Wo der Hund begraben liegt - Reiner Bonack - E-Book

Wo der Hund begraben liegt E-Book

Reiner Bonack

0,0

Beschreibung

Die Bücher des Magdeburger Autors Reiner Bonack beginnen stets mit dem magischen Leuchten der Kindheit, das durch all die erwachsenen Jahre bisher nicht erlosch. Diese Bücher spiegeln aber auch die heutige Welt, die Zeit und die mit ihr verknüpften Fäden zur Geschichte. Manchmal ernst, nie bierernst, laden sie den Leser zum Innehalten und eigenem Innewerden ein. Mit gelassener Heiterkeit oder distelspitzen Satiren vermag es der Autor darüber hinaus, seine Alltage und Sternstunden in Literatur zu verwandeln.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 138

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

HAUS DER KINDHEIT

Der Duft

Haus der Kindheit

Wo der Hund begraben liegt

Der Hahn

Splitter

Der Hof

Asche fahren

Der alte Matschek

Die blaue Blume im Koschenberg

Tyto alba

Geburtstag

Gott/Ein Nachtrag

DIE VERIRRTE SCHWALBE

Was ist schwerer – anfangen oder aufhören?

Die innere Uhr

Csarnolas

Kurzer Besuch im vorigen Jahrhundert

Der erste Gast

Lichtkreis

Eine Seefahrt

Die verirrte Schwalbe

Am Fenster

Dunkle Punkte

Verwandlung

Junirot

Der letzte Schuss

Am Strand

Er ist gefallen

Auswandern

Hinter dem Fenster

Erde im Nebel

Was ist schwerer – anfangen oder aufhören?

WIE SAMT

Das dritte Fenster

Das alte Lied

Das Bild

Die Rose muss mit

Kirschwochen

Wie Samt

Erinnerungsverseucht

Was bleibt?

URALTES WEHN

Ablösung

In der Mondnacht

Die Steine des Strandes

Am Grund

Uraltes Wehn

Rømø

Das Geheimnis

Die Dächer von Bolilmark

Fremde

Meerhorizont

Als ich das erste Mal das Meer sah

Wo kommt der Wind her?

Die Teiche I

Die Teiche II

Die Teiche III

Grasende Pferde

Das Gras

BLÜHENDER UNSINN

Kurze Charakteristik

Glück

Bockshorn

Stimmen

Kunstwirkung

Schweigen

Verstockt

Sinneswandlung

Schlechtes Ende

Kopflosigkeiten

Der Familienmensch

Schwere Kindheit

Kurze Romanze

Blühender Unsinn

Widerborstig

Regen

VORERST IST ALLES GUT

Ich bin ein Steinbock und liebe das Meer

Vorerst ist alles gut

Zeichen des Unheils

Klopfzeichen aus dem Jenseits

Am Rand

Ich lebe mein Leben

Die Schuldfrage

Der Hund

Der Kampfhund

Weihnachtswunsch

Nur ein Glas Wasser

Dickhäuter

NUR DER TOD MACHT UNSTERBLICH

Das alte Mütterchen

Kleiner Goethe

Nur der Tod macht unsterblich

Verweigerung

Anekdote

Hans im Glück

Laternenkauf

Schöner Abschluss

Romanze

Über-Leben

Der lyrische Bond

Es wird sich nichts ändern

Haus der Kindheit

Der Duft

Kopfsteinpflaster. Hohes, müdes Sommergras. Ein verfallenes Gehöft. Von Hounder umwuchert.

Wo bin ich hingeraten?

Ich halte an, steige aus, strecke mich.

Plötzlich fängt die Nase die Ahnung eines lange vergessenen Duftes, als setzten sich Atome der zerfallen geglaubten Kindheit zu einem wirklichen Moment zusammen.

Die Welt schwankt, und ich sitze auf einer Wolke und schwebe auf dieser Wolke am staubgestumpften Grün der Baumkronen vorüber ...

Manchmal, zur Heuerntezeit, ging Großmutter beim Bauern aushelfen und nahm mich mit.

Einmal, nachdem sich das Gras auf der Wiese unter den Rechen der schwitzenden Männer und Frauen in Heu verwandelt hatte, hoben mich sehnige Männerhände auf einen der hoch beladenen Pferdewagen. Die Welt schwankte und war weiter geworden, denn ich schwebte auf einer duftenden Wolke, war dem Schwalbenhimmel nah, und die Großen erschienen aus dieser himmlischen Sicht plötzlich wie durch Zauberhand geschrumpft.

Großmutter, damals schon leicht gebeugt, und wie immer, auch in der größten Hitze, mit Kopftuch, lief mit schnellen Trippelschritten neben dem Wagen her, bemüht, nur nicht zurückzubleiben.

Ihre Augen verrieten die stete Angst, ich könnte in einem unbeobachteten Augenblick aus meiner Heuwolke fallen, und keiner von den jungschen Kerlen, mit ihren Gedanken ganz woanders, würde mich auffangen.

Der Junge wird sich noch sonstwas brechen.

Die Männer lächelten. Nu mach dir mal bloß nich gleich ins Hemde, Anna.

Und Anna schwieg dann ein sehr kurzes Weilchen.

Und Anna begann dann eine Geschichte, in der es von bösen Stürzen aus luftiger Höhe nur so wimmelte.

Und natürlich lachten die Männer erneut und redeten gegen die angsttauben Ohren meiner Großmutter an: Der Junge da oben, also ich, sei ja noch am Leben, und sie würden schon dafür sorgen, dass dies auch so bliebe, zumindest, bis er wieder festen Boden unter den Füßen hätte.

Danach kannste ihn ja wieder an deinem Küchentisch festbinden, Anna.

Dämlacks! Wer hat die Verantwortung?! Ihr oder ich? Wie könnte ich seiner Mutter je wieder unter die Augen treten … Nu komm ma, Annachen, komm.

Der Traum, ebenfalls endlich groß zu sein, war also an jenem Sommerabend für eine viel zu schnell verfliegende Stunde auf magische Weise in Erfüllung gegangen.

Langsam steige ich wieder ein, starte.

Der Fahrtwind wird lauter.

Die Landschaft hinter mir und die Stimmen der Kindheit verwischen erneut bis zur Unkenntlichkeit.

Haus der Kindheit

Es ist Abend, und die tote Drehorgel seufzt.

Nach all den stimmlosen Jahren seufzt sie noch einmal, und das Weltall beginnt wieder zu kreisen. Sterntaler regnen in die Tiefe des Hofes.

Ich sehe das erleuchtete Haus. Bis in die letzten Winkel kann ich sehen, auch dorthin, wo die Spinnen ihr ausgeklügeltes Netzwerk knüpfen, und der Geruch eines längst vergangenen Herbstes noch als dumpfe Trauer die Luft tönt.

Es ist die Zeit vor der Entdeckung Amerikas, und ich bin noch nicht unter Cooks Kommando um die Welt gesegelt.

Es ist die Zeit, in der alles noch vor mir liegt – die Feldpostbriefe im unteren Fach der Kommode, wo die Weihnachtskugeln funkeln, und wo später Neuberts neuestes Ehebuch meinen tastenden Fingern entgegenkommt.

Es ist die Zeit, in der hinter den Schlagern die Inseln noch nicht brennen, und die Kraniche noch nicht ziehen durch meinen Schlaf.

Diese Zeit hat für immer die Farbe Blau angenommen, und meine Erinnerung will sie hartnäckig gegen die Flut der eingeschwärzten Bilder behaupten, die ich mir vorhalten will.

In dieser Erinnerung sind die Fabriken noch nicht gebaut, dunkelt kein Rauch die Wäsche auf der Leine, ist die Kohle noch nicht gefunden, brüllt der einbeinige Buhla, wenn die Tiefdruckgebiete anziehn, noch nicht seinen Schmerz durch die Gärten – obwohl er seinen Schmerz durch die Gärten schrie, und alles andere ebenfalls schon geschehen war oder geschah.

In dieser Erinnerung spielt ein Leierkastenmann trunken die Lieder vom Glück.

Silberne Sterntaler regnen in seine Hand und finden ihren Platz im Raum seines Mantels.

Da dreht er sich um, der Leierkastenmann, und geht fort in eine große, leere Stille.

Und die Inseln brennen wieder.

Und Feldpostbriefe fallen wieder in Briefkästen.

Und der Geruch eines vergangenen Herbstes tönt wieder als dumpfe Trauer die Luft.

Es ist Abend, und die tote Drehorgel seufzt.

Wo der Hund begraben liegt

Immer häufiger sage ich, altes Omaundopakind, zu mir selbst: Hör endlich auf, Erinnerungssplitter aus jener kohlenstaubverhangenen Zeit deiner Lausitzer Kindheit ins Licht deiner gegenwärtigen Existenz zu schreiben.

Wer mag das noch lesen? Wer mag das noch hören, wenn du selbst schon seit langem nicht mehr darüber redest aus Furcht vor Sätzen wie diesen: Schon wieder diese Großvatergeschichten aus dem Tertiär, und dazu noch aus einer Gegend, in der doch damals wahrlich der Hund begraben lag.

Recht haben sie, denke ich, und ich sehe Charlie vor mir, den zottigen Hofhund meiner Großeltern, verrufen als Briefträgerschreck, jedoch harmloser, achtsamer Bewacher der drei oder vier Hühner zwischen Schuppen, Stall und Haus, getreuer Freund von Minka, der Ziege, die im Sommer unter dem Birnbaum graste, und deren Meckern über all und jedes ihn nicht im Geringsten störte.

Manchmal, wenn ich im Sandkasten saß, und der Himmel über dem stets verschlossenen Hoftor märchenhaft blau war, was selten vorkam in jener Stadt zwischen Kohlengruben und Brikettfabriken, manchmal setzte mich meine Phantasie auf Charlies Rücken, und er sprang mit mir in dieses geheimnisvoll lockende Blau hinein, und ihm wuchsen Flügel, und er flog mit mir über die von Rauch und Kohlenstaub ergrauten Häuser und die von riesigen, eisernen Tieren zerfurchte Wüste dahinter bis in das magisch leuchtende Land von Großmutters sorbischen Märchen, die sie mir abends bei Stromsperre auf der Fußbank oder danach im Bett erzählte.

Charlie wurde am Rand des horizontweiten Feldes hinter jenem Hollerbusch begraben, unter dem ich mit meinem Großvater und zwei anderen schweißtriefenden Schnittern Schattenkühle suchte, nachdem ich mit Großmutter, mittags, zwischen Mahd und Mahd, in einem Korb eine Kanne mit Suppe, für jeden einen Kanten Brot sowie Schüsseln und Löffel gebracht hatte, wo ich mit den Großen essen durfte wie ein Großer, der sich sein Essen durch eine mühevolle und mich damals dennoch verlockende Arbeit verdient hatte, dem das sich anschließende Dengeln der Sensen nicht wie Abschiedsläuten in den Ohren hallte, der nicht an Omas Hand wie an einer Leine zurück ins enge Geviert des Hofes musste.

Die Erde, die Charly aufnahm, ist später nicht zu Abraum geworden. Die Abraumbagger und Förderbrücken des Tagebaus waren noch vor dem Feld der drei Schnitter für immer zum Stehen gekommen.

Und so habe ich noch einen, wenn auch fast nicht mehr wiedererkennbaren Ort für die Erinnerung an meine kindliche Trauer. Eine Erinnerung, wertlos für das Gedächtnis anderer.

Aber dennoch: Es siegt der Starrsinn, etwas Derartiges wie einst jene wertlosen Kieselsteine in meiner Hosentasche als vermeintlich kostbaren Schatz bewahren zu wollen.

Halt suchend, wie ein verloren dahintreibendes Wort den Punkt, greife ich zum Stift.

Der Hahn

Früh, wenn es kühl war in der Küche, blies meine Anderthalbmetergroßmutter die ergraute Haut der Asche von der verbliebenen Glut im Küchenofen und legte Holzscheite auf.

Knisternd erwachte das Feuer, prasselte.

Die Herdringe röteten sich.

Danach scharte ihre Stimme auf dem Hof die Hühner vor der gebreiteten Schürze. Goldgelbe Tropfen regneten aus der Hand.

Bevor sie noch auf dem Boden verrollen konnten, erlosch ihr Leuchten in den dunklen Kanälen eines halben Dutzends gieriger Schlunde.

Der Hahn, schillernd unter den Lanzen des frühen Lichts und markerschütternde Posaune des Morgens, ritt manchmal auf Großmutters Schulter zum Briefkasten am Hoftor und wieder zurück.

Varricktes Luder, sagte sie laut.

Doch der Ton in ihrer Stimme, dies lernte ich bald interpretieren, jener besondere Ton garantierte diesem gefiederten Teufel noch viele Morgen, Mittage und Abende lang frohe Gesundheit, ungeachtet der im Haus im zehnten oder elften Jahr nach dem Krieg vielfach harrenden und noch immer hungrigen Töpfe und Pfannen.

Splitter

Hinter dem Wohnhaus, vor dem Stallgebäude und einem flachen, wie hingeduckt wirkenden Schuppen, war ein drei Dutzend Kinderschritte breiter, langgestreckter Hof.

Ein Birnbaum wuchs aus ihm, und wenn die ersten Herbstwinde gingen, Dämmerung fiel, und Stille sich zwischen die Türen des Hauses legte, dann war es, als schlüge draußen jemand leise und in unregelmäßigen Abständen auf das nicht allzu straff gespannte Fell einer Trommel.

Der Birnbaum macht Musik, sagte ich einmal, und die Großen in der Küche lachten.

Nur Großvater, der vor über tausend Jahren in einem roten Spielmannszug eine bessere Zukunft herbeitrommeln wollte – wie er manchmal bei Stromsperre oder im Bett vor dem Einschlafen erzählte – er lachte nicht.

Im Frühling, im Duftkreis des Baumes, sah ich manchmal, wenn ich den Kopf hob, zwischen dem Dachfirst des Nachbarhauses und den aufschäumenden Blüten die im Blau wie Vögel ohne Flügelschlag dahingleitenden Segelflugzeuge.

Großvater, der nur aufblickte von einer Arbeit, wenn die tief über dem Haus dröhnenden Schleppflugzeuge jeden anderen Laut erstickten, er drückte mich dann, fast im gleichen Moment, wie unabsichtlich – und vielleicht war es ihm wirklich nicht bewusst – unter das nur vor plötzlichem Regen Schutz bietende Dach des Schuppens.

Die winzigen rostbraunen Eisensplitter in der Borke lernte ich erst deuten, als ich schon fast bis auf Augenhöhe des immer häufiger auf der umgestülpten Birnenstiege sitzenden und ausruhenden alten Mannes gewachsen war.

Der Hof

Auf dem Hof, an der Kreissäge, schnitt der Großvater mit einem fremden Mann Holz.

Manchmal, wenn sich die Zähne des rasend kreisenden Blattes in das Fleisch der im Krieg verwundeten Bäume fraßen und auf Eisensplitter trafen, mischte sich in das gleichmäßige Geschrill ein Knirschen oder eine schnelle Folge tackernder Geräusche, schrien sie auf wie verwundete Tiere In der Küche ritzte der Junge, nur für ihn selbst in den kurzen Pausen zwischen den Schnitten hörbar, mit einem Griffel zum wiederholten Male das Wort PAPA in die Schiefertafel und löschte es danach mit dem feuchten Schwamm sofort wieder aus.

Nachdem der Kuckuck über seinem Kopf mit stumm anmutendem Rufen die siebente Stunde verkündet hatte, begann wie jeden Tag nach getaner Arbeit das bis in das Dämmerdunkel anhaltende Dröhnen der Stille, trocknete die Schiefertafel und verwandelte sich in eine weißgraue Nebelwand, hinter der das Wort PAPA versteckt war, das außer dem Jungen weder der fremde Mann mit dem leeren linken Jackenärmel noch der Großvater und die Großmutter sehen konnten.

Am späten Abend dann schimmerten vor den zum Hof gewandten Fenstern die Sägespäne. Sie glichen den unzähligen Sternen des lautlosen Nachkriegshimmels über der Kindheit des Jungen.

Und die Schiefertafel im Ranzen lehnte sich an das abgeschabte Leder und wartete darauf, endlich ein neues Wort kennen zu lernen.

Asche fahren

Gern fuhr ich mit Großvater zum Schwarzen See vor der Stadt. Wir zogen die hintere Wand des Handwagens heraus. Eine rostbraune Lawine ging ab in die Tiefe. Blauer, beißender Qualm stieg und trieb über den Steilhang durch die ergraute, mannshohe Baumgruppe am Rand.

Wie Heimkehrer

standen die Krüppel

der kleinen Kiefern am Weg

Am Horizont, im Dunst, riesigen Schiffen gleich, flimmerten die Fabriken. Schlote zogen zerfasernde Fahnen, und man konnte von fernen Ländern träumen, Orten mit magischen Namen: Finsterwalde, Schwarzheide, Niemtsch, Hohenbocka, Kostebrau, Klettwitz ...

Wagte ich einen Schritt nach vorn, sah ich verbeulte Öfen, verbogene Räder, Reifen, Gestelle von Betten, Kinderwagen.

Der gebrochene Flügel einer Fliegerbombe stak noch im lila schimmernden Schlamm. Am anderen Ufer spieen ockerfarbene Adern dunklen Sud unter die ölige schwarze Haut.

Manchmal, wie verbrannter Schnee, wehte verkohltes Papier in die graslose Weite. Nicht mehr lesbar die Verheißungen künftigen, besseren Lebens.

War irgendwo Herbst, streifte kein Schatten fliegender Vögel die Fläche.

In frostkalten Wintern, der See ruhte still, zogen wir mit dem leeren Handwagen an ihm vorbei zur Landstraße Richtung Marga, Kohle holen.

Nie war der See jemals zugefroren gewesen.

Und zu Geburtstagen wollte ich nie eine Angel.

Der alte Matschek

Der alte Matschek hob alles auf, was ihm brauchbar und allen anderen Menschen unbrauchbar erschien: rostige Schrauben – fast ohne Gewinde, verbogene Nägel, platt gefahrene Blechbüchsen, verlorene Absätze, Ringe, Riemchen, Reifen, Gummis, Krammen, Kettenglieder, Winkeleisen, farbige Glasscherben, Stücke braunen Stacheldrahts und tausend andere unnütze Dinge mehr.

Vormittags zog er los, manchmal mit einem kleinen hölzernen Wägelchen hinter dem Rad, manchmal mit zwei fleckigen Einkaufsbeuteln am Lenker. Nachmittags, spät, kehrte er zurück in seine winzige Wohnung, die einem notdürftig geordneten, übervollen Materiallager glich.

Abends sahen ihn Spaziergänger oder heimkehrende Schichtarbeiter hinter den staubblinden Scheiben seines Fensters zur Straße, die hinaus nach Marga führt. Ein Schemen, in ausgeblichener, einst blauer Arbeitsjacke, ein matter Schattenriss, an dem man das storre, grau sprießende Gesichtshaar nicht mehr wahrnahm.

Wenn Großvater etwas brauchte, was es nirgendwo zu kaufen gab, ging er zu Matschek. Meist fand sich dort in jenem Meer versehrter Dinge das Gesuchte, und Matschek überreichte es ihm mit einer fast demütigen Haltung, ohne je dafür auch nur einen einzigen Groschen zu nehmen. Vorher richtete er den jeweiligen Gegenstand wieder so her, dass er gebrauchsfähig wurde und nach einigen Tropfen Öl oder dem Abrieb an seiner Jacke erneut zu verloren geglaubtem Glanz kam.

Ein belesener Mann, sagte Großvater. Fast immer, wenn er von Matschek zurückkam, wiederholte er diesen Satz. Ein belesener Mann. Wäre es anders gekommen, würde ihn jetzt jedes Schulkind kennen. Aber so – ihr seht ja.

Die meisten Leute wichen Matschek aus, wenn sie ihm auf der Straße begegneten. Auch die Kinder verbargen ihren Spott und verschluckten die Hänseleien, bis er sich weit genug von ihnen entfernt hatte. Ein Krimineller, so hieß es noch immer, nicht ganz richtig im Kopf, wäre in einer Anstalt wohl besser aufgehoben.

Einmal, ich spielte vor unserem Hoftor, ließ den Kreisel mit der Peitsche tanzen, da bückte sich der alte Matschek und hob ein abgetretenes, verbogenes Hufeisen auf. Gestatten, fragte er in kerzengerader Haltung, als straffte ihn eine in den Jahren noch immer nicht müd gewordene stählerne Feder. Und als ich zwar den Mund öffnete, jedoch kein einziges Wort herausbrachte, verstaute er den Fund umständlich und zögernd in seinem Wägelchen: Danke, Herr Obersturmbannführer.

Als der alte Matschek starb, waren Großvater und ich die einzigen Leute hinter seinem Sarg.

Keine Musik erklang.

Niemand sprach.

An jenem Nachmittag wehte der Wind von Marga her, und die Herbstluft schmeckte stärker als sonst nach dem bitteren Rauch der Brikettfabriken.

Einige Tage danach fuhr ein LKW rückwärts an das Fenster der Wohnung heran und brachte Stunden später das kärgliche Mobiliar des alten Matschek wie auch all die Dinge, die er in jenem Jahrzehnt nach dem großen Krieg gesammelt hatte, darunter die blau-weiß gestreifte Jacke, auf der ein roter Winkel aufgenäht war, auf die Mülldeponie am Rand der Stadt.

Die blaue Blume im Koschenberg