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Henning Baron von Leuwen versteht die Welt nicht mehr. Eben noch wähnte er sich verlobt mit Fräulein Hedi Cöster, eine Verbindung, die dem unschuldig in finanzielle Schwierigkeiten Geratenen durchaus hilfreich wäre. Doch da taucht plötzlich keck und frech ein gewisses Fräulein Georgina Sandberg bei ihm auf und behauptet in Hedis Gegenwart, sie habe Ansprüche auf Henning. Dabei kennt er das Mädchen noch nicht einmal!
Eine Lügengeschichte nimmt ihren Anfang, in die Henning, ohne sich wehren zu können, immer tiefer hineingezogen wird, und die droht, sein endgültiger Ruin zu werden. So sieht er schließlich nur einen Ausweg: Er muss die Heimat, die ihm so viel bedeutet, verlassen - so weit fort, wie möglich, vor allem vom weiblichen Geschlecht ...
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Seitenzahl: 142
Cover
Er floh, um zu vergessen
Vorschau
Impressum
Er floh, um zu vergessen
Aus Liebe ging er in die Einsamkeit
Von Birke May
Henning Baron von Leuwen versteht die Welt nicht mehr. Eben noch wähnte er sich verlobt mit Fräulein Hedi Cöster, eine Verbindung, die dem unschuldig in finanzielle Schwierigkeiten Geratenen durchaus hilfreich wäre. Doch da taucht plötzlich keck und frech ein gewisses Fräulein Georgina Sandberg bei ihm auf und behauptet in Hedis Gegenwart, sie habe Ansprüche auf Henning. Dabei kennt er das Mädchen noch nicht einmal!
Eine Lügengeschichte nimmt ihren Anfang, in die Henning, ohne sich wehren zu können, immer tiefer hineingezogen wird, und die droht, sein endgültiger Ruin zu werden. So sieht er schließlich nur einen Ausweg: Er muss die Heimat, die ihm so viel bedeutet, verlassen – so weit fort, wie möglich, vor allem vom weiblichen Geschlecht ...
»Die Vase ist zu groß und steht zu dicht neben der Tür«, nörgelte Hedi Cöster und warf einen herausfordernden Blick auf ihren Verlobten, der mit gesenktem Kopf im Zimmer auf und ab ging. »Solch ein kitschiges Ding«, fuhr sie in aggressivem Ton fort, weil es ihr nicht gelang, ihn aus seinen Gedanken zu reißen.
Hedi nickte zufrieden, als er abrupt stehen blieb, erst sie und dann die Vase musterte. Nun hatte sie ihn so weit. Nun würde er endlich einsehen, dass keines der so wichtigen Geschäfte Vorrang hatte, sobald sie in seiner Nähe weilte.
»Kitschiges Ding?«, wiederholte Henning von Leuwen verblüfft. Dann lachte er spöttisch. »Meine liebe Hedi, diese Vase ist sehr wertvoll und einzig in ihrer Art. Sie gehört zu dem wenigen, das uns Leuwen nach allem verblieben ist. Einer meiner Vorfahren hat sie in China erhandelt, und inzwischen hat sich herausgestellt, dass sie tatsächlich aus der Ming-Periode stammt.«
»Meinetwegen auch aus der Ping-Periode«, spottete Hedi, stand auf und stellte sich in drohender Haltung neben der Vase auf. »Du sollst nichts um dich haben, was dich an Vergangenes erinnert. Ich werde eine schönere Vase für dich kaufen, noch wertvoller, aber moderner und gefälliger im Aussehen. Und diese Räume hier ...«, verächtlich sah sie sich um, »... sollten neu gestaltet werden. Oder willst du mir zumuten, dass ich in solch schäbiger Umgebung leben muss?«
»Es ist mein Elternhaus«, erwiderte Henning ruhig. »Es ist meine Heimat.«
»Die dir nur dank einer reichen Braut erhalten bleibt, wenn du klug bist und keine Minute vergisst, mit wem du verlobt bist«, klang es scharf und mahnend zurück. »Anstatt hier auf irgendeinen wichtigen Anruf zu warten, Henning, solltest du endlich mit mir kommen. Wozu willst du noch Geld verdienen? Ich habe doch genug. Mama wird auf meinen Wunsch hin all deine Gläubiger bezahlen, und du gibst endlich den lächerlichen Wunsch auf, mich ernähren zu wollen. Wenn du es unbedingt möchtest, soll dir dieses hier in etwa so erhalten bleiben, wie du es gewohnt bist. Aber die Vase, ...«, ihre Hand mit dem riesigen Türkis deutete nach unten, »... die wird durch eine schönere ersetzt.«
Ehe Henning sich äußern konnte, wurde an die Tür geklopft.
Frau Schenk, seit Jahren treu und fleißig den von Leuwen dienend, öffnete und berichtete mit ein wenig asthmatischer Stimme: »Herr Baron, es ist ein Herr gekommen! Ein schrecklich aufgeregter und sehr unhöflicher Mann! Ich hatte meine Mühe und Not, ihn in den kleinen Salon zu führen. Er will Sie unbedingt ...«
Im selben Augenblick schob eine Hand sie zur Seite.
»Solche Tricks können Sie sich sparen, Baron von Leuwen. Wo ist meine Tochter?«
»Ihre Tochter?« Henning wirkte so verlegen, dass nicht nur Hedi stutzte, sondern auch die alte Eva Schenk mit erschrockenen Blicken von einem zum anderen sah.
»Meine Tochter Georgina!«, donnerte der Fremde. »Oder wenn Sie das besser verstehen: meine Tochter Gina!«
»Wir kennen keine Georgina und auch keine Gina«, mischte sich Hedi scheinbar gelangweilt ein, doch Neugier glitzerte in ihren braunen Augen.
Der Fremde fuhr zu ihr herum, betrachtete sie feindselig und fragte barsch: »Wer sind Sie? Und was haben Sie zu so später Stunde hier zu suchen?«
Das verschlug Hedi die Sprache. Sie hob die Hände und blickte ratlos zu Henning hin, der wieder auf die Vase starrte und die Hände auf dem Rücken verschränkte.
»Ich bin Baron von Leuwens Verlobte«, erklärte Hedi von oben herab. »Und damit wäre ja wohl geklärt, weshalb ich noch auf dem Gut verweile. Als zukünftige Herrin von Leuwen muss ich Sie bitten, sich unverzüglich vorzustellen, falls Sie es nicht vorziehen, von einem Diener gewaltsam hinausbefördert zu werden.«
Der untersetzte Mann lachte höhnisch auf und schüttelte dann den Kopf mit dem spärlichen grauen Haar.
»Diener nennen Sie die paar zerlumpten Gestalten, die draußen müßig herumstehen?«, spottete er.
»Es sind alles Leute, die seit Jahrzehnten in meinen Diensten stehen, und außerdem haben sie jetzt Feierabend«, erklärte Henning mit überraschender Ruhe und Freundlichkeit.
Er ließ die Hände sinken und schritt langsam auf den Besucher zu.
Hedi kicherte. Sie stellte sich an Hennings Seite und musterte den grauhaarigen Herrn, der vor Zorn rote Flecken auf Hals und Wangen hatte.
»Ihre Tochter werden Sie hier nicht finden«, bekräftigte Hedi.
»Und Sie werden niemals Herrin auf Leuwen«, gab der Mann zurück.
»Darüber dürften Sie nicht zu entscheiden haben, mein Herr«, befand Hedi und lächelte ihn stolz an. »Wer sind Sie überhaupt? Und was soll das Gefasel von einer Tochter?«
»Sandberg, Georg Sandberg«, stellte sich der untersetzte Mann vor. Er blickte dabei auf Henning und dann auf einen der schadhaften Sessel, die sich um den Kamin gruppierten. »Darf ich mich setzen?«, fragte er.
»Wozu?«, mischte sich Hedi ein. »Wir kennen keinen Georg Sandberg und wünschen ihn in diesem Hause auch nicht als Gast.«
»Setzen Sie sich, Herr Sandberg«, gestattete Henning ruhig. »Natürlich kenne ich Sie – dem Namen nach. Ihr Schicksal habe ich in letzter Zeit oft mit dem meinen verglichen. Ich bewundere die Art, wie Sie sich emporgearbeitet haben, ohne an Ansehen oder Ehre zu verlieren. Und dies allein ist der Grund, warum ich Ihnen nicht sofort die Tür weise. Auf Leuwen gibt es keine Besucher, die gewaltsam eindringen und meine Leute beleidigen.«
»Sie werden noch viel mehr hinnehmen müssen, junger Mann«, erwiderte Georg Sandberg, zog ein Taschentuch hervor und fuhr sich damit über die Stirn. »Der Name Leuwen hat keinen guten Klang mehr.«
»Wie soll ich das verstehen?«, fragte Henning und nahm Platz.
»Das Gut wird den gleichen Weg gehen wie alles, was einst den von Leuwen gehörte. Und nun wollen Sie es auch noch auf einen Skandal ankommen lassen?«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Ein Verrückter«, fügte Hedi hinzu und fasste nach Hennings Hand.
»Ihn werden Sie nicht halten können, Fräulein Cöster«, erklärte Georg Sandberg. Ein Lächeln des Bedauerns entspannte sein Gesicht. »Denn er wird meine Tochter heiraten.«
Hedi zog ihre Hand zurück, starrte Henning an und dann den alten Mann. Plötzlich lachte sie schrill auf.
»Ein Verrückter!«, wiederholte sie und griff nach der Tischglocke aus gehämmertem Messing.
»Ich werde nur kurz bleiben«, versicherte Georg Sandberg. »Ich will Gina mit mir nehmen. Sie kann doch hier nicht bleiben, solange sie nicht Ihre Frau ist.«
Es schien, als erwache der junge Baron Leuwen aus einem Traum.
»Ihre Tochter, Herr Sandberg, ist nicht hier«, sagte er und sah in die dunklen Augen seines Gegenübers. »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.«
»Das Ehrenwort eines Mannes, der mit Schulden lebt?«, verhöhnte Georg Sandberg ihn.
»Das Ehrenwort eines Mannes, der unverschuldet in Schwierigkeiten geraten ist und sich dennoch nicht beleidigen lässt.«
Georg Sandberg sah den Baron lange Zeit prüfend an. Wieder glitt der Anflug eines Lächelns um seine Lippen.
Dann seufzte er, stand auf und murmelte: »Dass Gina Sie so liebt, beginne ich allmählich zu begreifen. Aber dass sie mir Ihretwegen so viel antut ...« Achselzuckend wandte er sich der Tür zu. »Aber ohne mein Geld!«, schrie er plötzlich und fuchtelte wild mit den Armen. »Sie haben sich verkalkuliert, mein Lieber. Gina soll ihren Willen haben. Schließlich ist sie mein einziges Kind, und ich will sie glücklich sehen. Aber Sie, Baron von Leuwen, werden niemals Gelegenheit bekommen, auch nur einen Pfennig von dem anzurühren, was ein Sandberg erarbeitet hat. Sie werden lediglich der viel beneidete Ehemann einer reichen Frau sein, mehr nicht.«
»Nicht einmal das«, gab Henning kühl zur Antwort. »Und ich nehme an, dass Ihr Besuch damit beendet ist.«
»Für heute ja, Baron. Sobald Gina zu Hause ist, hören Sie von mir. Und sollten Sie es wagen, meine Tochter dem Gerede der Leute auszusetzen, lernen Sie die Macht kennen, die ein Sandberg besitzt.«
»Die fürchte ich weniger als Ihr Fräulein Tochter«, erklärte Henning ruhig.
Dann schlug die Tür hinter Georg Sandberg zu.
Henning stöhnte auf, als er mit Hedi allein war. Sein Lächeln, das sie beruhigen und versöhnen sollte, misslang jedoch.
»Hedi«, begann er und streckte die Hand nach ihr aus. Aber sie warf den Kopf zurück und wandte sich ebenfalls zur Tür. »Hedi!«, rief Henning erschrocken und stürzte ihr nach. In der Halle holte er das zürnende Mädchen ein und riss es zu sich herum. »Hedi, du wirst doch wohl nicht glauben, was Sandberg gesagt hat!«, rief er in vorwurfsvollem Ton.
Ruckartig befreite sie sich aus seinem Griff und strich hastig über ihr blondes Haar.
»So unwahrscheinlich ist es nicht, Henning«, gab sie leise zu bedenken. »Er kannte meinen Namen. Er weiß vielleicht sehr viel von uns. Mir ist inzwischen auch eingefallen, woher ich den Namen Sandberg kenne. Und gerade das macht mich stutzig. Ist es nicht möglich, dass du dich mit den Sandberg-Millionen sanieren willst? Hoffst du nicht doch, dass der erboste Herr Papa nachgibt und dich an allem teilhaben lässt? Stellst du es geschickt genug an, kannst du eine atemberaubende Karriere machen. Du hast mir die Begegnung mit dieser Gina verheimlicht, nicht wahr? Du wolltest zwei Eisen im Feuer haben. Es war dein Pech, dass ich heute Abend noch einmal herkam. Ich wollte dich ablenken, mit dir ausgehen und endlich erfahren, wann wir heiraten. Nun kenne ich den Grund deines Zögerns. Henning, ich kann dir kaum einen Vorwurf machen. Die Menschen sind materialistisch eingestellt. Auch du. Schade.«
»Aber ...«, setzte ihr Verlobter an, doch Hedi unterbrach ihn direkt.
Sie strich sich über die Stirn und fuhr fort: »Ich hatte mir alles so wunderbar vorgestellt. Nun bin ich von einer Sekunde zur anderen sehend geworden, nachdem ich drei Jahre lang blind vor Liebe und Sehnsucht war. Du hast dir nicht allein aus der Patsche helfen wollen. Du gedachtest dich der reichen Sandberg zu bedienen, nicht wahr? Sandberg! Welch ein Begriff! Und in dem Schatten dieses Goldenen Kalbes werde ich verschwinden wie etwas, das nie da gewesen ist. Ach, Henning ...«
Hedi begann zu weinen und ließ es geschehen, dass Henning die Arme um sie schlang. Sie lehnte sich an ihn. Doch sie wartete vergeblich auf einen Kuss.
»Das beweist es mir!«, schrie sie plötzlich und stieß ihn von sich. »Du kannst nicht einmal mehr heucheln! Oh, wie ich dich verabscheue! Ja, ich könnte dich hassen!«
»Tu das nicht, Hedi«, entgegnete er leise und niedergeschlagen. »Du musst doch fühlen, was wahr und was erlogen ist. Du kennst die Probleme, mit denen ich zu kämpfen habe. Du weißt, dass ich treu und ehrlich bin. Wäre ich es nicht, wärst du längst meine Frau und ich ein sorgloser Mann. Ich habe gezögert, weil ich nicht wie ein Bettler zu dir kommen wollte. Und dass ich heute Abend so wenig Interesse zeigte, liegt an dem bitteren Wissen, dass mich mein bester Freund im Stich gelassen hat.«
»Vielleicht ruft er noch an«, erwiderte das blonde Mädchen hart. »Dann kannst du ihm sagen, dass du seine Hilfe nicht mehr brauchst. Das Geld der Sandbergs wird deinen zukünftigen Weg vergolden. Aber irre dich nicht. Georg Sandberg ist anders als Mama und ich. Du wirst weiterkämpfen müssen, Henning. Aber gewiss wirst du siegen.«
Sie ging weiter, ohne sich nach ihm umzusehen. Doch sie wusste, dass er ihr folgen würde. Sie tat ungehalten, als er sie erneut festhielt.
»Hedi«, sagte er. In seiner Stimme klang Verzweiflung. »Geh nicht fort! Nicht im Zorn, bitte!«
»Soll ich dir Freundin sein, nachdem ich Verlobte war und nun von einer anderen ersetzt werde?«
Wie unter einem Hieb zuckte er zurück und presste die Lippen zusammen. Jetzt funkelten seine grauen Augen, und seine hohe Stirn unter dem schwarzen Haar war gefurcht.
»Hast du mich je geliebt?«, fragte er.
»Liebst du mich?«, kam die prompte Gegenfrage.
Henning schwieg, weil er plötzlich selbst nicht mehr wusste, was er empfand, wünschte und ersehnte.
»Es ist gut, dass du mich jetzt nicht angelogen hast, Henning. Lebe wohl und viel Glück.«
Da riss er sie in seine Arme und küsste sie, bis ihr Widerstand erlahmte.
Mit zitternder Stimme fragte sie: »Soll ich bleiben, Henning?«
»Ja.«
»Wünschst du das wirklich?«
»Ja, Hedi.«
***
Sie saßen wieder am Kamin.
»Ich möchte ja glauben, dass es ein Irrtum ist«, murmelte Hedi. »Aber es ist so schwer. Viel zu viel spricht dafür, dass Sandberg seine Tochter hier tatsächlich gesucht hat. Und wenn mich nicht alles täuscht, so rieche ich auch den Hauch eines süßlichen Parfüms. Henning, sag, lügst du mich an oder willst du barmherzig sein, weil ich dir leidtue?«
»Weder noch«, stieß er ärgerlich hervor. »Ich kenne Sandberg nur dem Namen nach, aus Gesprächen mit Leuten, die ihn bewundern oder fürchten. Ich habe gar nicht gewusst, dass er eine Tochter hat. Es hat mich nie interessiert.«
»Und jetzt? Interessiert es dich jetzt?«
Wieder konnte er keine Antwort geben. Er versuchte, sich das Mädchen vorzustellen und sich klarzumachen, dass der Vater einen Grund zu diesem Besuch gehabt haben musste.
Was mochte Georgina veranlasst haben, von einer Liebe zu ihm, Henning, zu sprechen und damit den Vater zu erzürnen?
»Es muss eine Verwechslung vorliegen«, erklärte er aus diesen Überlegungen heraus. »Wir sollten darauf trinken, Hedi, dass der alte Sandberg gegangen ist, ohne Trümmer zu hinterlassen.«
»Und wenn er wiederkommt?«
»Das wird er nicht. Es wird sich herausstellen, dass er genarrt worden ist. Was sollte seiner Tochter daran liegen, einen ihr unbekannten armen Baron in ihre Pläne einzubeziehen? Gewiss hat er sich verhört.«
»Aber er kannte auch meinen Namen, Henning.«
»Den wird ihm einer der Knechte verraten haben. Du kennst die Leute ja. Sie finden immer ihren Spaß daran, andere zu necken. Wir wollen froh sein, dass es so abgegangen ist. Aber ganz ist die Angelegenheit noch nicht für mich erledigt. Sobald ich in die Stadt komme, werde ich mit meinem Anwalt sprechen. Vielleicht genügt ein Wort seinerseits, um den eifersüchtigen Vater zu beruhigen.«
»Du kennst sie wirklich nicht, Henning?«
»Wen?«
»Na, diese Gina.«
»Nein, und ich habe auch nicht das Verlangen, sie kennenzulernen. Ein Mädchen, das seinen Vater so belügt ...«
Henning schüttelte den Kopf. Dann wechselte er das Thema und schlug vor: »Geh voraus ins Gartenzimmer. Ich werde eine Flasche Wein aus dem Keller holen. Wein ist das einzige, was reichlich vorhanden ist, solange uns die Weinberge noch gehören.«
Hedi begab sich ins Gartenzimmer. Sie öffnete ein Fenster und schaute in den Garten. Schimmernde Pünktchen tanzten in den Sträuchern: Glühwürmchen. Das Mondlicht schien den verwilderten Park in Silber zu tauchen. Mild war die Nacht, geheimnisvoll, lockend, verwirrend. Eine Nacht für Verliebte. Eine Nacht, in der man die Entscheidung würde erzwingen können?
»Oh Liebling«, hauchte Hedi, als Henning zurückkehrte.
Henning schaltete die Deckenbeleuchtung ein und sah Hedi fragend an. Er lächelte über das blonde Mädchen, das wie verloren am offenen Fenster stand, schlank und hübsch in dem roten Rock, der roten ärmellosen Bluse, in der große weiße Tupfen leuchteten. Rot waren auch ihre Sandalen aus weichem Leder. Er wollte dieses hübsche Geschöpf in seinen Armen halten und vergessen, dass es eine Wirklichkeit gab, die nichts von dieser traumhaft schönen Nacht an sich hatte.
»Du solltest das Fenster schließen«, meinte er, während er die beiden Römer füllte.
»Wie du meinst«, sagte sie lächelnd, drückte die Fensterflügel zu und näherte sich mit wiegenden Schritten. »Nur ein Gläschen«, flüsterte sie mit weicher Stimme. »Ich brauche keinen Wein, um trunken zu werden. Ein Blick aus deinen Augen genügt mir, Henning.«
Sie lehnte sich an ihn, hob ihm das Gesicht entgegen – und zuckte zusammen, als er sagte: »Und deine Mama? Was hast du ihr diesmal vorgeschwindelt?«
»Um Gottes willen!«, rief Hedi entsetzt. »Ich habe ihr gesagt, dass ich vor Mitternacht zurück bin.«
Henning von Leuwen blickte auf seine Armbanduhr.
»Es ist gleich elf, Hedi«, stellte er fest. »Schade, dann bleibt uns wirklich nur Zeit für ein Gläschen Wein.«
»Ich werde Mama anrufen, Henning. Ich werde eine Panne vortäuschen. Sie wird nicht daran zweifeln, denn es wäre nicht das erste Mal, dass ich irgendwo übernachte, weil mir die Heimfahrt zu lang wird«, schlug sie vor.
Sie lügt so leicht, dachte Henning, und mir hat sie nicht glauben wollen. Ein Mädchen, das sich nie ziert, und doch möchte ich es gern erobern.
»Du schaust so ernst, Henning«, beklagte sich Hedi.
Und schon eilte sie in die Halle, um zu telefonieren. Er folgte ihr nicht. Er hörte kaum hin, was sie sprach und hatte sein Glas bereits geleert, ohne auf Hedi zu warten. Er maß sie mit einem kühlen Blick, als sie mit glänzenden Augen zu ihm zurückkehrte.