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Da Manuela von Gudersberg immer wieder über die Stränge schlägt, schickt ihr Vater sie kurzerhand zu Verwandten an die Loire, damit ihr dort die Flausen ausgetrieben werden. Für die Komtess ist es keine Strafe, denn es gefällt ihr hier ausgezeichnet. Vor allem, als sie bei ihren Streifzügen durch das Loiretal einen geheimnisvollen Mann kennenlernt, der wie sie auch offenbar auf alle Konventionen pfeift. Sie weiß fast nichts über ihn, nur dass er Pascal heißt und oben im Turm des unbewohnten Châteaus Mignon sein Lager aufgeschlagen hat. Eines Tages zeigt er ihr einen Geheimgang zum Schloss, küsst das Mädchen plötzlich zärtlich und verschwindet daraufhin spurlos.
Manuela ist kreuzunglücklich, denn sie weiß nicht, ob sie Pascal jemals wiedersehen wird ...
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Es war nur ein einziger Kuss
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Impressum
Es war nur ein einziger Kuss
... doch er war der Anfang einer großen Liebe
Da Manuela von Gudersberg immer wieder über die Stränge schlägt, schickt ihr Vater sie kurzerhand zu Verwandten an die Loire, damit ihr dort die Flausen ausgetrieben werden. Für die Komtess ist es keine Strafe, denn es gefällt ihr hier ausgezeichnet. Vor allem, als sie bei ihren Streifzügen durch das Loiretal einen geheimnisvollen Mann kennenlernt, der wie sie auch offenbar auf alle Konventionen pfeift. Sie weiß fast nichts über ihn, nur dass er Pascal heißt und im Turm des unbewohnten Châteaus Mignon sein Lager aufgeschlagen hat. Eines Tages zeigt er ihr einen Geheimgang zum Schloss, küsst das Mädchen plötzlich zärtlich und verschwindet daraufhin spurlos.
Manuela ist kreuzunglücklich, denn sie weiß nicht, ob sie Pascal jemals wiedersehen wird ...
»Dort oben möchte ich mal Urlaub machen.« Manuela von Gudersberg wies mit der linken Hand auf das Schloss, das sich zwischen dem hellen Braun des Ufers und dem satten Grün alter Bäume wie eine Festung ausnahm.
Dann wurde ihr bewusst, dass der vor ihr im Boot sitzende Viktor ihre Handbewegung nicht hatte sehen können.
»Das müsste sich doch arrangieren lassen«, fuhr sie fort und umfasste das Paddel fester. »Dein Vater ist ein einflussreicher Mann. Gewiss wird er entzückt sein, mir einen Gefallen erweisen zu können, zumal er ja, im Gegensatz zu dir, für Blondinen schwärmt.«
Viktor von Löven tauchte sein Paddel in das klare grünliche Wasser der Loire, als könne er durch seine Heftigkeit die Fahrt beschleunigen. Er wusste, wovon die Rede war, doch er warf keinen Blick auf das Schloss.
»Wie heißt denn der Kasten?«, erkundigte sich Manuela.
»Das ist kein Kasten, sondern das Château Mignon«, erklärte Viktor. »Es ist eine Burg aus dem Mittelalter, die irgendein verliebter Adliger in der Renaissancezeit zu einem Lustschlösschen umbauen ließ. Für seine Geliebte, wie der Name verrät. In den alten Mauern soll das Unheil nisten, und Liebende sollen so unglücklich werden, dass sie nach ihrem Tod noch klagend umhergeistern.«
»Kann man es besichtigen, Viktor?«
»Nein. Es soll auch kaum möbliert sein. Seit wann interessierst du dich für Schlösser, Manuela?«
»Seitdem ich bei euch weile und jeden Tag mehr von der Landschaft rechts und links der Loire kennenlerne.«
»Es gefällt dir also bei uns?«
»Wäre der Anlass meines Besuches nicht ein so tragischer, würde ich mich noch viel mehr über all das Schöne hier freuen können«, stieß Manuela laut seufzend hervor.
Viktor drehte sich vorsichtig zu ihr um und lachte sie aus. Ja, er lachte laut und ahnte nicht, dass sie nahe daran war, das schmale Boot zum Kentern zu bringen.
»Er bekommt dir aber gut, dieser Zwangsaufenthalt«, stellte Viktor dann fest.
»Es ist unfair, sich an dem Leid anderer zu ergötzen«, erwiderte Manuela kühl. »Du hast gut lachen. Du bist verlobt und wirst bald heiraten. Deine Eltern sind mit deiner Wahl einverstanden und können es kaum abwarten, viele kleine Enkelkinder im Herrenhaus zu haben. Alles dicke, ungezogene Kinder mit Sommersprossen.«
Auch darüber konnte Viktor von Löven nur lachen. Die paar Sommersprossen auf seiner Stirn und seiner Nase störten ihn nicht, weil sie auch Angelique nicht störten.
»Kinder sind etwas sehr Schönes, Manuela. Zudem sichern sie den Fortbestand eines ruhmreichen Geschlechtes und geben einem das Gefühl, nicht umsonst gelebt und gearbeitet zu haben.«
»An dir ist ein Geistlicher verloren gegangen. Und das mit dem ruhmreichen Geschlecht ist auch übertrieben. Euer Adelstitel ist jünger als der unsere. Gib nicht so an, zumal deine Verlobte nicht einen Tropfen blaues Blut aufzuweisen hat.«
»Hüte deine giftige Zunge, Manuela!«, wies der junge Mann sie zurecht. »Die Familie Bagur verzichtet auf die Führung eines adligen Titels, weil sie es für die heutige Zeit unpassend hält.«
»Und fürs Geschäft. Von Bagur – und Fleischkonserven. Na, das ist in der Tat unmöglich.«
»Machst du es fleißigen Leuten zum Vorwurf, dass sie sich rechtzeitig umgestellt und alle Möglichkeiten genutzt haben, sich ein hohes Einkommen zu sichern? Mein zukünftiger Schwiegervater kann es sich leisten, andere für sich arbeiten zu lassen und sich selbst eine geruhsame Zeit zu gönnen. Er verdient genug, und seine Waren gehen auch ins Ausland.«
»Frischer Hummer! Miese Muscheln!«, frotzelte Manuela. Sie hatte das Paddel vor sich gelegt und ließ sich durch die Wellen und durch Viktors Kraft stromabwärts tragen.
In der Ferne leuchtete der kleine Felsen, ein Findling, der das Anwesen der von Löven vom Ufer her kennzeichnete. Gleich würde man an Land gehen und erneut der überschwänglichen Gastfreundschaft von Marc und Irina von Löven ausgesetzt sein.
»Aus dir spricht der Neid einer Verschmähten«, sagte Viktor. Er bewegte das Steuer nach rechts. Das Boot glitt auf den zementierten Steg zu, an dem ein alter Kahn und ein kleines Motorboot vertäut waren.
»Verschmäht?«, wehrte sich Manuela entrüstet. »Ich war es, die es ablehnte, ohne Liebe zu heiraten.«
»Mag es sein, wie es will. Du hast weder einen Anlass noch ein Recht, an mir oder Angelique etwas zu bemängeln. Nimm uns so, wie wir sind, wenn du nicht willst, dass dein Aufenthalt hier getrübt wird. Ich mag es nicht, wenn Misstöne aufkommen.«
»Aber du liebst sie nicht, und deshalb ärgert es mich, dass du von ihr sprichst, als sei sie ein Engel. Sie ist listig wie ihr geschäftstüchtiger Papa. Sie hat ein goldenes Netz ausgelegt, in dem du nun zappelst.«
»Es zappelt sich ganz gut. Wir wollen abwarten, worin du dich eines Tages verfängst – sicherlich in einer Raubtierfalle. Ich verstehe nicht, wie ein so netter besorgter Vater eine derartige Kratzbürste von Tochter haben kann.«
»Du vergisst Mama. Sie hatte Temperament für zwei. Schade, dass sie so früh starb. Sie wäre wohl die Einzige, die mich verstehen könnte.«
»Daran zweifle ich sehr«, meinte Viktor, stoppte mit dem Paddel und stieg so geschickt und schnell aus, dass das Boot sich kaum bewegte. »Komm«, sagte er und hielt Manuela die Hand hin. Diese wurde geflissentlich übersehen.
»Du bist ein Trotzkopf«, schalt er sie freundlich, als sie neben ihm stand.
»Magst du mich?«, fragte sie und drängte sich an ihn.
Viktor wurde verlegen. Er trat hastig zurück und stolperte über ein Tau.
»Nein«, erwiderte er kurz.
Doch er dachte sehr oft an jene unbeschwerte Zeit glücklicher Kindheitstage zurück, als Manuela als kleines Mädchen mit den Eltern ebenfalls an der südfranzösischen Küste Urlaub gemacht hatte. Ja, er mochte Manuela noch immer und hatte gelitten, als er erfahren hatte, dass sie ...
»Komm«, fügte er dann hinzu und schritt ihr schon voran. »Man wird mit dem Essen bereits auf uns warten.«
»Weißt du, was es heute gibt?«
»Nein, aber gewiss etwas, das du noch nicht kennst. Susette hat ja an dir einen Narren gefressen.«
»Es übersteigt wohl dein Begriffsvermögen, wenn andere mich sympathisch finden.«
»Du bemühst dich ja so offensichtlich, uns alle täglich aufs Neue zu schockieren, dass es schwer ist, freundliche Empfindungen für dich zu hegen.«
»Die Fahrt auf der Loire scheint dir nicht gut bekommen zu sein. Ich werde morgen eine Wanderung am Ufer entlang machen.«
»Aha«, murmelte Viktor und blieb stehen.
»Dein Aha bleibt ohne jede Wirkung auf eine junge Dame, die einst auf diesem blutgetränkten Boden der von Löven stand und dem Schwur eines sommersprossigen Jünglings glaubte.«
»Ich war es nicht, der zuerst ein Versprechen vergaß und sich ohne Reue amüsierte. Und weil du es mit Leuten tatest, die deinem Vater missfielen, lebst du nun quasi in der Verbannung. Es bleibt uns überlassen, deinen Trotz mit Gewalt zu brechen und die Berichte an deinen Vater so zu schreiben, dass er es für angebracht hält, dich monatelang bei uns zu lassen.«
»Armer Viktor, dann musst du dich ja noch länger opfern und auf mich achten.«
»Du irrst, Manuela, am nächsten Ersten kommt eine Verwandte meines Vaters. Sie wird sich um dich kümmern und dich auf die Pflichten vorbereiten, die die einzige Tochter des Grafen von Gudersberg erwarten. Gehst du eines Tages von hier fort, wirst du geläutert sein wie nach einem langen Aufenthalt im Kloster.« Er ging weiter und lachte, obwohl ihm unbehaglich war.
»Wie ihr euch das vorstellt«, schmollte Manuela. »Ihr könnt mich höchstens bis zum Anfang des kommenden Jahres festhalten. Dann bin ich einundzwanzig und kann tun und lassen, was ich will.«
»Bis dahin wirst du dich anpassen und dich wie eine Dame benehmen müssen. Eigentlich sollte dir das nicht schwerfallen. Die Natur hat dir alle Voraussetzungen für ein glückliches Leben mitgegeben. Du solltest dankbar sein und alle Gaben nutzen.«
»Das will ich ja, aber ihr lasst mich nicht.«
Er schüttelte die Hand ab, die ihn zurückhalten wollte.
»So wie du herumläufst«, fuhr er in vorwurfsvollem Ton fort, »schreckst du jeden jungen Mann ab. Warum trägst du ständig Latzhosen und Pullis? Kannst du nicht mal ein hübsches Kleid wählen? Du hast doch genug davon mit. Und dann deine Frisur! Du siehst wie ein Junge aus, nicht wie eine Dame.«
»Soll ich im Kleid mit dir Boot fahren, schwimmen oder wandern, die Felsen hinauf, um die Höhlenbehausungen zu bestaunen?«, fragte Manuela und baute sich so nah vor ihm auf, dass er dem amüsierten Blick aus den grünen Augen nicht entrinnen konnte. »Schau dich doch in den Tälern der Loire um, die der Garten Frankreichs genannt werden. Willst du verlangen, dass ich hier wie ein Püppchen umherspaziere und vor jeder Pfütze entsetzt zurückweiche? Willst du das wirklich?« Jäh blitzte es in ihren Augen auf, ehe sie zwei Schritte zur Seite machte und dann einen Sprung tat.
»Manuela!«, rief Viktor.
Zu spät. Wasser und Schlamm spritzten hoch, hinterließen dunkle Flecke auf seinem beigefarbenen Leinenanzug und auch in seinem Gesicht, das sich nun vor Zorn rötete.
Aber er fand keine Gelegenheit, seinen Unmut laut werden zu lassen. Manuela stürmte davon, quer durch den Park, nicht über die Wege, sondern über Rasen und durch Blumenbeete.
»Kleine Teufelin!«, knirschte er, während er die hässlichen Spuren mit dem Taschentuch zu entfernen versuchte.
♥♥♥
Beim gemeinsamen Abendessen benahm sich Manuela gesittet. Sie aß nicht viel, lachte pflichtgemäß über Baron von Lövens derbe Späße, war aufmerksam zu Viktors Mama, die, eine Cousine zweiten Grades ihres Vaters, sie immer wieder misstrauisch musterte.
»Wie war denn eure Bootsfahrt?«, erkundigte sich Irina von Löven schließlich.
»Wie immer«, antwortete Viktor und warf Manuela einen warnenden Blick zu. »Land rechts und links, unter uns die sanften Wellen und darüber sengende Sonne. Ich hätte mir etwas Leichteres anziehen sollen.«
»Shorts und nackte Brust«, war Manuelas Kommentar. »So ging Pierre-Luis auch immer umher, im Sommer natürlich.«
Drei Gesichter schienen in ihrer Mimik zu erstarren. Und nur der Baron wagte einen Blick auf das Mädchen, das so unbekümmert an eine Affäre erinnerte, die man am liebsten totgeschwiegen hätte.
»Künstler«, meinte Viktor verächtlich.
»Ein berühmter, sehr gut aussehender Mann mit strahlend blauen Augen. Du hast ihn nie gesehen. Er hätte dir gefallen.« Manuela verdrehte in Erinnerung an Pierre-Luis die Augen und seufzte tief.
»Du weißt, wie sehr du uns alle enttäuscht hast«, tadelte Irina von Löven sie. »Wir hätten dich gern als glückliche Braut des Prinzen Albert gesehen. Deine Episode mit jenem Schauspieler hat uns alle erschüttert.«
»Es war keine Episode, sondern eine zauberhafte Woche inmitten von Gleichaltrigen. Wir haben gelacht, getanzt und im Meer gebadet. Und so, wie ihr denkt, war es nicht. Gut, wir haben ein paar Küsse getauscht, aber das war auch alles. Es war einfach herrlich. Ich werde mein Leben lang von den schönen Stunden zehren.«
»Wir haben dich alle sehr gern, das weißt du, mein Kind«, erklärte Irina von Löven. »Und wir waren die Einzigen, die dich davor bewahrt haben, dass dein armer Papa seine Drohungen wahr machte. Nun danke uns, indem du nicht mehr rebellierst. Und vergiss nicht, dass dein Vater schwer herzkrank ist und jede neuerliche Aufregung Gift für ihn wäre. In unserer Begleitung darfst du überallhin. Versprich uns, vernünftig zu sein, dann lassen wir die Zügel etwas lockerer.«
Manuela sah Viktor an und lächelte vergnügt.
»Mein lieber Zerberus wird täglich unzufriedener. Also gut, ich verspreche Waffenstillstand. Doch nicht ohne Gegengabe.«
»Und?«, fragten die beiden Männer fast gleichzeitig.
»Dass ich zu bestimmten Zeiten allein umhergehen darf. Ich entferne mich nie weiter als von hier bis Chaumont oder ...«
»Das ist viel zu weit, mein Kind«, unterbrach die Baronin sie. »Du hältst dich von uns aus mehr nach Nordwesten.« Sie dachte an die einsamen Ufer, an die Wälder, die nur vom Aufseher ab und an betreten wurden, und glaubte, den richtigen Rat erteilt zu haben.
Manuela jedoch sah die Mauern vom Château Mignon vor sich, wie sich die Glockentürme im Wasser spiegelten.
»Gern, Tante Irina, wenn es dir Freude macht und dich beruhigt. Aber sag du bitte Viktor, dass er nicht länger über meine bequemen Hosen lästern soll. Sie sind doch für Ausflüge in die Natur viel praktischer als seidene Sommerkleider. Er lässt mir einfach keine Ruhe.«
Schmollend wandte sich Manuela dem Baron zu.
»Bitte, hilf mir, Onkel Marc, damit dein Sohn nicht glauben kann, dass er außer seiner Verlobten auch alle anderen hilflosen zarten Wesen tyrannisieren kann.«
Baron von Löven lachte geschmeichelt und tätschelte die kleine Hand, die sich über das Damasttischtuch hinweg auf ihn zuschob.
»Du bist wie deine Mutter, Manuela«, sagte er. »Sie hasste auch alle Fesseln und kämpfte um ihre Freiheit, bis sie ihrer tödlichen Krankheit erlag. Wenn du mir in die Hand versprichst, bei all deinen Unternehmungen nicht außer Acht zu lassen, dass du Gast auf Gut Löven bist, will ich mich auf deine Seite schlagen.«
»Abgemacht«, sagte Manuela strahlend und schlug in die Hand ein, die er ihr entgegenstreckte.
»Angelique kommt zwei Wochen eher«, wechselte Baronin Irina nun schnell das Thema. Sie stutzte, als Viktor sichtlich zu erschrecken schien. »Du weißt nichts davon, verstanden?«, sprach sie weiter. »Ich sage es dir nur deshalb, weil es in jedem Fall besser ist, wenn du auf ihren Besuch vorbereitet bist und dich dementsprechend verhältst.«
»Ja, das meine ich auch«, mischte sich Manuela lächelnd ein. »Viktor soll sich von heute an mehr um seine privaten Angelegenheiten kümmern und sich auf mein großes Ehrenwort verlassen. Weißt du, Tante Irina, es wäre nicht gut, wenn Angelique mich zu oft mit ihm sieht. Sie macht einen eifersüchtigen Eindruck, obwohl sie doch dazu keinen Grund hat. Nicht wahr, Viktor?«
»Sie weiß, dass ich sie liebe!«, stieß er hervor.
»Ja«, war Manuelas sanfte Antwort, »sie lässt es sich ja so oft von dir bestätigen, dass sie dumm sein muss, wenn sie dir keinen Glauben schenkt.«
»Was soll das heißen?«, fuhr er auf.
»Mein Herz, ich will dich fragen«, deklamierte sie mit halb geschlossenen Augen, und nur sie und er wussten, worauf sie in diesem Augenblick anspielte: auf jene längst vergangene frühe Jugend, da man mit hochroten Wangen und unruhigem Herzen Gedichte ausgetauscht und am Ufer der Loire von einer goldenen Zukunft geträumt hatte.
Nein, Manuela dachte an jene Stunden nicht mit Wehmut zurück. Sie neckte Viktor noch jetzt mitunter damit, weil er sich so ernst gab, nur widerwillig auf ihre Wünsche einging und immer wieder betonte, wie reif er durch seine Verlobung geworden sei.
Seit Angelique Bagur ihn eingefangen hatte, war Viktor ihr beinahe fremd. Und sie, Manuela, hätte bei allen Heiligen schwören können, dass es nicht die wahre Liebe war, die ihn mit seiner Braut verband.
»Lasst die Neckerei, Kinder«, ermahnte Baronin Irina die beiden, als sie sah, wie sprühend sich deren Blicke kreuzten.
»Auch du wirst einmal erwachsen, Kleines«, sagte der Baron und tätschelte wieder Manuelas Hand, bis seine Frau sich drohend räusperte.
»Kommst du noch mit zum Gehege?«, fragte Manuela.
»Nein«, sagte Viktor, »ich möchte noch einen Brief schreiben.«
»Mit tausend heißen Küssen und edlen Schwüren«, neckte sie ihn. Doch als er mit blassem Gesicht davonging, sah sie ihm ernst nach.