte Elisa ihre Mutter zu informieren. Das stimmte nur bedingt. Elisa, schon immer in ihrer eigenen Welt zu Hause, wusste tatsächlich fast alle Fragen zu beantworten, meldete sich aber nie. Sie starrte die Lehrerin an wie das Kaninchen die Schlange, schien ihr auf telepathische Art mitteilen zu wollen, dass sie sehr wohl die Lösung der Aufgaben wusste. Leider kam das bei der zwar jungen und adretten, aber wenig telepathisch begabten Lehrerin nicht an. Auf die Idee, sich in der Schule nach den Fortschritten des Kindes zu erkundigen kam Ilse nicht, so wie sie auch nie auf einen Elternsprechtag ging. Kalle, dem die hübsche Lehrerin außerordentlich gut gefiel, fehlte zu seinem Bedauern die Zeit für ein intensives Gespräch.

Umso größer war Ilses Entsetzen, als das erste Zeugnis ins Haus flatterte. Elisa wurde in allen Fächern mit einem ‚ausreichend‘ benotet.

„Aber du hast doch gesagt, du wärst die drittbeste Schülerin?“

Elisa ließ sich nicht beirren. „Ja, das bin ich. Ich weiß auch nicht, warum die Lehrerin das nicht gemerkt hat.“

Kalle nahm das Zeugnis gelassen hin: „Nun lass das Mädel erst mal in Ruhe, sie wird schon auf deine verflixte höhere Schule kommen.“

„Das kommt gar nicht infrage, wenn sie gelogen hat, dann Gnade ihr Gott. Ich werde morgen in die Schule gehen und mit diesem Fräulein Lehrerin reden.“

Am nächsten Tag stürmte Ilse, ihre Tochter fest an der Hand, in den Klassenraum und stellte die Lehrerin zur Rede.

„Ja das stimmt schon. Die von Elisa genannten Schüler sind wirklich die Klassenbesten. Aber ihre Tochter gehört leider nicht dazu. Sie meldet sich niemals. Wenn ich sie anspreche, dann schaut sie, als ob sie am liebsten unter die Bank kriechen würde und gibt keine Antwort. Auch muss ich sie ständig ermahnen, nicht mit der linken Hand zu schreiben. Immer wieder versucht sie es. Es ist mir nichts anderes übrig geblieben, als ihr jedes Mal einen Klaps auf die Hand zu geben. Im Übrigen stellt sich Elisa mit der rechten Hand sehr ungeschickt an.“

Auf diese niederschmetternde Auskunft hin konnte Ilse sich nur noch verabschieden. Sie verließ wortlos die Schule.

„So, so, die Drittbeste“, mit einem mitleidigen Lächeln wies das Fräulein Elisa auf ihren Platz. „Da hat sich deine Mutter aber ein bisschen geärgert, was.“

Als Elisa mittags nach Hause kam, servierte ihr ihre Mutter wortlos das Essen und sprach anschließend den ganzen Tag kein Wort mehr mit ihr, was das Kind mit stoischer Gelassenheit hinnahm. Elisa war froh, dass ihre Mutter sie seit dem Abend, an dem der Vater den Küchenschrank kaputt gemacht hatte nicht mehr in den Besenschrank sperrte.

***

Von einem Samstagsbesuch bei Gustav und Betty war Elisa besonders fasziniert. Gustav hatte einen Bandwurm und dieses in epischer Breite geschildert: „Da war ich auf’n Klo und dat war ganz komisch, als ich unter mich geguckt habe. Bin dann gleich in die Stube, hab’ Betty gefragt, ob wir Nudeln gegessen hätten. Hatten wir aber nich’.

Bin ich also zum Doktor und der sacht mich glatt: Herr Jungherr, sie haben einen Bandwurm. Ich sach euch, ich weiß nich’, woher ich dat gekricht hab’. Jedenfalls muss ich jetzt immer rohet Sauerkraut essen und meine Kacke nach´n Doktor bringen.

Dat heißt, dat macht der Berti schnell auf’n Weg zur Arbeit.

Wir, der Doktor und ich, müssen jetzt warten dat der Kopf von den Bandwurm rauskommt, dann bin ich geheilt.“

„Onkel Gustav, darf ich dann den Kopf von dem Bandwurm sehen, bevor du ihn zum Arzt bringst?“

„Ach ne, Spatz, dat is mich schenant!“

Zurzeit machten sich Gustav und Betty ernsthafte Sorgen. Ihr Sohn Bertram, schon über zwanzig Jahre alt, hatte immer noch nichts mit dem anderen Geschlecht am Hut.

„Weiße, Jollenbeck, wenn der Junge wenigstens mal irgendein Mädel hätte. Meinst du, der ist vom anderen Ufer?“ Gustav hatte sich zu einem vertraulichen Gespräch mit einem Experten durchgerungen. „Kannst du den Berti nicht mal mit innen Puff nehmen, da kommt er vielleicht auf’n Geschmack.“

„Lass man, Gustav, dafür habe ich noch nie bezahlt“, Kalle war entrüstet. Er und ein Bordell besuchen, so weit musste es wirklich nicht kommen, die Weiblichkeit war willig genug. „Vielleicht ist der Junge ein Spätzünder, hübsche Mädel gibt es genug. Mach ihn doch mal auf eine aufmerksam, dann braucht er bestimmt nicht in den zu Puff gehen. Vielleicht sollte die Betty ihn auch nicht so betuddeln.“

Mit dieser Bemerkung hatte Kalle Recht, denn Betty gluckte tatsächlich. Dass sie ihrem Sohn täglich seine Kleidung herauslegte, mochte noch angehen, aber dass sie ihn nach der Arbeit wusch, erschien schon recht merkwürdig. Berti war als Betriebsschlosser in einer Schraubenfabrik untergekommen. Kam er von der Arbeit nach Hause, so erwartete ihn seine Mutter bereits mit der vorbereiteten Zinkbadewanne. Er stellte sich, nur mit der Unterhose bekleidet, hinein, breitete die Arme aus und seine Mutter wusch ihn. Anschließend wurde er von ihr abgetrocknet.

Kalles Bemerkungen fielen auf fruchtbaren Boden. Gustav beratschlagte mit seiner Frau. Ihr fiel auch gleich ein Mädchen ein: Ihre Schwester, in Remscheid verheirate, hatte eine Tochter, Ulla, die im heiratsfähigen Alter, aber noch unbemannt war. Das es sich um Cousin und Cousine handelte schob man beiseite, es blieb halt alles in der Familie. Betty führte Verhandlungen, die Kandidatin zeigte sich nicht abgeneigt. Rustikal, wie sie war, packte sie ihren Kram zusammen und zog bei Onkel und Tante in Gelsenkirchen ein. Berti wurde nicht gefragt. Als er von der Arbeit kam, wartete nicht seine Mutter mit dem vorbereiteten Bad auf ihn, sondern Ulla, die ihn mit sachkundiger Hand wusch. Da die Wohnung nur aus zwei Zimmern bestand, hatte man für den Sohn ein Mansardenzimmer angemietet, in das Ulla praktischerweise gleich einzog. So war Berti ohne viel Mühe zu einer Freundin gekommen.

Bald darauf kamen die Jollenbecks zu Besuch, um die hilfsbereite Cousine zu begutachten. Elisa staunte, denn sie hatte noch nie eine so dicke Person gesehen. Hinzu kam, dass Ulla für gewöhnlich einen Nylonkittel trug. Da es scheinbar unmöglich war, eine passende Strumpfhose zu bekommen, lüftete sie in regelmäßigen Abständen den Kittel und zerrte sich die zu kleine Strumpfhose über den Bauch. Elisa schaute fasziniert zu, erinnerte sie Ullas Unterteil doch an einen gewaltigen Globus.

Betty war glücklich. Nicht nur, dass die Schwiegertochter in spe sich gleich eine Arbeit in der Heißmangel gesucht hatte, sie machte ihr auch noch nebenbei den lästigen Haushalt, denn damit hatte Betty so gar nichts am Hut. Auch Gustav war erleichtert und erzählte seinen Schwager Jollenbeck auch gleich warum: „Stell dich bloß vor, Jollenbeck, da will ich wat mit meinen Sohn bequatschen. Gehe ich also rauf in sein Zimmer. Klar, ohne Anklopfen, aber dat mach’ ich auch nicht mehr! Ich mache also die Tür auf und da steht die dicke Ulla splitterfasernackt vor’m Bett, der Berti liegt drauf, auf’n Bett meine ich, nich’ auf Ulla, und krault ihr dat Ruhrgebiet. Siehst du, der Bengel is doch nich’ vom anderen Ufer. Und eines will ich dich mal sagen, die Ulla, dat ist eine gewaltige Frau!“

***

„Wir fahren in die Schweiz!“

Dieser Satz ging Elisa gar nicht mehr aus dem Kopf. Das erste Mal sollte sie ganz alleine mit ihren Eltern in den Urlaub fahren, denn Peter wollte die Sommerferien lieber mit seinen Freunden in einem Ferienlager verbringen.

Für Elisa wurde es ein wunderbarer Urlaub. Die Eltern tranken nur in Maßen Alkohol und stritten sich während des ganzen Urlaubs nicht. Die Vormittage verbrachte man an einem idyllischen Bergsee. Ilse sonnte sich und klebte Blätter auf die Nase, damit sie dort keinen Sonnenbrand bekam. Kalle brachte seiner Tochter mit unendlicher Geduld das Schwimmen bei. Einmal, als Elisa ausnahmsweise allein in Ufernähe herumpaddelte, kreuzte eine schillernde Wasserschlange ihren Weg. Sie fand das Tier wunderschön, versuchte ihm zu folgen. Sie konnte gar nicht verstehen, dass die Eltern in helle Aufregung gerieten und Kalle ins Wasser hechtete, um sie an Land zu bringen. Einmal am Tag trieb ein Schäferhund seine kleine Kuhherde an den See, auch das war ein Erlebnis für das Stadtkind.

Als während des Urlaubs ein Gewitter mit infernalischen Blitzen und furchterregendem Donner über dem San Salvatore niederging, nahm Kalle Frau und Tochter in die Arme. Elisa fühlte sich sicher und beschützt wie nie zuvor.

Der Urlaub ging viel zu schnell vorbei, allerdings brachten die Eltern ein ganz besonderes Souvenir mit nach Hause. Ilse war wieder schwanger.

„Wirklich Ilse, das ist die Gelegenheit überhaupt. Der Lastwagen ist spottbillig, weil ich den Käfer in Zahlung gebe.“ Kalle war Feuer und Flamme. Die Plackerei auf der Kokerei hing ihm gründlich zum Hals heraus. Jetzt ergab sich die Gelegenheit, günstig einen LKW zu kaufen, was ihn auf die Idee brachte, ein Fuhrunternehmen zu gründen.

„Aber Karl, was ist, wenn du keine Aufträge bekommst?“, wagte Ilse einen Einwand.

„Das wird nicht passieren, ein Bekannter hat mir seine Hilfe zugesichert. Die Firma, bei der er beschäftigt ist, vergibt Fahrten an freie Unternehmer. Er will dafür sorgen, dass mein Wagen immer gut ausgelastet ist. Dafür kriegt er ab und zu eine Flasche Schnaps.“

„Aber wir leben in einer Werkswohnung. Wenn du kündigst, fliegen wir dann nicht achtkantig aus unserer Wohnung? Gerade jetzt, wo ich schwanger bin.“ Ilse wies auf ihren bereits beachtlichen Schwangerschaftsbauch.

„Du siehst alles viel zu schwarz, Ilsekind. Bei so vielen Kokereiarbeitern fällt es gar nicht auf, dass einer gekündigt hat“, tat Kalle die Bedenken seiner Frau ab. „Wenn alles gut läuft, dann kaufen wir einen zweiten LKW und stellen einen Fahrer ein.

Überlass ruhig alles mir, du musst dich um nichts kümmern, das lässt dein schwaches Herz ja auch nicht zu.“

Kalle ließ sich durch nichts und niemanden bremsen. Er kündigte den Job, gab den Käfer in Zahlung, unterschrieb einen Kreditvertrag und war bald stolzer Besitzer eines kleinen LKW.

Leider waren seine Pläne von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Er bekam niemals genug Fuhren zugeschustert. Der Bekannte hatte wesentlich mehr als eine gelegentliche Flasche Schnaps erwartet. Auch bei anderen Firmen konnte er kaum lukrative Aufträge ergattern.

„Das ist die Durststrecke, die wir überwinden müssen“, erklärte er seiner skeptischen Frau. „Wenn ich erst einmal Fuß gefasst habe, dann werde ich mich vor Aufträgen nicht retten können.“

Richtig schlimm wurde es, als die Wohnungskündigung ins Haus flatterte, denn natürlich war es nicht unbemerkt geblieben, dass er nicht mehr für die Kokerei arbeitete.

Die Eheleute suchten fieberhaft nach einer neuen, günstigen Wohnung, was mit zwei Kindern und einer deutlich schwangeren Ilse nicht leicht war. Schließlich fand Kalle ein abgelegenes Haus, das sich aber immerhin noch im Gelsenkirchener Stadtgebiet befand. Zwar stand die Immobilie eigentlich zum Verkauf, doch gab sich der Eigentümer vorerst mit einer Vermietung zufrieden. Wenigstens bot das neue Haus genügend Platz, sodass Peter und Elisa jeweils ein Zimmer bekamen. Elisa hatte endlich ein eigenes kleines Reich. Sie baute ihre Puppen im ganzen Zimmer auf und fühlte sich wohl.

„Kommt Zeit, kommt Rat. Bald geht es aufwärts mit dem Geschäft, dann kaufen wir das Haus“, gab sich Kalle optimistisch.

Noch eine weiter finanzielle Belastung kam dazu, an die weder Karl noch Ilse gedacht hatten. Die Familie war nicht mehr krankenversichert. Für eine private Versicherung reichte das Geld nicht. Kalle kam ins Grübeln. Wie teuer wohl die Entbindung sein würde? „Du hast doch unseren Peter zu Hause bekommen, Liebes. Mit Elisa warst du eigentlich nur im Krankenhaus, weil es Probleme gab.“

Ilse musterte ihn kühl. „Siehst du, deine Tochter hat von Anfang an Probleme gemacht. Das kann sie nur von dir haben. Ich werde das Kind auf keinen Fall zu Hause bekomme, das kannst du dir abschminken, mein Lieber.“

„Ich dachte ja auch nur ...“

„Denk nicht mal daran!“

***

Anna war nicht glücklich über die erneute Schwangerschaft ihrer Tochter. Immer wieder las man neuerdings in der Zeitung, welche Risiken es für Mutter und Kind geben konnte. Gerade wenn die werdende Mutter nicht mehr ganz jung war. Ihr selbst ging es gar nicht gut. Sie hatte bereits einen Schlaganfall hinter sich, von dem sie sich einigermaßen erholt hatte, allerdings ging ihr vieles nicht mehr so leicht von der Hand. Adolf hatte die Zeit während ihres Krankenhausaufenthaltes im Vollrausch verbracht. Er war froh, dass wieder jemand da war, der morgens den Kohleherd in Betrieb setzte, ihm das Frühstück servierte und die Mahlzeiten zubereitete.

Anna hatte gedacht alles gut überstanden zu haben, doch heute fühlte sie sich gar nicht wohl. Ständig wurde es ihr schwindelig.

Mit dem Sehen schien auch etwas nicht in Ordnung zu sein, dazu kamen bohrende Kopfschmerzen. Sie machte sich große Sorgen um ihre Ilse, schließlich war das Kind fast vierzig Jahre alt.

Hinzu kam, dass die Tochter in letzter Zeit häufiger Schmerzen im Unterleib hatte. „Falscher Alarm“, wiegelte sie dann ab, aber in Wahrheit fehlte es an Geld, um einen Arzt zu konsultieren.

Eigentlich müsste sie, Anna, zur Stelle sein, aber wer sollte in der Zwischenzeit ihren Mann versorgen. Er war ohne sie hilflos, betrank sich nur und aß nicht einmal vernünftig. Seufzend machte sie sich am Herd zu schaffen. Adolf wollte pünktlich seine Milchsuppe zum Abendbrot haben. Wenn bloß nicht diese Kopfschmerzen wären …

Zur gleichen Zeit saß Ilse im Wohnzimmer und versuchte sich auf die laufende Fernsehsendung zu konzentrieren. Kalle hantierte in der Küche, er schmierte den Kindern Butterbrote. „Liebes, hast du auch Hunger?“, rief er aus der Küche.

„Eher nicht“, war ihre Antwort. „Ich glaube das Kind kommt.“

Als zweieinhalbfacher Vater blieb Kalle cool. „Moment, ich koche den Kindern eben schnell noch ihren Tee, dann geht es ab ins Krankenhaus.“ Er versorgte die Kinder, die ganz begeistert waren, weil sie bis zu seiner Heimkehr fernsehen durften. Anschließend fuhr er den Laster vor die Haustür und half seiner Frau in das Führerhaus.

Während der Fahrt krümmte sich Ilse immer wieder zusammen, denn die Wehen hatten heftig eingesetzt. „Du meine Güte“, keuchte sie während einer kurzen Atempause. „Ich hatte ganz vergessen, wie weh das Kinderkriegen tut!“

Im Krankenhaus angekommen schien sich die Wehen etwas zu legen. Nach einer gründlichen Untersuchung tätschelte die Hebamme Ilse vorsichtig den Bauch. „Mit einem Wehensturm ist nicht zu spaßen. Wir legen dir jetzt einen Tropf, wenn das nicht hilft, so werden wir das Kind mit einem Kaiserschnitt holen müssen. Aber es wäre besser, wenn wir es noch eine Weile an Ort und Stelle lassen könnten, schließlich hast du gut drei Wochen Zeit bis zum Geburtstermin. Allerdings wirst du erst einmal hier bleiben müssen.“

Zur Erleichterung aller wirkte der Tropf bald, der Wehensturm war überstanden. Kalle machte sich auf den Weg nach Hause, wo er die vor dem Fernseher eingeschlafenen Geschwister sacht weckte und ihnen erklärte, dass das neue Baby noch auf sich warten ließ.

„Prima, dann können wir ja bald wieder so lange fernsehen“, stellte Peter fest.

Am Vormittag des nächsten Tages kam eine besorgte Krankenschwester in Ilses Zimmer. „Bitte regen sie sich nicht auf, Frau Jollenbeck. Ihre Mutter ist heute Nacht eingeliefert worden, ein zweiter Schlaganfall. Es sieht nicht gut aus. Sie sollten zu ihr.“

Wie betäubt folgte Ilse der Schwester ein Stockwerk tiefer. Anna lag, zwar mit offenen Augen, aber bewegungslos in ihrem Krankenbett. Sie reagierte auch nicht, als ihre Tochter sie ansprach. Der anwesende Arzt wandte sich der fassungslosen Ilse zu. „Wir haben das Menschenmögliche getan, doch ich fürchte es geht zu Ende. Ich lasse sie jetzt mit ihrer Mutter allein.“

Ilse nickte, nahm behutsam Annas Hand: „Mutter, es ist alles in Ordnung mit mir und dem Baby, wirklich. Du machst dir ganz unnötige Sorgen.“

Anna öffnete den Mund, wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Sie drückte die Hand ihrer Tochter so fest sie konnte. Vorsichtig erwiderte Ilse den Händedruck, dann strich sie Anna über den Handrücken, so wie sie es schon als Kind getan hatte. „Bitte lass mich nicht allein“, schluchzte sie. „Was soll ich denn ohne dich machen?“

Wieder versuchte die Mutter zu sprechen, doch kam kein Ton über ihre Lippen, so sehr sie sich auch abmühte. Plötzlich wurde Ilse ganz ruhig. Die Situation erschien ihr unwirklich, sie nahm alles wie durch einen Schleier war. „Ist schon gut, nicht sprechen, ich halte einfach deine Hand“, wisperte sie.

So saß sie lange Zeit schweigend am Bett, bis ihre Mutter schließlich friedlich einschlief.

Ilse konnte keinen klaren Gedanken fassen. Anna, die sich immer um sie gesorgt hatte, die immer für sie da gewesen war, war nun tot. Wie sollte das Leben ohne sie weitergehen? Was sollte aus Adolf werden? Und da war ja noch das Baby, wie sollte sie das alles ohne ihre Mutter bewältigen.

„Ich höre nichts“, die Hebamme runzelte die Stirn. „Sag mal, hast du das Kind heute gespürt, hat es sich bewegt?“

Ilse schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe schon länger keine Bewegung gespürt. Aber ich habe nicht darauf geachtet.“

Ilse hatte sich sofort nach Annas Tod auf eigene Verantwortung aus dem Krankenhaus entlassen. Sie wollte sich um die Beerdigung ihrer Mutter kümmern, davon ließ sich weder vom behandelnden Arzt noch von ihrem Mann abhalten. Sie erklärte sich lediglich bereit, sich jeden Tag von einer Hebamme untersuchen zu lassen.

Heute war die Hebamme zu einem Hausbesuch erschienen. Bei der Untersuchung waren keine Herztöne des Kindes festzustellen. „Du musst sofort ins Krankenhaus“, stellte sie betont sachlich fest. „Vielleicht irre ich mich, aber sicher ist sicher.“

Auch im Krankenhaus konnte man keine Herztöne feststellen.

Zwar wurde sofort ein Kaiserschnitt durchgeführt, doch war das Kind, ein Junge, bereits tot.

Ilse nahm den Verlust ihres Kindes mit unheimlich wirkender Gelassenheit hin. Selbst den darauffolgenden Tod ihres Bruders Gustav schien sie kaum zu registrieren.

Adolf hatte seine Frau weder ins Krankenhaus begleitet, noch von ihr Abschied genommen. Auch überließ er es dem Schwiegersohn und der Tochter, sich um die Formalitäten zu kümmern. Selbst der Verlust des dritten Enkelkindes kümmerte ihn wenig. Er betrank sich, jammerte, wankte zurück in die Wohnung und weinte Alkoholtränen. Nachdem Ilse aus dem Krankenhaus entlassen wurde, kümmerten Kalle und sie sich um den Vater. Da Adolf ständig betrunken war und völlig verwahrloste, packten sie ihn nach einem frustrierenden Besuch kurz entschlossen in den LKW und nahmen ihn mit nach Hause. Elisa musste ihr Zimmer räumen, Adolf wurde dort einquartiert. Fortan schlief Elisa im elterlichen Schlafzimmer. Dabei blieb es, denn Adolf betrat nie wieder die eheliche Wohnung.

Karl versuchte seiner Frau zur Seite zu stehen so gut es ging, war aber völlig überfordert. Zudem spitzte sich die finanzielle Situation immer mehr zu.

Ilse hingegen versank in einer Depression, kümmerte sich wenig um ihre Familie. An manchen Tagen schien alles wieder ins Lot zu kommen. Ilse war umgänglich, umsorgte die Kinder fast übertrieben, zeigte Interesse für Karl und seine Probleme. Dann war sie wieder abweisend, in sich gekehrt, lief den ganzen Tag ungewaschen und im Kittel herum.

Bald gingen die Eheleute immer respektloser miteinander um.

Karl konnte nicht verstehen, dass Ilse darauf bestand ihren Vater im Haushalt zu behalten, denn Adolf dachte an nichts anderes, als an Alkohol zu gelangen. Er schickte die Kinder heimlich mehrmals am Tag zur nahe gelegenen Trinkhalle um Bier und Schnaps zu kaufen. Ansonsten wartete er auf die Mahlzeiten oder saß rauchend bis zum Sendeschluss vor dem Fernseher im Wohnzimmer. Hinzu kam, dass er gar nicht daran dachte, der Familie finanziell unter die Arme zu greifen.

Ilse wiederum warf Karl vor, sie und ihre Trauer nicht zu verstehen und herzlos darüber hinwegzugehen. Die Streitgespräche wurden immer heftiger. Oft zog sich Ilse weinend zurück, hockte schluchzend in der Küche.

Während sich Peter möglichst zurückzog, setzte sich seine Schwester zur Mutter, versuchte unbeholfen sie zu trösten, während sich Ilse verbittert über den herzlosen Ehemann klagte.

Karl hockte in der Zwischenzeit im Wohnzimmer, brütete in hilflosem Schweigen vor sich hin, betrank sich systematisch.

Dann konnte ein falsches Wort von Ilse ihn zum Explodieren bringen. Im betrunkenen Zustand war er oft unbeherrscht und ließ seine Wut und den Frust an einem Möbelstück aus. Peter machte sich in solchen Situationen unsichtbar so gut es ging, weil er aus Erfahrung wusste, dass sich die Wut seines Vaters schnell gegen ihn richten konnte. Seiner Schwester gelang es oft, den Vater zu besänftigen. Mehr als einmal nahm sie ihn einfach bei der Hand, brachte ihn dazu sich ins Bett zu legen, während sie sich zu ihm setzte, bis er eingeschlafen war.

„Ach Spatz“, lallte er oft. „Du musst deine Mutter verstehen. Sie ist ne gute Frau und ich mache immer alles falsch und alles kaputt.“

Zu allem Überfluss drängte der Hausbesitzer auf einen Kauf.

Kalle verhandelte, versuchte ihn im Preis zu drücken. Gleichzeitig bemühte er sich, seinen Schwiegervater davon zu überzeugen, seine Ersparnisse in das Haus zu stecken oder ihm wenigstens etwas Geld vorzustrecken. Adolf blockte alles ab, wollte sich auf keinen Kompromiss einlassen. Auch Ilse konnte oder wollte ihn nicht überzeugen. Da Kalle allein nicht in der Lage war den Immobilienkauf zu finanzieren, wurde das Haus anderweitig verkauft. Bald darauf flatterte die Kündigung wegen Eigenbedarf ins Haus.

***

„Wer nichts wird, wird Wirt.“ Adolf kicherte leise vor sich hin. „Aber Vater, was sagst du denn da?“ Ilse war entrüstet. „Die Gastwirtschaft ist eine tolle Möglichkeit. Am Wochenende schauen wir sie uns an. Sie läuft gut, trotzdem will der Pächter unbedingt aus dem Vertrag heraus.“

Adolf ließ sich nicht beirren. Er hatte schon den nächsten Spruch parat: “Mache nicht den Bock zum Gärtner. Der Jollenbeck säuft ganz schön und du spuckst auch nicht rein.“

Jetzt wurde Ilse wirklich böse: „Ja sicher dat, das musst DU gerade sagen, DU bist der Richtige, DU säufst wie ein Loch …“, so ging es noch eine ganze Weile weiter. Adolf zog die Schultern zwischen die Ohren und machte, dass er in den Garten kam.

Am Samstagabend fuhren die Eheleute nach Westerholt, um die Gaststätte zu besichtigen. Nachdem sie sich einmal für den Gedanken erwärmt hatten, waren Karl und Ilse Feuer und Flamme.

Die beiden hatten sich endlich zusammengesetzt und lange miteinander diskutiert. Beide wollten die Ehe fortsetzen, waren sich jedoch klar darüber, dass sich etwas Grundlegendes ändern musste. „Wo es mit dem Fuhrunternehmen nicht geklappt hat wäre es vielleicht gut, wenn wir gemeinsam etwas aufziehen könnten“, überlegte Ilse.

„Das wäre die Lösung“, stellte Kalle mit einem schiefen Grinsen fest. „Wir würden den ganzen Tag zusammenarbeiten, dann hättest du keinen Grund eifersüchtig zu sein.“

Ilse schüttelte unwillig den Kopf. „Ich habe meine Gründe, aber darüber möchte ich jetzt nicht reden. Du findest die Idee also auch gut gemeinsam ein Geschäft zu führen?“

Kalle schloss sie in die Arme. „Ja, Liebes, bestimmt wird dieses Mal alles gut.“

Da kam die Annonce in der ‚Westdeutschen Allgemeinen Zeitung’ gerade recht. Es wurde ein Nachpächter für eine Gastwirtschaft in Westerholt mit Saal, Fremdenzimmern und dazugehöriger Wohnung gesucht. Westerholt, das war für Kalle und Ilse als alte Gelsenkirchener zwar fast schon Ausland, aber man würde sich zurechtfinden.

So fuhren die Jollenbecks los, um die Gaststätte ‚Zur Börse’ in Augenschein zu nehmen. Adolf blieb zu Hause: „Du nicht, Vater. Nachher säufst du gleich zu viel. Das wirft kein gutes Bild auf uns.“

Die Gaststätte lag mitten im alten Dorf. Im Vorbeifahren zählte Ilse nicht weniger als vier weitere Kneipen auf ca. dreihundert Metern Straße. „Wie die alle zurechtkommen? Aber es scheint zu funktionieren. Guck mal, die Kirche ist gleich gegenüber.

Bestimmt machen die Männer nach dem Kirchgang ihren Frühschoppen bei uns. Kalle, du musst unbedingt jeden Sonntag in die Messe gehen.“

Karl tippte sich an die Stirn: „Das kannst du dir abschminken. Geh doch selbst hin und nimm die Kinder am besten gleich mit.“ Damit war das Thema Kirchgang abgehakt, denn Ilse ging höchstens zu Ostern und zu Weihnachten in die Kirche. Sie verschlief, genau wie ihr Mann, den Sonntagmorgen viel zu gern.

Die Gaststätte kam in Sicht, machte mit abbröckelndem Putz und schadhaften Fensterrahmen einen heruntergekommenen Eindruck. Auch von innen sah die Wirtschaft nicht besser aus.

Der Tresen war alt, die Tische und Stühle reif für den Sperrmüll.

Man stellte sich vor, wobei die Wirtsleute erleichtert wirkten.

Wahrscheinlich hatten sie nicht erwartet, dass sich die Interessenten wirklich blicken ließen. Die Jollenbecks setzten sich an den Stammtisch und schauten sich um.

„Das ist aber malerisch hier und urgemütlich.“ Ilse wollte sich offensichtlich wohlfühlen.

„Heute haben wir richtig Betrieb. Das Geschäft läuft gut“, erklärte der Wirt freudestrahlend, während seine Frau eifrig nickte.

Als man die gesamten Räumlichkeiten besichtigt hatte und in den Schankraum zurückkam, war die Stimmung auf dem Höhepunkt angekommen. Am Tresen drängten sich die Gäste, einige Pärchen tanzten zu den Klängen der Music Box.

„Diese Kneipe ist eine Goldgrube. Die Fremdenzimmer kriegen wir ruck-zuck vermietet. Der Saal ist riesig. Wir könnten große Tanzveranstaltungen organisieren und im Nebenzimmer tagt vielleicht bald der Gemeinderat.“ Kalle baute schon wieder Luftschlösser, wobei Ilse es ihm gleich tat: „Die dazugehörige Wohnung ist auch groß genug. Ein Zimmer für Vater ist vorhanden, auch ein Wohnzimmer. Das Schlafzimmer ist riesig.

Elisa kann also weiter problemlos bei uns schlafen.“

Der Gedanke gefiel Kalle ganz und gar nicht. „Ist das nötig?

Vielleicht können wir ein Fremdenzimmer zum Kinderzimmer umfunktionieren.“

„Erst mal schläft deine Tochter bei uns, das findet sich dann. Jedenfalls kann Peter in einer der Mansarden schlafen, das andere Zimmer oben können wir auch noch vermieten.“

„Ich sehe schon, es gefällt Ihnen. Darauf sollten wir anstoßen. Natürlich sind Sie meine Gäste.“ Der Pächter hatte sich mit an den Tisch gesetzt und hob sein Bierglas. „Sie müssten sich nur noch mit der Firma Getränke Troll in Verbindung setzen, ein Herr Broth ist da zuständig. Dann ist alles geritzt.“

Direkt am nächsten Montag wurde Kalle bei Herrn Broth vorstellig. Die Firma war mit einem Pächterwechsel einverstanden, stellte aber einige Bedingungen. Zunächst verlangt man eine hohe Kaution. Der Pachtvertrag lief über sieben Jahre. Weiterhin verpflichteten sich die neuen Wirtsleute nicht nur das Bier, sondern auch sämtliche Spirituosen und nichtalkoholischen Getränke über den Getränkevertrieb Troll zu beziehen. Kalle willigte in alle Bedingungen ein. Zu reizvoll war der Gedanke die Gaststätte zu übernehmen und endlich erfolgreich zu sein.

***

„So geht es nicht weiter. Wir müssen uns etwas einfallen lassen. Der einzige gute Gast ist mein Vater.“ Ilse wies auf ihren Vater, der vor dem Tresen stand und mit einem fünf Mark Schein wedelte.

„Einen noch“, nuschelte er.

„Aber Vater, du hast für heute genug. Du kannst ja kaum noch stehen.“ Ilse war unerbittlich. Grummelnd tippelte Adolf durch die Hintertür, um in seinem Zimmer den Rausch auszuschlafen.

Dabei hatte doch alles so gut angefangen. Der Umzug ging reibungslos über die Bühne, man richtete sich in den neuen Räumlichkeiten ein. Sogar der Lastwagen ließ sich gut verkaufen.

Man stellte eine Haushälterin ein, eine ältliche, farblose Person, die mit ihrem ständigen Begleiter in der Mansarde einzog. Tante Käthe, wie sie sich von den Kindern nennen ließ, war fleißig und sauber, ihr Freund kümmerte sich um die Koksheizung und erledigte kleinere Reparaturen. Dass die beiden ein Alkoholproblem hatten, bemerkte man vorerst nicht.

Nach und nach erfuhren Karl und Ilse, dass sämtliche Pächter mit der Gaststätte in Konkurs gegangen waren. Auch dem Pächter Ehepaar, das sie kennengelernt hatten, erging es nicht anders, nur waren diese Leute cleverer als ihre Vorgänger. Sie hatten sich früh genug mit dem Generalvertreter Broth in Verbindung gesetzt, für naive Nachpächter gesorgt, und waren so relativ schmerzfrei aus ihrem Vertrag entlassen worden.

„Aber die Kneipe war gut besucht, als wir zum ersten Mal hier waren“ , stellte Ilse verblüfft fest.

Das stellte sich als ein echter Schildbürgerstreich heraus. Die Vorpächter hatten einfach ihre Verwandtschaft und Bekanntschaft zu einem kostenlosen Umtrunk eingeladen. Zur Bedingung für die Bewirtung wurde allerdings gemacht, dass die Simpel, welche sich den Gastbetrieb ansahen, am Ende des Abends überzeugt sein mussten, hier auf eine Goldgrube gestoßen zu sein.

Die interessierten Dorfbewohner hatten sich die neuen Wirtsleute angeschaut. Der Wirt schien recht umgänglich, die Frau ein wenig hochnäsig zu sein, aber das war nicht der springende Punkt. Ins Gewicht fiel eher, dass die Wirtsleute ihre Lebensmittel weder beim ortsansässigen Schlachter, der ein wichtiges Gemeindemitglied war, noch bei irgendeinem anderen Händler im Dorf kauften. Sie bevorzugten den Großhandel oder einen der neuen Supermärkte in der Stadt. Auch ließ sich niemand aus der Familie sonntags in der Kirche blicken. Hinzu kam, dass der neue Wirt sich rundheraus weigerte, in den örtlichen Schützenverein einzutreten, obwohl man ihm das nahegelegt hatte. Mit so wenig Interesse am Alt Westerholter Dorfleben ließen sich keine Gäste gewinnen. So war die Situation bereits nach ein paar Monaten kritisch.

Tatsächlich war Adolf der beste Gast. Er stand morgens auf, ließ sich von Tante Käthe das Frühstück servieren und wartete darauf, dass diese mit der Säuberung des Schankraums begann.

Gerne gesellte er sich dann zu ihr, ließ sich den ersten Korn des Tages einschenken. Natürlich bezahlte er sie dafür, schließlich brauchten seine Tochter, oder, Gott bewahre, der Schwiegersohn nichts davon zu wissen. Käthe hielt tüchtig mit. Was für ein Satansweib! Die soff doch glatt jeden Mann unter den Tisch. Wenn Ilse und Kalle aus dem Bett kamen, war die Wirtschaft blitzblank und Adolf zum ersten Mal am Tag sternhagelvoll. Er zog sich rechtzeitig zu einem kleinen Schläfchen zurück. So merkten Tochter und Schwiegersohn nichts. Nach dem Mittagessen setzte er sich offiziell an den Stammtisch und orderte: „Ein Korn und ein Bier.“

„Wir werden Tanzveranstaltungen aufziehen, aber nicht so ein Schmalzkram, wie es Gerhard Wendland singt. Wir werden Beat Musik für die Jugend bringen, das wird ein Renner.“ Kalle war nie um Einfälle verlegen. Er engagierte eine Band. Jungen aus der Umgebung, die froh waren, einmal auf einer Bühne stehen zu dürfen. Anschließend ließ er Plakate und Handzettel drucken, lud Elisa ins Auto und verteile mit ihr die Handzettel in der Fußgängerzone. Auf dem Rückweg hielt er hier und dort an, klebte Plakate an Zäune und Hauswände. Elisa hielt das für einen Riesenspaß, denn sie durfte Schmiere stehen und aufpassen, dass niemand vorbei kam, solange Papa Plakate klebte.

Am fraglichen Samstag war die Gaststätte rappelvoll. Die Veranstaltung fing um zwanzig Uhr an. Es gab keinen freien Platz mehr, weder im Saal noch in der Gaststätte. Obwohl Kalle die Band engagiert hatte, ohne vorher nur ein einziges Musikstück von ihr gehört zu haben, erwiesen sich die Jungen als richtig gut und begeisterten ihr Publikum.

„Siehst du, Ilsekind“, strahlend er seine Frau an. „Ich habe wieder einmal den richtigen Riecher gehabt. Jetzt geht es endgültig bergauf mit uns.“

Tatsächlich erwiesen sich die Tanzveranstaltungen am Samstag als Selbstläufer, was kein Wunder war. Als Alternative bot sich dem Jungvolk lediglich das Kolpinghaus mit seinem katholischen Tanztee an.

Auch die Fremdenzimmer wurden vermietet, es fanden sich immer wieder Monteure, die eine günstige Unterkunft suchten.

Auch hier erwies sich Tante Käthe als Goldstück, sie bereitete und servierte das Frühstück für diese Gäste. Der Rubel rollte und die Zukunft schien gesichert.

Natürlich blieb das samstägliche Spektakel im Dorf nicht ohne Folgen. Sowieso argwöhnisch beäugt, wurden die andersartigen Wirtsleute jetzt aufs Korn genommen. Der Priester wetterte von der Kanzel ob der Verführung der Jugend zu Verkommenheit, Alkoholismus, Gehörproblemen und Schlimmerem. Kein Poahlbürger, der auf sich hielt betrat die Gaststätte. Die unmittelbaren Nachbarn beschwerten sich vehement wegen der Lärmbelästigung durch die ‚Negermusik’. Kalle reagierte auf die ihm eigene, unnachahmliche Art. Er vernagelte die Saalfenster von außen mit Spanplatten, was dem sowieso heruntergekommenen Bau eine ganz eigene Note verlieh.

„So, jetzt können die Nachbarn zufrieden sein, die Fenster sind schallgedämmt“, war sein Kommentar.

***

„Was hast du da oben so lange gemacht? Erzähl mir bloß nicht, dass du eine halbe Stunde lang den Kanonenofen von dem jungen Kerl bewundert hast. Pah, Kanonenofen, dass ich nicht lache!“ Kalle entdeckte eine Seite an seiner Frau, die bis dato im Verborgenen geschlummert hatte. Ilse tändelte im alkoholisierten Zustand gerne mit diesem oder jenem Mann herum. Sie flirtete auf Teufel komm raus, was sicherlich gut für das Geschäft, aber schlecht für Kalles Seelenfrieden war. Er, der seine Frau nach Strich und Faden betrog, war eifersüchtig und das nicht zu knapp. Er konnte es nicht ertragen, wenn sie mit den Wimpern klimperte, mit wildfremden Männern lachte und Spaß hatte.

Wenn es dann noch zu Berührungen kam, so glaubte er, verrückt zu werden.

Seit kurzer Zeit wohnte in der Mansarde ein junger Mann, der ihr gut zu gefallen schien. Wann immer er sich blicken ließ, scharwenzelte sie um ihn herum. Gestern war dieser Mensch bis spät in die Nacht im Schankraum gewesen, hatte mit Ilse getrunken und sich blendend mit ihr unterhalten. Kalle hatte sich das Schauspiel scheinbar gelassen angeschaut, aber in ihm brodelte es. Vorhin hatte ihm Tante Käthe gesteckt, dass Ilse sich längere Zeit mit dem Menschen in dessen Zimmer aufgehalten hatte.

Nun wollte das untreue Weib ihm erzählen, es wäre nur gucken gegangen, weil der Kerl einen neuen Ofen im Zimmer hatte und ihr diesen gerne zeigen wollte.

„Was denkst du denn, du Spinner, was ich da gemacht habe? Du hast es nötig mir einen Seitensprung zu unterstellen, dafür bis du zuständig“, kreischte Ilse empört. „Und mit der alten Hexe werde ich noch reden. Sie soll er als Haushälterin arbeiten und nicht herumspionieren.“

„Die kannst du aus dem Spiel lassen. Gut, dass sie mich aufmerksam gemacht hat. Wer weiß, wie lange du schon seinen Ofen anguckst. Von mir willst du nichts wissen, lässt mich überhaupt nicht mehr ran. Jetzt weiß ich auch warum. Hoffentlich hat er es dir richtig besorgt, ich scheine dir ja nicht zu genügen.“

„Wer weiß! Du gibst dir jedenfalls keine Mühe!“ Jetzt war Ilse alles egal, sie wollte Kalle verletzen, so wie er ihr wehtat. „Vielleicht bist du einfach eine Niete und jeder andere kann es besser!“

Die Auseinandersetzung entwickelte sich zu einem schmutzigen Streit.

Dabei war alles für Peters Konfirmation hergerichtet, die Verwandten und Bekannten eingeladen worden. Sogar Minna, Kalles Stiefmutter, hatte ihr Kommen angekündigt. Sie hatte sich nie sonderlich um den ungeliebten Sohn und seine Familie gekümmert, nach dem Tod von Kalles Vater noch weniger als zuvor. Auch die Schwägerin Betty, seit Gustavs Tod eine lustige Witwe im wahrsten Sinne des Wortes wollte sich dieses Fest nicht entgehen lassen.

Peters Konfirmation sollte ein unvergesslicher Tag für alle Beteiligten werden.

Ilse und Kalle waren auseinandergegangen, ohne sich versöhnt zu haben. Man sprach nur noch das Notwendigste miteinander und ging sich so gut es möglich war aus dem Weg.

Am Tage der Konfirmation versuchten beide den Schein zu wahren. Die Gaststätte war für den Tag geschlossen worden.

Man ging zur Kirche, setzte sich dann zum Mittagessen an die Tafel und plauderte nett. Karl schenkte das erste Bier aus. Nach dem Verdauungsspaziergang und dem Kaffeetrinken mit einem Schnäpschen dazu kam die Feier in Schwung. Karl schenkte weiter aus, ließ den Konfirmanden hoch leben. Auch Ilse trank das eine oder andere Glas auf das Wohl ihres Kindes.

Betty hatte den Tod Gustavs erstaunlich schnell verkraftet. Sie ließ ihm einen Stein mit der Inschrift ‚Die Liebe höret nimmer auf’ auf das Grab setzten und grub nun alles an, was Hosen trug.

Heute merkte sie schnell, dass etwas zwischen den Eheleuten Jollenbeck ganz und gar nicht stimmte. Sie gedachte die Gelegenheit zu nutzen. Kalle, der wie man wusste, dem weiblichen Geschlecht sehr zugetan war, hatte bisher auf keines ihrer mehr oder weniger eindeutigen Angebote reagiert. Heute allerdings nahm er sie mehr als einmal in den Arm. Also rückte Betty nach jedem Glas Schnaps ein wenig näher an ihn heran. Sie bemerkte in ihrem Eifer gar nicht, dass der plötzlich das Interesse an ihr verlor und seine Frau fixierte.

Ilse hatte sich das Geturtel der beiden lange genug angeschaut.

Was dachte sich dieser Mann? Er verdächtigte sie grundlos, unterstellte ihr einen Seitensprung, machte sich dann auf eine so schamlose Art an ihre Schwägerin heran. Da kam der junge Mieter genau richtig. Er war im Begriff das Haus zu verlassen. Ilse hatte ihn im Flur abgefangen. Der Arglose erklärte sich nur zu gerne bereit, mit ihr auf das Wohl des Konfirmanden anzustoßen. Sie rückte noch ein wenig näher an ihn heran, strich ihm über den Arm. Sollte ihr Ehemann ruhig eifersüchtig sein, das geschah ihm ganz recht. Sie schaute dem netten Mieter tief in die Augen, blinzelte ihm verschwörerisch zu.

Alkohol und unmäßige Eifersucht sind eine explosive Mischung, wie der arme Kerl bald zu spüren bekam, der doch nur mit der netten Wirtin anstoßen und ein wenig flirten wollte.

Ganz plötzlich wurde er herumgerissen und zu Boden geworfen.

Ehe er wusste wie ihm geschah hatte er den Wirt am Hals und dessen Faust im Gesicht. Kalle, rasend vor Eifersucht, drosch auf den vermeintlichen Nebenbuhler ein, während Ilse kreischte, die Kinder heulten und ganz mutige Gäste versuchten, Kalle von seinem Opfer zu trennen, was nach einigem hin und her auch gelang. Während einer der Gäste Kalle kräftig schüttelte, damit der zur Besinnung kam, nahm der Mieter schnellstens Reißaus.

Minna, die ihren Stiefsohn noch nie so gesehen hatte, war schockiert. Sie legte ihrer Schwiegertochter mit ungewohnter Fürsorglichkeit den Arm um die Schulter. „Ilse, möchtest du mit den Kindern ein paar Tage bei mir wohnen? Wenigstens bis sich die Gemüter beruhigt haben und dein Mann zur Besinnung gekommen ist? Ich bleibe so lange hier und versuche vernünftig mit ihm zu reden.“

Peter, der seine kleine Schwester schützend in den Arm genommen hatte, wagte einen Einwand. „Ich will aber nicht mit zu Oma. Was soll ich dort anfangen? Übrigens müssen wir in die Schule. Papa ist ja nur betrunken, wie immer. Spätestens morgen hat er sich wieder eingekriegt.“

„Du verdammter Bengel, dir werde ich’s zeigen so über deinen Vater zu sprechen!“ Kalle versuchte sich auf das Kind zu stürzen, wurde aber von Bettys Sohn Bertram davon abgehalten.

Peter musterte seinen Vater ungewohnt mutig. „Ja, das kannst du, jemanden schlagen, der sich nicht wehren kann.“

„Jetzt ist es aber genug“, rief Minna resolut aus. „Ilse, du packst jetzt ein paar Sachen zusammen. Bertram und seine Freundin fahren dich zu mir, hier ist mein Schlüssel. Wenn der Junge lieber hier bleiben will, so soll er das tun. Elisa jedenfalls nimmst du mit. Und du dämlicher Affe“, diese Worte richtete sie an ihren Stiefsohn, „du wirst jetzt ins Bett gehen und deinen Rausch ausschlafen.“

Kalle klappte den Mund auf, um zu protestieren, doch Minna schob ihn zur Tür. Gehorsam trabte er in Richtung Schlafzimmer. Die Gesellschaft löste sich auf, Bertram und seine Ulla fuhren Ilse und Elisa zur schwiegermütterlichen Wohnung.

Einzig Adolf saß immer noch auf seinem Stuhl und bemühte sich, die letzten Schnapsreste zu vernichten.

„Nun zu dir, mein Lieber!“

Adolf zuckte zusammen, denn Minna hatte die Hände in die Hüften gestemmt und stand wie aus dem Nichts plötzlich vor ihm. „Was würdest du von einem gepflegten Bier und einem schönen Doppelkorn halten? Ich wollte immer schon mal eine Wirtin spielen.“

„Elisa machst du mal auf? Es hat geklingelt“, Ilse war gerade mit einem Liebesroman beschäftigt und wollte sich nicht stören lassen. Elisa öffnete die Tür. „Papa“, japste sie.

Kalle trat verlegen von einem Bein auf das andere. „Ist die Mama da?“

„Du hast mir gerade noch gefehlt! Was willst du?“, funkelte Ilse ihren Mann böse an.

„Ich möchte mich entschuldigen. Bitte lass mich in die Wohnung. Wir gehen ins Wohnzimmer und reden vernünftig miteinander“, mit diesen Worten nahm Kalle seine Frau an den Arm, führte sie in das Wohnzimmer. Elisa presste das Ohr dicht an die geschlossene Tür. Nach einigen Minuten seufzte sie erleichtert auf, denn die Eltern schrien sich nicht an, sondern unterhielten sich leise. Nach einer Weile kamen sie Arm in Arm aus dem Zimmer.

Ilse packt, man fuhr gemeinschaftlich zurück nach Westerholt, wo eine erstaunlich aufgekratzte Minna zusammen mit Adolf in der Küche saß. „Ich habe deinem Vater schon etwas zu essen gemacht“, strahlte sie. „Das kann ich besser als eure Haushaltshilfe. Wenn ihr einmal wegfahren wollt komme ich gerne her und achte ein wenig auf den lieben Adolf.“ Sie tätschelte Elisas Großvater den Arm, was der sich mit einem undefinierbaren Brummeln gefallen ließ.

Der junge Mann war fluchtartig ausgezogen und ein anderer Mieter wurde schnell gefunden. Ein Mann mittleren Alters, der einen leichten Buckel hatte und ziemlich unattraktiv war.

Im Sommer ging es wieder in die Schweiz. Dieses Mal mieteten die Jollenbecks ein kleines Ferienhaus. Man konnte es sich leisten, die Gaststätte lief nach wie vor gut.

Wieder hatte Elisa die Eltern für sich allein, denn Peter, der sich mehr und mehr zurückzog, wollte mit einem Freund zum Zelten fahren. Da Minna anderweitig beschäftig war, wurden die Chudzinskis damit beauftragt in der Zwischenzeit auf Haus, Hof und Adolf zu achten.

Der Urlaub war alles in allem harmonisch. Die Eltern tranken wenig Alkohol, bemühten sich um ein vernünftiges Miteinander.

Elisa kaufte in diesem Urlaub ihre erste ‚Bravo’ und fand die Zeitschrift herrlich aufregend. Sie trug die Ausgabe ständig mit sich herum und kam sich richtig erwachsen damit vor.

***