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Wenn ein Herz so einsam ist
Roman um ein ergreifendes Mädchenschicksal
Von Birke May
Es ist ein regnerischer und dunkler Winterabend. Um schneller zu seinem Wagen zu gelangen, wählt Juwelier Severin Thomas die Abkürzung durch den Park. Er ist schon fast an der Bank vorbei, als ihm bewusst wird, dass dort jemand sitzt: ein Mädchen in tiefster Hoffnungslosigkeit. Nie zuvor hat ihn etwas so sehr gerührt.
Severin zögert nicht lange und nimmt sie mit zu sich nach Hause. Ob er sich damit zum Gespött der Leute macht oder was Carla, seine zukünftige Braut, sagen wird, ist ihm egal. Was ist denn schon dabei, wenn er einer Verzweifelten für eine Nacht ein Dach über den Kopf gibt?
Eine regnerische Nacht, in der sich zwei Menschen aus völlig verschiedenen Welten begegnen, wird ihnen zum Schicksal werden. Sie werden ihre einsamen Herzen öffnen und sich gegenseitig von ihrem Kummer erlösen. Doch welch steiniger Weg bis dahin vor ihnen liegt, erfahren Sie in dieser zutiefst berührenden Geschichte.
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Seitenzahl: 135
Cover
Impressum
Wenn ein Herz so einsam ist
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Irina Alexandrovna / shutterstock
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar
ISBN 9-783-7325-7715-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Wenn ein Herz so einsam ist
Roman um ein ergreifendes Mädchenschicksal
Von Birke May
Es ist ein regnerischer und dunkler Winterabend. Um schneller zu seinem Wagen zu gelangen, wählt Juwelier Severin Thomas die Abkürzung durch den Park. Er ist schon fast an der Bank vorbei, als ihm bewusst wird, dass dort jemand sitzt: ein Mädchen in tiefster Hoffnungslosigkeit. Nie zuvor hat ihn etwas so sehr gerührt.
Severin zögert nicht lange und nimmt sie mit zu sich nach Hause. Ob er sich damit zum Gespött der Leute macht oder was Carla, seine zukünftige Braut, sagen wird, ist ihm egal. Was ist denn schon dabei, wenn er einer Verzweifelten für eine Nacht ein Dach über den Kopf gibt?
Um schneller zum Parkhochhaus zu gelangen, wählte Severin Thomas die Abkürzung durch den kleinen Park. Es war dunkel und regnerisch. Er war schon fast an der Bank vorbei, als ihm bewusst wurde, dass dort jemand saß.
Bei diesem Wetter und zu dieser Stunde?, überlegte er.
Severin blieb stehen und wandte sich um. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als sein Blick auf ein Mädchen, in dunkelblauem Mantel fiel, das still auf der Bank saß, die Hände im Schoß gefaltet, so, als warte es auf jemanden.
„Aber Fräulein!“, rief er beinahe entrüstet.
Dann war er bei ihr. Er sah die Hoffnungslosigkeit in ihren Augen, sah so etwas wie ein stummes Flehen.
Er beugte sich etwas zu ihr nieder.
„Sie werden sich erkälten. Die Welt geht nicht gleich unter, wenn man mal bei einem Rendezvous versetzt wird.“
Sie seufzte und schwieg. Aber sie senkte den Kopf nicht, sondern starrte Severin weiterhin an.
Ob sie krank ist?, fragte er sich. Ob ihr Geist verwirrt ist?
Und während er noch stand und überlegte, hörte er einen schweren Seufzer.
„Es ist alles so schwierig. Jetzt … wo sie tot sind“, sagte das Mädchen und rieb sich die Hände, als fröstele es.
Tot? Dieses Wort löste in Severin Unbehagen aus. Er war jung und erfolgreich – und er war verliebt. Wer eine Frau wie Carla küsste, dem war das Leben doppelt lieb.
Doch dieses traurige Wesen hier, das dort hockte, als habe es jede Hoffnung verloren, durfte unter keinen Umständen hier sitzen bleiben.
„Kommen Sie erst einmal mit zu meinem Wagen“, bot Severin an.
Das Mädchen rührte sich nicht. Es sah ihn nur an. Nie zuvor hatte ihn jemand so angeschaut. Nie zuvor hatte ihn etwas so sehr gerührt.
Unwillkürlich senkte er seine Stimme, als er wiederholte: „Kommen Sie mit zu meinem Wagen, Fräulein.“
„Ich heiße Marina“, sagte sie, und es klang, als bitte sie: Sei gut zu mir. Tu mir nicht weh!
„Und ich heiße Severin Thomas“, stellte er sich vor.
„Marina Reckow“, fuhr sie fort und wischte mit der rechten Hand über ihre Augen.
„Kommen Sie“, sagte er, zog sie hoch und legte den Arm um ihre schmalen Schultern, als habe er Sorge, sie könne in der regenfeuchten Nacht verschwinden. Dass sie so still und scheinbar vertrauensvoll mit ihm ging, rührte ihn noch mehr.
Er musste unwillkürlich daran denken, dass sich Carla von Gorden niemals so willig und wortlos von ihm hatte führen lassen.
„Mein Wagen steht dort drüben“, erklärte er, während sie die Straße überquerten.
Sie hob den Kopf und sah ihn verwundert an, als sie nichts als ein hohes Gebäude sah.
„Im Parkhochhaus“, setzte er erklärend hinzu.
Sie nickte nur.
„Seien Sie nicht traurig“, bat er. „Auf einer Bank im Regen können Sie keine Probleme lösen, Marina.“
Er nannte sie beim Vornamen, um ein wenig Vertrautheit zwischen ihnen zu schaffen, um diesem verstörten Geschöpf klarzumachen, dass er bereit war, sich seines Kummers anzunehmen.
„Wie weich das ist“, gestand sie, als sie neben ihm im Wagen saß. Vorsichtig glitten ihre schmalen Finger über das Polster. „Das … ist Ihr Wagen?“
„Ja.“ Severin hatte plötzlich das Gefühl, als müsse er sich schämen, weil er einen so teuren Wagen besaß.
„Meine Eltern sind nur mit der Kutsche gefahren“, erzählte sie und lehnte sich langsam zurück. Er sah, wie sie die Beine ausstreckte. Wohlgeformte Beine, die jedoch in groben dunklen Strümpfen steckten.
Ach du liebe Güte!, dachte Severin. Kaum ist sie im Trockenen, da tischt sie mir schon Märchen auf.
„Wir stammen aus Westpreußen, direkt von der Küste.“
„Das ist doch lange vorbei“, meinte er grob. „Sie können kaum daran beteiligt gewesen sein … so jung, wie Sie sind.“
„Ich bin zweiundzwanzig.“
„Ach?“, murmelte er und war nun mehr verblüfft als erstaunt.
„Und meine Eltern sind tot“, sprach das Mädchen weiter.
„Ich fahre Sie nach Hause. Sie brauchen trockene Kleidung, Sie sollten am besten sofort ins Bett“, sagte er, als er das Parkhaus hinter sich gelassen hatte und auf eine Kreuzung zufuhr. „Wo wohnen Sie?“, fragte er, ärgerlich, weil sie schwieg.
„Nirgends.“
Nirgends? Das gab es doch nicht in dieser Zeit, wo alle Verhältnisse geordnet waren, auch die Flüchtenden hatten längst eine neue Heimat gefunden.
„Tischen Sie mir keine Märchen auf“, fuhr er sie an. „Und sollte dies ein Trick sein, so haben Sie den falschen Mann gewählt. Hören Sie mir überhaupt zu?“
„Ja.“ Es klang wie ein Schluchzen und verriet Verzweiflung.
„Also dann …“ Abwartend sah er sie an, musste jedoch den Blick wieder auf die Straße richten.
„Bitte, setzen Sie mich am Bahnhof ab. Dort ist mein Gepäck in der Aufbewahrung“, sagte sie nach einer Weile.
„Und dann?“, fragte er und sah wieder zu ihr hin.
Sie zuckte die Schultern, und sie schluchzte wieder.
„Sie sind wohl von daheim ausgerissen, was? Haben sich in der Großstadt ein interessantes Leben erhofft und nun keine Mittel mehr, um dieses ersehnte Leben zu führen.“
„Nein, Herr.“
„Ich heiße Thomas“, sagte er, weil ihn ihre Anrede reizte. Er war kein Herr, nicht in dem Sinne, wie dieses Mädchen es aussprach und auch wohl meinte.
„Bringen Sie mich zum Bahnhof, Herr Thomas.“
„Wie Sie wünschen.“ Er wechselte auf die linke Fahrbahn über und fuhr zum Bahnhof.
Dort war es belebter als in den Straßen des Einkaufszentrums. Dort gab es mehr Licht, aber auch mehr Menschen, die nicht alle vertrauenswürdig wirkten.
Severin zögerte. Er brachte es nicht über sich, das Mädchen einem ungewissen Schicksal zu überlassen.
„Ich – ich hole Ihr Gepäck“, stieß er hervor.
Er hatte sich geirrt, wenn er Widerspruch erwartete. Sie nickte nur und gab ihm einen zerknitterten Zettel.
Einen staunenden Blick noch, dann verließ Severin den Wagen, schlug die Tür zu, begab sich in die Bahnhofshalle.
***
Als Severin Thomas zurückkam, war es nicht zu übersehen, dass er sich genierte, den schäbigen Pappkoffer zu tragen, der mit einem Lederriemen zusammengehalten wurde.
„Ist das Ihr ganzes Gepäck?“, fragte er und konnte es nicht verhindern, dass seine Stimme spöttisch klang.
Er achtete nicht auf ihr zustimmendes Nicken, öffnete den Kofferraum und packte den Koffer hinein.
„Und jetzt?“, fragte er, als er wieder neben ihr saß.
Sie bewegte die Hände im Schoß, drehte die Innenflächen nach oben und sagte leise: „Es – es ist so schön warm hier.“
Mit ihr stimmt etwas nicht, dachte er, wandte sich ihr halb zu und betrachtete sie.
Licht fiel von draußen herein, ließ deutlich erkennen, wie fein die Züge des Mädchens warfen, wie schön das Profil. Es gab keine Tränen mehr, sondern ein scheues Lächeln. Ihm stockte der Atem bei diesem Lächeln.
„Hier können Sie kaum übernachten“, erklärte er barsch und musste daran denken, dass er eben noch in Carlas Nähe gewesen war und sich nun von diesem Mädchen so beeindrucken und rühren ließ, dass er es mit zu sich nach Hause nehmen wollte.
Was war denn schon dabei, wenn er ihr für eine Nacht ein Dach über den Kopf gab und am nächsten Tag dafür sorgte, dass ihr geholfen wurde?
„Soll ich aussteigen?“, fragte sie.
„Sie bleiben sitzen! Ich nehme Sie mit zu mir. Sie brauchen keine Angst zu haben, Fräulein Reckow.“
„Vor Ihnen nicht“, erwiderte sie.
Er hätte beinahe auf die Bremse getreten. Er war es nicht gewohnt, dass man ihm so spontan vertraute.
Und dieses Mädchen hier? Er sah verstohlen zu ihr hin, zuckte zusammen, als er bemerkte, dass ihr Lächeln noch immer da war. Schnell lenkte er den großen Wagen vom Bahnhof fort und zum Randgebiet der Stadt. Sie fuhren bald durch stille Alleen, in denen schmiedeeiserne Laternen ein mildes Licht verbreiteten.
Regen tropfte von den Bäumen. Tränen gab es keine mehr in den blauen Augen, wie Severin sich noch einmal versichert hatte.
„Wohnen Sie hier?“, fragte Marina.
„Nein, noch weiter vor der Stadt.“
„Und Sie fahren jeden Tag so weit?“
„Manchmal“, erwiderte er knapp.
Da fragte sie nicht mehr. Sie schien ein feines Empfinden dafür zu haben, dass er sich nicht weiter zu äußern wünschte.
Die Alleen blieben zurück. Hohe Hecken wehrten den Blick auf das schlafende Land. Dann schienen zwei Pappeln wie schlanke Riesen aus dem Dunkel zu wachsen. Ein Hund bellte. Licht flammte auf.
„Wir sind da“, verkündete Severin und stieg aus.
„Kommen Sie!“, rief er, als sie sich nicht rührte. Er zog sie aus dem Wagen und schloss die Tür.
Marina sah sich um. Sie blickte an dem Haus hoch, vor dem sie stand.
„Wohnen hier viele Menschen?“, wollte sie wissen.
„Nein“, sagte er nur. Er wollte nicht, dass sie jetzt schon erfuhr, dass nur er hier wohnte und in dem alten Patrizierhaus sehr glücklich war.
„Ach, es ist ja eine ganze Straße!“, staunte sie.
„Haben Sie angenommen, ich wohne auf dem Land?“, spottete er.
„Ich habe so viele Bäume gesehen. Da – da dachte ich …“
Severin ließ sie stehen und schloss die Haustür auf. Dann holte er ihren Pappkoffer und stellte ihn in der Diele ab.
„Muss man Ihnen alles sagen?“, knurrte er, als sie dastand, als wollte sie keinen Fuß in sein Haus setzen.
„Ich – ich möchte nicht stören“, stammelte sie.
Da musste er lachen. „Sie sind gut“, sagte er und ergriff sie beim Arm. Er schob sie ins Haus, verschloss die Tür und zog den Schlüssel ab.
Dann streckte er die Hand aus, um ihr aus dem Mantel zu helfen. Es war ein dicker, aber schon schadhafter Mantel.
Severin dachte an Carlas neuen Mantel aus Saphiernerzen und runzelte sekundenlang die hohe Stirn.
„Ich störe doch“, sagte Marina, die ihn beobachtet hatte.
„Mich nicht.“ Er hängte den Mantel auf einen der samtbezogenen Bügel und ging drei Stufen hinauf. Dann öffnete er eine der Türen.
„Nehmen Sie doch Platz, Marina. Ich werde uns etwas Heißes zu trinken machen.“
Absichtlich warf er keinen Blick zurück. Fast war er es schon leid, sich so intensiv um sie kümmern zu müssen.
Als Severin mit einem Tablett kam, stand sie am Fenster und blickte ihm mit großen Augen entgegen. Ihm fiel auf, wie zart und hilflos sie wirkte und dass ihr braunes Kleid ebenso altmodisch war wie ihr Mantel.
„Warum setzen Sie sich nicht?“, fragte er und musste sich zu einem freundlichen Ton zwingen, weil es ihn reizte, dass sie ihn so stumm musterte.
„Trinken Sie!“ Er hielt ihr das dicke Glas mit dem dampfenden Wein hin.
„Alkohol?“ Sie schüttelte den Kopf.
Severin stellte das Glas vor sie hin und lächelte.
„Ich will Sie nicht verführen“, versicherte er. „Sie tun mir leid. Das ist alles.“
Da begann sie wieder zu weinen, lautlos.
„Und Tränen sind mir zuwider“, erklärte er. „Trinken Sie, ehe es kalt wird, Marina.“
Da stopfte sie ihr feuchtes Taschentuch in ihren linken Ärmel und langte vorsichtig nach dem Glas. Alle ihre Bewegungen waren behutsam. Auch ihr Blick schien zu zögern, als sie sich nun im Zimmer umsah.
„Schön ist es hier“, bekannte sie, nachdem sie an dem Glas genippt hatte.
Severin dachte an Carla, die sich seit Langem über die Einrichtung mokierte und ihn veranlasst hatte, wenigstens Küche und Bad zu modernisieren.
„Und der Wein tut auch gut“, fuhr das Mädchen fort.
Na, also, dachte er. Wein scheint sie zu kennen, und etwas mehr als nur Naivität scheint auch in ihrem Kopf zu sein.
Er sah, dass sie noch immer zitterte. Er stand auf, ging zu ihr und berührte den Stoff ihres Kleides. Feucht! Nass vom Regen! Und dieses törichte Wesen saß da, als fühle es sich wirklich wohl.
Er warf ihr einen Blick zu, der sie zusammenzucken ließ. Dann ging er hinaus und kam Minuten später mit einem Bademantel zurück.
„Hier“, sagte er barsch. „Ziehen Sie sich um. Ich werde Ihnen das Bad zeigen. Und keine Widerrede!“, befahl er, als sie den Mund zum Sprechen öffnete. „Ich will mir nicht vorwerfen lassen, dass mein Gast durch meine Gleichgültigkeit krank geworden ist.“
„Ja“, entgegnete sie leise und stand auf. Sie griff nach dem Mantel und drehte ihn in ihren schmalen Händen hin und her.
Wie eine Frage wirkte ihr wissender Blick auf den Mann, der sich in diesem Augenblick beschämt bewusst wurde, dass es Carlas Bademantel war, den Marina nun anziehen sollte.
„Stellen Sie sich nicht an!“, herrschte er sie an. „Und halten Sie mich nicht für einen Mann, der sich vom Weltlichen abgewandt hat.“
„Ich friere“, murmelte sie. „Ich werde tun, was Sie sagen.“
„Das möchte ich Ihnen auch dringend geraten haben.“ Er starrte ihr nach, als sie davonging. Und er vergaß sekundenlang, dass er ihr das Bad hatte zeigen wollen.
Das riss ihn herum, ließ ihn zur Tür eilen. Als er sah, dass sie sich der Treppe zuwandte, stutzte er. Sie tat ja gerade so, als kenne sie sich hier aus.
„Warten Sie!“, rief er ihr zu. „Sie wissen ja nicht Bescheid!“
Sie nickte und ließ ihn vorbei. Er fühlte Befangenheit, als er ihr die Tür zum Badezimmer öffnete. Rasch ging er wieder nach unten. Er brachte die Gläser in die Küche. Er wollte sie noch einmal mit heißem Wein füllen, sobald sein seltsamer Gast wiederauftauchte.
Dann wanderte er im Wohnzimmer auf und ab und kam sich irgendwie lächerlich vor. Und doch horchte er auf Geräusche und atmete auf, als vorsichtige Schritte zu hören waren.
Schnell setzte er sich, tat, als habe er nicht auf sie gewartet, als habe er sie fast vergessen.
Er kämpfte gegen ein Lachen an. Es rührte ihn nicht, dass sie so verloren aussah. Es reizte ihn zur Heiterkeit, weil Carlas Bademantel ihr viel zu groß war, weil sie darin nicht so elegant wirkte wie die Frau, die er heiß begehrte.
„Sie sind mir schon ein Zufallsgast!“, scherzte er und wies auf den Sessel. Dann holte er den Wein und schob ihr das volle Glas hin. „Trinken wir auf diesen merkwürdigen Abend“, sagte er.
„Es ist schon fast Mitternacht“, berichtigte sie ihn mit einem Blick auf die Standuhr.
„Zeit zum Schlafengehen. Ich werde Ihnen das Fremdenzimmer zeigen. Leeren Sie Ihr Glas. Das wird Ihnen guttun und Sie schnell einschlafen lassen.“
Gehorsam trank sie. Sie verschluckte sich und musste husten.
Helle Röte färbte ihr schmales Gesicht.
„Ich habe Ihnen doch noch gar nicht erzählt, warum ich …“, begann sie und wurde durch seine abwehrende Handbewegung unterbrochen.
„Morgen – morgen“, entgegnete er rasch und ungeduldig. „Für heute genügt mir, dass Sie trotz Ihres Leichtsinns nicht zu Schaden gekommen sind. Ich bin müde. Der Tag war lang und anstrengend. Ich möchte schlafen.“
„Ja“, sagte sie nur und senkte den Kopf.
Severin verbot es sich, noch mehr zu erklären. Er eilte wieder die Treppe hinauf und öffnete die letzte der Türen.
„Das Bad kennen Sie ja. Frühstück gibt es um acht, falls Sie nicht länger schlafen wollen. Gute Nacht.“
„Gute Nacht – und vielen Dank, Herr Thomas.“
Sie huschte an ihm vorbei, den Ausschnitt des Bademantels noch immer fest zusammenhaltend, und war im Nu hinter der weiß lackierten Tür verschwunden.
„Na, so was!“, wunderte sich Severin, ehe er sein Zimmer aufsuchte.
Er schüttelte den Kopf und begann sich auszuziehen. Erst als er den Pyjama trug, fiel ihm ein, dass er noch nicht im Bad gewesen war. Leise öffnete er die Tür.
„Esel!“, murmelte er seinem Spiegelbild zu und kehrte in sein Zimmer zurück.
Er wollte vor dem Einschlafen an Carla denken – und sah doch immer wieder ein Mädchen auf der Bank sitzen, dessen Tränen sich mit Regentropfen vermischten.
***