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Geschichten nach bestimmten Vorgaben zu schreiben, hat einen Reiz. Man muss die gewohnten Denkbahnen verlassen, und es ergeben sich Texte, die ohne den Ankerpunkt der Vorgabe nie entstanden wären. Die Aufgabe für diesen Band war es, dem Alphabet folgend jeweils eine Präposition mit einem Namen zu kombinieren und dazu eine Geschichte zu schreiben. Von den sechsundzwanzig so entstandenen Texten sind einige gruselig, andere romantisch, wieder andere humoristisch. Und auch wer beim Lesen gern in die Abgründe menschlicher Seelen schaut, kommt in diesem Buch auf seine Kosten.
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Seitenzahl: 184
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Vorwort und Vornamen
Anstatt Anna
Bei Bernd
Contra Clemens
Dank Doris
Einschließlich Elke
Für Frieder
Gegen Gabi
Hinter Hendrik
In Ina
Je Julia
Kraft Konrad
Laut Lea
Mit Martin
Neben Nils
Ohne Olga
Plus Paul
Qua Quentin
Rücksichtlich Renate
Seit Sarah
Trotz Torsten
Über Uschi
Vor Veronika
Wegen Walter
X-seitig Xaver
Y-seitig Yvonne
Zu Zacharias
Meine Bücher bisher
Die Begriffe ‚Vorwörter‘ und ‚Vornamen‘ bestehen aus jeweils einer Präposition und einem Hauptwort, nämlich vor und Wörter bzw. vor und Namen. „Vor“ ist die Präposition. Diesem System folgen die Erzählungen dieses Bandes: Der Name des Protagonisten muss mit demselben Buchstaben beginnen wie die dazugehörige Präposition. Und das bitte in alphabetischer Reihenfolge durch alle Buchstaben. Damit ist schon alles gesagt, was ein Leser vorher wissen muss.
Anna war nicht sehr beliebt. Aber sie machte sich nichts daraus. Sie war die Klügste in der ganzen Klasse, hübsch obendrein. Vom dicken Taschengeld konnte sie sich alles leisten, was ihr Herz begehrte. Und wenn das neueste Smartphone teurer war, als ihr Gespartes hergab: ein kleines Vorschieben der Unterlippe, zittriges Stimmchen, große Augen – da gab es immer eine Tante, die ihr einen Fuffi zuschob, wenn nicht schon die Eltern weich wurden. Bei ihren Eltern bettelte sie zwar auch, akzeptierte aber sofort, wenn diese Nein sagten. Sie waren dabei immer ganz traurig, weil sie ihrer Anna jeden Wunsch erfüllen wollten. Aber Anna verstand, dass das Geld des Vaters aus Schichtarbeit und das Einkommen der Mutter von einem mühseligen Putzjob bei zwei ekligen alten Drachen kam. Sie war verwöhnt, und sie wusste es. Deshalb half sie im Gegensatz zu der Klischeevorstellung eines gehätschelten Mädchens gern zu Hause, sie erledigte ihre Hausaufgaben brav, bevor sie sich ihrem neuen coolen Schminkkoffer widmete.
Freundinnen hatte sie nicht, nicht eine einzige. Wozu auch? Sie schüttelte den Kopf. Sollte sie die Mädels zu sich einladen? Nicht, dass sie angeben würde und erzählen, dass sie in einer fürstlichen Luxusvilla lebten und in Saus und Braus den Alltag verbrächten. Sie erzählte gar nichts, sie folgte keinen Einladungen und musste daher auch niemanden in ihr ärmliches Zuhause einladen.
Bei Kindern und Jugendlichen ihres Alters galt sie als arrogant. Auch das steckte sie mit einem Schulterzucken weg. Ihr reichte das Wissen, dass sie es nicht war. Und trotz ihrer jungen Jahre konnte sie Stunden darüber nachsinnen, ob es Arroganz ist, wenn man sagt: „Ich weiß, dass ich nicht arrogant bin.“ Dann fragte sie sich, ob ihr neben allen anderen Talenten auch noch eine philosophische Begabung in die Wiege gelegt worden war.
Manchmal schleppte ihre Mutter sie mit zum Job. „Ich möchte nicht, mein Schatz, dass du so lange allein zu Hause bleibst.“ Die alten Damen setzten ihr viel zu süßen Kakao und Kekse vor, die garantiert schon ein halbes Jahr über das Haltbarkeitsdatum hinaus waren. Sie schmeckten nach muffigem Pappkarton. „Greif zu, meine Kleine, wir wissen doch, wie gerne du etwas Süßes isst.“ Ihr war schleierhaft, wie die beiden darauf kamen, denn sie aß selbst leckere Kekse oder saftigen Kuchen nicht so gern – schon allein wegen der Figur. Man konnte gar nicht früh genug anfangen, darauf zu achten, dass man nicht aus den Nähten platzt. Wie zum Beispiel die beiden Damen, deren Gesäße fast seitlich vom Stuhl herunterhingen, das Doppelkinn reichte in zwei Lagen vom Mund bis zum Kragen der Spitzenbluse. Sie knabberte höflich am dritten Keks und nahm einen weiteren Schluck vom lauen Kakao. Der war heute so süß, dass er ihr die Kehle fast zerriss. Derweil hievte sich die zweite Dame von ihrem Stuhl und schlurfte in die Küche, wo sie Annas Mutter die Leviten las. Wieder hatte diese den Zucker an die falsche Stelle gerückt, hinten in der Ecke war noch ein bisserl Schmutz, nein, so geht das gar nicht! „Wenn es nicht wegen ihrer reizenden Tochter wäre, die wir nicht in Armut groß werden lassen möchten, könnten wir sie nicht länger halten. Ihre Leistung ist nicht ausreichend. Bitte geben Sie sich doch mehr Mühe!“ Anna wäre am liebsten aufgesprungen und hätte der alten Kuh vors Schienbein getreten. Aber das machte sie natürlich nicht. Dann wäre ihre Mutter auch diesen Job los, und es war schwer genug gewesen, ihn zu bekommen. Nicht zu weit von daheim, eine Stelle, zu der sie Anna mitnehmen konnte, was früher notwendiger gewesen war als heute.
Anna träumte davon, wie sie eines Tages als Meeresbiologin viel Geld verdienen würde. Die Lieblingsberufe wechselten etwa alle zwei Tage. Vorgestern war sie noch als Leiterin einer Hotelkette reich geworden. Egal wie, sie nahm einen Teil ihres erworbenen Gelds, kaufte das Haus, in dem die beiden alten Hexen wohnten, und setzte sie vor die Tür. Und wenn sie unten vor der Tür stünden und jammerten, würde sie sie mit steinharten alten Keksen bewerfen. Gelegentlich malte sie sich diese Szene auch gespickt mit Gewalt aus, heimliche Tagträume. Anschließend würde sie mit ihren Eltern in ein schickes Penthouse (was immer das sein mag) ziehen, mit einer Edelstahlküche, teurem Parkett und Mahagonischränken. Und die beiden müssten nie wieder arbeiten, weil sie, Anna, für ihre Eltern sorgen würde.
Endlich waren die drei Stunden vorbei, sie kehrten nach Hause zurück. Ihre Mutter jammerte zu Recht darüber, wie unfair die beiden Kanaillen doch sind, und strich Anna über das Haar. „Ach, mein Schatz, aber damit es dir gut geht, tue ich das doch gern!“
Es war gegen Monatsende und daher gab es als Abendessen Pellkartoffeln mit Schnittlauch und Quark, für mehr reichte die Kasse nicht. Anna sah keinen Grund, sich zu beschweren, denn sie aß liebend gern Pellkartoffeln, am liebsten nur mit Butter und Salz, aber Quark und Schnittlauch waren ebenfalls okay. Ihre Mutter pellte die Kartoffeln für alle, das war bequem.
Anna musste um acht Uhr zu Bett gehen, denn die Schultage waren anstrengend. Sie widersprach selten. Keiner kümmerte sich darum, dass sie im Schein einer Taschenlampe gelegentlich bis weit nach Mitternacht schönste Geschichten las. Solange ihre Schulleistungen nicht darunter litten, würde keiner etwas merken. Anna dachte altklug: „Die beiden brauchen auch Zeit für sich.“ Sie gähnte, schaute auf die Uhr. Dreiundzwanzig Uhr vierundzwanzig. Wirklich, heute sollte sie einmal früher einschlafen. Dann fiel ihr auf, dass sie noch Durst hatte. Sie lauschte, normalerweise waren ihre Eltern um diese Zeit schon im Bett und schliefen tief. So auch heute, kein Ton war zu hören. Anna schlich in die Küche und goss sich aus dem Krug auf dem Küchentisch Wasser in ein Glas. Sie hob das Glas zum Mund und hörte ein Geräusch aus dem Wohnzimmer. Hmmm, sich jetzt bemerkbar zu machen, wäre blöde, fand sie. Es klang, als würde ihre Mutter weinen. Obwohl Anna zu ihren positiven Eigenschaften zählte, dass sie nicht neugierig war, konnte sie diesmal nicht anders, als zuzuhören.
Sie stellte sich vor, wie ihr Vater liebevoll die Mutter an die Schulter drückte und ihr zärtlich über den Rücken strich, etwas Tröstliches in ihr Haar murmelte. So hatte sie das oft genug gelesen. Sie hörte ihre Mutter leise schluchzen, „Ach, unsere Anna ... sie ist sicher ein nettes Mädel, aber ich kann es nicht vergessen. Ich wünschte, anstatt Anna hätte damals unser kleiner Bub den Unfall überlebt.“
Anna starrte das Glas in ihrer Hand an und wusste nicht, warum sie es sich geholt hatte. Um sie herum war es dunkel und leer. Sie stellte das Glas leise auf den Küchentisch und schlich zurück in ihr Zimmer. Sie hatte das Gefühl, durch ein Portal in eine andere Welt gegangen zu sein. Ihre Augen waren riesig in der Dunkelheit, hätte man sie sehen können. Sie starrte die Tapete an und dachte in einer wiederkehrenden Schleife: „Morgen werde ich Mama bitten, dass ich anstatt dieser Kindertapete gern eine mit Spinnenmuster hätte.“
Er sah sich in seinem kleinen Apartment um. Okay, achtundzwanzig Quadratmeter sind nicht viel, aber er hatte es gemütlich eingerichtet. Die Bettcouch ließ sich tagsüber zusammenschieben. Er machte das geflissentlich jeden Morgen, weil es ihm wichtig war, dass er nach der Arbeit in ein ordentliches Heim zurückkam. Die wenigen Quadratmeter waren immer sauber und aufgeräumt. Nicht auf eine kranke, unnatürliche Weise, sondern so, dass jeder ausrief: „Boh, Bernd, du hast es aber wirklich schön hier!“ Jeden Morgen, so hatte er sich das eingeteilt, widmete er Reinigung und Aufräumen ein wenig Zeit. Etwa eine Viertelstunde pro Tag, das reicht völlig aus, um so eine kleine Wohnung in Schuss zu halten. Wobei es erwiesenermaßen aufwändiger ist, achtundzwanzig eng bewohnte Quadratmeter in Ordnung zu halten als zweihundert mit derselben Mobiliarbestückung.
Wenn seine Freunde zu Besuch kamen, räumte er vorher nochmals kurz auf. Der Schreibtisch war dann leer bis auf Laptop, Maus und einen kleinen Ablagestapel. Stolz war er auch darauf, dass es in seinen Schränken immer ordentlich war. Für Besuch alles hinter die Schranktüren zu quetschen, nein, das kam nicht in Frage. Eher doch die Sportschuhe da stehen lassen, wo sie waren. Das ist normal.
Bernd war ein Freund von Qualität statt Quantität. Nicht, dass er nur die teuersten Dinge kaufte, das konnte er sich gar nicht leisten. Aber wenn eine wichtige Anschaffung anstand, wartete er lieber drei Monate und kaufte „etwas Vernünftiges“, wie er sagte, statt billigen Schund.
Er holte die flache Glasschale aus dem Hängeschrank in der sogenannten Junggesellenküche, nahm eine Tüte Plätzchenmischung aus dem Vorratsschrank. Diese Plätzchenmischung liebte er – vor allem die Waffelröllchen mit den in Vollmilchschokolade getauchten Enden. Nur in der Olala-Mischung seines Lieblingssupermarkts gab es die Mischung mit der Vollmilchschokolade. Alle anderen Hersteller tauchten die Waffelröllchen in dunkle Schokolade. Er schnitt die Tüte auf und ließ die Kekse sorgfältig in die Glasschale rutschen. Und stibitzte sich gleich zwei der Waffelröllchen, die nach oben herausguckten. Dann stellte er die Schale auf den Schreibtisch, sonst gab es keine Abstellmöglichkeit. Ein weiterer Tisch in seinem Zimmer hätte ihm alles zu eng werden lassen. Er hatte damals die Wahl gehabt zwischen einer Wohnung, fünfunddreißig Quadratmeter, mit Sitzbad, kleiner Küche, winzigem Flur und einem mittelgroßen Wohnzimmer und dieser Wohnung, insgesamt kleiner, aber großzügiger. Er kochte selten, daher reichte ihm die Schrankküche völlig aus. An der einen Seite stand die Bettcouch, vor dem Fenster der große Schreibtisch mit gemütlichem Arbeitssessel. In einer Nische, die mit einem Vorhang geschlossen war, standen zwei Klappstühle. So konnte er problemlos vier oder fünf Freunde zu sich einladen. Auf dem hellen Laminatboden lag ein schmaler Läufer vor der Bettcouch. Gardinen brauchte er nicht, denn zum Schutz vor zu intensiver Sonnenstrahlung hatte er eine Jalousie mit schmalen Lamellen auf den Fensterrahmen montiert. Er mochte es hell. Die Wände waren dementsprechend in einem warmen Cremeweiß gestrichen. Bisher hatte sich jeder bei ihm wohlgefühlt.
Er nahm vier Becher aus dem Hängeschrank und stellte sie neben seine Tasse auf den Schreibtisch, dazu vier Glasuntersetzer. So ein bisschen Vorsicht schadet nicht, war seine Devise. Er bereitete auch den Kaffee schon vor, indem er die Maschine mit Filter, Kaffeepulver und Wasser bestückte. Er hielt nichts von diesen Maschinen, die gerade hip waren, mit ihren Wunderpads. Reine Verschwendung – und überhaupt nicht individuell dosierbar. Neben die Becher platzierte er eine buntgemusterte Zuckerdose, ein Mitbringsel von einer Spanienreise, und ein Kännchen mit Sahne – echter Sahne, nicht diesem billigen Kaffeesahnezeugs. Schon bei dem Gedanken daran verzog er missmutig das Gesicht.
Auch beim Essen hielt er es mit der Qualität. Die Jagd nach dem billigsten Stück Butter war ihm fremd. Das war ihm von zu Hause in unangenehmer Erinnerung. Dabei hätten es seine Eltern gar nicht nötig gehabt. Okay, sie waren nicht reich. Aber immer nur das Billigste kaufen, musste doch nicht sein. Bernd hatte einen starken Widerwillen gegen Sparen um des Sparens willen. Seine Mutter lief wahrhaftig einen halben Kilometer zu Fuß, um die Brötchen bei Bäcker Friedegard pro Stück zwei Cent billiger zu erstehen als bei dem Bäcker um die Ecke. Ganz zu schweigen von den Discounter-Brötchen. Nein, nein, Essen muss Qualität haben.
Bernd war ein Freund guten und reichlichen Essens. Aber er hatte Glück – obwohl er nicht besonders groß war, gehörte er zu diesen drahtigen Typen, die auf geheimnisvolle Weise kein Fett ansetzen. Er war nicht hager, schlicht und ergreifend „normal“. Er grinste, ja, „normal“, das beschrieb ihn treffend. Obwohl das nicht ganz stimmte, denn dieser Hang zur Qualität zum angemessenen Preis gilt leider heutzutage gar nicht mehr als „normal“. Er wusste, dass er mit zunehmendem Alter auf seine Figur würde achten müssen, wenn er nicht wie seine Eltern ständig der Herzverfettungsgefahr ausgesetzt sein wollte. Nun ja, zwei Waffelröllchen würden da sicher nicht die allergrößte Gefahr sein.
Seine Freunde, seine Kollegen, sie alle besuchten ihn gern. Es war immer nett, immer lustig, bei ihm war es überaus gemütlich.
„Komm doch heute mit“, sagte Susanne zu ihrer Freundin. „Bei Bernd ist es so gemütlich, man mag fast nicht mehr weggehen. Bei Bernd fühlt man sich wohl.“ Okay, warum nicht? Aber einfach so mitkommen?
„Bernd ist echt ein cooler Typ, der freut sich, wenn wir jemanden mitbringen, den er nicht kennt. Er ist so interessiert an allem!“. Also abgemacht, und so standen Susanne und Anna jetzt vor Bernds Wohnungstür. Anna hielt die kleine Überraschung in der Hand, während Susanne mit Inbrunst auf die Klingel drückte. Anna dachte: „Ob ich mich bei Bernd auch gleich so wohlfühle?“
Daniela hatte ein Spiel mitgebracht „Alle contra mich“, so etwas Ähnliches wie Trivial Pursuit, nur dass einer gegen die ganze Gruppe antrat und es noch ein paar weitere Finessen gab. Es war von Copyright-Verletzungen die Rede, die öffentliche Diskussion war noch nicht beendet. Anna spielte nicht so gern, Susanne war verrückt nach Spielen. Bernd als Gastgeber hatte sein Pokerface aufgesetzt, als die Frage kam „Sollen wir das nicht mal spielen?“
„Wenn Ihr wollt ... wir können abstimmen, bei fünf Stimmen wird das Ergebnis eindeutig.“
Anna lächelte: „Nicht, wenn sich einer enthält.“ Genau das, was Bernd zu tun gedachte!
„Nein, nein, enthalten gilt nicht!“, rief Susanne, die sich bereits in die Bedienungsanleitung vertieft hatte. Anna hielt einen Becher mit dampfendem Kaffee in der Hand, sie mochte den Geruch. Sie gab zwei Teelöffel Zucker hinein und, während sie das dunkle Gebräu sorgfältig umrührte, liebkosten ihre Augen die Plätzchenschale. Heidesand schwarz-weiß gestreift, wie lecker. Und da ... Waffelröllchen mit hellen Enden! Gut erzogen wartete sie darauf, dass der Gastgeber die Schale herumreichte und alle aufforderte, zuzugreifen. Was er kurz darauf mit einer Handbewegung tat: „Greift doch zu!“. Anna setzte ihren Kaffeebecher vorsichtig neben das Bettsofa und nahm sich sofort die beiden sichtbaren Waffelröllchen: Geschickt fischte sie sie aus der Menge aller Kekse, die diese Köstlichkeiten fast verdeckten. Sie hielt die Röllchen in der einen Hand, wobei sie die kleinen Gebäckstücke so zwischen Daumen und Zeigefinger legte, dass die Schokoladenenden nicht verletzt wurden. Sie hob den Becher wieder an. Wenn sie ein Röllchen genussvoll in den Mund steckte und langsam zwischen Gaumen und Zunge zerdrückte, legte sie Wert darauf, den Schokoladengeschmack zu erhaschen. Ah, wie lecker! Während die anderen über Abstimmung und Spiel diskutierten, scannten ihre Augen erneut die halbvolle Schale, das zweite Waffelröllchen hielt sie fest in der Hand. Als Anna aufsah, schaute sie genau in Bernds Augen. Diesen Blick konnte sie nicht deuten. Kein Lächeln war in seinen Augen, als er die Mundwinkel nach oben zog und sie fragte: „Schmecken dir die Plätzchen?“ Anna schluckte den Rest des ersten Röllchens langsam hinunter. „Ja, danke. Vor allem ...“, sie stockte, als sie sah wie sich Bernds Augen zu Schlitzen verengten, „ja, vor allem der Heidesand“. Bernd starrte auf das Waffelröllchen in ihrer Hand. „Ah ja“. Ein merkwürdiger Gastgeber, dachte Anna.
Nun kam es zur Abstimmung. Anna spielte nicht so gern Gesellschaftsspiele, war aber vom Treffen der Blicke über der Keksschale so verwirrt, dass sie auf die Frage: „Wer will mitspielen?“, die Hand hob.
Eine Enthaltung (Bernd), eine Gegenstimme (Clemens) und drei waren dafür: Anna, Susanne und Daniela. Susanne pickte sich drei Schokolinsen aus der kleinen Schale neben den Plätzchen, zwei in Rosa, eine in Weiß. Diese schon den Großeltern bekannten Süßigkeiten waren ihr Gastgeschenk gewesen. Daniela rief: „Prima, Clemens, du bist es selbst schuld, aber jetzt gilt: Alle contra Clemens.“
Während Susanne die Karten verteilte und Daniela nochmals die Regeln für alle erklärte, nahm das zweite Waffelröllchen in Annas Hand den Weg, der ihm vorbestimmt war. Anna fühlte sich nicht wohl, die freundliche Ausstrahlung des Apartments spiegelte sich in Bernds Person nicht wider. Warum um Himmels willen gönnte er ihr die Waffelröllchen nicht? Dann hätte er sie eben früher herausnehmen müssen, wenn er sie selbst essen wollte. Meine Güte, er war doch erwachsen, kann man sich da so haben wegen ein bisschen Gebäck?
Clemens übernahm die Rolle im Spiel mit Bravour. Auch wenn er die Regeln ungeheuer kompliziert fand, kam er schnell damit zurecht. Daniela, die das Spiel gut kannte, war wohl die Einzige, die die Regeln beherrschte, und regte sich ein paar Mal auf, weil es zu Regelverstößen kam. Mit kleinen roten Flecken am Hals klopfte sie auf die Bedienungsanleitung: „Hier steht es aber anders, Clemens, als du es jetzt machst!“
Clemens nahm selten etwas ernst, keine richtigen Regeln und schon gar keine Spielregeln. In der Grundschule war er unschlagbar im Kartenspiel „Mogeln“ gewesen. Kein Wunder daher, dass er nach seinen Maßstäben die erste Runde sehr schnell gewonnen hatte. Daniela saß mit langem Gesicht auf dem Sofa: „Wenn ich so spielen würde, gewänne ich auch jedes Spiel!“
Clemens lachte nur leise und begann die zweite Runde. Eine komische kleine Gesellschaft, die hier zusammengekommen war. Bernd kannte er schon lange, er mochte ihn. Er war so erfrischend normal, immer gastfreundlich, ein guter Zuhörer. Sie hatten oft Spaß miteinander. Clemens warf Bernd einen Blick zu, sein Freund kam ihm heute merkwürdig verbissen vor. So kannte er ihn gar nicht. Clemens und Susanne waren häufig Nachbarn in der Bahn, auf dem Weg zur Arbeit. Daniela war eine alte Bekannte von Bernd, die er aber noch nie zuvor gesehen hatte, aber aus einigen Anekdoten kannte. Anna war ein unbeschriebenes Blatt für ihn. Eine hübsche junge Frau, mit einem offenen Lächeln. Bernd und Anna jeweils für sich genommen, hinterließen einen netten und sympathischen Eindruck, dennoch war die Atmosphäre im Raum gespannt.
Jetzt griffen Bernd und Anna gleichzeitig zum gerade freigelegten Waffelröllchen. Die Hände gefroren über der Keksschale, der Blickaustausch zwischen den beiden war geladen. Clemens war geübt darin, eine miese, traurige oder gespannte Atmosphäre zu entspannen, das hielt er für eines seiner großen Talente. Mittlerweile waren alle in Stimmung contra Clemens. Es gefiel ihnen nicht, wie er die Regeln ständig brach und dann lauthals lachend behauptete, jetzt sei er aber auch Gewinner von Runde zwei.
Ihn machten so Spannungen nervös. Meine Güte, was war denn los heute? Die Chemie stimmte rein gar nicht. Alle contra Clemens, auch in echt. Und so lenkte er die Aufmerksamkeit von sich, er war doch witzig, oder? Er lachte in die Runde: „Susanne, vielleicht solltest du beim nächsten Mal anstatt Anna ein großes Waffelröllchen mitbringen?“
Boris rührte mit seinem Löffel durch den Eissee. Ihm gefiel es, wenn das Eis auf seinem Teller zu einem Mini-See zerfloss, den er dann Löffel für Löffel wegschleckte, bis wieder ein Eisberg übrigblieb, der nur ein wenig kleiner war. Schicht um Schicht ließ er ihn zerfließen, um dann die süße klebrige Flüssigkeit genüsslich vom Löffel zu saugen. Wie sonst auch sollte man ein Fürst Pückler-Eis so essen, dass es schmeckt? Ihre Gastgeberin strich Boris übers Haar, „Wirklich, man könnte meinen, du bist David, du siehst ihm so ähnlich!“ Boris atmete erleichtert auf, es gab auch Besuche, an denen sie ihn mit den Worten „Oh, David, wie schön dich wiederzusehen“ an den flachen Busen quetschte.
Er hatte lange einen richtigen Widerwillen gegen diese Besuche gehabt, dies aber seiner Mutter zuliebe nicht gesagt. Mittlerweile war er in seinen eigenen Augen fast erwachsen und konnte mit der Situation umgehen. Es war so eine Art Fasching mit Verkleidung und ein bisschen Theaterspielen.
Seine Mutter, die er über alles liebte, saß häufig abends an seinem Bett, strich ihm über den Kopf – was er in diesem Fall durchaus angenehm fand – und seufzte. „Ach, Boris, schau dich um in unserer hübschen Wohnung, wo es uns so gut geht. Und das alles dank Doris!“
Obwohl sie seine Patentante und Vaters älteste Schwester war, sagten sie immer Doris, niemals Tante Doris. Unsere großzügige Patentante, „Doris“.
Okay, es war gelegentlich ein bisschen creepy. Aber mittlerweile steckte er das locker weg. Wenn der Besuchssamstag kam, sagte er seinen Freunden ab. Er zog die halblange Hose mit den Hosenträgern, das karierte Hemd mit Kragen, die Kniestrümpfe und die Schnürschuhe an. Immerhin hatte er durchsetzen können, dass es Schnürsportschuhe waren und wenn ihn draußen jemand sah, fiel seine etwas altbackene Kleidung unter dem Parker im Winter gar nicht auf. Und ihm Sommer trug er Shorts, das kann jeder, das fällt schon gar nicht auf.
Manchmal träumte er davon, dass sie seine beiden kleinen Schwestern doch wieder mitnehmen könnten. Die Zwillinge kicherten immer vor sich hin, er konnte prima mit ihnen spielen, mit ihrer nahezu unstillbaren Heiterkeit brachten sie Sonne und Frohsinn in sein Leben. Aber der eine Versuch, die beiden auf sein Drängen hin mit zu Doris zu nehmen, war kläglich gescheitert. Doris, die sonst immer die Güte in Person war, das rosige faltige Gesicht stets zu einem Lächeln bereit, war äußerst übellaunig. Sie saßen um den Tisch, Sarah und Stephanie patschten mit den Löffeln ins Eis und lachten sich halb tot über etwas, was außer ihnen niemand verstand. Doris‘ Mund wurde zu einem schmalen Schlitz, selbst Boris warf sie einen üblen Blick zu und raunzte ihn an, er solle gefälligst gerade sitzen – während er sonst nichts tun konnte, was ihr falsch vorkam: Selbst als er einmal die ganze Kanne Kakao umgestoßen hatte, war sie nicht böse, sondern holte schnell einen Lappen und tröstete ihn sogar.