Rebellen auf Kreta - Egbert Scheunemann - E-Book

Rebellen auf Kreta E-Book

Egbert Scheunemann

4,6

Beschreibung

Der längste politische Freiheitskampf aller Zeiten fand auf Kreta statt. Die Kreter kämpften gegen die Mykener und Dorer, gegen die Araber und Venezianer, gegen die Türken und Ägypter und im Zweiten Weltkrieg gegen die deutschen faschistischen Besatzer - und kretische Rebellen kämpften an vorderster Front gegen die Diktatur der griechischen Obristen 1967-1974. Unbändiger Freiheitswille ist vielen Kretern ebenso eingeschrieben wie ein gesunder Hang zu solidem Alltagschaos. Wenn Sie wissen wollen, warum ausgerechnet furchtlose kretische Freiheitskämpfer dem Diminutiv, also der Sprachverniedlichung frönen in einem Ausmaß, dass schwäbische Häuslebauer vor Neid erblassen, was kretische wandernde Mönche mit der Relativitätstheorie zu tun haben, was es mit der Thermodynamik des Frühstückskaffees auf sich hat oder warum sich in einem kleinen kretischen Dorf ein Club skeptischer Rationalisten gegen die düsteren Mächte der Esoterik und des Neoliberalismus gegründet hat - dann sollten Sie dieses Buch endlich kaufen und lesen!

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Ich widme dieses Buch meiner Mutter Stephanie (1918-1979) und meinem Vater Hermann (1904-1966), weil sie außer Arbeit und sieben Kindern nicht viel hatten in ihrem viel zu kurzen Leben.

Und ich widme dieses Buch meiner Tochter Hannah, die gleich nach ihrer Geburt zurück wollte in den Himmel.

Inhalt

Vorwort zur fünften Auflage 2022

Vorwort zur vierten Auflage 2017

Vorwort zur dritten Auflage 2014

Vorwort zur zweiten Auflage 2008

1. Singende alte Kreter über Plakiás

2. Die Insel in Kürze, der Plan des Buches

3. Wie ich Peter kennenlernte in Damnóni, gemeinsame Entdeckung der Insel

4. Wie ich Griechisch lernte – Peter, der Mathematiker

5. Wie ich Hanns kennenlernte

6. Politik, deutscher Faschismus auf Kreta – und Markos’ Bein

7. Geschichte Kretas von Theocháris Detorákis – und ein paar weitere Literaturtipps

8. Dienst auf venezianischen Galeeren, Erdbeben, Pestepidemien und Piratenüberfälle

9. Die minoische Kultur

10. Eigenheiten der griechischen Sprache – oder neulich in der Fábrika

11. Von einer Diskussion in Loutró zu einem sprachphilosophischen Buch

12. Psychídia – oder von der Astrologie und anderem Irrsinn und dem Club skeptischer Rationalisten

13. Rebellen auf Lasíthi und aus Sfakiá – Präludium: Von den Mykenern zu den Byzantinern

14. Mit Stélios auf einer kretischen Hochzeit

15. Rebellen auf Lasíthi und aus Sfakiá – Mittensatz: 465 Jahre Kampf gegen die Herrschaft Venedigs

16. Rebellische Kreter – rebellische Gedanken. Oder was wandernde Mönche und leckerer Joghurt mit der Relativitätstheorie zu tun haben

17. Rebellen auf Lasíthi und aus Sfakiá – Finale I: Jahre Kampf gegen die Herrschaft der Türken

18. Kurzes Intermezzo: Die Herrschaft der Ägypter auf Kreta von 1830-1840

19. Rebellen auf Lasíthi und aus Sfakiá – Finale II: Jahre Kampf gegen die Herrschaft der Türken

20. Sprachrebellen – oder was Berlin Neukölln mit der griechischen Sprache zu tun hat

21. Níkos – damals im Ruhrpott

22. Alltagswissenschaft in Pitsídia

23. Sabía

24. Zwischen Rebellion und Tradition, Freiheitsdrang und Frömmigkeit, kretischer Autonomie und panhellenischem Patriotismus

25. Flucht durch die Schlucht von Samariá

26. Zwei Diktaturen

27. Achilles – noch so ein Rebell

28. Kulinarisches

29. Jene legendären Nächte bei Markos

30. No problem, macht nichts, egal, kriegen wir schon hin, nur keine Angst – oder Rebellion zwischen Chaos und Diminutiv

31. nt-vorletzter Wunsch

Nachträge 2014

32. Als der Fluch des Neoliberalismus über Griechenland und Kreta kam

33. Und was es sonst zu berichten gibt seit 2008

Nachträge 2022

34. Von Krisen wie Sand am Strand – und neuen Geschichten aus der Rubrik ‚Freundschaft, wildes Denken und wundersame Erlebnisse‘ von der Insel der Götter und Rebellen

Anhang I

: Geschichte Kretas ganz kurz

Anhang II

: Die Ausbeutung Griechenlands …

Vorwort zur fünften Auflage 2022

Ich habe mit mir gerungen. Wirklich. Konkret mit folgenden Fragen: Sollte ich meine geschätzten Leserinnen und Leser mit immer neuen Vorworten und aktualisierenden Nachträgen – in Form von Fußnoten, Zusätzen zu vorhandenen Kapiteln oder neuen Kapiteln am Ende des Buches – malträtieren? Oder eben nicht, indem ich etwa ein Vorwort zu allen bisherigen Auflagen schreibe, das alle Informationen aus den vorherigen vier Vorworten zusammenfasst? Ich entschied mich fürs Malträtieren. Aber nicht nur, weil ich ein fauler Sack bin. Denn es hat natürlich auch seinen Reiz, organisches Wachstum quasi Zwiebelschale für Zwiebelschale zu verfolgen. Und man sagt in historischen Kontexten hier und da nicht umsonst, dass man ein neues Kapitel aufschlage, das zu den gegebenen und – größtenteils – belassenen Kapiteln hinzukomme. Oder man versieht Vergangenes eben mit Fußnoten, weil es aus Sicht neuer Informationen post festum etwas anders erscheint oder zu interpretieren ist. Denn hinterher ist man, wir erinnern uns, immer schlauer. Ich verblieb also bei der bisherigen Vorgehensweise – zumal die folgenden Vorworte doch relativ kurz und schnell weggelesen sind und es in Summe dann doch nicht so viele aktualisierende Fußnoten, Kapitelzusätze oder neue Kapitel geworden sind.

Besonders gerungen habe ich auch mit Kapitel 32„Als der Fluch des Neoliberalismus über Griechenland und Kreta kam“, jenem Kapitel, das ich 2014 auf dem (werdenden) Höhepunkt der sogenannten griechischen Staatsschuldenkrise schrieb. Um erläutern zu können, warum die von der Troika aus Internationalem Währungsfonds (IWF), Europäischer Zentralbank (EZB) und Europäischer Union (EU) und in Letzterer vor allem von Deutschland betriebene Politik gegenüber Griechenland als volkswirtschaftlich verheerend einzuschätzen war, musste ich in Kapitel 32 etwas ausführlicher aus dem krisentheoretischen Nähkästchen der VWL plaudern, was ökonomisch wenig Bewanderten womöglich hier und da etwas viel abverlangt hat. Damals war das Thema brandaktuell, und die von der Troika Griechenland und damit Kreta aufgeherrschte Wirtschaftspolitik war für das Land eine einzige Katastrophe – weshalb mir eine sehr ausführliche Beschäftigung mit der Thematik völlig gerechtfertigt erschien. Aber die griechische Staatsschuldenkrise ist inzwischen – so halbwegs zumindest – überwunden und damit Zeitgeschichte. Und so kam bei mir der Gedanke auf, Kapitel 32 wesentlich zu kürzen oder ganz zu streichen und nur auf die sehr knappe Zusammenfassung der Thematik in Anhang II zu verweisen.

Ich habe mich jedoch entschieden, Kapitel 32 nicht zu löschen und quasi als zeithistorisches Dokument zu belassen – möchte hier aber darauf hinweisen, dass man es durchaus überspringen kann und es reicht, seine Quintessenz in „Anhang II: Die Ausbeutung Griechenlands …“ zu lesen. Die ist kaum zwei Seiten lang. Oder Sie, liebe Leserinnen und Leser, machen es so, dass Sie in Kapitel 32 die ersten paar Seiten bis zum dritten Unterkapitel „Crashkurs Krisentheorie“ lesen – und dann entscheiden, ob Sie weiterlesen oder nicht. Wie’s beliebt!

Am Ende dieser fünften Auflage (aber noch vor den beiden Anhängen) finden Sie unter der generellen Überschrift „Nachträge 2022“ schließlich ein neues Kapitel 34. Seit der letzten Auflage meines Buches 2017 ist in Griechenland und auf Kreta natürlich schon wieder eine Menge passiert. Noch auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise begann die sogenannte Flüchtlingskrise, von der Griechenland, gemessen an der Bevölkerungszahl, so sehr betroffen war wie kein anderes EU-Land. Und dann kam noch die Coronakrise – für ein Land wie Griechenland, das sehr stark vom Tourismus abhängt, eine weit größere Katastrophe als etwa für Deutschland. Und es kam schließlich der mörderische Krieg Putins gegen die Ukraine mit seinen neuen flüchtlingspolitischen, aber auch wirtschafts- und sozialpolitischen Folgen – von den jüngsten militärischen Drohungen des türkischen Autokraten Erdogan gegenüber Griechenland gar nicht zu reden.

Aber keine Angst! Das neue Kapitel 34 ist keine Neuauflage von Kapitel 32, keine primär wirtschafts- oder politikwissenschaftliche Abhandlung. Zwar gehe ich auch kurz auf die genannten Themen aus der großen Politik ein. Weit mehr geht es jedoch um neue kleine Geschichten aus der Rubrik ‚Freundschaft, wildes Denken und wundersame Erlebnisse‘. So viel sei schon hier verraten: Mein Kreta-Buch hat sich für nicht wenige Leserinnen und Leser als ein Reiseführer der besonderen Art entwickelt – man sucht jene Orte auf, an denen geschah, was ich unter der Rubrik ‚Freundschaft, wildes Denken und wundersame Erlebnisse‘ selbst erlebt und beschrieben habe. Und meine Leserinnen und Leser gelesen haben – oder Sie jetzt lesen werden. Viel Spaß!

Hamburg, im Juli 2022 Egbert Scheunemann

Vorwort zur vierten Auflage 2017

Anlass dieser vierten Auflage sind vor allem einige notwendige formale und inhaltliche Korrekturen sowie hier und da ein paar Aktualisierungen. Ich danke Mínoas Andriótis (Μίνωας Ανδριώτης) ganz herzlich dafür, dass er mich auf einige Fehler aufmerksam gemacht hat, die sich speziell in griechischen Schreibweisen fanden. Inhaltliche Hinweise, Korrekturen oder Aktualisierungen habe ich größtenteils in Fußnoten ausgelagert, die mit dem Passus „Nachtrag 2017: …“ beginnen. Ansonsten ist die vierte Auflage fast vollständig textgleich mit der dritten Auflage aus dem Jahr 2014.

In aktualisierender Ergänzung zu Kapitel 32 „Als der Fluch des Neoliberalismus über Griechenland und Kreta kam“ sei hier auch auf eine Publikation von mir hingewiesen, die im Dezember 2016 erschienen ist:

Griechenlands Staatsbetriebe im Zwangsverkauf. Vom aussichtslosen Versuch, die griechischen Staatsschulden durch Privatisierungserlöse zu senken. Studie im Auftrag der Rosa Luxemburg Stiftung, Verbindungsbüro Griechenland, Athen, 62 Seiten.1

Zu diesem Kapitel 32 – und manch anderem mehr – lesen Sie aber bitte lieber das gleich folgende Vorwort zur dritten Auflage 2014. An dieser Stelle möchte ich Ihnen nur noch wünschen: Viel Spaß bei der weiteren Lektüre dieses Buches!

Hamburg, im September 2017 Egbert Scheunemann

1 Die Studie kann bei der Rosa Luxemburg Stiftung kostenlos bestellt werden. Ansonsten steht sie hier zum Download bereit:

www.egbert-scheunemann.de/Griechenland-Privatisierung-RLS-Scheunemann-korrigiert.pdf

Zusammengefasst auf nur einer Seite (deutsch/griechisch):

www.egbert-scheunemann.de/Ausbeutung-Griechenlands-Scheunemann-D-GR-Version.pdf

Diese Zusammenfassung findet sich (nur in der deutschen Version) ansonsten auch hier in Anhang II (vgl. S. 301 f.).

Vorwort zur dritten Auflage 2014

Auf dem Rückdeckel dieses Buches ist schon seit seiner ersten Auflage 2007 – unter anderem – von den „düsteren Mächten ... des Neoliberalismus“ die Rede. Ich hätte mir nicht albträumen lassen, dass der primäre – also zum Glück nicht einzige – Anlass für die Publikation dieser dritten, wesentlich erweiterten Auflage meines Buches „Rebellen auf Kreta“ der neoliberale Fluch sein würde, der nach 2008 in Form einer volkswirtschaftlich geisteskranken Kaputtsparpolitik über Griechenland und Kreta gekommen ist – aufgeherrscht von Internationalem Währungsfonds (IWF), Europäischer Zentralbank (EZB), Europäischer Union (EU) und in dieser Troika eingepeitscht vor allem von Großdeutschland. Er hat zu ökonomischen und sozialen Verheerungen geführt, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg und dem nachfolgenden griechischen Bürgerkrieg ihresgleichen suchen.

In den „Nachträgen 2014“ ab Seite 218 finden Sie, liebe Leserinnen und Leser, also zunächst das neue Kapitel 32 „Als der Fluch des Neoliberalismus über Griechenland und Kreta kam“, in dem ich allgemein verständlich und in klaren und vor allem deutlichen Worten darzustellen und zu analysieren versuche, wie, warum und mit welchen Folgen der Fluch des Neoliberalismus Griechenland und Kreta heimgesucht hat. Meine Worte werden, dies schon vorab, derart deutlich sein, dass kein Auge trocken bleiben wird und – es spricht der Humanist, Aufklärer und politische Ökonom – meine tiefe Verachtung gegenüber der ebenso menschenfeindlichen wie volkswirtschaftlich strohdummen neoliberalen Wirtschaftstheorie und -politik und ihren Exekutoren, also dem politischen Personal des Kapitals, unmissverständlich zum Ausdruck kommt. Versprochen.

Zum Glück finden sich in den „Nachträgen 2014“ jedoch nicht nur politikökonomische Abhandlungen. Im neuen Kapitel 34 „Und was es sonst zu berichten gibt seit 2008“ mache ich genau das, was der Titel verspricht. Denn es gibt auch wieder Schönes, Amüsantes und Verrücktes zu berichten von der Insel der Rebellen und Chaoten, von der ich schon so viel Schönes, Amüsantes und Verrücktes berichten durfte.

Ansonsten sind die Kapitel 1 bis 31 nahezu unberührt. Ich habe nur offenbare formale Fehler korrigiert, die sich in der zweiten Auflage noch fanden. Dazu gehörte auch die Angleichung der Schreibweisen an die Regeln der deutschen Rechtschreibreform von 2006, die ich bislang etwas großzügig interpretiert hatte, und die Orientierung an den Empfehlungen der Duden-Redaktion in Zweifelsfällen und bei möglichen Mehrfachschreibweisen.

Inhaltliche Ergänzungen und Aktualisierungen wurden ausnahmslos in Fußnoten ausgelagert, die jeweils mit dem Passus „Nachtrag 2014: ...“ beginnen. So können Leserinnen und Leser, die die erste oder zweite Auflage meines Buches schon kennen, einfach und schnell auffinden, was sich im Haupttext inhaltlich verändert hat.

Aber womöglich haben Sie nach all den Jahren auch mal wieder Lust, das gesamte Opus zu lesen. Ihnen und allen ‚Neulingen‘ wünsche ich dabei auf jeden Fall viel Spaß! Und hier und da womöglich sogar einen kleinen Erkenntnisgewinn.

Hamburg, im Mai 2014 Egbert Scheunemann

Vorwort zur zweiten Auflage 2008

Fehler sind dazu da, korrigiert zu werden. Leider fanden sich in der ersten Auflage dieses Buches, die Ende 2007 erschienen ist, einige formale und auch wenige inhaltliche Fehler. Diese zu korrigieren, ist der eigentliche Anlass dieser nach nur einem halben Jahr folgenden zweiten Auflage. Natürlich packe ich auch die Gelegenheit beim Schopfe, Neuigkeiten zu Personen und Ereignissen, die schon in der ersten Auflage angesprochen worden sind, nachzutragen und hier und da das eine oder andere neue Thema anzusprechen. Auch stilistisch habe ich manches überarbeitet. Aber im Großen und Ganzen hat sich gegenüber der ersten Auflage nicht viel verändert.

Ich möchte auch die Gelegenheit nutzen, um mich bei zwei Leserinnen und einem Leser (und guten Freund) dafür zu bedanken, dass sie mir die Fehler, die sie in meinem Buch gefunden haben, freundlicherweise gleich zugeschickt haben: Renate Gölzenleuchter, Anna Boskamp und Michael Böttinger. Besonders Anna Boskamp (sie lebt seit fast zwanzig Jahren auf Kreta, spricht nahezu perfekt Griechisch und ist politisch stark interessiert und engagiert) hat mich auf einige sprachliche und inhaltliche Ungereimtheiten hingewiesen, die sich in die erste Auflage eingeschlichen hatten. Ich werde an den entsprechend korrigierten Stellen jeweils auf die Hinweise von Anna Boskamp aufmerksam machen.

Bedanken möchte ich mich auch bei den viele Leserinnen und Lesern, die mir spontan geschrieben haben, um mir ihre Leseeindrücke zu übermitteln (eine Auswahl von Zuschriften findet sich unter der Adresse www.egbert-scheunemann.de/Rebellen-auf-Kreta-Rezensionen.htm). Natürlich hat mich besonders gefreut, dass die Lektüre meines Buches viele Leserinnen und Leser, um aus einer Mail zu zitieren, „köstlich amüsiert“ hat. Freilich las ich in einem Internet-Forum über Kreta auch, dass mein gelegentlich etwas schräger Humor manchen fast in den Wahnsinn getrieben hat. Ich kann Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, nur versichern: Das war Absicht.

Hamburg, im August 2008 Egbert Scheunemann

1. Singende alte Kreter über Plakiás

Ich saß mit Freunden und während des Urlaubs Zugelaufenen an großer Tafel. Vor etwa zwanzig Jahren.2 Vielleicht waren wir zwölf. Man erzählte viel, aß viel, trank viel. Hoch über Plakiás, einem kleinen Ort an der Südküste Kretas. In einem noch kleineren Bergdorf namens Mýrtios. Bei Wolfgang, dem deutschen Koch einer griechischen Taverne, der die traditionelle kretische Küche pflegte, die über Souflaki und Greek Salad weit hinausgeht. Ja, ach, Imperfekt pflegte – er soll inzwischen entschwunden sein, wie ich neulich hörte.

Auf jeden Fall amüsierten wir uns prächtig. Der Blick von der Terrasse, steil oben am Hang, über die Bucht von Plakiás war und ist fantastisch. Vor allem abends, wenn die Sonne untergeht hinter den hohen Bergen im Nordwesten. Wenn Wolken glutrot, orange, gelb, türkis vom fast ewigen βοριάς (sprich: Woriáss), dem oft stürmischen Nordwind, auch μελτέμι (Meltémi) genannt, über die mächtigen, bis zu 2.500 Meter hohen Felsmassive gewälzt und in den Südhimmel zerfetzt werden. Wenn die Sonne als phänomenaler Feuerball hinter den λευκά όρη (Lefká Óri), den Weißen Bergen versinkt und gegenüber im Osten der Mond als Scheibe oder Sichel aufsteigt: η σελήνη (i Selíni), die Silberne.

Wir sattgefressen, angesäuselt, freudenerstaunt über die göttliche Szenerie. Zu angemessener Zeit kommt die freundliche Wirtin und stellt auf jeden Tisch eine Flasche mit den Worten „Κερνάω εγώ!“ (Kernáo egó): Ich lade ein, geht auf meine Kappe. Ouzo, Anisschnaps, wie sich herausstellt. Oder war es Rakí? Egal. Auf jeden Fall stellt sie auch eine Flasche auf den Tisch hinten in der Ecke, an dem schon seit geraumer Zeit drei ältere Griechen sitzen und tagen. Irgendwann fängt einer, grauer Lockenkopf, grauer Bart, sonnenbraun gegerbtes Gesicht, an zu singen, ganz leise. Als Nordeuropäer, zum ersten oder zweiten Mal auf Kreta (auf Schalke, nicht in Schalke), meint man zunächst, man sei im Orient. Musik in Moll. Nur in Moll. Harmonisches zudem, also mit kleiner Terz und großer Septime, eben orientalisch. Und pechschwarz, melancholisch bis depressiv. Lebenstrauer. Daseinsschmerz. Auch Weltenglück zum Heulen schön. Tränen. Kummer. Euphorie. Alle anwesenden Touristen, alles Volk verstummt, trotz trunknen, sonst schwatzmauligen Schädels.

Andacht.

Irgendwann winkt irgendwer, ein Kreter, zum Zahlen. Auch das können die Kreter. Hier und da sagt man ihnen Geschäftstüchtigkeit nach. Aber wes Volk ermangelte dieser? Und warum ist sie dann noch immer so arm, diese Insel? Materiell zumindest. Nur materiell.

2Nachtrag 2014: Stand 2007.

2. Die Insel in Kürze, der Plan des Buches

Es war 1986, als ich das erste Mal Kreta besuchte. Und seitdem immer wieder. Natürlich zunächst wegen der Wärme und Sonnengarantie bis weit in den Herbst hinein, wegen des wunderbaren Meeres, der schönen, rauen, kargen Landschaften und, armer Student, der ich war, und freier, also armer Politologe und Philosoph, der ich bin, wegen der noch immer recht moderaten Preise für Speis und Trank und Unterkunft. Wegen der vielen Freunde, die ich über die Jahre gewann, natürlich auch. Und ganz besonders auch wegen der griechischen Sprache und der politischen Geschichte dieses ganz unglaublichen, kleinen, rebellischen Volkes. Ich kenne kein anderes Volk, das auf über 4.500 Jahre Geschichte zurückblicken kann – und gerade mal, von der minoischen Zeit gleich zu Beginn abgesehen, auf knappe hundert Jahre in Freiheit. Was müssen so viele Jahrtausende der Unterdrückung, der Eroberung durch immer neue Kolonialmächte, der Knechtschaft, der Sklaverei, des Kampfes, der fast permanenten Erhebung und Revolution in der Seele eines Volkes, falls es das geben sollte, zurückgelassen haben? In der Architektur, in der Musik, in der Literatur, in der Politik – und auf der Getränke- und Speisekarte? Kultur und Seelen in Moll eben.

Die Insel, geografisch, topografisch, botanisch und archäologisch, umspült von der Ägäis im Norden und dem Libyschen Meer im Süden, ist einfach grandios. Etwa 260 Kilometer lang, von Westen nach Osten hingestreckt, im Schnitt dreißig bis vierzig Kilometer breit. Drei hohe Bergmassive, westlich, zentral und östlich gelegen, auf denen oft noch im Mai Schnee liegt, während man an den Küsten schon in zwanzig Grad warmes Wasser, fast überall kristallklar, hechten kann. Der Psilorítis, der höchste Berg Kretas mit 2.456 Metern, thront majestätisch im zentralen Idagebirge. Darunter nach Süden in Westostausrichtung erstreckt sich weithin Kretas Oliven-, Obst- und Gemüsegarten, die Messará-Ebene. Es gibt Gebiete, die Mondlandschaften gleichen, besonders nach der langen sommerlichen Trockenperiode, vor allem im Nordosten, und Landschaften, beispielsweise in der und um die Samariáschlucht im Südwesten, die man im Schwarzwald erwarten würde und nicht am fast südlichsten Punkt Europas.

Es wachsen Bananen, Feigen und vor allem Weinstöcke und Olivenbäume zuhauf. Angepflockte Esel blöken markerschütternd durchs Tal. Heerscharen von halbwild lebenden Schafen und Ziegen ziehen durch die Landschaften. Verschiedene Raubvögel kreisen in der Luft. Meeresschildkröten legen an Stränden der Südküste ihre Eier ab. Eidechsen huschen über Trampelpfade. Geckos kleben hier und da an Wänden oder Decken. Gottesanbeterinnen sitzen regungslos auf Felsen oder Büschen – oder Bettkanten. Skorpione sogar soll es geben. Zum Glück habe ich noch keinen getroffen oder gar morgens im Schuh gehabt. Ich gucke aber noch immer nach. Man kann ja nie wissen. Kakerlaken gibt es dafür umso mehr. Prächtige, mächtige Exemplare. Und Katzen und Hunde in jedem Dorf an jeder Ecke. Hunde, die von den Kretern sogar artgerecht gehalten werden. Nämlich wie Hunde. Im Winter, bei Futtermangel, wenn Touristen und damit Essensreste und andere Abfälle ausbleiben, scheint man sie irgendwie zu entsorgen. Man hat zumindest den Eindruck, wenn man bestimmte Orte regelmäßig besucht. Jedes Jahr sieht man nämlich neue, in der Regel sehr junge Kläffer. Der Kreter ist oft sehr praktisch und wenig sentimental, wenn ihm die Natur störrisch wird.

Aber der Reihe nach. Wie ich über die Jahre Kreta, die Insel, seine Landschaften, Städte und Dörfer entdeckte und seine Menschen kennenlernte, wie ich zu seiner Sprache und Geschichte kam, wie ich dortselbst zwei meiner besten Freunde kennenlernte, Peter, einen Mathematiker, und Hanns, einen Arzt, zwei der hellsten Köpfe, die ich überhaupt kenne; wie aus langen, langen Diskussionen mit ihnen über Gott und die Welt und das Universum und den ganzen Rest ein Buch mit dem Titel Von der Natur des Denkens und der Sprache. Fragmente zur Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie und physikalisch-biologischen Wirklichkeit entstand; wie ich dazu kam, ein 550 Seiten starkes Standardwerk über die Geschichte Kretas zu übersetzen, nur um kurz vor Schluss stirnschlagend und innerlich schmunzelnd zu erfahren, dass andere es inzwischen (in leider recht holpriges Deutsch) übersetzt und publiziert hatten – all dies und noch viel mehr möchte ich in den nächsten Kapiteln etwas detaillierter ausbreiten. Fragmentarisch hier und da, ausschweifender dort und sonst wo. Nicht immer alles ganz ernst gemeint und mit einem Augenzwinkern oft. Aber natürlich, räusper, mein Berufsethos ruft mich gerade zur Räson, streng wissenschaftlich, wenn es um die historische und auch sonstige Wahrheit geht. Und vor allem aus Liebe zu dieser wunderbaren Insel und ihren tapferen Menschen.

3. Wie ich Peter kennenlernte in Damnóni, gemeinsame Entdeckung der Insel

Ich kenne Peter einen Tag länger als er mich. Das geht. Wenn der eine, Peter, am Abend des Kennenlernens, der einen und vor allem anderen Flasche Rezina sei’s geschuldet, geistig etwas derangiert ist, und der andere, Egbert, gerade nicht. Peter war in köstlicher Gackerstimmung und in Begleitung dreier Medizinstudenten aus Münster: Max, Ullo und Markus. Auch die nur am Wiehern. Bei mir war noch Platz am Tisch. Und man verstand sich sofort. Wurde ein sehr netter Abend, eine lange Nacht – ach was: ein rauschendes Gelage. Soll vorkommen, auf Kreta.

Am nächsten Tage des späteren Morgens nun, man könnte auch sagen: gegen Mittag zum Frühstück sah ich Peter wieder sitzen vor der gleichen Taverne wie am Abend davor. Weil er des Nachts, wie ich mich eindeutig erinnere, vor mir nach Hause torkelte, war nicht anzunehmen, dass er da noch immer saß. Er sah dennoch etwas kümmerlich aus und ganz blass um die Nasenspitze. Ich klopfte ihm, von hinten kommend, auf die Schulter und begrüßte ihn mit Namen: „Hallo Peter!“. Er begrüßte mich, überaus freundlich, wie er immer ist, ebenso. Ohne Namen. Sein freundlicher, aber entgeisterter Blick verriet mir sofort, dass er mich gerade das erste Mal sah. Bewusst.

Das trug sich zu im Jahre 1986 in Damnóni an Kretas Südküste, damals ein wunderschöner Strand östlich von Plakiás mit zwei kleinen Tavernen direkt zum Meer hin. Der Strand ist noch immer wunderschön und die beiden Tavernen gibt es auch noch immer. Nur musste ich, es war wohl 1989, mit Tränen in den Augen selbst zur Kenntnis nehmen, was mir Freunde kurz davor in Hamburg schon berichtet hatten: Links, vom Meer aus betrachtet, in die Bucht hatte in Windeseile eine Art schweizerischer Club Mediterrane eine Ferienhausanlage für teures, bürgerliches Publikum gebaut. Und das sitzt seitdem in den beiden, inzwischen stark vergrößerten Tavernen. Also unsereins sitzt da nicht mehr oder nur noch ganz selten und ganz kurz. Um mal zum Schwimmen zu gehen in die noch schönere – von den Einheimischen wegen der Nacktbader sogenannten – Schweinebucht, dreihundert Meter und einen größeren Felsen weiter in Richtung Osten. Und um danach in Damnóni in der unteren Taverne bei Stávros (ο σταυρός: das Kreuz) auf ein Bier einzukehren und den Verlust der vergangenen alten Zeiten zu bejammern.

Na ja, bejammern. Als ich Stávros in meinem Selbstverständnis als ‚Alternativtourist’ mal fragte, wie er denn zu dem ganzen Massentourismus stehe, ob er keine Angst habe, dass ihm seine ganze Kultur und traditionelle Lebensart abhandenkomme, antwortete er lapidar, dass er ohne die Touristen, ob alternativ oder nicht, schlicht wieder zurückmüsse auf den Steinacker, von dem er komme. Die Diskussion war mit dieser Antwort merkwürdig schnell beendet.

Auf jeden Fall lernte ich in jenen alten Zeiten ohne teures Publikum Peter kennen. Man selbst und alle Strandschläfer, es gab kaum anderes Volk, war studentisch und also armes Publikum, eingeflogen via billigem Nachtflug aus Deutschland und mit Rucksack und Schlafsack unterwegs, manche sogar per Anhalter bis Athen und dann mit der Fähre bis Heráklion. Fast nur Peter war kein Strandschläfer. Er schlief schon immer im Häuschen von Kalliópi, einer netten alten Vermieterin, oben am Hang. Weil da seine Eltern, mit denen er seit seiner frühesten Kindheit nach Kreta fährt, schon immer wohnten zu günstigem Preis. Als Ausgangspunkt für Bergwanderungen etwa.

Kalliópi (Καλλιόπη) war übrigens jene der neun Musen der griechischen Mythologie, die für epische Dichtung, Rhetorik, Philosophie und Wissenschaft zuständig war. Es scheint manches davon abgefärbt zu haben auf Peter, könnte man fast meinen. Aber das nur am Rande.

Auf jeden Fall durchstreifte ich mit Peter in den nächsten Jahren die Insel. Er kannte schon viele Orte, Chaniá im Nordwesten, Soúja im Südwesten oder Paläóchora (auch Paleóchora oder Palaióchora) noch westlicher – παλιά χώρα, altes Land, alte Gegend. Damals fuhren auf den Straßen und Schotterpisten Kretas noch rundliche alte Busse, wie man sie in Deutschland in den 1950er-Jahren baute und sah. Das Gepäck der Reisenden wurde vom Busschaffner, in der Regel unter Mithilfe von mitreisenden Passagieren (nicht selten war ich der Depp), auf das Dach verfrachtet und verschnürt. Ein älterer Busfahrer bewohnte, muss man fast sagen, das Steuer. Vor, über, hinter und links von ihm, wo immer etwas angeheftet oder festgeklebt werden konnte, sah man ein Gewimmel und Gewirr von Fotos des Vaters und Großvaters, der Kinder und Enkel, der Tante aus Athen und des Onkels vorm Werkstor in Wolfsburg, kleiner Ikonen von Heiligen und vergilbter Bilder berühmter Freiheitskämpfer. Zudem Plastikblumensträußchen, kretische Stirnbänder und Kombolói, kleine Perlenkettchen zum Spielen und für den Zeitvertreib.

Jede Fahrt war ein Abenteuer. Schmale, kühn in den Fels geschlagene Schotterpisten hinauf und wieder hinunter, Zentimeter an gähnenden Abgründen vorbei. Feuchte Hände und Angstausbrüche, wenn sich Einheimische vor bestimmten Kurven bekreuzigten. Man wusste damals noch nicht, dass sie das deswegen taten, weil der Bus gleich an einer verborgenen kleinen Kapelle oder einem Heiligenschrein vorbeifuhr. Fragen wir lieber nicht, warum so viele Heiligenschreine an den Straßen und Wegen stehen.

Dann endlich, nach Stunden des Durchrüttelns und Durchschüttelns, am Ziel – Léntas etwa, auch im Süden, mehr in der Mitte. Und immer wieder das gleiche Ritual. Schon an der Bushaltestelle bestürmt von älteren Damen in Schwarz: „Rooms? Rooms?“ Peter wusste aber in der Regel schon, wo wir uns günstig einquartieren konnten. Wenn nicht und man zufällig auch nicht von Trauer tragenden Frauen abgegriffen wurde, ging man einfach zu irgendeinem nett aussehenden Häuschen, auf dem der Schriftzug rent rooms zu lesen war, seltener ενοικιάζονται δομάτια (enikiásondä dhomátia: Zimmer zu vermieten) und fast nie englisch korrekt rooms to let.

Oft saß davor eine obligatorisch schwarz gekleidete Frau älteren Datums. Man sprach sie, ich zumindest damals noch, auf Englisch an, ob denn noch ein schönes Zimmer für zwei Personen frei sei. Sie lächelt, steht auf – und geht ins Haus. Nur um kurz darauf mit der wohl zehn Jahre alten Enkelin zurückzukommen. Die kann nämlich schon etwas Englisch.

Nach kurzer Verhandlung hatten wir unser Zimmer und quartierten uns ein. Geschwindes Duschen in einem kleinen Raume auf dem Flur oder im Hinterhof, an dessen Decke irgendwo in der Ecke einfach eine Wasserleitung endete samt Kipphahn. Danach ins nächste καφενείο (Kafenío) am Marktplatz oder Hafen, bevorzugt in eines, vor dem Einheimische, und das heißt auf Kreta fast immer: alte Kreter hocken, ausschließlich Männer natürlich, um endlich nach den Strapazen der Anreise und des Tages ein göttlich kaltes Bier zu trinken.

Man muss wissen, dass man auf Kreta immer und überall, wo es Bier überhaupt zu kaufen gibt, göttlich gekühltes Bier bekommt. Der Kreter ist oft sehr praktisch und weiß, worum es geht und was wichtig ist. Was kalt sein muss, wird kalt serviert. Sehr kalt. Süßes, Baklavá etwa (Blätterteig mit gehackten Nüsschen – sehr lecker!), trieft in dickem Zuckersirup. Und wo Olivenöl dran ist, ist Olivenöl dran. Garantiert. Unabwendbar. Man gönnt sich ja sonst alles.

4. Wie ich Griechisch lernte – Peter, der Mathematiker

Und so oder so ähnlich begann die Geschichte, an deren vorläufigem Ende meine Übersetzung des schon genannten Standardwerks zur Geschichte Kretas stand. Peter, der, wie gesagt, schon lange Jahre vor mir Kreta bereiste und hier und da einen kleinen Griechischkurs in Deutschland besucht hatte, konnte sich mit den neugierig nach Herkunft, Familienstand und Befinden fragenden alten Griechen grundsätzlich unterhalten. Zwar mit Händen und Füßen und Hängen und Würgen, aber immerhin. Ich aber nicht. Das ärgerte mich. Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen.

Inzwischen kann ich Griechisch so leidlich – lesend und übersetzend vor allem. Aktiv zu sprechen und vor allem zu hören und das Gehörte zu verstehen, ist aber noch immer ein veritables Drama. Selbst des Griechischen grundsätzlich Mächtige, die gar ein Universitätsstudium des Neugriechischen absolviert haben, verzweifeln bei dem Versuch, fast zahnlose alte Kreter zu verstehen, die schon den einen oder anderen Raki oder Ouzo im Kopf haben, zumal Kreta dialektal als das Bayern Griechenlands gilt. Hochgriechisch oder (bitte mit stimmlosem englischen Tiäitsch – th – aussprechen) καθαρά (sauber) wird etwa Rakí (ρακή), das Wort für Tresterschnaps (nicht zu verwechseln mit türkischem Raki, einem Anisschnaps und damit dem griechischen Ouzo gleich), mit rollendem R (im Griechischen Ρ bzw. ρ geschrieben und rollend Ro ausgesprochen) und vor allem klarem, knallenden Kappa (κ), also reinem K ausgesprochen. Alte Kreter rufen bis spucken dem Wirt hingegen in Form einer phonetischen Kampfhandlung ein kräftiges Raatschi! entgegen. Und der reicht mitnichten ein Taschentuch, sondern stellt die Flasche mehr oder minder Hochprozentigen auf den Tisch.

Man stelle sich einen Japaner vor, der Germanistik in Tokio studiert. Während des Studiums besucht er mehrfach deutsche Universitäten und unterhält sich mit gebildeten deutschen Studenten des Japanischen und noch gebildeteren professoralen Japanologen. Und es klappt schon ganz gut und immer besser mit der Kommunikation. Nach der Doktorarbeit erfüllt er sich und seiner Freundin einen Traum und macht Urlaub in Deutschland. In Oberbayern zum Beispiel nahe der Alpen, weil es da so schön ist laut Prospekten. Mächtig stolz ob seiner Sprachkenntnisse will er seiner Geliebten imponieren – und wird schlichtweg zu heulen anfangen, wenn er einen einheimischen Oberbayern nach dem Weg vom Bahnhof zum Hotel fragt.

Jetzt weiß man, wie’s mir auf Kreta oft ergeht. Auch ohne Geliebte und Bayern.

Mein erstes Motiv, Griechisch zu lernen, war also ein ganz praktisches – Kommunikation. Aber es gab noch mehrere andere Motive, besser: Es entwickelten sich über die Zeit mehr und mehr.

Zunächst muss man wissen, dass Peter, wie gesagt, Mathematiker ist, Fachmensch für formale Sprachen also. Und dann muss man wissen, dass die Philosophie des 20. Jahrhunderts nach dem linguistic turn, der berühmten linguistischen Wende der gesamten Philosophie (Russell, Wittgenstein, Wiener Kreis etc.) zu seinem Beginn, im wesentlichen Sprachphilosophie ist und nicht nur oder auch Philosophie der Sprache – oder des Geistes oder der Natur oder von was auch immer. Mein philosophisches Interesse entwickelte sich schon seit geraumer Zeit in Richtung der Untersuchung des Spannungsverhältnisses zwischen Sprachstrukturen (Gesetze der Grammatik, Regeln der Logik) und Wirklichkeitsstrukturen (Naturgesetze). Nichts ist für mich bis heute spannender und unbegreiflicher zugleich als der Umstand, dass wir mit Bleistift und Papier, durch Manipulationen mathematischer Symbole nach logischen Regeln – physikalische Wirklichkeit vorausberechnen, also voraussagen können. Alles, fast ohne jede Ausnahme, was Inhalt der zwei großen Säulen der modernen Physik ist, der Quantentheorie wie der Relativitätstheorie, wurde zunächst erdacht und berechnet – und erst danach mit entsprechend (entsprechend) konstruiertem Gerät (Teilchenbeschleuniger, Radioteleskope etc.) real nachgewiesen.

Was lag also näher, als meine sprach- und naturphilosophischen Studien mit dem Erlernen einer ganz neuen Sprache von der Pike auf zu begleiten? Und der griechischen Sprache zudem – Sprache der alten Philosophen, Symbolsystem der Mathematik und Theoretischen Physik, neben dem Lateinischen der semantische Steinbruch wissenschaftlicher Begriffsbildung, grammatisch schön vertrackt und also wunderbar geeignet, grammatische Grundstrukturen nicht nur neu zu erlernen, sondern theoretisch zu beleuchten und philosophisch zu interpretieren.

Und dann wandelte da plötzlich dieser helle, schlaue, geschliffene, geschulte Mathematikerschädel namens Peter neben mir – über lange Wochen pro Jahr am Stück. Bis zu sechzehn Stunden am Tag. Ein Privatlehrer in Sachen Mathematik umsonst. Witzig, geistreich, humorvoll, eloquent, sarkastisch, trinkfest, ein Schürzenjäger vor dem Herrn (inzwischen natürlich, liebe Tina, ganz brav und gesetzt) – und zu allem Überfluss auch noch mit erlesenem Musikgeschmack gesegnet. Wo nur, mit welchem Thema sollte man anfangen zu diskutieren, zu philosophieren, zu streiten, zu erörtern, zu deuten? Quantenphysik? Cantors unendliche Unendlichkeiten? Mahlers Neunte? Jan Garbareks Saxophonsound? Oder wie man an die hübsche Blonde am Tisch schräg gegenüber schnellstmöglich ran kommt? Ich hatte das große Los gezogen. Und es kam noch dicker.

5. Wie ich Hanns kennenlernte

Um die Präliminarien meines topografischen, historischen und mentalen Reisebuchs abzuschließen und um zur Darstellung der wirklich wichtigen geschichtlichen, politischen und geistigen Ereignisse voranschreiten zu können, die sich in den letzten 4.500 Jahren und besonders ab 1986 auf Kreta ereigneten, muss ich natürlich noch erzählen, wie ich Hanns kennenlernte.

Dabei möchte ich vorab eine Bitte äußern. Es könnte sein, ja es ist hoch wahrscheinlich, dass meine historischen und mentalen Reiseberichte nicht nur in alle großen Weltsprachen übersetzt werden, sondern auch noch in mehrere indische Dialekte, das Quechua und Sächsische gar. Es besteht also die Gefahr, dass die Orte, von denen ich berichten werde, von Ihnen, sehr verehrte Leserinnen und Leser, in Zukunft regelrecht überrannt werden. Deswegen liebäugelte ich zunächst mit dem Gedanken, das kleine Dörfchen an der Südküste Kretas, in dem sich Peter, Hanns und ich seit Jahren treffen, einfach geheim zu halten oder mit einem Pseudonym zu belegen. Nun heißt ψεύδομαι (sprich: pséwdhomä; das griechische Delta – Δ bzw. δ – wird wie das stimmhafte englische Tiäitsch ausgesprochen, etwa in that) aber lügen. Ein Pseudonym ist also, wörtlich übersetzt, ein gelogener Name. Nun verbietet mir, räusper, aber mein Berufsethos, das schon in Rede stand, zu lügen. Und zudem würden schlaue Leserinnen und Leser, und meine Bücher werden selbstverständlich nur von schlauen Menschen gelesen und geschätzt, aus vielen Informationen, die ich definitiv nicht vorenthalten konnte, wollte ich überhaupt von bestimmten wichtigen Dingen und Ereignissen berichten, schnell rekonstruieren können, um welches Dörfchen es sich handelt – Pitsídia nämlich.

Ein Dörfchen so klein, dass man mit einem kräftigen Steinwurf vom Marktplatz aus wohl alle Dorfgrenzen erreichen kann. Und unter anderem auf bzw. an diesem Marktplatz, oft im (‚im’ heißt auf Kreta immer: draußen ‚im’) Kafenío von Dimókritos (der Wirt heißt, wörtlich übersetzt, wirklich so: Volksherrschaft oder Volkskreter oder Volkskritiker oder Volksrichter3),4 sitzen wir, Peter, Hanns und ich, seit Jahren und ergründen, wie das Universum und der ganze Rest funktioniert und vor allem, in welche Taverne wir abends essen gehen.

Und, liebe Leserinnen und Leser, dortselbst wollen wir auch noch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten in Ruhe sitzen! Ungestört von Paparazzi, TV-Teams und Touristenbussen. Also bitte, liebe Leserinnen und Leser: Es gibt so viele Bergdörfchen auf Kreta und noch viel mehr in ganz Griechenland, den gesamten mediterranen Ländern und sogar in Turkmenistan. Fahren Sie dort hin! Es muss nicht unbedingt Pitsídia sein. Und seien Sie vorgewarnt: Es hat seine Gründe, warum Pitsídia im Volkesmunde auch Psychídia heißt. Davon, den dunklen Seiten dieses Ortes, aber erst später mehr.

Nun ja, wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, ihrem brennenden Wunsch, Pitsídia zu besuchen, nach Lektüre dieses Reiseberichts nicht werden widerstehen können, und alles andere ließe mich an meinen schriftstellerischen Qualitäten zweifeln, können Sie uns natürlich bei Dimókritos gerne mal zu einem Bier einladen. Sie erkennen uns drei daran, dass wir oft sehr skeptisch dreinblicken. Warum das so ist, wird noch zu berichten sein. Zwei von uns sind fast immer schwarz gekleidet. Einer, wir haben alle unsere Schwächen, in der Regel etwas farbenfroher.

Bei diesem Stichwort zurück zum eigentlichen Thema. Dortselbst, in Pitsídia also, sozusagen die vorletzte Haltestelle der Überlandbusse von Heráklion im Norden zur Endhaltestelle Mátala im Süden, lernte ich gegen 1991 Hanns kennen.

Es trug sich wie folgt zu. Ich wohnte im Hause einer älteren Dame, Efkosmía (Ευκοσμία) mit Namen, in der Nähe des Marktplatzes. Ihr Nachname Φασσουλάκη (Fassuláki) übrigens heißt übersetzt ziemlich genau – Böhnlein. Dort wohne ich bis heute5, in einem Zimmerchen, man könnte auch Buchte sagen, etwa acht Quadratmeter groß. Aber mit wunderschöner, ehemals weinüberhangener und inzwischen schilfgedeckter Terrasse, von der zwei weitere Zimmer ins Parterre des Hauses abgehen. Efkosmía selbst wohnte – ja wohnte, sie ist im Mai 2008 zu meinem großen Leidwesen gestorben – nicht im Hause, sondern in der Buchte eines Häuschens zehn Meter weiter in derselben Gasse. Die heißt übrigens – ich bin jahrelang achtlos an dem Straßenschild vorbeigelaufen – Οδός Γεωργίου Καζάκη: Odós (Straße) Georgíou Kazáki (man spreche das g in Georgíou wie ein j aus und das ou wie ein u), ist also, wie könnte es anders sein, nach einem der vielen Freiheitskämpfer Kretas benannt.

Auf der Terrasse von Efkosmía nun lernte ich Hanns kennen. Stückchenweise sozusagen – zeitlich gemeint. Er wohnte im zweiten Stock. Dort gibt es zwei weitere Zimmer, sogar mit Blick zum etwa drei Kilometer entfernten Meer. Ich saß morgens nach dem Aufstehen, also gegen Mittag immer auf meiner geliebten Terrasse im Schatten zweier mächtiger Weinstöcke und las oder sinnierte vor mich hin oder tat auch nur so. Hanns kam irgendwann die Treppe runter – auf dem Weg zum Strand – und grüßte mich im Vorbeigehen mit einem berlinerischen „Moin“. Ein neckisches „Grüß Gott“ nistete sich bei diesem alten Atheisten erst später ein. Ich selbst, wie Hanns gebürtiger Berliner, grüßte ebenso knapp mit „Moin“ zurück. Zunächst war ich in der Tat etwas kurz angebunden.

Man muss nämlich wissen, wie Hanns damals aussah. Sein Outfit ließ mich reserviert sein: gelb-schwarz längs gestreifte Hose, cooles Träger-T-Shirt6, Gel (Hanns korrigierte mich später: Beton) im Haar, Designerbrille auf der Nase und in der Regel Kopfhörer in den Ohren. Kleiner Stadtrucksack (Markenfabrikat) mit Walkman drin (und womöglich Börsenberichten als Strandlektüre), lässig über die Schulter geworfen. Ich dachte mir: wahrscheinlich ein schnöseliger Berliner Werbefachmann oder Artdirector, der New Wave, Deutsche Welle, Punk oder ähnlich Entsetzliches hört.

Aber wie herrlich lag ich daneben. Nichts traf zu. Hanns ist Arzt, genauer: Internist (damals an einer Berlin Neuköllner Klinik – von der wird noch zu berichten sein), naturwissenschaftlich ungemein belesen, ein Feinschmecker vor dem Herrn, der beste Koch, den ich kenne, und ein Liebhaber und Kenner klassischer Musik, wie mir persönlich kein zweiter bekannt ist. Die Berliner Philharmonie ist, wie er mal zum Besten gab, quasi sein Zweitwohnsitz.

Ich schloss ihn also umgehend in mein Herz. Wegen dieser Qualitäten natürlich. Aber auch aufgrund der Tatsache, dass er in keiner Weise meinen Vorurteilen entsprach. Diese Vorurteile sind leider oft, ja fast immer – zutreffende Urteile. Die meisten Leute, das hört keiner gern, ich auch nicht, reden und verhalten sich genau so, wie sie aussehen. Nigel Kennedy, der violinvirtuose Klassikpunk, ist eine absolute Ausnahme. Hanns auch. Na ja, er war es damals. Über die Jahre ist er natürlich etwas gesetzter geworden. Den Koch sieht man ihm so ein ganz kleines bisschen an inzwischen. Ohne Abschmecken und Kosten und immer wieder Abschmecken und Kosten, bis die lukullische Kreation perfekt ist, geht’s natürlich nicht. Berufskrankheit sozusagen. Und wie anders sollte Hanns die Überfüllung seines Weinkellers bekämpfen als durch die tägliche Verköstigung edler Tropfen? Sollte er Flaschen exzellenten Rotweins durch Überlagerung kippen und sich in Weinessig verwandeln lassen? Das käme dem Verlust eines guten Freundes gleich. Das ist nicht zu dulden. Also der tägliche Kontrollgang in den Weinkeller. Auch zur Stärkung der Waden.

Hanns ist aber selbst im Kulinarischen – in der hohen Kochkunst ist die Geschmackspolizei bekanntlich sehr streng – gelegentlich ganz unkonventionell. Er liebt zum Beispiel gute Currywürste. Womöglich ist das wiederum eine Standortkrankheit. Die Berliner liegen, wie unter Insidern bekannt, mit den Hamburgern nämlich seit geraumer Zeit in Streit um die Frage, wo die Currywurst zuerst auf den Tisch kam, an der Spree oder an der Alster, und wo es, natürlich, die beste Currywurst gibt. Bei der Auseinandersetzung um die Frage, ob die richtige Currywurst jene ohne oder die mit Haut ist, sollen, wie man hört, inzwischen sogar langjährige Freundschaften auseinandergegangen sein. Nicht blutig, aber den Wutschädel rot wie Ketchup.

Es erklärt sich so, dass ich Hanns zu seinem 50. Geburtstag, den zu begehen wir neulich (um nicht zu sagen: 2005) aufs Köstlichste Gelegenheit hatten – es gab, alles von Hanns selbst gekocht und zubereitet, fünf Vorspeisen, vier Salate, vier Hauptgänge und fünf Desserts zu vorzüglichstem Gesöff –, unter anderem ein Schriftstück folgenden Inhalts schenkte:

„Lieber Hanns, zu Deinem 50. Geburtstag schenke ich Dir diesen Gutschein. Bis ans Ende Deiner oder meiner Tage kannst Du damit jedes Mal, wenn Du in Hamburg bist, in einem der beiden besten Currywurstläden Hamburgs (Du weißt schon wo) eine beliebige Zahl von Currywürsten umsonst verköstigen. Um dämliche Blicke des Currywurstverkaufspersonals bei der Vorlage dieses Gutscheins zu vermeiden, empfiehlt es sich, selbige zu unterlassen und lieber mich in meiner langjährigen Funktion als Kassenwart jenes Clubs skeptischer Rationalisten zur Verköstigung mitzunehmen, dessen titanenhafter Kampf gegen die dunklen Mächte der Esoterik, des Neoliberalismus wie anderen Irrsinns uns seit Jahren in eiserner Freundschaft zusammenschließt. Auch das restliche Clubmitglied Peter… wäre, wie es mir zutrug, nicht abgeneigt, diesen kulinarischen Ereignissen beizuwohnen. Seine seltenen mathematischen Fähigkeiten wären mir zudem eine wertvolle Hilfe bei dem Versuch, den Überblick über die Menge der von Dir verspeisten Currywürste zu behalten. Dein Egbert.“

Was es mit dem Club skeptischer Rationalisten und seinem heldenhaften Kampf gegen die dunklen Mächte der Esoterik und des Neoliberalismus auf sich hat, davon wird noch genauer zu berichten sein.7

3 Auf diese Bedeutungsvariante hat mich Anna Boskamp hingewiesen.

4Nachtrag 2014: Nach Lektüre der vorangehenden Fußnote (aus der 2. Auflage 2008) verbesserte mich Anna dankenswerterweise erneut (wir duzen uns schon lange, sind inzwischen gut befreundet und streiten uns über alle möglichen politischen Themen wie die Kesselflicker): Die Bedeutung Volksrichter sei nicht nur eine Bedeutungsvariante, sondern wirklich die Bedeutung des Namens Dimókritos. Anna, wenn ich Dich nicht hätte!

5Nachtrag 2014: Seit ein paar Jahren leider nicht mehr. Davon aber erst in Kapitel 34 mehr.

6Nachtrag 2014: Herzallerliebste Freundin Caro (mit herzallerliebster Schwester Ela, herzallerliebster Freundin Ilka und meiner angeheuerten bis zugelaufenen Wenigkeit Stammtischkommunardin in unserem Leib-und-Magen-und-Herzen-Griechen „Olympisches Feuer“ zu Hamburg) wies mich mal darauf hin, dass der Ausdruck „Träger-T-Shirt“ eigentlich unsinnig ist: Ein Leibchen mit Trägern sehe ja gerade nicht wie ein T, wie ein T-Shirt aus! Stimmt völlig! Um meine Schmach dokumentiert zu lassen, habe ich das oben aber nicht korrigiert.

6. Politik, deutscher Faschismus auf Kreta – und Markos’ Bein

Man ist als Politikwissenschaftler, welch Wunder, an politischer Zeitgeschichte und politischer Historie grundsätzlich interessiert. Als Mensch, der schon so oft Kreta besuchte, interessiert mich die politische Geschichte Kretas natürlich um so mehr. Zudem sind die Kreter ein äußerst politisches Volk, streitsüchtig und rebellisch. Die sozialistische, na ja: faktisch eigentlich nur noch sozialdemokratische Panhellenische Sozialistische Bewegung PASOK (ΠΑΣΟΚ: Πανελλήνιο Σοσιαλιστικό Κίνημα; sprich: Panellínio Sosialistikó Kínima) ist auf Kreta weit stärker als auf dem griechischen Festland.8 Der Vorsprung der PASOK gegenüber der konservativen Néa Dimokratía (ΝΔ: Νέα Δημοκρατία) ist in den letzten Jahren zwar geschrumpft, auf Kreta und umso mehr in ganz Griechenland. Seit der Wahl 2004 stellt die ND sogar den griechischen Ministerpräsidenten (Kóstas Karamanlís). Aber bei den Parlamentswahlen 1996 betrug der Vorsprung der PASOK auf Kreta, etwa im Verwaltungsbezirk Heráklion, noch unglaubliche dreißig Prozentpunkte – im Gegensatz zu drei Prozentpunkten in ganz Griechenland. Bei der Wahl 2004 waren es auf Kreta (wiederum im Verwaltungsbezirk Heráklion) immerhin noch zwanzig Prozentpunkte Vorsprung der PASOK – während die ND in ganz Griechenland fünf Prozentpunkte mehr bekam als ihre sozialdemokratische Konkurrentin.

Die Kommunistische Partei Griechenlands ΚΚΕ (Κομμουνιςτικó Κόμμα Ελλάδας), die bei den Wahlen zum Europaparlament 2004 in ganz Griechenland noch fast zehn Prozent bekam, ist auf Kreta zwar eher schwächer als auf dem Festland. Das liegt aber gerade daran, dass die Kreter so rebellisch sind und ihnen jede Form von Zentralismus und Autoritarismus zutiefst fremd ist – auch jene der Jahrzehnte lang moskauhörigen und damit stalinistischen KKE. Die einzige Autorität, die die Kreter akzeptieren, ist die der orthodoxen Kirche. Sie können aber, liebe Leserinnen und Leser, sicher sein, dass das ganz anders aussehen würde, wenn die Kirche, wenn Tausende von Popen und Bischöfen nicht jahrhundertelang im Kampf um Kretas Freiheit, oft mit der Waffe in der Hand, an der Seite des Volkes gestanden wären – ganz im Gegensatz zur fast immer staatstragenden bis obrigkeitshörigen Kirche in den meisten anderen europäischen Staaten während der politischen Freiheitskämpfe der Neuzeit.

Der politische Linksdrall der Kreter zeigte sich insbesondere bei der Volksabstimmung über die Wiedereinführung der Monarchie in Griechenland am 8. Dezember 1974, also direkt nach dem Ende des diktatorischen Obristenregimes (1967-1974). In ganz Griechenland entschieden sich 30,8 Prozent der Wahlberechtigten für die Monarchie und 69,2 Prozent für die Republik – auf Kreta jedoch nur 9 Prozent für die Monarchie und 91 Prozent für die Republik.

Man beobachte auch kretische Männer in den Kafenía.9 Wenn sie nicht Zeitung lesen, diskutieren sie wild gestikulierend und lautstark den politischen Lauf der Dinge. Über die Jahrhunderte der Fremdherrschaft waren die Kafenía oft der einzige Ort, wo politischer Meinungsaustausch möglich war. Parlamentarismus der kleinen Leute sozusagen. Jeder (Mann …) konnte und kann dort mitstreiten, unabhängig von seiner Bildung oder seinem sozialen Status, unabhängig von einem politischen Mandat, von Beziehungen oder materiellem Reichtum.

Oder man erlebe Wahlkampf in einem kleinen kretischen Dorf. Ein Volksfest! Ein Gelage, Gestreite und Disputieren ohne Ende. Versammlung auf Versammlung, Redner über Redner, ohrenbetäubend verstärkt über Lautsprecheranlagen, deren in der Regel viel zu geringe Kapazitäten ohne Gnade und bis zum Anschlag ausgesteuert werden – wieder, nebenbei, keine Chance, Griechisch zu lernen. Man versteht kein Wort. Ich zumindest.

Nicht nur als allgemein politisch Interessierter erliegt man schnell dem Hang der Kreter zu heftigem Politisieren. Auch speziell als Deutscher ist man in die politische Geschichte Kretas in ganz eigener, bedrückender Art verwoben. Die deutsche faschistische Wehrmacht besetzte Kreta im Mai 1941 und wütete dort bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945. Kreta wurde seit dem 11. Jahrhundert vor Christus, nach Invasion der nordgriechischen Dorer, von nicht kretischen und mit dem Beginn der Herrschaft Roms 67 v. Chr. von nicht griechischen Mächten beherrscht, unterjocht, versklavt und ökonomisch ausgebeutet. Erst 1898 erlangte Kreta, direkt nach 229 Jahren Schreckensherrschaft der Türken (Osmanen), politische Autonomie. Und erst 1913 wurde es Teil Griechenlands.

Nach dreitausend Jahren der Unfreiheit und Unterdrückung und nach gerade mal vier Jahrzehnten der Freiheit fielen ab dem 20. Mai 1941 neue, noch schlimmere Unterdrücker – in des Wortes direkter Bedeutung – vom Himmel: Fallschirmjägerdivisionen der faschistischen deutschen Wehrmacht eroberten die Insel unter schweren eigenen Verlusten innerhalb von zehn Tagen. Kann man sich vorstellen, mit welcher Wut und Verzweiflung die Kreter ihre gerade errungene Freiheit verteidigten? Frauen sollen an der Seite ihrer Männer, Kinder an der Seite ihrer Väter und Mütter und Alte an der Seite ihrer Söhne und Töchter gekämpft haben in der Schlacht um Kreta, der Μάχη της Κρήτης. Auch nach der Eroberung des größten Teils der Insel durch die weit überlegene, in jener Zeit technisch modernste und brutalste Militärmaschine der Welt, endete der Widerstand der kretischen Bevölkerung nicht. Der Krieg ging als Partisanenkrieg weiter. Manche Widerstandsnester, etwa in der Samariáschlucht, konnten die deutschen Faschisten bis zum Ende des Krieges nicht erobern und zerstören. Dafür und für die vielen Partisanenangriffe der kretischen Freiheitskämpfer musste die Bevölkerung bitter büßen. Vergeltungsmaßnahmen waren an der Tagesordnung. Ergriffene Partisanen oder Geiseln aus der Zivilbevölkerung wurden hingerichtet, ganze Dörfer niedergebrannt.

Ein furchtbarer Höhepunkt der brutalen faschistischen Herrschaft der Deutschen ereignete sich am 14. September 1943. An diesem Tag wurden in der Gemeinde Viánnos in der Nähe von Heráklion als Abschreckungsmaßnahme 500 Bewohner erschossen – zumeist Frauen und Kinder. Schon am 2. Juni 1941 verübten deutsche Truppen in Kondomári, einem Dorf etwa zehn Kilometer westlich von Chaniá, ein Massaker unter der Zivilbevölkerung. Und einen Tag später, am 3. Juni 1941, wurde das Dorf Kándanos, etwa 50 Kilometer südwestlich von Chaniá gelegen, dem Erdboden gleichgemacht.10

Ich wundere mich seit über zwanzig Jahren, warum ich auf Kreta noch nie eine feindliche Reaktion gegenüber Deutschen erlebt habe – oder warum die Kreter den Friedhof deutscher Soldaten der faschistischen Wehrmacht in Maléme bei Chaniá im Nordwesten Kretas noch nicht mit Bulldozern eingeebnet haben oder mit Knüppeln jene braunen deutschen traditionalistischen Widerlinge ins Meer gejagt haben, die seit Jahrzehnten am 20. Mai jedes Jahres ihres oder ihrer Väter verbrecherischen Überfalls auf Kreta feierlich gedenken. Erst vor wenigen Jahren soll es vor Ort erstmals zu Gegendemonstrationen gekommen sein.

Nur ganz selten und verstreut findet man auf Kreta Gedenkstätten, die an das Grauen erinnern, das die deutschen Faschisten über die Menschen Kretas gebracht haben. Ich habe aber vor allem keine gefunden, die auch nur annähernd so groß wäre wie der deutsche Soldatenfriedhof in Maléme. Den Tätern ein Fußballfeld, den Opfern einen Hinterhof.

Die Spuren des faschistischen Mordens und Wütens11 verwischen sich mehr und mehr. Auch in den Köpfen der Menschen.

Die Kreter werden alt, sehr alt. Aber jene, die die Verbrechen der deutschen Faschisten noch selbst erlebt haben, werden mit der Zeit natürlich immer weniger.

Vor drei, vier Jahren etwa (Stand 2007) starb Markos. Die ersten Jahre in Pitsídia bewirtschafte Markos noch selbst das Kafenío – inzwischen eher eine Taverne –, das, phonetisch ins, sagen wir: ‚Westliche’ übertragen, noch heute seinen Namen trägt: Μπαρ Μάρκος (sprich: Bar Markos). Markos war damals vielleicht knappe sechzig Jahre alt. Ein schöner alter Grieche mit weißen, etwas längeren, nach hinten gekämmten Haaren. Was sie glatt zusammenhielt war wohl kein, um Hanns’ Begriffsschöpfung zu nutzen, Beton. Wahrscheinlich eher eine Mischung aus Rakí und Ziegenfett.

Egal, er war der Schwarm vieler Frauen, wahrscheinlich sogar aller.12 Aber bei Markos saßen nur deutsche Frauen, selten welche anderer Nationalität. Griechische Frauen sitzen, von den Großstädten abgesehen, natürlich nicht in Kafenía. Am allerwenigsten bei so einem dorfbekannten Schwerenöter wie Markos. Oft, tagsüber, wenn er nicht arbeiten musste, saß er mit anderen älteren Griechen bei Dimókritos oder dem uralten, langen, ob des Alters schon ganz krummen Kóstas, der, inzwischen auch verstorben, ein winziges, schummriges Kafenío an der Dorfstraße, etwa fünfzig Meter vom Marktplatz entfernt, bewirtschaftete. Markos spielte mit Freunden Távli (Backgammon) oder mit seinem Kombolói und ließ die Zeit und die Frauen an sich vorüberziehen. Oft mit einer coolen schwarzen Sonnenbrille auf der Nase, wohl ein Ray-Ban-Nachbau, wie sie damals in waren.

Abends in Markos Kafenío rauschten die Feste und Gelage nur so dahin. Nach dem Essen in irgendeiner Taverne am Orte traf sich dort alles. Der zentrale Tisch wurde mit der Zeit immer größer. Am Schluss waren fast immer alle Tische zusammengeschoben und alles Volk saß und schwatzte und trank und lachte. Das Publikum in der Regel studentisch oder poststudentisch, also nicht sehr zahlungskräftig. Aber die Preise sind in den Dörfern auf Kreta bis heute sehr moderat, und sie waren es damals noch viel mehr.

Vor allem zahlte man bei Markos, zu jener Zeit natürlich noch Drachmen, fast immer das Gleiche, egal wie viel man trank – fourchándret! So etwa, mit einem kehligen ch, spricht der nicht perfekt des Englischen mächtige Grieche four hundred aus –auch Markos, nachdem man ihm freundlich sagte: „Πληρώσσω παρακαλώ!“ (plirósso parakaló: ich zahle bitte), und er, murmelnd, den Blick nach links unten abwendend und das Gesicht filmreif in Falten gelegt, so tat, als ob er rechnen würde. Vielleicht rechnete er auch. Ich glaube aber eher nicht. Bei den jüngeren Griechen sieht man es nicht mehr, aber bei den älteren Laden- oder Tavernenbesitzern sieht man es noch und sah man es früher umso öfter: Man kaufte irgendetwas für hundert Drachmen und etwas für fünfzig. Beim Zahlen kramte der kretische Geschäftspartner einen Papierblock und den (den, nicht einen) Bleistift hervor und notierte schön fein säuberlich die Zahlen 100 und 50 untereinander, zog einen Strich darunter und rechnete das Ergebnis aus, korrekt Zahl für Zahl von hinten nach vorne notierend: 150!

Das war Markos wahrscheinlich zu mühsam. Dann doch lieber einen Pauschalpreis für tägliche Getränkemengen, die sich über einen mehrwöchigen Urlaub so und so massiv einem Mittelwert näherten. Viel mehr pro Tag ging nicht, und weniger auch nicht. Fourchándret war also ziemlich nahe an der Wahrheit.

Die schönsten Nächte in seinem Kafenío waren jene, in denen Markos guter oder auch sinnlicher und melancholischer Laune seine Lyra hervorzog, jene Art kretischer Geige, die der sitzende Musiker auf seinem Oberschenkel aufsetzt und quasi wie ein kleines Cello spielt. Mit dieser hockte sich Markos in die hinterste Ecke seines Kafeníos und begann zu spielen – weltabgewandt, traumhaft schön, klagevoll, klangvoll und virtuos. Gelegentlich kam es vor, dass er sich an den Tisch (den, nicht irgendeinen) setzte, um lustige Gassenhauer zum Mitsingen zu spielen (gewisse Damen trauten sich), Oh Susanna etwa. Markos soll zu seinen Hochzeiten einer der besten Lyraspieler Kretas gewesen sein. Warum er damit aufhörte, Konzerte zu geben, weiß ich bis heute nicht.

Markos war auch ein ungemein effizienter Wirt. Kaum hatte man eine Bestellung ausgesprochen, standen die Getränke auf dem Tisch – obwohl Markos hinkte und ein Bein nachzog. Zunächst dachte man, es sei eine schlecht konstruierte Prothese. Irgendwer hatte aber gehört, es sei ein kaputtes, lahmes Bein, Folge einer Kriegsverletzung. Mehr wussten wir nicht. Keiner von uns Deutschen traute sich, Markos direkt darauf anzusprechen.

Christian aus dem Elsass, ein Franzose also, tat es aber irgendwann ganz unbefangen. Ich war nicht dabei, aber er erzählte es mir ein paar Tage später. Markos hatte sich, so Christians Darstellung, während der Besatzung Kretas durch die deutschen Faschisten geweigert, sich am Bau von Befestigungsanlagen zu beteiligen. Ihm wurde daraufhin als Strafe und zur Abschreckung anderer ins Bein geschossen. Christian fragte auch, was Markos denn von all den deutschen Touristen auf Kreta und in Pitsídia halte, ob er Hass empfinde oder Verachtung. Nein, soll er geantwortet haben, überhaupt nicht. Seine Gäste seien ganz junge Menschen, die nichts dafürkönnten, was ihre Väter getan haben. Niemand dürfe für die Verbrechen seines Vaters verantwortlich gemacht werden.

Mein Herz schlägt links. Ich bin Kosmopolit und verachte Nationalismus und Chauvinismus zutiefst. Jemand, der auf seine Nationalität stolz ist oder sich ihrer schämt, vegetiert auf dem geistigen Niveau eines Menschen daher, der auf seine Schuhgröße oder Hautfarbe stolz ist oder sich ihrer schämt. Man wird ohne jedes Zutun in seine Nationalität hineingeboren – wie in seine Schuhgröße oder Hautfarbe. So viel (oder wenig) zu meiner politischen Überzeugung.

Als Christian seinen Bericht beendet hatte, fühlte ich mich dennoch wie ein Hund.

So, liebe Leserinnen und Leser, die Geschichte um Markos‘ Bein, die Sie gerade gelesen haben, wurde mir genau so erzählt und ich habe sie in der ersten Auflage dieses Buches (2007) genau so wiedergegeben. Aus dokumentarischen Gründen habe ich sie wortgleich auch in diese zweite Auflage übernommen. Inzwischen (2008) wurden mir aber zwei weitere Versionen erzählt, wie Markos zu seinem kaputten Bein gekommen ist, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte – zumal mir die dritte Version als die erscheint, die der Wahrheit wohl am nächsten kommt.

Nun, zunächst zur zweiten Version. Sie wurde mir von Freunden erzählt, die seit langen Jahren Urlaub auf Kreta und speziell in Pitsídia machen. Sie lautet, dass sich Markos sein lädiertes Bein beim Dynamitfischen zugezogen hat. Diese Geschichte würde zu Markos passen, weil sie so schön verwegen klingt. Aber sie scheint mir nicht sehr wahrscheinlich zu sein: Sitzt ein Mann im Boot und wirft er eine Dynamitstange nicht weit genug ins Wasser, wird eher sein Kopf und Oberkörper lädiert. Und wenn das Dynamit aus Versehen im Boot explodieren sollte – nun, dann erübrigt sich so und so jede weitere Diskussion.

Die dritte Version der Geschichte hat mir Anna Boskamp erzählt. Weil Anna seit fast 20 Jahren in Pitsídia lebt, sich entsprechend gut auskennt vor Ort und auch mit älteren Pitsidianern über die Sache gesprochen hat, würde ich den Wahrheitsgehalt dieser Version als am höchsten einschätzen: Ihr gemäß hatte Markos sein lahmes Bein schon seit seiner Geburt, und abgenommen wurde es ihm in späten Jahren schlichtweg als – Raucherbein.

Wie auch immer. Das Wüten der deutschen Faschisten auf Kreta wird – und darauf möchte ich kategorisch hinweisen – durch die Vervielfältigung der Geschichten um Markos‘ Bein (und genau diese Vervielfältigung ist eigentlich schon wieder eine eigene Geschichte und sagt einiges aus über Psychídia…) um keinen Deut, kein Quäntchen besser. Tausende Kreter wurden von den deutschen Faschisten ermordet, Zehntausende verletzt und verstümmelt. Das sind Geschichtstatsachen.

Die erste Geschichte um Markos‘ Bein erschien mir auch deswegen so glaubwürdig, weil sie dem völlig entspricht, was man in Geschichtsbüchern und anderen authentischen Quellen über die Grausamkeiten der deutschen Faschisten gegenüber den Kretern liest – heißen oder hießen sie nun Markos oder wie auch immer.

Vor allem aber Markos – so zumindest die erste Version der Geschichte – Reaktion, strikt zwischen deutschen Tätern und ihren Töchtern und Söhnen, die auf Kreta Urlaub machen, zu unterscheiden, entspricht vollständig meinen Erfahrungen mit vielen – nicht nur alten – Kretern und auch den Erfahrungen vieler deutscher Freunde, die ich auf Kreta kennengelernt habe.

Ich erinnere mich zum Beispiel an meinen ersten Besuch des Bergdorfes Anógia (Ανώγεια). Es liegt am nördlichen Fuß des Psilorítis in etwa 750 Metern Höhe, knappe 40 Kilometer südwestlich von Heráklion entfernt. Am 13. August 1944 wurde es von den deutschen Faschisten vollständig zerstört – als Rache für die Entführung General Heinrich Kreipes durch ein kretisch-britisches Kommandounternehmen. Der Tagesbefehl des Kommandanten der „Festung Kretas“ (gemeint war ganz Kreta), Friedrich-Wilhelm Müller, lautete, „den Ort dem Erdboden gleichzumachen und jeden männlichen Einwohner Anógias hinzurichten, der innerhalb des Dorfes oder in seinem Umkreis in einer Entfernung bis zu einem Kilometer angetroffen wird“. Der gesamte Text dieses Befehls ist in eine Gedenktafel eingemeißelt, die sich auf dem Dorfplatz von Anógia im oberen Ortsteil findet.13 Dort steht auch ein Mahnmal mit den Namen aller 117 Kreter – darunter auch Kinder –, die während der gesamten Besatzungszeit von den deutschen Faschisten ermordet worden sind.

Nun, als ich nach Anógia kam, fühlte ich mich nicht sonderlich wohl – als deutscher Geschichtstourist. Woher sollten die Bewohner Anógias wissen, wo ich politisch stehe? Ich hätte ja einer dieser braunen Widerlinge sein können, die jährlich in Maléme einfallen, um der deutschen faschistischen Mörder zu gedenken!

Ich war aber auf Kreta. Und wohl nur dort konnte ich erleben, was ich erlebte. Als ich mich am späteren Nachmittag in Anógia in eine Pension im oberen Ortsteil einquartierte, lernte ich eine junge Deutsche kennen, die kurz nach mir angekommen war und am nächsten Tag auf den Psilorítis wandern wollte. Für ihren Aufstieg wollte sie noch etwas Proviant und Wasser einkaufen. So gingen wir am frühen Abend gemeinsam ins Dorf, um die Sachen zu besorgen und uns einen ersten Eindruck zu verschaffen. Nachdem wir den unteren und oberen Dorfteil durchwandert hatten, betraten wir einen kleinen Supermarket, von denen es auf Kreta so viele gibt. Hinter der Kasse saß ein alter, grauer, etwas rundlicher Kreter, der mit hoher Wahrscheinlichkeit Zeuge oder zumindest Zeitzeuge der Ereignisse vom 13. August 1944 gewesen sein musste. Er lächelte uns freundlich entgegen und fragte sofort in gebrochenem Deutsch, ob wir aus Deutschland kämen. Er habe mehrere Jahre in (wenn ich es recht erinnere) Duisburg gearbeitet. Am besten habe ihm der rheinische (er sagte wohl: deutsche) Karneval gefallen. Und ob wir denn folgendes Lied kennen würden – und der alte Kreter intonierte mit krächzender Stimme den Karnevals-Gassenhauer „Und dann geht’s humba, humba, humba Tätärä…“ Er lachte, dass ihm sein mächtiger Bauch bebte, und klopfte sich vor Freude auf die Schenkel.

Ich traute meinen Ohren und auch ganz leicht meinem Verstand nicht. Aber so kann es einem links orientierten, geschichtsbewussten Deutschen ergehen, der Hass oder zumindest stille Verachtung erwartet – und Herzlichkeit und Freundlichkeit ohne Ende erfährt. Zumindest auf Kreta.14

Das Ausmaß, in dem viele Kreter differenzieren zwischen Freund und Feind, ist streckenweise fast unheimlich. Peter schenkte mir vor ein paar Jahren ein Buch von Erhart Kästner (nicht mit Erich Kästner zu verwechseln) mit dem schlichten Titel Kreta. Peter meinte, dass es ein äußerst erhellender, mit viel Liebe, ja fast hymnisch geschriebener Bericht sei über Kreta, so, wie es vor über sechzig Jahren war – archaisch, wild, urwüchsig und irgendwie nicht von dieser Welt. Er warnte mich aber auch davor, dass es sich um einen sehr literarischen Reisebericht handle, abgefasst in einem etwas altertümlichen, blumigen, hochgradig metaphorischen Sprachstil – und dass es, vor allem, von einem deutschen Wehrmachtsangehörigen geschrieben sei, der im Auftrag der deutschen faschistischen Besatzer Griechenlands Reiseberichte aus Griechenland verfassen sollte!

Kästner durchwanderte Kreta von August bis Dezember 1943, also während der deutschen Besatzung der Insel und mitten im Partisanenkrieg – und wurde überall gastfreundlich begrüßt und aufgenommen als Mensch, der sich über Land und Leute kundig machen und über die Insel und seine Menschen, die Kästner, wie er nicht verbergen konnte, schnell lieben lernte, möglichst authentisch berichten wollte. Er schloss Freundschaft mit vielen Kretern und wurde selbst von Partisanen aus der Samariá-schlucht (von der noch ausgiebig zu berichten sein wird) per Bruderkuss verabschiedet, als er sie nach mehrtägigem Besuch verließ, und unter ihrem Geleitschutz (!) aus der Schlucht geführt, damit er nicht Opfer anderer Partisanen wurde, denen er persönlich nicht bekannt war.

Diese Geschichte hat etwas Absurdes an sich. Aber auch etwas zutiefst Humanes – dass nämlich jemand primär als Mensch beurteilt wird und nicht als Charaktermaske, Rollenträger oder Projektionsfläche kollektiver Feindbilder.15 Sie zeugt so – vor allem – vom Großmut der Kreter, dieses tapferen Volkes. Und von dem ist noch so Vieles zu erzählen.

7Nachtrag 2014: In Sachen der dunklen Macht des Neoliberalismus ist das inzwischen sogar ein ganzes Kapitel geworden. Siehe Kapitel 33: „Als der Fluch des Neoliberalismus über Griechenland und Kreta kam“

8Nachtrag 2014: