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Das Tanka (Kurzgedicht) ist eine reimlose japanische Gedichtform. Sie entstand vor ungefähr 1300 Jahren. Im Gegensatz zum dreizeiligen Haiku, 5/7/5 Silben, das bis in die jüngste Vergangenheit thematisch fast ausschließlich der Natur und den Jahreszeiten verpflichtet war, ist das Tanka seit langem für alle denkbaren Inhalte offen. Die Strukturierung der fünf Zeilen in 5/7/5/7/7 Silben galt im deutschsprachigen Raum bis in die 1990er Jahre als verbindliche Vorgabe. Seitdem jedoch schreibt ein Großteil der Tanka-Autorinnen und Tanka-Autoren hierzulande wie auch international nicht mehr nach dieser strengen Regel. Reiner Bonack widmet sich seit über 30 Jahren dieser wunderbaren Kurzgedichtform. Die vorliegende Auswahl besticht vor allem durch eindringliche poetische Gestaltung und große inhaltliche Vielfalt der Tanka sowie die Tiefe des Empfindens dieses Autors, der es vermag, nicht nur eigenes Glück und eigene leidvolle Erfahrungen zur Sprache zu bringen.
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Seitenzahl: 24
Kindheit, Die Magie
Warten Auf Einen Laut
Tröstung Des Meeres
Komm, Haucht Der Engel
Bilder, Die Nachricht
Vor Deinen Schuhen Kleine Igel
Adaptionen von Tanka Aus Dem Kokin Wakashu
KINDHEIT, DIE MAGIE
der Worte, abends,
neben Hof und Stall
Und am Rand der Heide sang
der Ziegenmelker laut sein Lied
EINST SAMMELTE ICH
kleine Sonnen auf
der Wiese vor dem Haus
Milchig wie Nebellicht klebte
ihr Blut zwischen Fingern
BÄUME IM JUNI
Abends saß ich im Laub
und still stieg der Mond zu mir,
verharrte einen Moment,
bevor er tauchte ins Blau
GEWÖLBT DER GARTEN
Auf gläserner Murmelhaut
am Erdrand ein Zaun
Doch der Himmel: friedensstill,
der Himmel darüber: nicht laut
DIE KASTANIE – GEFÄLLT
Ich zähle die Jahre
zurück in die Kindheit
sehe
die rostigen Splitter im Holz
DAMALS,
das Tackern seines Stocks
an unserer Hauswand entlang
Kriegsblind, sagten die Leute
über den, der ihn einst sah
AN SONNTAGEN, DAMALS
Großvater und
der einarmige Nachbar
erschufen aufs Neue
die Welt
IN EINEM
der hinteren Zimmer
meiner Erinnerung liegt
Großvaters Brotbüchse
Er öffnet den Duft
DEM MANN BELEGTE SCHEIBEN
Brot für den Tag in der Fabrik,
dem Jungen die Milch von Minka im Stall
Das war ihr Glück
im Jahrzehnt nach dem Krieg
KOMM! SCHNELL VORBEI!
Am Hackklotz glitzernde Tropfen,
fror rot das Blut
der zum Fest
geköpften Hühner
FLEISCHEREI SCHUMBELT
Über der Ladentür, starr,
der Kopf eines Schweins,
die Augen sah ich im Schlaf
Ich war ein schlechter Esser
DIE GASSE ZUM MARKT
Kopfsteinpflaster, Widerhall
vom Amboss des Schmieds
Bälger, schalt er, zischte Bier,
laut wie Eisen heiß auf Horn
TISCHLEREI LANGE
Wie verwundete Tiere
schrien die Stämme,
doch alle Möbel rochen
damals noch nach Märchenwald
BÄCKEREI MINKE
In rauchtrüber Frühe schon
wuchs eine Schlange
Bis in die Heidedörfer, hieß es,
dufte das Brot
BEI BUDERS WILLEM,
Barbier und Friseur,
hielt ich den Kopf immer still
hin und im weißen Eimer,
Murawa, wachte nie auf.
DER ALTE BAHNHOF
Hier stand ich als Kind,
zählte die Wagen
Rost frisst
das Gleis zur Ferne
NACHTS, UNTERM STELLWERK,
fuhren die Züge ins All
Sterne zerstoben
Tante Helgas Hebelarm
strich mir in Pausen durchs Haar
VOLKSFEST, EIN KUTSCHER
schlägt auf sein Pferd ein –
wie damals
brennt auch
mein Rücken
JAHRMARKT
Ich drehte am Rad,
gewann einen Bären
Noch immer brummt er
wie ich
GROSSMUTTER,
kam sie vom Markt,
glich einer Waage – austariert
die Gewichte der Taschen,
fast
SCHEIBEN, WRASENBESCHLAGEN,
im Kessel brodelte Lauge
Wunde Hände
strichen am Abend
des Waschtags sanft durch mein Haar
DIE GUTEN SCHUHE, KIND
sollen doch lange halten
Ich lächle mich an
im Spiegel der Pfütze,
springe
AUS DER SCHWÄRZE NEBEN DER HAND
schimmerten erste Worte,
knirschte, so schien es,
die Schiefertafel wie ich
mit den Zähnen
DAS FENSTER ZUM HOF
Der Spielmann, abends
ließ er tanzen den Mond,
sammelte langsam