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Kein leichtes Leben - Als sich ihr Gewissen nicht zum Schweigen bringen ließ
Fünf Jahre hat Anne nichts von ihrer Schwester gehört, und das ist gut so. Damals, als Eva ihr den Mann ausgespannt hat und mit ihm weggegangen ist, ist die Schwester innerlich für sie gestorben.
Doch jetzt ist diese seltsame Karte eingetroffen. Abgestempelt in der Türkei.
Braucht Eva ihre Hilfe? Soll sie das leichte Leben an Armins Seite schon leid sein, das ihr vorgeschwebt hat?
Gedanken und Vermutungen beschäftigten Anne, und immer lauter wird die Stimme ihres Gewissens, die mahnt: Spring über deinen Schatten und rette deine Schwester!
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Seitenzahl: 141
Cover
Impressum
Kein leichtes Leben
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: alexkotlov / iStockphoto
Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-7143-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Kein leichtes Leben
Als sich ihr Gewissen nicht zum Schweigen bringen ließ
Von Birke May
Fünf Jahre hat Anne nichts von ihrer Schwester gehört, und das ist gut so. Damals, als Eva ihr den Mann ausgespannt hat und mit ihm weggegangen ist, ist die Schwester innerlich für sie gestorben.
Doch jetzt ist diese seltsame Karte eingetroffen. Abgestempelt in der Türkei.
Braucht Eva ihre Hilfe? Soll sie das leichte Leben an Armins Seite schon leid sein, das ihr vorgeschwebt hat?
Gedanken und Vermutungen beschäftigten Anne, und immer lauter wird die Stimme ihres Gewissens, die mahnt: Spring über deinen Schatten und rette deine Schwester!
»Du solltest zu ihr fahren, Anne«, sagte Frau Bühler in beschwörendem Ton zu ihrer Tochter.
»Auf eine einzige Karte hin? Auf einen kurzen Gruß nach fünf Jahren des Schweigens?«, fragte das blonde Mädchen zornig.
»Sie braucht Hilfe. Ich weiß es. Wir dürfen sie nicht allein lassen.«
»Eva war nie allein. Sie wird Hilfe finden, wo auch immer sie ist, Mutter.«
Frau Bühler ließ den Kopf auf das Kissen zurücksinken, ohne den Blick von ihrer Tochter zu wenden, die neben ihrem Bett saß und die Lippen aufeinanderpresste.
»Nach so langer Zeit müsstest du verzeihen können, Anne. Schließlich ist Eva deine Schwester. Sie hat uns endlich geschrieben. Ist das nicht ein Beweis dafür, wie leid ihr alles tut?«
»Wahrscheinlich braucht sie Geld – wie damals, als sie dich überredete, ihr sämtliche Ersparnisse zu überlassen. Sie würde nie ehrlich sagen, warum sie sich an uns wendet, ausgerechnet jetzt, wo du im Krankenhaus liegst und nur an deine Genesung denken solltest.«
»Auch Eva ist mein Kind, Anne. Sie hat mir viel Kummer gemacht, aber ich fühle, dass sie in Not ist und dass sie mit diesem Kartengruß versucht, die Brücke wieder aufzubauen, die sie vor Jahren hinter sich abbrach.«
»Eva war immer dein Lieblingskind, Mutter. Ein paar nichtssagende Zeilen von ihr lassen dich sofort vergessen, was sie uns angetan hat.« Anne Bühler schüttelte den Kopf. »Ich möchte alles so lassen, wie es ist, Mutter. Eva war es, die sich von uns trennte. Dich hat sie belogen. Mir hat sie den Mann genommen, den ich heiraten wollte. Nie werde ich ihr das verzeihen. Nie! Und jetzt wollen wir nicht mehr davon sprechen. Hast du Wünsche? Soll ich dir etwas mitbringen, wenn ich wiederkomme?«
»Ja«, antwortete die Kranke und sah die Tochter flehend an. »Es ging alles so schnell, ich habe nur wenige Dinge mitnehmen können. Bitte, bringe mir ein Foto von Eva – das große, das kurz vor ihrer Abreise gemacht wurde. Es liegt im Wäscheschrank, hinter den Servietten, bitte, Anne!«
Die Tochter drückte die Hände der Mutter, die sich ihr flehend entgegenstreckten, und seufzte leise.
»Wenn du dich unbedingt quälen willst, Mutter. Ich werde das Bild mitbringen. Doch das ist alles, was ich in dieser Angelegenheit tun werde. Die Karte solltest du schnell vergessen.«
»Eine Mutter kann keines ihrer Kinder vergessen, Anne. Das von ihr zu verlangen, ist unmöglich.«
»Ja, ja«, murmelte Anne. Sie beugte sich hinab und küsste die blasse Stirn, die erschreckend kalt und feucht war. »Ich muss jetzt gehen. Der Arzt hat nur ein paar Minuten Besuchszeit erlaubt. Bitte, denke jetzt nur an dich! Du musst gesund werden. Ich brauche dich.«
Die Kranke nickte und lächelte, als die Tür ein wenig zu laut hinter dem Mädchen zugefallen war. Ob sie mich wirklich braucht?, dachte sie. Anne hat immer alles allein entschieden und war schon sehr früh selbstständig. Eva jedoch …
Ihre Hand griff nach der Karte, die in Istanbul abgeschickt worden war.
»… ich grüße die Heimat. Ich möchte sie gern wiedersehen – ganz besonders Dich, Mama …«
Eva war immer zärtlich und impulsiv gewesen. Sie hatte ertrotzt, was man ihr verwehrte, erschmeichelt, was man ihr nicht geben wollte. Eva hatte es immer verstanden, die Menschen für sich einzunehmen. Und nun hatte sie endlich geschrieben … ein paar Zeilen nur, doch diese verrieten sehr viel …
***
»Herr Doktor, bitte, sagen Sie mir die Wahrheit. Wird meine Mutter …«, fragte Anne voller Angst.
»Der Zeitpunkt ist zu früh, Frau Bühler«, unterbrach der Arzt sie sofort. »Wir werden operieren. Wenn das Herz stark genug ist, dann …«
»Ich verstehe«, erwiderte Anne leise. Sie gab dem Arzt die Hand und ging rasch dem Ausgang zu.
Nie hatte sie sich erlaubt, eine Schwäche zu zeigen. Tränen, Schmerz und Leid gingen einen anderen nichts an.
Man brauchte die Mutter ja nur anzusehen. Man konnte darauf verzichten, weitere Fragen zu stellen.
Auch an Mutters Krankheit trug Eva Schuld. Nach einem Streit hatte die Schwester die Wohnung verlassen und damit das empfindsame Herz der Mutter zutiefst verletzt.
Und jetzt, so als sei nichts Böses geschehen, hatte sie eine Karte aus Istanbul gesandt, wollte die Heimat wiedersehen, wollte gewiss der Mutter wieder etwas vorschmeicheln, aus Berechnung, nicht aus Reue.
Das stand für Anne fest, und ihr Gesicht hatte einen harten Ausdruck, als sie das Krankenhaus verließ.
***
»Wie geht es deiner Mutter?«, erkundigte sich Annes Kollegin am nächsten Morgen, als sie beide dem Lehrerzimmer zustrebten.
»Nicht gut.«
»Willst du dich nicht für ein paar Tage beurlauben lassen?«
»Nein. Wozu auch? Ich säße ja doch nur daheim, denn der Arzt lässt mich täglich nur für kurze Zeit zu ihr.«
»Bist du mit den Zensuren fertig?«
»Soweit ja, aber noch eilt es nicht.«
Von rechts kam ein junger Kollege, der fast gleichzeitig mit ihnen die Tür zum Konferenzraum erreichte.
»Das kann ein guter Tag werden, wenn man gleich zwei hübsche Damen auf einmal sieht«, meinte er.
Anne sah den Mann nicht an, ihre Kollegin lachte. Dann betraten sie den Raum.
Anne schritt auf den großen ovalen Tisch zu, stellte ihre Aktentasche ab und nahm Platz. Die Grüße von rechts und links erwiderte sie höflich. Man kam ihr mit Achtung und Respekt entgegen.
»Was hat sie denn heute? Sie ist ja abweisender denn je«, stellte der Kollege Herbert Klein fest.
»Ihre Mutter ist sehr krank«, erwiderte eine Kollegin.
»Oh, das tut mir leid«, sagte er und sah Anne mitleidig an. Sie bemerkte das nicht. Und da in diesem Augenblick der Rektor zu sprechen begann, musste sich Herbert Klein konzentrieren. Doch er sah immer wieder zu der Kollegin hin, die er heimlich bewunderte und der er fast täglich zürnte, weil sie nicht zu bemerken schien, dass er gut aussah.
Nach der Konferenz blieben die Teilnehmer noch eine Weile im Flur der Schule stehen. Da wurde Anne ans Telefon gerufen.
Herbert Klein sah, wie sie erschrak und ihr Gesicht bleich wurde. Kurz schaute sie um sich, als suche sie Hilfe. Dann hatte sie sich gefasst und ging aufrecht ins Sekretariat.
Herbert Klein, der eine Freistunde hatte, blieb im Flur stehen. Er wollte auf Anne warten. Vielleicht brauchte sie ihn.
Als sich die Tür zum Sekretariat öffnete und Anne erschien, ging er schnell auf sie zu, stützte sie und sagte: »Kommen Sie, ich fahre Sie zu Ihrer Mutter.«
Sie schien sich nicht zu wundern. Sie ließ sich führen wie eine Marionette.
»Ich habe jetzt frei«, erklärte er. Sie nickte und nahm in seinem Wagen Platz.
Herbert Klein sprach während der Fahrt nicht.
»Rufen Sie mich an, Frau Bühler. Ich hole Sie dann ab.«
»Danke«, sagte sie und ging auf den Eingang zu.
Herbert Klein wusste plötzlich, dass er nie mehr als ein Kollege für sie sein würde. Doch er war fest entschlossen, ihr zu beweisen, dass es auch echte Freunde gab.
***
Eine Krankenschwester nahm Anne in Empfang.
»Es kam so plötzlich. Zum Glück war der Chefarzt im Haus. Wir haben Sie vorsichtshalber angerufen, Frau Bühler. Falls es sich wiederholt …« Die Schwester ergriff Annes Hand und drückte sie sanft.
»Kann ich zu meiner Mutter?«, fragte sie.
»Ja. Wir haben sie in ein anderes Zimmer gelegt.«
Ins Sterbezimmer!, dachte Anne, und sie hatte das Gefühl, als würde ihr das Herz abgeschnürt, das bang für die Mutter schlug.
»Hier«, sagte die Schwester und öffnete eine Tür.
»Darf ich länger bleiben?«, fragte Anne leise.
»Ja, bleiben Sie.«
Sie hatte keine Tränen in den Augen, als sie sich nun leise dem Bett näherte, in dem die Mutter lag.
»Annilein …«, kam es wie ein Hauch von den Lippen der Sterbenden.
Wie lange hatte sie dieses Kosewort nicht gehört! Es rührte Vergangenes auf, es brachte die Erinnerung an Glück und Heiterkeit zurück.
Anne atmete tief durch, um die Fassung zu bewahren. Sie lächelte der Mutter zu.
»Was machst du nur für Geschichten, Mutter?«, fragte sie liebevoll.
»Man hat dich aus der Schule weggeholt?« Frau Bühler konnte ihr Erschrecken nicht verbergen.
»Ich habe heute frei«, log Anne. »Schulwandertag, Mutter.«
»So kurz vor den Sommerferien?« Frau Bühler lächelte.
Sie wusste, wie schwer es ihrer Tochter fiel, so zu tun, als sei kein Grund zur Besorgnis. Oder sollte Anne nicht wissen, dass es keinen Weg mehr aus diesem Krankenzimmer gab?
Nicht nur die Schmerzen waren stärker geworden, auch die Schwäche des Herzens hatte zugenommen. Nur Angst und Sorge um ihre Tochter Eva hielten sie am Leben.
»Annilein«, begann sie mit schwacher Stimme, »ich bin froh, dass du da bist. Ich … ich hatte schon Angst, ich könnte nicht mehr mit dir sprechen, bevor …«
»Mutter«, sagte Anne bestürzt und griff nach den Händen der Mutter, die unruhig über die Decke glitten.
»Du brauchst mich nicht, Annilein. Du hast mich selten wirklich gebraucht. Du schaffst deinen Weg ohne meine Hilfe. Ich weiß, wie man dich achtet und respektiert.«
»Mutter, bitte«, sagte Anne, während sie voller Verzweiflung darüber nachdachte, wie man der Mutter die Qualen erleichtern konnte.
»Eines Tages wird jemand kommen und dich lieb haben«, fuhr Frau Bühler fort, »und dann wirst du vergessen, dass man dich enttäuschte und betrog. Bitte, glaube es, Annilein! Erfülle mir meinen letzten Wunsch: Kümmere dich um deine Schwester Eva.«
Anne senkte den Kopf. Sie wusste durch den Arzt, mit dem sie telefoniert hatte, dass die Mutter nur durch starke Medikamente am Leben gehalten wurde. Dass sie überhaupt noch mit ihr sprechen konnte, lag an deren eisernen Willen, noch alles zu regeln, ehe die Kraft mit dem letzten Atemzug verwehte.
»Eva hat uns verlassen und vergessen, Mutter«, sagte Anne leise und wusste doch, dass sie sich selbst belog. »Eva hat vielleicht aus einer Laune heraus diese Karte gesandt.«
»Sie braucht dich jetzt. Du musst zu ihr«, beschwor Frau Bühler ihre Tochter. »Bitte, gib mir dein Wort, Annilein! Auch wenn es dir schwerfällt zu verzeihen.«
»Istanbul«, murmelte die blonde junge Frau, »die Fahrt ist viel zu weit. Ich hatte nicht vor, während der Ferien zu verreisen. Ich will in der Schule weiterkommen, Mutter. Ich möchte lernen – und nicht am Ende einer fragwürdigen Reise wieder von einem Menschen ausgelacht werden, der mich schon einmal verhöhnt hat.«
»Dieser Mensch ist deine Schwester, Annilein.«
»Ich hatte nie eine ärgere Feindin, Mutter.«
»Du musst ihr vergeben können.«
»Ich will sie und alles andere vergessen.«
Ein Röcheln kam von den Lippen der Kranken. Ihre Hände griffen ins Leere. Anne hielt sie fest.
»Mutter«, flüsterte sie mit versagender Stimme, »es regt dich nur auf, darüber zu reden. Sie hat uns beiden nur Kummer bereitet. Sie hat dir eine Wiederheirat ausgeredet und den Mann verspottet, für den du so viel übrig hattest. Und dann ließ sie uns allein. Ich kann es nicht vergessen. Ich werde es ihr nie verzeihen, Mutter, dass sie auch mir den Mann genommen hat.«
»Hätte Armin dich geliebt, wäre er nicht mit Eva gegangen.«
»Das sagst du, Mutter. Hast du vergessen, wie schnell Eva in allen Dingen siegen konnte?«
»Sie hat uns geschrieben. Sie sehnt sich nach der Heimat, nach uns. Wir dürfen ihr unsere Herzen nicht verschließen.«
»Was Eva auch immer schreibt, sagt oder tut, wird mein Herz nicht mehr erreichen.«
Frau Bühler sah mit großen Augen auf ihre Tochter. Sie verstand sie nicht, obwohl sie sich bemühte, denn sie war schwach und müde geworden.
Wenn kein Bitten half, würde vielleicht eine höhere Macht entscheiden und helfen. Wenn Anne so wie jetzt die Lippen zusammenpresste und vor sich hin starrte, konnte nichts sie umstimmen.
»Ich habe sonst keine Wünsche«, sagte die Mutter. »Ich weiß, dass ich die Operation nicht überstehe. Und du weißt es auch. Ich habe zu lange gewartet. Ich hoffte immer, eine solche Krankheit würde mich nicht heimsuchen. Seltsam, nicht wahr, dass man sich selbst immer von allem Schrecklichen ausschließt. Aber man kann nie seinem Schicksal entgehen, Annilein. Und du solltest jetzt nicht den Kopf hängen lassen. Denke daran, dass ich nach langer Zeit ohne Schmerzen bin, dank der Medizin, die man mir gibt. Und ich könnte viel leichter sterben, hätte ich dein Versprechen. Du sollst nicht mehr für mich tun, als zu deiner Schwester zu fahren. Wäre sie glücklich, würde sie sich nicht nach der Heimat sehnen. Sie muss verzweifelt sein. Und nur du wirst ihr helfen können, denn du bist ihre Schwester. Dir kann sie vertrauen.«
»Mutter«, begann Anne, dann schwieg sie, weil sie erkannte, dass jede verneinende Antwort das Leben verkürzen würde.
»Das Geld für die Reise ist da«, sagte die Mutter. »Es soll nicht zu deinen Lasten gehen, Annilein. Bitte, sag Ja!«
Anne war bereit, alles für die Mutter zu tun, nur das eine nicht: sich mit Eva auszusöhnen, die ihr so viel Leid zugefügt hatte!
Niemals wollte sie die Schwester wiedersehen, niemals! Und darum schwieg sie und atmete befreit auf, als die Oberschwester erschien und sie bat, das Zimmer zu verlassen.
Anne verabschiedete sich mit einem Kuss von ihrer Mutter.
»Ich darf wiederkommen?«, fragte sie die Schwester auf dem Flur.
Die Frau nickte. »Sie können wieder zu ihr. Aber wenn sie schläft, sollten Sie sie nicht stören.«
»Meine Mutter möchte ein Foto von meiner Schwester haben. Ich werde es holen.«
***
Weit fort von diesem Haus der Schmerzen und des Leids waren Annes Gedanken.
Sie dachte an jene Zeit, als sie in den Armen eines Mannes eine gemeinsame Zukunft geplant hatte.
Alles Glück und Hoffen hatte er mit sich genommen – und nun hatten ein paar Zeilen die Vergangenheit wieder heraufbeschworen!
Wie war es möglich, dass eine Mutter ihre Liebe so ungleich verschenkte und die Fehler des einen Kindes nicht sehen wollte?
Wie konnte es geschehen, dass sie Eva stärker liebte als mich, obwohl ich doch alles tat, um ihr Freude zu machen?, dachte Anne.
Das Gewissen ließ sich nicht mehr zum Schweigen bringen. Auch Anne hatte das Gefühl, dass ihre Schwester Hilfe brauchte, denn nie zuvor hatte Eva zugegeben, nach irgendetwas Sehnsucht zu haben.
Sollte sie das leichte Leben schon leid sein, das ihr vorgeschwebt hatte? War sie der Liebe Armin Schneiders vielleicht überdrüssig geworden? Oder hatte sie nur das Geld verschwendet und wollte wieder etwas haben?
Gedanken und Vermutungen beschäftigten Anne, während sie sich in einem Taxi heimfahren ließ.
Die große Wohnung wirkte seltsam fremd und leer. Es war, als gäbe es in den Räumen keine Harmonie mehr, als sei mit der Mutter auch der gute Geist fort.
Einen Augenblick blieb Anne vor dem Spiegel in der Diele stehen und betrachtete sich. Ein ebenmäßiges Gesicht, das traurig wirkte. Sie sah ihre Lippen, die sich zusammenpressten, als wollten sie alten Hass nicht laut werden lassen.
Sie wandte sich ab und begab sich ins Schlafzimmer der Mutter. Dort suchte sie im Wäscheschrank nach Evas Foto. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass seit jenem Tag vor fünf Jahren kein Bild von Eva in der Wohnung zu sehen gewesen war.
Die Mutter hatte alle an sich genommen und vor ihr, Anne, versteckt. Nun kamen sie zum Vorschein, als sie ein Bündel weiße Servietten hervorgezogen und auf das Bett gelegt hatte. Viele Fotografien und ein dickes Album.
Eva als reizendes Baby! Eva als Kleinkind! Eva an ihrem ersten Schultag! Eva beim Spiel mit Freundinnen! Immer wieder Eva, lachend, wie ein Engel mit ihren blonden Locken und den strahlenden dunklen Augen …
Voller Neid schob Anne das Album zur Seite und griff nach der großen Fotografie im schmalen Holzrahmen. So hatte Eva ausgesehen, ehe sie für immer fortging – zauberhaft und wunderschön.
Man sah Triumph in den dunklen Augen und ein gewisses Lächeln um den vollen Mund … und so hatte sie Armin für sich gewonnen, hatte ihm weisgemacht, dass er nur durch sie glücklich und erfolgreich werden könne.
Hatten die beiden geheiratet? Hatten sie sich inzwischen getrennt? Was mochte in den fünf Jahren geschehen sein, in denen die Mutter unter der Trennung von ihrer geliebten Tochter so gelitten hatte?
Nichts wusste man, und vielleicht würde man nie etwas erfahren. Die angebliche Sehnsucht nach der Heimat, geschrieben auf eine Postkarte aus Istanbul, brachte eine Flut von Erinnerungen, die sie zu ersticken drohte.
Anne warf das Bild zu dem Album und riss ein Fenster auf. Aber die Luft erfrischte sie nicht, als sie sich hinausbeugte und tief Atem schöpfte. Warm und sommerlich war es draußen. Und der Duft von Blüten und Tannen machte ihre Sinne noch unruhiger.