Raumschiff Promet - Von Stern zu Stern 12: Fremde Seelen - Michael Edelbrock - E-Book

Raumschiff Promet - Von Stern zu Stern 12: Fremde Seelen E-Book

Michael Edelbrock

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Beschreibung

Die Crew der Promet ist auf Lint gestrandet. Fast zweihundert Jahre zuvor: Der Moraner Lorn Jaci stürzt mit seinem Raumschiff auf die Erde und findet sich in einer gefährlichen, verwirrenden Welt wieder, umgeben von fremden Seelen.Die Printausgabe umfasst 160 Buchseiten.

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Seitenzahl: 141

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Michael Edelbrock

FREMDE SEELEN

In dieser Reihe bisher erschienen:

5001  Christian Montillon Aufbruch

5002  Oliver Müller Sprung ins Ungewisse

5003  Vanessa Busse Dunkle Energie

5004  Vanessa Busse Angriff aus dem Nichts

5005  Oliver Müller Gefangene der Doppelsonne

5006  Achim Mehnert Das Vermächtnis der Moraner

5007  Rainer Schorm Jedermanns Feind

5008  H. W. Stein & Oliver Müller Die Sklavenwelt

5009  Achim Mehnert Todesdrohung Schwarzer Raumer

5010  Vanessa Busse Entscheidung: Risiko

5011  Ben B. Black Zegastos Kinder

5012  Michael Edelbrock Fremde Seelen

5013  Achim Mehnert

Michael Edelbrock

Fremde Seelen

© 2016 BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Exposé: Oliver Müller und Michael Edelbrock

Zeittafel: Ralf Locke

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Umschlaggestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-95719-572-2

Kronjevc sah seine eigene Reflexion in der Schreibtischplatte. Das schwarze Glas zeigte sein nachdenkliches Gesicht, eingerahmt vom immer grauer werdenden Haar. Abrupt stand er auf und ging zu der gewaltigen Fensterfront. Dies war sein Lieblingsbüro. Aus dem 87. Stock hatte er eine wunderbare Sicht auf das alte London. Die Themse schlängelte sich wie eh und je am Parlament und am Big Ben vorbei. Die Fassaden waren vom ätzenden Regen zerfressen, aber im abendlichen Dämmerlicht schmälerte das den phantastischen Ausblick nicht.

Sein Blick wanderte zurück auf die Holoprojektion, die ein Drittel des Raumes einnahm. Eine Karte der Welt, auf der die fünf Kontinente in fünf verschiedenen Farben dargestellt waren. Fünf Ressorts der Terra States mit ihren jeweiligen Ressortchefs und -chefinnen. Zusätzlich kamen noch drei weitere Bereiche, die nicht regional abgegrenzt waren. Forschung & Entwicklung, Einsatz & Taktik und nicht zuletzt sein eigener Bereich: Wirtschaft & Spionage.

Er schnaubte. Letztlich hatten sie natürlich alle das winzige und unerhebliche Ziel, die menschlichen Interessen im All durchzusetzen. Niemand wusste das besser als er, denn er war mit den Stimmen des Weltregierungskomitees zum Direktor der TST gewählt worden. Ein wackeliger Posten, wenn man bedachte, dass jeder andere Ressortchef auch gerne Direktor geworden wäre. Man intrigierte hinter seinem Rücken. Norman Gant war umgebracht worden. Irgendjemand war auf Kronjevcs eigenem Feld Wirtschaft & Spionage tätig geworden. Dieser Jemand würde dafür bezahlen.

Draußen verdichteten sich die Wolken und der unvermeidbare Londoner Regen ging nieder. Er nagte an den Häuserfronten und am Gemüt der Leute, die ihre Fahrzeuge eilig durch die verstopften Straßen steuerten. London war aus politischen Gründen eine Flugverbotszone geblieben. Konservatives England halt.

Vielleicht sollte er später noch den Gleiter nach New York nehmen? Hier würde er ohnehin nur ergebnislos über dem Gant-Problem brüten. Die HTO-Corporation besaß den Schlüssel für das Tor zu den Sternen. Sollten sie und der alte Orell damit ruhig unvorstellbar reich werden, solange sie nicht auf dem Monopol sitzen blieben und damit alles behinderten. Kronjevc war immer schon für eine wirtschaftliche Erschließung des Alls gewesen. Dann würden sich nur die besten Lösungen durchsetzen. Nicht zuletzt würde das auch sein eigenes Ressort innerhalb der TST stärken.

Er trat auf die Karte zu und fixierte den Punkt, an dem sich ungefähr der große Sklavensee befinden musste. „So, Orell“, murmelte er leise. „Die Lösung auf alle Fragen liegt irgendwo in deinen Werkshallen. Warum wurde Gant getötet? Was wollten die Erpresser von dir?“

Natürlich kannte er alle Berichte und das gesamte Zahlenwerk um die HTO. Aber die Erfahrung zeigte, dass nicht einmal ein Unternehmen wie die HTO-Corporation das Transitionstriebwerk aus dem Ärmel schüttelte. Irgendetwas war im Sperrkreis 1, das er, Kronjevc, kennen sollte. Darum würde er sich kümmern. Niemand hatte Geheimnisse vor ihm. Er rief seinen Leibwächter herein. Der Mann bewegte sich eckig wie ein Roboter, was an seinen verbesserten Nervenabläufen lag. Die Augen waren hinter einem schwarzen Panzerglasvisier verborgen. Unwillkürlich dachte Kronjevc, dass dieser Mann niemals wieder einen gewöhnlichen Spaziergang auf der Straße machen konnte. Aber galt das letztlich nicht auch für ihn selbst? „Organisiere den Flug nach New York. Das Wetter gefällt mir nicht.“

Der Mann verschwand.

Mit einem letzten Blick auf die Karte beschloss Kronjevc, dass er innerhalb der TST tätig werden musste. Er würde mit der Grande Dame der Geheimdienste Kontakt aufnehmen. Vor fünfunddreißig Jahren, als er in das Geschäft eingestiegen war, gehörte sie schon zu den Veteranen. Sie wusste alles, sie kannte jeden. Und gegen ein gemeinsames Abendessen in New York hätte sie bestimmt nichts einzuwenden.

*

Vor wenigen Wochen

Jakov zog genüsslich an seiner Pfeife und schlürfte Kaffee. Lorn nahm auch noch einen Schluck und wunderte sich erneut, wie stark die Giftabsorption der Menschen ausgeprägt war. Das Zeug hätte Löcher in Raumschiffaußenhüllen fressen können. Nachdem er seine Geschichte unterbrochen hatte, hatten sie die Überreste des Frühstücks abgeräumt. Jetzt saßen sie mit einer letzten Tasse Gestalt gewordener Schwärze vor dem behaglichen Kamin. „Also, Lorn, wenn du beim Tunguska-Phänomen gelandet bist, muss ich dir mal ein Kompliment machen: Wie ein Zweihundertjähriger siehst du wirklich nicht aus!“

Der Gast versteifte sich. „Ihr sprecht offen über das Alter? Das ist sehr unzivilisiert. Tu das bitte nie wieder!“

Jakov sah ihn erstaunt an und nahm die Pfeife aus dem Mund. „Oh, tut mir leid. Wusste nicht, dass man das nicht macht, da wo du herkommst. Aber sag mal, was hast du die ganze Zeit über getan?“

Wieder versöhnt sah Lorn Jaci in die Flammen. „Ja, das war schon eine ziemlich verrückte Geschichte.“

181 Jahre zuvor

Das Heulen des Kher aus Lorn Jacis Maschinenraum war unvorstellbar laut. Weitere Explosionen hatten die Holobilder auf der Brücke in Farbschlieren verwandelt. Mörderische G-Kräfte hatten die Andruckabsorber überwunden und ihn hin und her gerissen. Jetzt war es still und dunkel. Er lag unbequem auf dem Boden. Der Schutzschild seines Kommandantenstuhls hatte sich deaktiviert, wohl weil keine unmittelbare Gefahr mehr drohte.

Die Brücke war ein Chaos ohnegleichen, als hätten sich hier tausend wilde Daktylen ausgetobt. Erschöpft und ein wenig wacklig auf den Beinen schleppte er sich zur Luke. Druck und Zusammensetzung der Außenluft waren akzeptabel, also gab er den Befehl zu öffnen. Und sah nichts. Hörte nichts. Aus dem Raumschiffschott fiel ein wenig Licht auf unspektakulären Boden, bevor es sich im Nichts verlor. Eine W-Sonne und ihr unnützes Spektrum. Was für eine Verschwendung von stellarer Kraft!

Er ging zur Medostation. Das Chaos setzte sich hier fort, hatte aber den Medoschrank nicht kleinkriegen können. Drinnen waren fein säuberlich aufgereiht die verschiedenen Medikamente. Das Beste, was die moranische Kultur in ihrer langen Entwicklungsgeschichte hervorgebracht hatte. Seine Finger glitten über die Dosis-Injektoren mit den unterschiedlichen Nanitenlösungen, bis er die Aufschrift Kontaktaufnahme Spektraltyp W fand. Er nahm die winzige Ampulle und drückte sich einen Tropfen in das linke und dann einen Tropfen in das rechte Auge. Der winzige Behälter war damit bereits leer, aber er würde vollkommen ausreichen. Zwölftausend Naniten.

Während die winzigen Maschinen ihre Arbeit in seinem Körper verrichteten, räumte er das Medolabor und schließlich auch noch die Brücke auf. Dann veränderten sich die Farben langsam vor seinen Augen, er legte sich hin.

*

Der Spiegel der Hygienezelle zeigte Lorns schlankes Gesicht. Am bemerkenswertesten waren seine goldleuchtenden Augen. Sie waren das Zeichen dafür, dass die Naniten ihre Arbeit erfolgreich beendet hatten. Die Stäbchen seiner Netzhaut waren transformiert und dem Sonnenspektraltyp W angepasst worden. Alle Farben waren jetzt falsch. Gleichzeitig waren sein Gehör und seine Stimme dem Niederfrequenzbereich angepasst worden. Die Statistik aus 40.000 Jahren Transitionsgeschichte zeigte einfach, dass dies die überwiegende Konfiguration anderer Spezies war.

Als er dieses Mal die Luke öffnet, war er nicht länger blind. Die Umgebung seines Schiffes war verwüstet. Soweit Lorn sehen konnte, waren alle Hochgewächse entwurzelt. Kein Lebewesen regte sich und plötzlich war er froh, in einem unbewohnten Gebiet niedergegangen zu sein. Nicht auszudenken, wenn hier eine Stadt oder gar eine Wohnarkologie gestanden hätten. Der Himmel trug das schwere Grau trister Wolken. Vermutlich würde das Wetter hier wegen der Druckwelle noch tagelang verrücktspielen. Wenn er hinausging, dann nur mit seinem leichten, thermoaktiven Anzug.

Die Teraro-Außenhülle des Schiffes hatte keine schweren Schäden davongetragen. Den Göttern Morans sei Dank! Aber das Antennenarray war abgebrochen und vermutlich auf dem halben Kontinent verteilt. Er konnte also weder Senden noch Empfangen oder auch nur die nähere Umgebung nach Energiequellen absuchen.

Im Innern sah es nicht viel besser aus. Die Positronik informierte ihn, dass der Kher für den Unterlichtflug beschädigt war. Die Andruckabsorber waren gleich ganz durchgebrannt. Seine Kenntnisse in theoretischer Hyperphysik würden für eine Reparatur niemals ausreichen, zumindest nicht ohne die passenden Werkzeuge. Dann kam die schlimmste Nachricht. Der Parakon-Kern war destabilisiert. Das Transitionstriebwerk würde also nicht funktionieren. Auch nicht das Hypercom. Er saß hier fest. So fest, wie man nur auf einem unterentwickelten Planeten festsitzen konnte. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als zumindest die nähere Umgebung zu erkunden.

*

Jernow dirigierte sein Rentier vorsichtig durch den Wald aus umgefallenen Bäumen. Die Umgebung war so unwirklich und schaurig, dass er beständig den Gott Ajyy anrief. Hier waren nicht einmal mehr Geister, geschweige denn Tiere. Alles tot. Nur er streifte hier herum auf der Suche nach der Quelle.

Gestern war die zweite Sonne aufgegangen, ein blauweißes Licht am frühen Morgen. Mit ihr war eine Welle der Zerstörung über das kleine Lager der Ewenken hereingebrochen und hatte die Tschums herumgewirbelt wie gefallenes Laub. Die darin sitzenden Leute waren wie Murmeln über den Boden gekullert. Die Herden auf der Taiga hatte es noch schlimmer erwischt. Zu allem Überfluss waren die Jäger unterwegs und auch bis zu Jernows Aufbruch noch nicht zurückgekehrt. Er konnte nur hoffen und zu Ajyy beten, dass es die Männer nicht auf offener Fläche überrascht hatte.

Ober- und Unterwelt waren in Aufruhr. Das Gleichgewicht war angegriffen. Der Ältestenrat hätte es gerne gesehen, wenn der Schamane nach Antworten tanzen würde. Aber so leicht würde es nicht sein. Dafür benötigte Jernow einen heiligen Ort und er wusste nicht, ob er nun auf dem Weg zu einem heiligen oder einem schrecklichen Ort war.

Sein Rentier war nervöser geworden. Es witterte etwas. Zudem würde er bald schon nach einem Lagerplatz Ausschau halten müssen. In einer Stunde ging die Sonne unter und nahm das letzte bisschen Wärme mit.

Dort vorne bewegte sich etwas. Jernow glitt aus dem Sattel und legte dem Tier die Hand auf den Hals. Es würde hier warten, während er sich lautlos anschlich. Schließlich war er lange genug mit den Jägern gezogen, bevor die Geister ihn zu seiner eigentlichen Berufung geführt hatten. Da war ein Mann. Er war groß, viel zu schlank, fast schon dürr. Aber er bewegte sich mit jugendlicher Leichtigkeit. Dennoch waren seine Haare silbern wie bei einem uralten Greis. Der uralte junge Mann drehte sich um. Jernow sah das goldene Leuchten der Augen im abendlichen Licht. Dies war kein Mensch! Der Schamane spürte sein Herz schneller schlagen. Vielleicht war dies ein Toter aus der Unterwelt. Deshalb sein silbernes Haar und der abgemagerte Leib. Das war nicht gut. Alles war im Gleichgewicht, alles befand sich im Austausch. Wenn dieser Tote aus der Unterwelt gekommen war, dann musste jemand anderes für ihn in die Unterwelt gehen. Hoffentlich niemand aus seiner Sippe.

Lautlos folgte er dem Wesen. Es wanderte eine Zeit lang nach Osten, schräg zur Herkunft des Schamanen. Als die Sonne schließlich versank, kletterte das Ding zwischen den umgefallenen Bäumen herum. Kein Schmutz blieb an der weißen Kleidung hängen. Das Wesen sammelte totes Holz ein und stapelte es unfachmännisch auf. Der erfahrene Ewenke wusste, dass es so nicht brennen würde. Dennoch flammte es plötzlich wie von Geisterhand auf. Jernow hatte nicht gesehen, was das Wesen machte, aber es verfügte offensichtlich über Geisterkräfte.

Jernow brachte sich in Position, um die nächsten unheimlichen Taten zu beobachten. Tatsächlich aber zog dieses Wesen ein sehr kleines Paket aus der Tasche, öffnete es und biss herzhaft in den eckig zurechtgeschnittenen Klumpen. Weder die seltsame Verpackung noch diese Speise hatte Jernow je gesehen. Nur, wenn das Wesen aß, konnte es kein Toter aus der Unterwelt sein. Vielleicht war es ein mächtiger Geist aus der Oberwelt? Dann würde vermutlich ein anderer im Austausch dafür in die Oberwelt einkehren. Und das wäre ein Grund zu Freude!

Die letzten Zweifel besiegend, trat Jernow aus seinem Versteck heraus. Das Wesen fuhr auf. Seine goldenen Augen starrten ihn an, fuhren über die schamanistischen Muster an Kragen und Ärmeln, die das Eindringen von Geistern verhinderten. Der Geist aus der Oberwelt trug hingegen nur reines Weiß. Offensichtlich benötigte er keine simplen Hilfsmittel wie die Muster. „Ich bin Jernow“, brachte der Schamane schließlich hervor. „Ich grüße dich, Geist aus der Orto-Dojdu.“

Der andere schaute ihn mit ausdruckslosem Gesicht an. Die Augen standen schräg und waren unheimlich anzusehen. Das ganze Gesicht war seltsam schmal. Der Geist sagte etwas Unverständliches in einer fremden Sprache. Dann deutete er neben das Feuer und setzte sich wieder.

Jernow folgte seinem Beispiel. Zu seinem Erstaunen brach sein Gastgeber etwas von dem Riegel ab und reichte es ihm. Es schmeckte gut. Der Geist teilte also sein Essen und hielt damit den heiligen Brauch des Nimat ein. Jernow beschloss, dass dies einfach ein guter Geist aus der Oberwelt sein musste. Wer teilte, war es wert, in den Tschums der Sippe zu schlafen, Teil der Gemeinschaft zu sein. Jernow aß den halben Riegel auf und schmeckte fremde Gewürze auf seiner Zunge. Dann holte der Silberhaarige einen schwarzen Kasten hervor, kaum größer als eine ausgestreckte Hand, und stellte ihn neben sich. Wieder sprach der Geist Unverständliches und forderte ihn gestenreich auf, selbst etwas zu sagen. So ging es hin und her, während das Feuer weiter herunterbrannte. Der Ewenke sah keinen Sinn in dem Tun, wollte den Geist aber nicht brüskieren. Also sprach er. Und er sprach lange.

*

Als Jernow am nächsten Morgen aufwachte, war er immer noch restlos satt. Dieser Riegel hatte es wirklich in sich gehabt. Das Wetter hatte die Nacht über noch gehalten, doch der erfahrene Ewenke konnte an den ziehenden Wolkenbergen erkennen, dass es durcheinander geraten war. Vermutlich würde es in den nächsten Tagen noch einen klärenden Sturm geben.

Der Geist war bereits wach und bewegte sich geschmeidig durch das Lager. Fast hätte man denken können, dass er nicht die Nacht auf einem kalten und harten Boden verbracht hatte. Doch andererseits – was sollte das schon einem Geist aus der Oberwelt antun können? Der Schamane hatte seine Entscheidung getroffen. Der Geist musste mit ihm kommen. Er sagte es ihm, hoffte allerdings kaum auf Verständnis.

Dann sprach der Fremde ein paar Worte und schließlich hörte man eine Stimme aus dem kleinen schwarzen Kasten kommen. „Wohin?“

Jernow war erschüttert. Dann verstand er endlich. Der Geist würde seine Stimme nicht mit der Sprache der Sterblichen beschmutzen. Er war ein Gesandter Ajyys und ließ die niederen Geister aus dem Kasten für sich sprechen.

„Zu meiner Sippe“, antwortete er und machte sich auf den Weg.

Sein Gastgeber zögerte keinen Moment, sondern folgte ihm mit der Geschmeidigkeit eines jungen, kräftigen Mannes.

Jernow war gespannt darauf, wie der Stamm wohl reagieren würde. Was würde Häuptling Yerbo sagen, wenn er diesen Fremden mit in das Lager brachte?

Und wer wusste schon, wo Yerbo und die Jäger von der Zerstörung erfasst worden waren und ob sie überhaupt zurückkehrten?

*

Bis zum Dorf hatte es einen Tag gedauert und Jernow war die Zeit mit Lorn nicht lang geworden. Lorn Jaci, das war der Name des Geistes, so hatte er es selbst gesagt. Der Kasten lernte die Sprache schnell und konnte schon nach wenigen Stunden vollständige Sätze bilden. Lorn kam wirklich aus der Oberwelt, die wie ein unendliches Spinnennetz zwischen den Sternen hing. Auf die Frage nach seiner Herkunft hatte der Fremde nach oben gezeigt und damit Jernows Hoffnungen bestätigt.

Gegen Mittag hatte der Geist ihm noch einmal von der seltsamen Speise gegeben, obwohl Jernow nach dem Bissen gestern Abend immer noch satt war.

Am Nachmittag betraten sie das große Lager der Sippe. Beutel und Behälter standen überall herum, Felle waren zum Trocknen aufgehängt und Feuerholz zu unordentlichen Haufen aufgeschichtet. Die jungen Männer und Frauen hatten offensichtlich alles gerettet, was noch zu retten war. Vier große Tschums standen schief und hatten gerissene Zeltwände. Einst waren es sechs gewesen. Jernow bemerkte den neugierigen aber irgendwie auch schuldbewussten Blick des Fremden an seiner Seite. Jenseits der Tschums sah er einen matschigen dunklen Fleck im endlosen Ocker der Taiga. Dort waren ohne Zweifel die Tiere geschlachtet worden, die zu stark verletzt waren. Zu essen hatten sie jetzt genug, aber es musste auch für den kommenden Winter reichen und im nächsten Jahr würde man weniger junge Kälber haben.

Sie wurden beobachtet. Die jungen Männer kamen näher und die Frauen tuschelten hinter vorgehaltenen Händen.

„Schamane, wer ist das?“, sprach ihn die junge Frau an. Tura war immer nach Kräften bemüht, ihren Vater, den Häuptling, würdig zu vertreten.

„Ich war dort“, sagte Jernow mit lauter Stimme. „Dort wo das weißblaue Licht erstrahlte. Zwei Tage war ich auf Wanderschaft und immer weniger Geister fand ich. Die Tiere waren fort, die Flüsse leer, die Bäume geknickt. Sie hatten sich verneigt vor diesem hier.“ Er deutete mit freundlicher Geste auf den Fremden, der ihm kein Fremder mehr war. „Dies ist Lorn Jaci, ein höherer Geist aus der Oberwelt, der zu uns herabgestiegen ist.“