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Die traditionelle abendländische Anthropologie beruht auf dem Gedanken einer grundlegenden Doppelnatur des Menschen. Demnach ist der Mensch als Naturwesen ein Getriebener seiner Affekte und Impulse, als geistiges Wesen hingegen zu freier Selbstbestimmung befähigt. Der Mensch ist folglich ein Zwitter aus Animalität und Rationalität. Dem widerspricht der Heidelberger Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs in seinem Festvortrag zur Verleihung des Bad Herrenalber Akademiepreises 2013: Der Mensch sei kein widersprüchliches Kentaurenwesen, sondern eine Einheit von Natur und Geist, vermittelt durch leibliche Sozialität. Wohl könne diese Einsicht die Widersprüche der menschlichen Existenz nicht aufheben, trage aber dazu bei, sie nicht zu unüberwindlichen Gegensätzen zu verfestigen. Die Publikation "Leib, Geist und Kultur" enthält die Laudatio, den Festvortrag und den mit dem Akademiepreis ausgezeichneten Vortrag "Das Gehirn - Erbe der Seele?"
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Seitenzahl: 73
Thomas Fuchs
Leib, Geist und Kultur
Die Wahrnehmung des Menschen in Zeiten der Neurobiologie
Herausgegeben von der
Evangelischen Akademie Baden
und dem Freundeskreis der
Evangelischen Akademie Baden e. V.
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte biografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Herrenalber Forum Band 76
Beiträge zur Verleihung des
Bad Herrenalber Akademiepreises 2013 am 13. Oktober 2013 in Bad Herrenalb
© Evangelische Akademie Baden, Karlsruhe 2014
Redaktion: Ralf Stieber
Satz und Herstellung: Gabi Höhn
Umschlaggestaltung: Ralf Stieber
Titelbild: Bronzestatue, © ExQuisine - Fotolia.com
ISBN 978-3-89674-578-1
Printversion im Buchhandel erhältlich unter ISBN 978-3-89674-577-4
Vorwort
Im Oktober 2013 wurde der Psychiater und Philosoph Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs mit dem Akademiepreis des Freundeskreises der Evangelischen Akademie Baden e. V. geehrt. Er erhielt den Preis für seinen Vortrag „Das Gehirn – Erbe der Seele? Die neurobiologische Umdeutung des Psychischen“, den er bei der Tagung „Und wo bleibt die Seele? Die Wiederentdeckung der Einheit des Menschen“ im November 2012 in Bad Herrenalb gehalten hatte. Der Vortrag befasst sich mit aktuellen Fragen zur Hirnforschung und Grenzen der oftmals fast inflationären Ausdeutung der bildgebenden Verfahren. In den Tagungsvorträgen zum Konzept der Seele kamen unterschiedliche Perspektiven zur Sprache, die sich eingehend mit diesem Phänomen befassten.
Die öffentliche Akademietagung wurde konzipiert von Akademiedirektor i.R. Klaus Nagorni von der Evangelischen Akademie Baden, Prof. Dr. Magnus Schlette von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) und Kirchenrätin Sabine Kast-Streib, der Leiterin des Zentrums für Seelsorge der Evangelischen Landeskirche in Baden.
Dieses Büchlein, das den gewürdigten Vortrag, einen kurzen Auszug aus der Laudatio und den Festvortrag „Der Leib zwischen Animalität und Rationalität“ enthält, soll nochmals die Frage der Tagung „Und wo bleibt die Seele?“ kritisch aufnehmen und würdigen.
Pfarrer Dr. Gernot Meier
Studienleiter Evangelische Akademie Baden
Prof. Dr. Sabine Liebig
Vorsitzende des Freundeskreises der Evangelischen Akademie Baden e. V.
Karlsruhe, im September 2014
Blickveränderungen
Laudatio für Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs1
Gernot Meier
Seele – ein Konzept aus der europäischen Religionsgeschichte, das unter anderem die Besonderheit hat, rein sprachlich ausgehandelt zu werden.
Seele – ein besonderes Konzept, das gleichsam fast einsam gegen materiale Text-, Raum- oder Zeichenkulturen steht.
Seele – ein typisch westeuropäisches Konzept mit langen Produktionsformen und Rezeptionslinien. Ein symbolisches Konzept, das in der Gegenwartskultur große Transformationen erfahren hat.
In der rezenten Kultur ist dieses fragile Konzept immer wieder auf seine Aushandlungsprozesse hin befragt worden. Auch weil das Konzept Seele in gesellschaftlicher Dimension eine bedeutende – nicht nur sprachliche – Agency hat, sind Vereinnahmungsversuche an der Tagesordnung. Diese treffen dann nicht nur das einzelne Konzept, sondern verbreiten sich epidemisch auf verschiedenen Feldern. In der populärwissenschaftlichen Diskussion werden diese Vereinnahmungsversuche zunächst mit dem Modewort „empirisch“ eingeleitet und damit wird der Nimbus der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit und meist auch der Unumstößlichkeit implizit mitgeliefert. Alsdann erfolgt eine mehr oder minder subtile Umdeutung, die mit der These einer paradigmatischen Veränderung am besten von allem meist ihr programmatisches Ende nimmt. Hier gilt es nicht nur aus wissenschaftstheoretischen Überlegungen heraus Einhalt zu gebieten, sondern vor allem um den Menschen, die dem westeuropäischen Denken und der Philosophie verpflichtet sind, Freiheit zu bewahren. Hier setzt für mich die Besonderheit des Vortrages „Das Gehirn als Erbe der Seele? Die neurobiologische Umdeutung des Psychischen“ ein.
Professor Dr. Dr. Thomas Fuchs zeigt hier auf, dass gegenwärtig versucht wird, die Seele auf „prosaische“ materielle Prozesse zu reduzieren. Wie kommt es zu dieser präzisen Zeitdiagnostik? – Wahrscheinlich muss man dazu Grenzgänger sein, wie es unser Preisträger meines Erachtens ist. Sich inhärent die Fähigkeit bewahren zu sagen: „Nun sehe ich mir das mal doch noch aus einer ganz anderen Perspektive an“. Neue Positionen machen den Raum dimensionsreicher. Damit ist nicht nur der unterschiedliche Blick aus den verschiedenen Disziplinen eines Fachbereichs gemeint. Bereits seine Dissertation Die Mechanisierung des Herzens (1992) war eine Studie über den Paradigmenwandel in der Kreislaufphysiologie und die nachfolgenden Diskussionen. Die Dissertation berührt die Grundfrage: Wie entstehen wissenschaftliche Tatsachen und Positionen? Wie wird ein Denken, das sich bei Harvey zunächst noch aristotelischen Positionen verpflichtet fühlt, dann durch Descartes grundlegend verändert? Denkstile, die nachfolgend die Deutung von Natur und deren Beobachtung vornehmen. [...]
Wie verändert sich das Denken?
Durch Fuchs‘ Publikationen ziehen sich die „alten“ Fragen von Weber und Durkheim, von Luckmann, Berger und Foucault: „Wie ist es möglich, dass subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird?“, „Wie ist es möglich, dass menschliches Handeln eine Welt von Sachen hervorbringt?“ „Wie ist die Ordnung der Dinge zustande gekommen?“ Hier setzt er an und fragt: „Was können abweichende Erfahrungen, die Menschen machen, uns über unsere Umwelt und über unser ‚normales‘ Denken sagen?“ In seiner psychiatrischen Arbeit erlebt er andere Konzepte der Leiblichkeit, der Zeitlichkeit, des Selbst. Oftmals bei einer psychischen Erkrankung bis ins Mark erschüttert. Die Blickveränderungen geschehen einfach dadurch, dass Selbstverständlichkeiten des Alltags unselbstverständlich werden.
Thomas Fuchs befindet sich so in einer Tradition der Grenzgänger wie Jacques Lacan oder auch Michel Foucault – beide Philosophen und Psychologen. Personen, die sich nicht mit einer Seite der Dinge oder mit nur einer Interpretationsmöglichkeit zufrieden gaben. Personen, welche die Auffächerung nicht nur eines Fachbereiches beherrschten und durch den radikalen Wechsel des Blickes auf Kultur und Gesellschaft ihre Wirkkraft entfalteten. Die sahen, dass man als Mensch Erfahrungen macht, die anderen Menschen vollkommen rätselhaft erscheinen und trotzdem zum Konzept ‚Mensch‘ gehören.
Phänomenologie der Leiblichkeit
Es geht Thomas Fuchs um besondere Seiten in der Medizin, die auch eine philosophische und vielleicht auch eine theologische Seite haben. In seinen Publikationen findet sich immer wieder der deutliche Hinweis darauf, dass es bei aller spezialisierten Diagnostik auch ein umfassendes leibliches Erleben gibt. All das, was ich empfinde, spüre, taste und erlebe. Fuchs weist immer wieder kritisch darauf hin, dass ein von der Medizin seltsam externalisiertes und maximal als Symptomatik klassifiziertes Erleben des Leibes oftmals nur als Eintrittskarte zum Befund gesehen wird. Der Leib gleichsam als Indikator oder Anhaltspunkt und nicht in seiner narrativen Gesamtheit. In seinen Konzeptionen, die auf phänomenologischen Grundlagen fußen, tritt Fuchs für die ganze Fülle der Erfahrungen ein, die eben nicht einfach externalisiert werden können oder wahlweise in einer unverbundenen Seele oder in einem Gehirn verortet werden können, gleichsam einem Kopfkino, bis hin zur Utopie des unmittelbaren Gedankenlesens. Fuchs‘ „philosophische Lehrer“ für diese Analysen sind Husserl, Scheler, Straus, Merleau-Ponty und Schmitz.
Für die Phänomenologie dieser Denktradition ist der Leib der Eintritt in die ganze Fülle der Erfahrungen, die man machen kann. Und Thomas Fuchs tritt dafür ein, dass leibliche Erfahrungen auch nicht in die Seele oder wahlweise ins Gehirn verschoben werden, um dort singulär zu verbleiben. Es gilt: Das Leibliche zu suchen, und wie es sich in seinen jeweiligen Manifestationen konstituiert. So fragt sich der Preisträger in seinen Publikationen immer wieder: Wie ist unsere Subjektivität im Leiblichen verankert? Subjektivität bedeutet: Wir sind in der Welt. Nicht in einem Innenraum, der Seele heißt, oder in einem Gehirn. Nur wenn die Leiblichkeit ernst genommen wird, sind wir wieder in der Welt. Wir sind da, wo wir sind, und das sage ich als evangelischer Theologe: Da wo wir hingehören, mitten in der Welt. Der Mensch ist nach Thomas Fuchs ausgedehnt im Raum und somit als ganzer präsent.
Wie kann das nun wiederum in der Medizin geerdet und nicht mit dem Label ‚philosophische Erfindung‘ diskreditiert werden? Nur wenn es uns beispielsweise gelingt, das Gehirn in seiner Verbindung mit dem Körper zu sehen, gelingt eine Phänomenologie des Leibes. Eines verkörperten Subjektes, das sich wieder in seiner Ganzheit erkennt. Was auch das Thema im Vortrag bei der Tagung zur Seele war. Es geht nach Fuchs darum, das Gehirn im Organismus zu verankern und so das in ihm verkörperte Subjekt in seiner ganzen Leiblichkeit und in der Verbindung mit der Umwelt zu sehen. Dies könnte sich, so Fuchs, auch in einer neuen systemischen Biologie niederschlagen. In dieser Verbindung und in der medizinisch und empirisch offenen Erweiterung der Phänomenologie erschließen sich Thomas Fuchs als Grenzgänger ein besonderes Universum und die Unmöglichkeit der Reduktion auf bildgebende Verfahren, die das eine oder das andere im Kopf verorten, beweisen könnten.
In der Folge sind im wissenschaftlichen Kontext vor allem seine Aussagen zu dieser leiblichen Intentionalität immer wieder rezipiert worden. Thomas Fuchs formuliert, dass das Zentrum meiner Welt nicht allein im Gehirn zu finden sei. Das Gehirn ist nur denkbar in Verbindung mit meinem ganzen Organismus, und diese Inkorporation ist die Voraussetzung dafür, dass sich der Mensch überhaupt als Subjekt erleben kann. Das Leibliche und die Ganzheit lassen sich eben nicht so leicht auflösen und entschlüsseln. Fuchs wehrt sich gegen einen neurobiologischen Reduktionismus, denn die Beschreibung von nur monotonen elektrochemischen Vorgängen im Gehirn lasse keine Erklärung des Menschen zu. Die Neurobiologie muss ihre Zerlegung des lebendigen Ganzen in Mikroprozesse wenigstens verbal rückgängig machen, um die Ebene von Wahrnehmungen, Motiven und Handlungen überhaupt wieder zu erreichen. Daher versuchen die Neurowissenschaften, eine ‚hybride‘ Zwischenebene einzuziehen, die physikalische und intentionale Beschreibungen vermischt und so gewissermaßen dem Gehirn Personalität implantiert.