Öffne deine Augen - Notker Wolf - E-Book

Öffne deine Augen E-Book

Notker Wolf

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Beschreibung

Sie: evangelische Journalistin, er: katholischer Abt. Beide verbindet die Faszination für die mystischen Wurzeln des Christentums. Doch dabei geht es nicht um Geheimnisse, die nur Eingeweihte begreifen: Notker Wolf und Corinna Mühlstedt sind überzeugt, dass Mystik einen Zugang für alle Gläubigen bietet. Denn nicht Skandale, Strukturfragen oder Machtkämpfe, sondern der Blick auf Gott bietet Orientierung. Die Autoren begleiten ihre Leser auf sieben Schritten, die dem klassischen Weg mystischer Erkenntnisse entsprechen, und laden ein, diesem Weg im eigenen Leben nachzuvollziehen, den Weg zu einem weiten Herz.

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Notker Wolf | Corinna Mühlstedt

Öffne deine Augen

Jeder kann Mystiker werden

Originalausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Die Bibeltexte sind, soweit nicht anders angegeben, entnommen aus:

Die Bibel. Die Heilige Schrift

des Alten und Neuen Bundes.

Vollständige deutsche Ausgabe

© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: Unsplash; Frank Fiedler/shutterstock

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN E-Book 978-3-451-81479-2

ISBN Print 978-3-451-03309-4

Inhalt

Vorwort

Alles beginnt mit Erfahrungen

Unterwegs zwischen der Wüste und Rom, Benedikt und Luther

Jesus dem Mystiker begegnen

Ein Blick auf das Heilige Land, die Bibel und die jüdische Mystik

Krisen als Chance nutzen

Die Hand spüren, die dich über dem Abgrund hält

Die Kraft der Stille hören

Auf den Spuren christlicher und buddhistischer Spiritualität

Loslassen und frei werden

Im Feuer der Liebe »sterben« christliche und muslimische Mystiker

Eins werden und Gott berühren

Streifzüge zwischen Christentum und Hinduismus

»Online« bleiben mit Gott

Die Mystik des Lebens entdecken

Über die Autoren

Vorwort

Das Christentum befindet sich in Deutschland in einer tiefen Krise. Skandale, Strukturfragen und Machtkämpfe verstellen zunehmend den Blick auf das Wesentliche: auf Gott. Viele Kirchen waren 2020 und 21 so leer wie der Glaube mancher Zeitgenossen. Was bleibt, ist nicht selten ein Schrei nach Orientierung, gerade in Zeiten einer weltweiten Pandemie! Wo ist der Ausweg? Diese kurze, aber entscheidende Frage hat uns zu dem vorliegenden Buch inspiriert.

Dabei haben wir uns als Autoren entschlossen, einen gemeinsamen Text zu verantworten, obwohl (oder auch gerade: weil) wir beide aus verschiedenen christlichen Welten kommen: ein katholischer Benediktiner, der 16 Jahre als Abtprimas den höchsten Rang seines Ordens in Rom bekleidet hat und 2020 seinen 80. Geburtstag feiern konnte. Und eine lutherische Theologin und freie Rom-Korrespondentin der ARD, die eine Generation jünger ist als ihr Co-Autor.

Dennoch hatten diese beiden Welten in den vergangenen Jahrzehnten umfangreiche Schnittpunkte: Das kirchliche Leben in Rom gehört ebenso dazu wie Erfahrungen, die jeder von uns für sich auf Reisen in aller Welt gesammelt hat. Eine regelmäßige Zusammenarbeit in Form von Interviews, Rundfunksendungen und Büchern war die Folge.

Bei einem Gespräch über die aktuelle Kirchenkrise fiel uns schließlich auf, dass es noch einen weiteren Schnittpunkt gibt, an dem sich unsere Interessen treffen: die Mystik beziehungsweise die Art, wie jeder von uns im eigenen Leben Gott erfahren hat – nicht nur durch Erziehung und Studium, sondern durch persönliche Erlebnisse, bei denen das Transzendente im Alltag Wirklichkeit wird.

Wir hatten das Glück, in allen Ländern, Konfessionen und Religionen Menschen zu treffen, die einen ebenso tiefen wie unkomplizierten Bezug zum Göttlichen haben. Meist wird ihr Leben von einer großen spirituellen Offenheit geprägt.

Dieser emotionale Halt scheint in Deutschland weithin abhandengekommen. Vielleicht liegt das auch daran, dass die Deutschen zu sehr auf ihren Verstand fixiert sind und Emotionen nicht genug Raum geben. Doch diese gehören ebenso zum Menschsein wie die Ratio.

Der Glaubende der Zukunft wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht sein, sagte sinngemäß einst Karl Rahner. Hier möchten wir mit unserem Buch ansetzen: Das Ziel ist eine Rückbesinnung auf die mystische Dimension des Christentums, auf die Wahrheit, die hinter religiösen Texten oder Dogmen steht, ja auf die Faszination, die von der befreienden Botschaft Jesu bis heute ausgeht.

Wir spüren dabei authentischen mystischen Erfahrungen in Geschichte und Gegenwart nach, die motivieren, im eigenen Leben neu nach Gott zu suchen. Denn wir sind überzeugt: Mystiker und Mystikerinnen sind keine elitären, abgehobenen Persönlichkeiten, sondern Menschen wie du und ich. Was sie von ihren Zeitgenossen unterscheidet, ist meist nur die Offenheit für das Geheimnis des Göttlichen und die Bereitschaft, sich von ihm berühren zu lassen.

Jeder kann zum Mystiker werden. Unserer Erfahrung nach schafft recht verstandene Mystik die Basis für einen frischen, zeitgemäßen Glauben des Einzelnen und fördert eine Erneuerung der Kirche von innen her.

Alles beginnt mit Erfahrungen

Unterwegs zwischen der Wüste und Rom, Benedikt und Luther

Die Nähe Gottes zu spüren, das macht die Mystik aus. Eine solche Erfahrung muss nicht am Ende der Meditation oder Kontemplation stehen. Gott zeigt sich uns in den verschiedensten Lebenslagen. Ich habe mein Leben als Antwort auf seinen ständig neuen Ruf verstanden und geführt. »Mystik« wird dann zu einer Grundhaltung, die alles begleitet. (Notker)

Die entscheidende Erfahrung »Gott ist da!« habe ich in der Wüste gemacht: Er ist da – um mich, in mir! In der Wüste habe ich erlebt, dass sich Himmel und Erde berühren können, und gelernt, dieser Wirklichkeit bedingungslos zu vertrauen. Mystische Erfahrungen schenken eine Zuversicht, die fortan das ganze Leben prägt. (Corinna)

Momente, Erfahrungen, fast unwirklich und doch realer als alles andere. Augenblicke, in denen man etwas von der Wirklichkeit Gottes spürt. Einbildung, Illusion? Mystiker aller Religionen und aller Zeiten waren immer wieder überzeugt, einer transzendenten Wahrheit, dem göttlichen Geheimnis begegnet zu sein. Und sie wussten: Man kann ein solches Erlebnis nicht in Worte fassen. Trotzdem haben sie es versucht, denn ihnen war klar: Erfahrungen, die man nicht teilt, haben für andere wenig Nutzen. Aus diesem Grund haben wir uns auch zu diesem Buch entschlossen.

Wie aber soll man den Eindruck, von Gott berührt zu werden, angemessen beschreiben? Es ist eine Intuition, eine Art von Gewissheit, die sich allenfalls mit wirklicher Liebe vergleichen lässt. Warum verliebe ich mich in einen anderen Menschen? Es spricht so viel dagegen. Sind solche Gefühle nicht albern, sinnlos, stören sie nicht sogar das Leben? Aber da ist eben auch diese Sicherheit, die keinen Zweifel zulässt. Das Gefühl: Hier bekomme ich ein unglaubliches Geschenk, größer, als ich es spontan erfassen kann.

Im Grunde kann man mystische Erlebnisse wohl nur mithilfe von Bildern und Symbolen ausdrücken – falls man sie überhaupt ausdrücken kann. Dazu zwei Beispiele aus Rom: In den antiken römischen Katakomben – kilometerlangen unterirdischen Begräbnisstätten vor den Toren der Stadt – findet man eine schlichte Wandmalerei: Eine Frau kniet am Boden hinter Jesus und berührt mit ausgestrecktem Arm den Saum seines Gewandes. Gemäß dem Lukasevangelium (Lk 8,46) nimmt Jesus die Frau in diesem Moment wahr und sagt: »Es hat mich jemand berührt; denn ich fühlte, dass eine Kraft von mir ausging.« Die Frau, so will es die Erzählung, wird durch die Berührung von einer schweren Krankheit geheilt.

Im Vatikan kann man an der Decke der Sixtinischen Kapelle berühmte Gemälde Michelangelos bewundern. Zu ihnen gehört Die Erschaffung des Adam: Gott wird hier – wie im 16. Jahrhundert üblich – als bärtiger alter Mann dargestellt und streckt seinen Arm Adam entgegen. Die Hände, ja die Finger der beiden Gestalten berühren sich fast, wenn auch nicht ganz. Doch die Botschaft des Bildes ist klar: Die Beziehung zwischen Gott und Welt existiert. Sie ist stark genug, den Menschen ins Leben zu rufen.

Alles Weitere bleibt ein Geheimnis, das sich seit Jahrtausenden im Leben großer mystischer Gestalten spiegelt. Sie gehören zu unterschiedlichen Kulturen und Religionen. Manche lebten vor Tausenden von Jahren, andere im 20. Jahrhundert. Keiner von ihnen hatte die Absicht, ein bekannter Mystiker zu werden. Aber irgendwann wurden sie alle von Gott angesprochen, jeder auf seine Weise. Und oft hat diese Begegnung ihrem Leben einen völlig neuen Schwung gegeben:

Benedikt von Nursia begründete im 6. Jahrhundert das abendländische Mönchtum. Der Dominikaner Meister Eckhart wurde im 13. Jahrhundert durch den Gedanken berühmt, dass in jedem Menschen ein göttliches »Seelenfünklein« lebt. Die spanische Mystikerin Teresa von Ávila lehrte den Weg in die »innere Burg« der Seele. Und Martin Luther, dessen mystische Seite erst in jüngster Zeit entdeckt wird, fand im 16. Jahrhundert die Kraft zu einer Kirchenreform.

Auch moderne religiöse Bewegungen gehen auf Mystiker zurück: Der reformierte Theologe Frère Roger Schutz rief nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich die ökumenische Gemeinschaft von Taizé ins Leben. Die italienische Katholikin Chiara Lubich gründete die weltweite, ökumenisch offene Fokolarbewegung. Mutter Teresa von Kalkutta baute einen neuen Orden auf, der sich in besonderer Weise den Ärmsten und Sterbenden in den indischen Slums verpflichtet weiß.

Das sind nur einige Beispiele. Neben diesen Persönlichkeiten stehen zahllose andere, nicht zuletzt viele Menschen wie du und ich. Denn jeder kann in seinem Leben mystische Erfahrungen machen. Sie/Er muss sich nur öffnen für das Geheimnis, das sie/ihn umgibt und trägt.

Mystik ist in meinen Augen eine besondere Gotteserfahrung, die sich nur schwer durch Worte vermitteln lässt, aber den, der sie macht, spontan überzeugt, ja die oft sogar dem ganzen Leben eine neue Wendung gibt. So jedenfalls war es bei mir.

Ich wurde 1940 geboren, mitten im Krieg. Mein Vater war beim Militär und später in Kriegsgefangenschaft. Meine Mutter und ich lebten in einem kleinen Dorf im Allgäu und waren jahrelang ganz auf uns selbst gestellt. Wir waren arm, zeitweise mussten wir von Almosen leben. Als Folge der mangelnden Ernährung war ich als Kind körperlich extrem schwach und viel krank. Ich erinnere mich nicht an alle Details, weiß aber, dass manches durchaus lebensbedrohlich war und ich immer wieder monatelang das Bett hüten musste, während meine Freunde draußen spielten.

Diese Jahre haben mich sicher geprägt. Ich war aufgeschlossen, wissbegierig und auch religiös sehr interessiert, habe viel gelesen und über den Sinn des Lebens nachgedacht. Aber natürlich habe ich mich gelegentlich auch gefragt, was einmal aus mir werden sollte. Für welche Arbeit, für welchen Beruf würden meine Kräfte reichen? Was würde meinem Leben Sinn geben? Natürlich wurde ich auch von Erwachsenen oft gefragt: »Was willst du denn mal werden?« Manchmal habe ich dann spitzbübisch-trotzig (und vielleicht inspiriert von dem Jugendroman Gullivers Reisen) geantwortet: »ein Schiffbrüchiger«!

Zugleich sagt das viel über die Ratlosigkeit, die ich empfand, zumal für mich eines feststand: Ich möchte nicht einen beliebigen Job machen, sondern einen der mich erfüllt, bei dem ich sagen kann: Da lohnt es sich, das Leben einzusetzen. Denn trotz meiner Jugend war mir damals schon eines absolut klar: Du kannst jeden Tag sterben!

Dass ich dann auf unserem Dachboden im Alter von 14 Jahren den entscheidenden Hinweis fand, kam für mich selbst völlig überraschend. Ich sollte nur etwas aufräumen und stieß dabei auf ein altes Missionsheft mit der Lebensbeschreibung eines Missionars aus dem 19. Jahrhundert: Pierre Chanel.

Ich war augenblicklich fasziniert von dem, was ich las: Chanel hatte auf der Insel Futuna im Südpazifik Kranke gepflegt. Doch als der Sohn des dortigen Stammesoberhauptes sich zum Christentum bekehren wollte, ließ sein Vater den Missionar töten. Erst nachträglich verstanden die Einheimischen, was Chanel sie gelehrt hatte. Ein Jahr später, als ein anderer Missionar auf die Insel kam, baten sie sofort um die Taufe.

Diese Erzählung traf mich als Jugendlichen im Inners­ten. Es war, als hätte mich Jesus berührt. Ich spürte: Mein Leben hat einen Sinn, Gott braucht mich! Aber ich wollte das zunächst noch nicht recht wahrhaben. Eine ganze Woche lang rang ich mit mir. Das Missionsheft versteckte ich zunächst unter meiner Matratze. Meine Mutter sollte nicht wissen, was in mir vorging, solange ich mir nicht im Klaren war.

Und da gab es durchaus einiges zu klären: Chanel, so wurde berichtet, musste zeitweise aus Hunger Regenwürmer essen. Würde ich das schaffen? Ich habe den Bericht immer wieder gelesen. Und würde ich es schaffen, von zu Hause wegzugehen – vielleicht sogar für immer? Aber als meine Entscheidung dann gefallen war, konnte mich niemand mehr von meinem Ziel abbringen. Ich spürte: Das würde mich erfüllen. Und so begann mein Weg zu den Missionsbenediktinern in Sankt Ottilien, wo sich für mich eine neue Welt öffnete. (Notker)

Im Jahr 2000 sollte der kleine Junge aus dem Allgäu zum ranghöchsten Benediktiner gewählt werden und in Rom 16 Jahre lang seine internationale Ordensgemeinschaft als Abtprimas vertreten. In dieser Zeit hat der Philosophieprofessor Elmar Salmann an der dortigen Benediktinerhochschule Sant’Anselmo einen Lehrstuhl für Philosophie und Mystik aufgebaut. Auch er ist Benediktiner und weiß: Gottes Ruf trifft jeden Menschen auf andere Weise, und die Kraft mystischer Erfahrungen, die einem Leben Gestalt geben können, hat viele Facetten:

»Was ich bisher als Grenze erfahren habe, kann zum Neuanfang werden. Was sich bisher für mich ausschloss, wird auf einmal als etwas Verwandtes begriffen. Und insofern gibt es keine abstrakte Mystik, sondern nur eine, die sich in einen Lebenslauf hinein fügt, und ihn dann freilich oft sprengt und verwandelt.«

Aber letztlich geht es beim Thema Mystik um weit mehr als um persönliche Erlebnisse. Wir denken, dass die Fähigkeit, »sich von Gott berühren zu lassen«, die Zukunft des Christentums prägen kann, ja möglicherweise sogar die Zukunft von Religion schlechthin. »Der Fromme von morgen«, schrieb einst Karl Rahner, werde »ein ›Mystiker‹ sein, einer der Gott erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.«

Rückblickend kommentierte der Jesuit seine Aussage mehrfach und sagte: »Wenn man unter Mystik nicht dieses seltsame parapsychologische Phänomen versteht, sondern eine echte, aus der Mitte der Existenz kommende Erfahrung Gottes, dann ist dieser Satz sehr richtig und wird in seiner Wahrheit und seinem Gewicht in der Spiritualität der Zukunft deutlicher werden.«

»Nach der Schrift und richtig erfasster kirchlicher Lehre«, so Rahner, sei nämlich »die letzte Glaubensüberzeugung« nicht das Ergebnis rationaler Argumentationen und kirchlicher Lehren. Sie sei vielmehr Folge »der Erfahrung Gottes, seines Geistes und seiner Freiheit, die aus dem Innersten der menschlichen Existenz aufbricht.«

Papst Franziskus – ebenfalls ein Jesuit – sieht in diesem Grundprinzip, das die Wurzel jeder Religion ist, sogar eine Basis für den Dialog zwischen verschiedenen Glaubensrichtungen: Die Erfahrung Gottes, meint er, schaffe eine Grundlage, damit Angehörige aller Konfessionen und Religionen die aktuellen Herausforderungen der Welt gemeinsam, ja geschwisterlich bewältigen können.

In der Enzyklika Fratelli tutti – über die »Geschwisterlichkeit« aller Menschen – nimmt Franziskus Bezug auf das gleichnamige Dokument, das er 2019 mit einem der höchsten Repräsentanten des Islams, dem Großscheich von Al Azhar, Ahmad Al-Tayyeb, unterzeichnet hat, und schreibt:

»Als Gläubige sind wir davon überzeugt, dass es ohne eine Offenheit gegenüber dem gemeinsamen Vater aller keine soliden und beständigen Gründe für den Aufruf zur Geschwisterlichkeit geben kann.«

Nur die Anerkennung dieser »transzendenten Wahrheit«, so der Papst, schütze den Menschen vor der Willkür von Macht und Gewalt. Diese Wahrheit in der heutigen Gesellschaft sichtbar zu machen sei die gemeinsame Aufgabe aller Religionen.

Dabei bestehe keine Gefahr des Synkretismus, also der Vermischung von Glaubensinhalten, betont Franziskus ausdrücklich. Vielmehr gehe es um eine »aufrichtige Gottsuche«, die jeder Gläubige nach seiner religiösen Tradition gestaltet, die aber nicht von »ideologischen oder zweckmäßigen Interessen verdunkelt« werden darf.

Eine solch ehrliche Suche nach Gott hat die christliche Spiritualität von jeher geprägt. Sie steht im Mittelpunkt der Regel Benedikts und motivierte Reformatoren wie Martin Luther. Hier liegt die Basis für alle Menschen, so Papst Franziskus, sich »als Weggefährten zu begreifen, als Brüder und Schwestern«.

Nach äußerst belastenden Jahren, in denen ich meine schwer kranken Eltern bis zu ihrem Tod begleitet hatte, motivierten mich Freunde zu einer Wanderreise in den südlichen Sinai. Natur, Ruhe, Weite, all das könnte helfen, den Schmerz zu verarbeiten, meinten sie. Ich ließ mich überreden. Da ich aber einen großen Teil der zurückliegenden Zeit an Krankenbetten verbracht hatte, fehlte mir die Kondition, um mit den anderen in der Sommerhitze auf Berge zu steigen. So blieb ich einige Zeit allein in einem einfachen Gästehaus nahe des Katharinenklosters und ließ die anderen ziehen.

Ich hatte keine genaue Vorstellung von dem, was mich dort erwartete. Ich wusste nur, dass die Wüste zu allen Zeiten für Menschen ein Ort der Besinnung war. Immer wieder hat die Frage nach Gott oder nach dem Sinn der eigenen Existenz Menschen in die Wüste geführt: Propheten wie Elija oder Mose waren schon vor Tausenden von Jahren im Sinai auf der Suche nach Auswegen in scheinbar ausweglosen Situationen.

Und stets fielen die Antworten, die sie hier erhielten, völlig anders aus, als sie es erwartet hatten. Sie sind – so wird überliefert – am Berg Sinai Gott begegnet: in Feuer und Luft, Wind und Erde, jenseits allen menschlichen Verstehens, aber dennoch real.

Dass auch ich etwas davon erfahren könnte, wagte ich nicht zu hoffen. Ich dachte nicht einmal drüber nach. Ich folgte einfach der Intuition, dass mir die Ruhe inmitten der grandiosen Felsmassive und weiten Sandebenen guttun könnte. Und ich fühlte, dass auch der regelmäßige Besuch der orthodoxen Vespern, den mir die Mönche im Kloster gestatteten, wohltat. Die Liturgien spiegeln die Gewissheit, dass Gott größer ist als all unsere menschlichen Gedanken. In einem Buch des Klosters las ich den Satz eines griechischen Byzantinisten:

»In jener Gegend kann man die Erde fühlen, die Gott berührte, und tief in ihrem Inneren die Ewigkeit spüren. Denn auf dem Berg Sinai, den Gott selbst betrat, trafen das Ewige und Heilige auf das Vergängliche und Menschliche.«

Was im Einzelnen in mir vorging, kann ich nicht erklären. Aber von Tag zu Tag spürte ich auf meinen Spaziergängen zwischen den mächtigen Felsen und dem endlosen Horizont immer deutlicher eine wohltuende Klarheit. Ich ahnte plötzlich, dass ich zwar keine Antworten auf die Fragen des Lebens finden würde, dass ich sie aber auch nicht mehr brauchte. Die Fragen lösten sich mit einem Mal auf.

Gott ist groß, und er ist hier, bei mir, in mir. Diese Gewissheit lässt alle weiteren Überlegungen verstummen. – Mit dieser Erfahrung traf ich nach einigen Tagen meine Freunde wieder. Ich wusste nicht, wie mein zukünftiges Leben aussehen würde, aber ich wusste: Er würde mir den Weg zeigen. (Corinna)

Die jüdisch-christliche Gotteserfahrung wurde von jeher durch die Wüste geprägt. Bis heute gibt es rund um das Katharinenkloster etliche Einsiedeleien, in die sich einzelne Mönche für eine gewisse Zeit oder auch auf Dauer zurückziehen, um in der Natur mit Gott allein zu sein.

Im Kloster zeigt man Besuchern einen Dornenstrauch. Jahrtausendealte biblische Erzählungen berichten, wie der Prophet Mose hier erstmals Gott begegnete – in einem magischen Augenblick: Mose, so heißt es, bemerkte eine »Flamme«, die aus dem Busch emporschlug – ein Symbol der Nähe Gottes. Im selben Moment meinte Mose, dessen Stimme zu hören. Eine Art Zwiegespräch entstand. Als Mose schließlich nach Gottes Namen fragte, bekam er eine überraschende Antwort: »Jahwe« – ein hebräischer Begriff, der unterschiedlich übersetzt wird:

Ich bin, der ich bin. (Jerusalemer Bibel)

Ich werde sein, der ich sein werde. (Luther-Bibel)

Ich werde da sein, als der ich da sein werde. (Martin Buber)

Ich bin der »Ich bin da«. (Einheitsübersetzung)

Man könnte es auch so formulieren: »Du, Mose, hast in diesem Moment etwas von mir begriffen. Das muss dir vorerst genug sein. Alles Weitere werde ich dich im Lauf des Lebens lehren. Versuche jetzt nicht, mich zu erfassen, denn das kannst du nicht. Vertrau mir!«

Vor 2000 Jahren entstand in Ägypten, Palästina und Syrien, das heißt in den Wüstenregionen des Vorderen Orients, das sogenannte Wüstenmönchtum. Viele der Einsiedler, die sich hier in die Einsamkeit zurückzogen, wurden vom Volk als Wüstenväter verehrt. Einige Frauen, die diesen nicht ungefährlichen Weg einschlugen, sind als Wüstenmütter in die Geschichte eingegangen.

Ob Frau oder Mann – sie alle suchten einen alternativen Lebensstil, den sie in ihrer Gesellschaft zwischen Kommerz und Oberflächlichkeit, Korruption und Geltungssucht nicht fanden. Wüstenregionen boten Zuflucht und öffneten neue Per­spektiven. Wer diesen Weg wählte, galt als Mystiker, Asket und weiser Ratgeber: Antonius, Poimen, Theodora, Sarah lauten einige der Namen, die man bis heute kennt.

Im 6. Jahrhundert wurde in Europa ein Mönch bekannt, der in Italien bewusst ihrem Vorbild folgte: Benedikt von Nursia. Wir kennen keine Einzelheiten aus seiner Kindheit, wissen nur, dass er offenbar aus einer wohlhabenden Familie stammte, die in Umbrien lebte. Es heißt, dass er als junger Mann zum Studium nach Rom geschickt wurde – in der damaligen Zeit galt dies als Privileg reicher Familien.

Doch die Stadt wurde damals von schweren Krisen geschüttelt: Das antike Römische Reich war längst zerfallen, die alten moralischen Werte waren in Auflösung begriffen. Goten und Vandalen hatten Italien geplündert, Hunger, Krankheit und Zerstörung hinterlassen. Rom galt in zeitgenössischen Schilderungen als Stätte des Lasters, die jeden in den Abgrund zu ziehen versuchte.

Papst Leo der Große schrieb im 5. Jahrhundert: »Ich schäme mich, es zu sagen, aber ich darf es nicht verschweigen: Die heidnischen Götzen werden hier mehr geehrt als die Apostel. Wahnwitzige Spiele werden fleißiger besucht als die Kirchen.«

Es ist daher nicht verwunderlich, dass ein religiös interessierter Student aus gutem Hause wie Benedikt die Stadt nach einiger Zeit angewidert verließ. Man kennt nur wenige historische Details, weiß aber, dass er eine radikale Entscheidung traf und sich wie die antiken Wüstenmönche in die Einsamkeit zurückzog. Die »Wüste« Benedikts waren kleine Höhlen in der abgeschiedenen Bergwelt des Apennin. In Subiaco, östlich von Rom, verbrachte er rund drei Jahre als Eremit.

Die Haltung des jungen Mönchs, der Subiaco mehrfach verließ, um aber anschließend wieder in »seine geliebte Einsamkeit« zurückzukehren, beschreibt Gregor der Große in der Vita des Heiligen: »Allein, unter den Augen Gottes, der aus der Höhe herniederschaute, wohnte er bei sich selbst.« Dabei habe Benedikt darauf geachtet, betont Gregor, »die innere Ruhe« nicht zu verlieren und »das Auge des Geistes nicht vom Licht der inneren Schau« abzuwenden.

Als ich 1963 noch Student an der Benediktinerhochschule Sant’Anselmo in Rom war, beschloss ich einmal, zusammen mit drei Kommilitonen nach Subiaco zu pilgern. Mit einem Überlandbus erreichten wir nach etwa einer Stunde das kleine gleichnamige Bergstädtchen, etwa 75 Kilometer östlich der Ewigen Stadt, in dem einige Ruinen antiker kaiserlicher Bauten zu sehen sind. Von hier aus ging es zu Fuß weiter.