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Ein unheimliches Gefühl beschleicht die junge Ulrike von Wittrock, seit sie auf Schloss Margeritental wohnt, um die kleine Tochter des Schlossherrn zu betreuen. Es scheint ihr, als habe sie die Räume des imposanten Gebäudes schon einmal gesehen, obwohl sie weiß, dass das eigentlich unmöglich ist.
Und doch ertappt sie sich immer wieder dabei, dass sie mit untrüglicher Sicherheit sagen kann, was sich hinter den jeweiligen verschlossenen Türen befindet. Ulrike leidet sehr unter diesem Zustand und hofft, dieses Geheimnis eines Tages lösen zu können ...
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Seitenzahl: 146
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Ulrike und das Familiengeheimnis
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Impressum
Ulrike und das Familiengeheimnis
Eine junge Frau auf den Spuren ihrer Vergangenheit
Von Marion Alexi
Ein unheimliches Gefühl beschleicht die junge Ulrike von Wittrock, seit sie auf Schloss Margeritental wohnt, um die kleine Tochter des Schlossherrn zu betreuen. Es scheint ihr, als habe sie die Räume des imposanten Gebäudes schon einmal gesehen, obwohl sie weiß, dass das eigentlich unmöglich ist.
Und doch ertappt sie sich immer wieder dabei, dass sie mit untrüglicher Sicherheit sagen kann, was sich hinter den jeweiligen verschlossenen Türen befindet. Ulrike leidet sehr unter diesem Zustand und hofft, dieses Geheimnis eines Tages lösen zu können ...
Seit die zierliche alte Dame eingestiegen war, kam Ulrike von Wittrock die Bahnfahrt gar nicht mehr so langweilig vor.
»Aus München kommen Sie, meine Liebe? Wie interessant! Aber da sind Sie ja seit Stunden unterwegs!« Kaum hatte sie sich häuslich im Abteil eingerichtet, verwickelte sie Ulrike in ein Gespräch.
»Oh, ich hasse diese langen, öden Bahnfahrten«, erklärte sie, während sie sich die Handschuhe abstreifte. »Lesen mag ich nicht, weil das die Augen so anstrengt, und Einnicken darf ich nicht, weil ich mein Reiseziel buchstäblich verschlafen könnte. Aber heute habe ich Glück! Wir werden uns die Zeit mit einem netten kleinen Schwatz vertreiben, nicht wahr?«
Sie zog ein Kästchen Pralinen aus ihrer großen, schwarzledernen Handtasche, ermunterte die junge Mitreisende mit freundlichem Blinzeln, tüchtig zuzulangen, und stellte sich als Frau Agnes Schiller aus Hannover vor.
Dazu lachte sie herzlich. »Jaja, Schiller, wie der große deutsche Dichterfürst. Leider bin ich mit ihm weder verwandt noch verschwägert.«
Ulrike fand die muntere alte Dame reizend. Und nicht allein, weil sie endlich eine Gesprächspartnerin gefunden hatte, die ihr die lange Fahrt durch ein amüsantes Gespräch verkürzte. Ein bisschen half es auch, die unterschwellige Angst vor dem, was sie an ihrem Reiseziel erwartete, zu verdrängen.
Sie sei jetzt unterwegs zu ihren Kindern, erzählte Frau Schiller unbefangen.
»Mein Ältester ist Internist in Flensburg. Er hat eine schöne Praxis. Leider ist Elisabeth, also das ist meine Schwiegertochter, schon wieder schlimm erkältet. Sie ist aber auch zu unvorsichtig, zieht sich immer viel zu dünn an. Tja, und nun liegt sie wieder auf der Nase, das arme Ding.«
»Und Sie fahren zu ihr und pflegen sie?«
»Ja«, erklärte Frau Schiller freundlich. »Das bin ich der Elisabeth schuldig, denn sie hat mich ja auch so schön gepflegt, als ich im letzten Jahr meine Gallenoperation hatte. Aber das ist nun ausgestanden und vergessen, gottlob.«
Ulrike lächelte. »Sie erinnern mich an meine Großmama, die hat sich auch immer rührend um mich gekümmert.«
»Schade, dass ich schon in Flensburg aussteige. Nun, vielleicht sieht man sich ja mal in Glücksburg wieder. Es ist ja eigentlich nur ein Katzensprung von Flensburg nach Glücksburg.«
Von Glücksburg schwärmte die alte Dame regelrecht.
»Die Stadt gilt ja mit den beiden Stränden an der Innen- und Außenförde als Seeheilbad. Und dann haben die rührigen Stadtväter für ein schönes Meerwasser-Wellenschwimmbad gesorgt. Ich war schon öfter dort mit meinen beiden Enkelchen. Die waren immer mächtig vergnügt.«
»Ich habe von dem Glücksburger Schloss gehört«, sagte Ulrike. »Das kann man doch besichtigen, nicht wahr?«
»Aber ja«, bestätigte Agnes Schiller nachdrücklich. »Und Sie sollten's so bald wie möglich tun, denn dieses alte Fürstenschloss mit seinen kargen, schneeweißen Mauern und den wuchtig-trutzigen Türmen ist einfach großartig, und zwar zu jeder Jahreszeit. Ach ja, am Stadtrand erstreckt sich ein stattliches Waldgebiet, das sich vorzüglich für romantische Spaziergänge und sonntägliche Picknicks eignet.«
Sehr bald erkundigte sich Agnes Schiller nach dem Zweck der langen Reise Ulrikes.
»Fahren Sie zu Ihrem Vergnügen von München nach Glücksburg?« Sie schmunzelte. »Werden Sie dort gar von einem netten jungen Mann erwartet?«
»Nein, Frau Schiller, von einer netten jungen Dame«, entgegnete Ulrike lächelnd. »Klingt ganz schön kompliziert, oder? Ist es aber nicht, denn ich fahre nach Glücksburg, um dort eine junge Dame von fünf Jahren zu betreuen.«
»Ach so!« Agnes Schiller lachte. »Als Kindermädchen?«, fragte sie dann erstaunt. »Wie ungewöhnlich! Ich nahm an, so etwas sei ganz aus der Mode gekommen. Wer kann sich denn heutzutage noch ein Kindermädchen leisten?«
»Kindermädchen verdienen nicht allzu viel, Frau Schiller.«
»Und warum machen Sie dann nicht etwas anderes? Ach, pardon, ich bin schon wieder schrecklich neugierig. Das ist eine lästige Angewohnheit, die ich mir partout nicht abgewöhnen kann. Mein Sohn wird immer ganz ungehalten, wenn er mitbekommt, wie ich die Leute ausfrage. Aber ich kann nichts dagegen tun!«, erklärte sie mit entwaffnendem Lächeln, »es interessiert mich so sehr, was die Menschen in meiner Umgebung denken.«
»Mir geht's nicht anders, auch ich würde den Leuten gern Löcher in den Bauch fragen – wenn ich mich nur trauen würde«, bekannte Ulrike leise.
»Dass Sie schüchtern sind, fiel mir sofort auf, meine Liebe. Sie sind eine entzückend altmodische junge Dame, wenn ich Ihnen das mal sagen darf. Nein, nein, jetzt nicht verlegen werden, das lag nicht in meiner Absicht. Ich wollte Ihnen ein Kompliment machen. Und dann interessiert mich natürlich, warum jemand, der so hübsch und manierlich ist wie Sie, so zurückhaltend ist.«
»Ich war schon als Kind sehr schüchtern«, erzählte Ulrike mit versonnener Miene. »Vielleicht liegt es daran, dass ich meine Eltern früh verlor. Ich habe an sie so gut wie keine Erinnerungen.«
»Wie tragisch für Sie«, sagte Frau Schiller mitfühlend. »Und wie kam es, dass Sie Ihre lieben Eltern so früh verloren? Oder mögen Sie darüber nicht sprechen? Tut es Ihnen weh?«
»Nein, wirklich nicht«, erwiderte Ulrike freimütig. »Meine Eltern standen mir ja nie nahe, daher kann ich auch gar nichts empfinden, wenn ich von ihnen erzählte. Sie sind für mich wie Fremde. Dieser Gedanke ist freilich manchmal bitter.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen. Jedes Kind braucht eine liebevolle Umgebung und viel herzliche Zuwendung, sonst wird es später im Leben Schwierigkeiten haben, sich zu behaupten. Wer sorgte denn nach dem Tod Ihrer Eltern für Sie?«
»Ich wuchs bei meiner Großmutter mütterlicherseits auf. Großmama Hertha war eine fabelhafte Frau, sehr resolut, selbstbewusst und eigenwillig. Außerdem war sie ausgesprochen gescheit und belesen, sie spielte wundervoll Klavier und konnte sich in vier Fremdsprachen fließend verständigen.«
»Donnerwetter!«
»Nicht wahr?« Ulrike lächelte und strich sich eine Strähne ihres glatten, braunen Haares aus dem Gesicht. »Großmama Hertha war in jeder Beziehung hinreißend. Und zu mir war sie herzensgut, tatsächlich, sie ließ es mir an nichts fehlen und sorgte energisch dafür, dass ich nach dem Abitur studierte.«
»Sie haben studiert? Was denn?«
»Ich bin Lehrerin geworden«, antwortete Ulrike. »Das habe ich mir schon als kleines Mädchen gewünscht. Meine Großmama war mit meiner Berufswahl nicht ganz einverstanden, doch sie hat nicht versucht, mich irgendwie zu beeinflussen. Eine tolle Frau, ich sagte es ja. Allerdings gab's doch einen winzigen Makel ...«
»Ach ja?«
Großmama Hertha, ansonsten sehr wortgewandt, konnte sehr schweigsam werden, wenn es um meine Eltern ging. Fragte ich sie irgendetwas, was mit der Vergangenheit zusammenhing, so schnappte sie kurz nach Luft, presste die Lippen aufeinander – und sagte für einige Zeit gar nichts mehr. Ich verstand diese ihre Reaktion natürlich nicht, aber ich gewöhnte mir nach und nach ab, ihr Fragen zu stellen, die meine Eltern irgendwie berührten.«
»Wie sonderbar. Gab's denn da irgendein Geheimnis?«
»Meines Wissens nicht«, erwiderte Ulrike seufzend. »Die von Wittrocks sind eine alte Familie, in der es nie auch nur die Andeutung eines Skandals gab.«
»Ihre Frau Großmutter wird den Schmerz nicht verkraftet haben. Sie hat vermutlich furchtbar gelitten, als Ihre Eltern starben.«
»Diese Erklärung ist wahrscheinlich richtig und kommt der Wahrheit am nächsten«, gab Ulrike zu. »Obwohl ich vermutlich nie die Umstände erfahren werde, unter denen meine Eltern starben. Es gibt schlicht keine Angehörigen mehr, die mir Aufschluss darüber geben könnten.«
Agnes Schiller sah die junge Frau teilnahmsvoll an.
»Von meinem Vater weiß ich lediglich«, setzte Ulrike leise hinzu, »dass er Wissenschaftler war und als solcher ständig auf Reisen. Er starb während einer dieser Reisen in Südamerika, am Biss einer giftigen Schlange. Ob das wirklich so war, kann ich mit Bestimmtheit nicht sagen, denn meine Großmama sprach immer von einem Unfall ... Meine Mutter muss ungefähr zur gleichen Zeit gestorben sein. Sie hatte einen angeborenen Herzfehler.«
»Wie bitter für Sie. Demnach sind Sie nunmehr alleinstehend?«
»Ja, meine Großmama starb vor einem halben Jahr an einem Herzinfarkt. Sie hatte einen leichten Tod, er überraschte sie im Schlaf. So traurig das für mich war, war es doch ein Trost, das zu wissen; sie hat sich immer ein würdevolles Ende gewünscht.«
»Deshalb also tragen Sie schwarz. Ich wunderte mich schon.«
»Ich bin noch immer in Trauer, das ist wahr. Obwohl es sicher nicht im Sinn meiner Großmama ist, wenn ich in diesen dunklen Sachen herumlaufe. Sie hat immer über diese gesellschaftlichen Zwänge gelacht.« Ulrike lächelte wehmütig. »Komisch, aber ich trage zurzeit gern schwarz, mir ist nicht nach hellen Farben.«
»Ist Ihre Gemütsverfassung so düster?«
»Sie war's sicherlich in den letzten Monaten. Es ging mir ein wenig mies, in jeder Beziehung. Der Abschied von meiner Großmama, an der ich doch sehr hing, hat mich ziemlich mitgenommen. Und dann fand ich trotz heftiger Bemühungen keine Anstellung als Lehrerin.«
»Sie haben Kinder gern und möchten sie unterrichten.«
»Genau. Und weil sich nichts in dieser Richtung fand, ich aber Geld verdienen musste, bot mir ein Bekannter meiner verstorbenen Großmama seine ... nun, Vermittlerdienste an. In seinem großen Bekannten- und Freundeskreis hörte er sich um und erfuhr, dass oben in Norddeutschland, in Glücksburg, eine Erzieherin gesucht wird.«
»Tja, das ist typisch für unsere Zeit. Man muss der Arbeit hinterherreisen. Schön, dass Sie so flexibel sind, meine Liebe. Wissen Sie denn schon, um wen Sie sich kümmern sollen?«
Ulrikes Gesicht hellte sich auf.
Und mit ihrem feinen, stillen Lächeln gab sie bereitwillig Auskunft: »Das kleine Mädchen heißt Gesine Hiltenberg und ist, wie ich vorhin schon sagte, fünf Jahre alt. Vor zwei Jahren verlor sie die Mutter. Anke Hiltenberg starb bei der Geburt eines kleinen Buben, der sie nur um wenige Stunden überlebte.«
»Das ist ja eine Tragödie!«, rief die alte Dame erschüttert.
Ulrike nickte zustimmend. »Insofern haben die kleine Gesine und ich ein ähnliches Schicksal, denn auch ich verlor ja meine Mutter sehr früh. Ich glaube, ich habe den Job hauptsächlich aus diesem Grund angenommen, denn ich kann mir vorstellen, wie einsam sich die Kleine fühlen muss.«
Agnes Schiller legte ihre kleine zarte Hand auf die Ulrikes.
»Sie haben ein großes Herz, mein liebes Kind«, sagte sie warm. »Ich bin sicher, die kleine Gesine wird es gut bei Ihnen haben.«
***
Als Ulrike von Wittrock den ersten Blick auf das Herrenhaus aus dem vorigen Jahrhundert warf, war sie gründlich verblüfft. Sie hatte mit dieser prächtigen Unterkunft nicht gerechnet, war in keinster Weise gefasst gewesen auf diesen Anblick.
Es handelte sich bei dem Herrenhaus um eine überaus noble Angelegenheit, dessen Geschichte bis in die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zurückreichte. Den Namen Margeritental verdankte das Anwesen einer früheren Besitzerin, nicht etwa dem anmutigen, grünen Tal, in dessen Mitte es stand, eingebettet in einen großen Park mit beachtlichem altem Baumbestand.
Die geschlossene Schönheit des äußeren Baukörpers war auf die schlichte, für den Norden typische Backsteinarchitektur zurückzuführen. Zum Portal führte eine breite Steintreppe.
Ulrike von Wittrock bewunderte die meisterhafte Baukunst fast noch mehr als den hochherrschaftlich angelegten Park, der bis an den Horizont zu reichen schien. Er enthielt unter anderem ein Buchenwäldchen, das einem Dom glich mit seinen schlanken Säulen und den Gewölben aus buntem Laub.
Zwischen hohen Hecken, wahren Rhododendron-Gebirgen und mächtigen uralten Bäumen blitzten helle Statuen auf, zumeist antike Gottheiten oder Tugenden darstellend, die sich vor dem grünen Hintergrund ungemein dekorativ ausnahmen.
Eine breite Allee von Kastanienbäumen zog sich in sachtem Schwung durch den Park zum Schlossportal, auf dem Weg raschelten welke Blätter, und man hörte das beständige Fallen der rostbraunen, glänzenden Kastanien in ihren stachlig-grünen Schalen.
Vor dem Gebäude befand sich ein großer See, auf dessen glatter Oberfläche sich die Vorderfront spiegelte.
Die Blätter der knorrigen Alleebäume leuchteten gelb und rot und kupferfarben. Bei jedem Windhauch rieselten bunte Herbstblätter auf die weiten, grünen Rasenflächen. Die Kletterrosen an den Backsteinfassaden verströmten einen schweren, süßen Duft, der sich mit dem modrigen der Herbstblätter mischte.
Ein Schwarm Wildgänse zog von Norden her in geheimnisvollen Flugkeilen über das Herrenhaus, seltsam wilde Schreie ausstoßend.
Abendstimmung senkte sich über Margeritental, erste feine Nebelschwaden stiegen aus dem Schlosssee.
»Hallo, du da!«, sagte eine helle Kinderstimme vergnügt.
Ulrike wandte sich um, zutiefst erschrocken, weil in Gedanken verloren. Sehr merkwürdige Gedanken waren das gewesen, die sie sich später nicht erklären konnte. Aber sie waren begleitet gewesen von einem seltsamen Gefühl, an das sie sich später ungern erinnerte. Und wenn es trotzdem geschah, dann stockte ihr immer der Atem, ihr Herz begann zu flimmern und ein beklemmendes Angstgefühl bemächtigte sich ihrer.
»Hallo«, wiederholte das kleine Mädchen und sah sie ruhig an, ohne Erstaunen oder Neugierde.
Vor Ulrike stand ein kleines Mädchen mit kurzen, hellblonden, rotbeschleiften Zöpfchen, so zierlich wie ein Porzellanpüppchen.
Unzählige Sommersprossen tüpfelten die winzige Stupsnase, die großen dunkelbewimperten, himmelblauen Augen schauten Ulrike an.
Die Nervosität war im Nu verflogen. Ulrike entspannte sich. Ihr wurde auf einmal bewusst, wie müde und erschöpft sie war nach der stundenlangen Bahnfahrt.
»Hallo«, sagte sie und verwünschte ihre Befangenheit. Ihre Stimme klang ein wenig gequetscht.
»Musst keine Angst haben«, sagte das kleine Mädchen mit dem strahlenden, himmelblauen Blick. »Ich bin ja bei dir.«
»Ich habe keine Angst«, entgegnete Ulrike, was nicht ganz der Wahrheit entsprach, wie sie sehr wohl wusste. »Ich freue mich, dich endlich kennenzulernen. Du bist Gesine, nicht wahr?«
Ulrike beugte sich über das Kind und lächelte liebevoll. Das Lächeln kam direkt aus ihrem erleichterten Herzen, denn sie hatte die Kleine auf den ersten Blick gern, spürte, dass mit diesem braven kleinen Dingelchen gut auszukommen war.
Das beklemmende Gefühl von Gefahr war vollkommen verschwunden. Ulrike tadelte sich wegen ihrer Mimosenhaftigkeit und beschloss, künftig viel unbefangener zu sein, sich nicht von irgendwelchen zweifelhaften Stimmungen vereinnahmen zu lassen.
»Komm«, sagte Gesine und streckte die Hand aus, fasste vertrauensvoll nach Ulrikes. »Ich habe schon auf dich gewartet. Soll ich dir dein Zimmer zeigen?«
Das Portal öffnete sich. Erst sprangen zwei rotbraune Jagdhunde heraus, begrüßten den Gast mit freudigem Gebell, dann erschien eine hagere Frauengestalt auf der steinernen Türschwelle.
»Seid still!«, wies sie die Hunde mit scharfer Stimme zurecht.
Gesine zog unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern. Ihr hübsches Kindergesicht verschloss sich.
Die Hunde wichen mit angelegten Ohren lautlos zurück.
»Guten Tag«, sagte die hagere Gestalt mit den strengen Zügen tadelnd. »Sie kommen spät, Fräulein von Wittrock. Wir haben Sie früher erwartet, um einiges früher.«
Ein graues Augenpaar musterte Ulrike erwartungsvoll. Offensichtlich kam sie um eine Erklärung für ihre Verspätung nicht herum. Ein bisschen albern fand sie das ja, aber sie fügte sich, wollte nicht gleich in der ersten Stunde ihres Hierseins unangenehm auffallen.
»Ich bin zu Fuß gekommen«, erklärte sie wahrheitsgemäß.
»Zu Fuß? Den ganzen Weg vom Bahnhof her ...?« Die hagere Dame im schwarzen Kleid fand das anscheinend unerhört, fast unanständig, denn sie rümpfte die lange, dünne Nase und setzte herablassend hinzu: »Die Wanderung wird Sie ermüdet haben, Fräulein von Wittrock. Ich schlage vor, dass Sie sich jetzt ins Haus begeben, um sich ein wenig zu erfrischen.«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und verschwand wieder jenseits des eindrucksvollen Sandsteinportals.
Die Hunde folgten ihr, obwohl sie, man sah's beiden an, gern geblieben wären, um den Neuankömmling zu beschnuppern.
Ulrike und Gesine wechselten einen Blick. Einen Komplizenblick.
»Puh«, stieß Ulrike hervor, »wer war denn das, Gesine?«
»Unsere Hausdame. Sie heißt Helene Dithow. Die anderen nennen sie immer die fromme Helene, aber sie ist überhaupt nicht fromm. Die Frau Becker hat mal gesagt, dass sie wohl mit dem Höllenfürsten im Bunde sei.« Gesine prustete. »Da hat sie geglaubt, dass ich sie nicht hören kann. Aber ich höre alles, wenn ich will.«
»Und wer ist Frau Becker, Gesine?«
Gesines Gesicht entspannte sich.
»Das ist unsere Köchin. Sie kann prima kochen. Und wenn sie gute Laune hat, legt sie dir die Karten und sagt dir haargenau alles, was passieren wird. Heute ist mein Glückstag, hat sie gesagt.« Die Kleine breitete die Arme aus und meinte altklug-verschmitzt: »Siehste!«
Ulrike musste unwillkürlich lachen. Doch ihr spontanes Lachen verstummte augenblicklich, als ihr Blick zufällig auf den Türklopfer fiel. Das war ein bronzener Löwenkopf mit aufgesperrtem Rachen. Der Klopfring umlief seine Mähne, war unten schon so abgegriffen, dass er golden schimmerte.
»Vor dem musst du dich nicht fürchten«, versicherte Gesine gutmütig.
Mit wild klopfendem Herzen schüttelte Ulrike den Kopf. Nein, sie fürchtete sich nicht vor dem bronzenen Löwen, der so grässlich das Maul aufriss. Sie fürchtete sich vielmehr vor ihrem eigenen Unterbewusstsein. Das gaukelte ihr, nämlich vor, diesen Löwen schon einmal gesehen, sogar angefasst zu haben.
Es ist nicht wahr, sagte sie sich verzweifelt. Nein, es ist unmöglich, ich war noch niemals hier, ich bin doch zum ersten Mal auf Margeritental, wie sollte ich diesen Löwen schon einmal gesehen, geschweige denn angefasst haben?
***
Und doch schien ihr alles seltsam vertraut. Sie hatte nicht das Gefühl, ein fremdes Haus zu betreten. Überall entdeckte sie Vertrautes, Altbekanntes, und konnte doch nicht mit Bestimmtheit sagen, wo sie es schon einmal gesehen hatte.
Ein unheimliches Gefühl war das. Schließlich wagte Ulrike kaum noch, sich zu rühren, sich umzublicken. So groß war ihre Angst, wieder auf Vertrautes zu stoßen.
Sie lernte den Hausherrn, ihren Arbeitgeber, erst kennen, als sie längst Freundschaft mit dem Personal geschlossen hatte.
Eine Ausnahme bildete natürlich Helene Dithow, die überaus reservierte Hausdame, die keinen Hehl daraus machte, dass sie sich nicht zum Personal zählte, sondern für etwas Besseres hielt.