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Dr. Volker Schoßwald, Jahrgang 1955, arbeitet als Pfarrer in Nürnberg. In seinem Buch "Rebellen der Reformation" geht er den Lebensgeschichten bekannter oder auch weniger bekannter Persönlichkeiten aus der Reformationszeit nach, in denen sich rebellische Motive wiederfinden. Ein Buch mit emotionaler Sympathie für alle, die gegen Unrecht und für die Wahrheit aufbegehren.
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Seitenzahl: 230
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Prolog: Anschlag auf die Kirche
Rebellen der Reformation
1.1 Weltbilder zerbrechen
1.2 Das Individuum im Mittelpunkt der Welt
Ritter als Rebellen in eigener Sache
2.1 Franz von Sickingen
2.2 Gottfried „Götz“ von Berlichingen
2.3 Ulrich Hutten und die Rebellen ohne Waffen
Der Heilige Geist und die „Zwickauer Propheten“
Andreas Karlstadt wider die teuflischen Ölgötzen
4.1 Der universitäre Weg des Theologen Bodenstein
4.2 Karlstadt rebelliert
4.3 Im Bilderstreit
4.4 Bilderstürmer
4.5 Der Unangepasste geht nach Ostfriesland
4.6 Nach vielen Kämpfen am Ziel
Feuer und Geist in Melchior Hofmann
5.1 Ein Prediger der neuen Lehre im Norden
5.2 Der Weg nach innen zur Straßburger Apokalypse
5.3 Taufen in der Erwartung von Christi Wiederkunft
Exkurs: Albrecht Dürers Apokalypse
Versiegelung zur Endzeit: Hans Hut
Exkurs: (Wieder-)Täufer und Taufe
Bluttaufe
Hans Hergots tödliche Utopie eines Christenstaates
Exkurs: „Utopia“ und „Reich Gottes auf Erden“
Martin Luther: Rebell im Dienste der Wahrheit
8.1 Die entlaufene Nonne an Luthers Seite
Thom
a
s Müntzer: Gottesstreiter für Gerechtigkeit
9.1 Von Stollberg bis Zwickau
9.2 Geistliche Aspekte
9.3 Rebellion als Hermeneutik
Exkurs: Ohne Krieg kein Überleben: die Bauern
9.4 Gott, Schwert und Gerechtigkeit
9.5 Endzeit: Die Schlacht bei Frankenhausen
9.6 Am Ende des Regenbogens: die Niederlage
9.7 Das Ende im 16. Jahrhundert
9.8 Ottilie Müntzer
Gut, Böse, Freund, Feind, Gott und Teufel
10.1 „Dort sind die Bösen!“
10.2 „Wir sind die Guten!“
10.3 „Wie können Menschen so etwas tun?“
10.4 Falschmüntzer, Pharisäer und Gegenbilder
10.5 Müntzer und Martin-Luther-King
10.6 Führungspersönlichkeiten: Einzelgänger?
Münster 1534: Das chiliastische Täuferreich
11.1 Taufrebellen in Münster
11.2 Münster als Täuferhochburg
11.3 Jan Mathys Täuferreich
11.4 König „Johann I“: Jan van Leiden
Epilog: Dreizehn Rebellen für einen Messias
Literatur
Meiner Frau Christel Memmel, die mir unendliche Stunden für meine Studien freihielt…
„Der fahle Mond schien auf die lehmigen Gassen am Vorabend des Allerheiligentages. Eine dunkel gekleidete, kräftige Gestalt bewegte sich auf die Schlosskirche zu. In einer Hand trug sie einen Hammer und vier Hufnägel, in der anderen eine Pergamentrolle. Mit dem Gänsekiel in der fiebrigen Hand hatte der Mann mit schwarzer Tinte seine Gedanken auf das zähe Pergament gebannt. Nachdem er den letzten Punkt gesetzt hatte, schleuderte er das trübe Tintenfass an die Wand, als wolle er alle Dämonen und Teufel zerschmettern.
Nun drückte er sein Pergament an die eichene Türe der Schlosskirche und nagelte es mit den Hufstiften fest. Die harten Schläge des Hammers hallten durch das sächsische Städtchen. Der massive Turm erzitterte. Mit dem dritten Schlag polterte der Hahn, Symbol des wendischen Petrus, von der Kirchturmspitze. Der schwarze Mönch setzte den zweiten Nagel an und schlug zu. Die Kirche zitterte. Die Ziegeln krachten vom Dach, zersplitterten am harten Boden. Unerschrocken griff der schwarze Mann zum dritten Nagel. Unter den erneuten Schlägen erbebte die Kirche. Das Gebälk stürzte in die Halle, den Marmorboden bedeckend. Unbeirrt nahm die mächtige Gestalt den vierten Nagel in die Hand. Unter den letzten Schlägen zitterten sich Risse ins Gestein, bröckelten die Wände und brachen unter gewaltigem Getöse die Mauern der Kirche zusammen. Nur ein Türstock stand schweigend, dahinter schwebte Staub über der toten Ruine.
Als der Mönch sein Werk vollendet hatte, schauderte ihn: Aus dem Gebälk am Boden der Ruine stieg leichter Rauch, schwefliger Geruch drang an seine Nase, zwei schwarze Kugeln quollen aus der Tiefe, gefolgt von einem dunkelgrünen Schatten, mit einer roten Höhle, aus der Feuer schlug und zwei großen, glühenden Kugeln… Ein Drachenkopf mit spitzen, behaarten Ohren, dem der schuppige Körper folgte. Zwischen den Schuppen wuchsen kleine Flügelchen, drei, vier, sieben, zwölf… Dreizehn! Der glutäugige Drache öffnete sein Maul, die gespaltene, schwarze Zunge schnellte hervor und schwefliges Feuer flackerte über dem Land. Dreizehn Köpfe mit dünnen Augenschlitzen krochen aus den schwarzgrünen Schwingen und entfalteten ihr Flügel - nachtviolett.
„Das ist das Ende!“ dachte der Mann… Aber es war der Anfang. Der Drache hatte geboren, dreizehn Rebellendrachen erhoben sich in den schwarzen Nachthimmel. Sie verdunkelten den Mond und schwirrten hinaus ins Deutsche Land, in dem ein stilisierter Adler nur schwach das Drachenbild kaschierte.“
So könnte ein Poet mit Neigung zum Allegorisieren den Beginn der Reformation schildern.
Profileifrige Kirchenhistoriker reißen gerne Luthers Thesenpapier, das er an jenem sagenhaften 31. Oktober 1517 an das Portal der Schlosskirche von Wittenberg schlug, ab und streiten darüber, wie der Mönch mit dem markanten Gesicht sie ins Gespräch brachte. In jedem Fall entfalteten diese Thesen eine Wirkung, an deren Ende in Deutschland das kirchliche Leben nicht mehr wie vorher war. Die „eine Kirche“ war zerbrochen. Der Paradigmenwechsel vom Menschen als Teil des Gemeinwesens zum Ich-sagenden Individuum zersplitterte die Einheit des religiösen Lebens. Zwischen den beiden Volkskirchen wuselten viele kleine Denominationen. Mit und ohne Luthers Impulse versuchten Christen, ihre eigenständigen Gedanken umzusetzen. Sie rebellierten gegen den Status Quo, gegen Rom und seine Franchisen, auch gegen Wittenberg. Um Wortführer scharten sich Gruppen; die Rebellion stimulierte zu Gemeinschaften, ecclesiolae.
Die Anfänge der Reformation waren „stiller und zugleich revolutionärer“ als die Hammerschläge an die Schlosskirche, meinte Hanns Lilje in seinem Lutherbuch, das er in der Gestapohaft schrieb1. Die Anfänge „liegen in den heimlichen, verborgenen Schächten der Glaubenserfahrung eines einzelnen, und der Mensch, um den es dabei geht, richtet auch gar nicht in einer auffälligen, gleichsam ‚heroischen‘ Haltung sein Antlitz der Welt zu, sondern er steht todeinsam in einer viel ernsteren Begegnung, als sie die gesamte Welt mit Kaiser und Reich darstellen könnte: vor dem Angesicht Gottes.“2 Wir werden die Rebellen nicht als gnadenlose Selbstdarsteller betrachten, sondern sie vor dem „Angesicht Gottes“ zu sehen haben. Gott gegenüber waren sie bereit, ihr Leben für ihren Glauben zu wagen – und nicht wenige verloren dieses Leben dabei.
Gutsituierte evangelische Theologen beschwören gerne die „ecclesia semper reformanda“, eine ständig zu erneuernde Kirche. Doch in ihrer ökonomischen Saturiertheit desavouierten sie diesen Begriff bis zum Bedeutungsverlust. Die Kirche braucht keine Re-förmchen für ihren planerischen Sandkasten, sondern Jesu rebellischen Geist, der in das „sanftlebende“ Gemeinwesen hinein weht, bläst, stürmt. Der Heilige Geist muss Menschen packen wie in der Reformationszeit, als charismatisch bewegte Christen zur Aktion schritten. Sich die Erinnerung an das Rebellische zu bewahren oder noch besser: dadurch das Rebellische in sich selbst anregen oder reanimieren zu lassen, tut Seele und Kirche gut. Manche Vertreter der Reformation präsentieren sich zeitgenössischer als milde lächelnde Würdenträger mit Sakko und Schlips, denen ich von Amts wegen verurteilt bin zu begegnen…
1 Lilje, Luther, Anbruch und Krise der Neuzeit, 1946, S.6
2 Ebd. S.97
Rebellen der Reformation… Reformatoren sind Rebellen, da sie gegen den Status Quo aufbegehren. Auch wenn es dem einen oder anderen nicht lag, musste er doch rebellieren, weil er so konservativ war, dass er die Tradition ernster nahm als die offiziellen Vertreter der Religion. In Re-formation steckt der Wortteil „re“, also zurück, in die alte Form zurückbringen. Die Reformatoren wollten die alte Wahrheit wieder ans Licht bringen, nicht etwas Neues gründen. Aber durch den Widerstand der alten Garde einschließlich eines relativ progressiven Erasmus wurden sie Empörer.
Luther rebellierte schon im Kloster gegen die Unaufrichtigkeit, verstärkt nach seiner Romreise. Heute wirken die lutherische Orthodoxie wie auch die zunehmende Rechthaberei des Reformators reaktionär, doch am Anfang stand Bruder Martins Aufbegehren.
Die führenden Rebellen der Reformation wollten Wahrhaftigkeit, wenngleich mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Martin Luther ging es um die Gnade Gottes und seine Unabhängigkeit von menschlichen Ritualen oder Formen, Andreas Karlstadt ging es um die Gleichheit aller Glaubenden vor Gott, Philipp Melanchthon ging es um die wahrhafte Überlieferung der Botschaft Jesu in die Gegenwart, Thomas Müntzer ging es um die Gerechtigkeit Gottes, die auch ihr soziales Pendant haben muss. Die Frauen spielten ihre eigene Rolle, da sie nicht einfach parallel zu den Männern rebellieren konnten. Sie mussten sich erst in eine Position manövrieren, in der sie ernst zu nehmen waren, obwohl das Thema „Gleichberechtigung“ keineswegs aktuell war, auch wenn Herr Luther seine Gattin als „Herr Käthe“ titulierte, weil er sie so selbstbewusst erlebte.
Auch Franz von Sickingen oder Götz von Berlichingen haben rebellische Tendenzen, weil sie sich gegen das Establishment wandten. Fragwürdig wirken bei von Berlichingen seine selbstsüchtigen Motive, seine Autobiografie offenbart allerdings durchgehend eine rebellische Struktur. Er konnte einfach nicht anders.
Als spannend erweist sich ein Vergleich mit der politischen 68er-Generation. Sie gabelte sich zum einen in die Richtung der RAF als eine durch die Politik provozierte radikalisierte Reaktion und zum anderen in die, die den Marsch durch die Institutionen antraten. Immer wieder korrumpierten die Institutionen die Marschierer – beispielsweise den rebellischen Juso Gerhard Schröder, der später als Kanzler „Genosse der Bosse“ wurde und sich nicht schämte, einen Kryptodiktator wie Putin einen lupenreinen Demokraten zu nennen3.
Die Rebellen der Reformation stehen im Kontext ihrer Zeit. Für das religiöse und gesellschaftliche Leben passt die Zuordnung: „ausgehendes Mittelalter“4. Etwas Neues bricht an durch die Kopernikanische Wende5, durch die Massenproduktion von Schriften und Bildern dank Guttenberg, mit den emanzipatorischen Bewegungen der Ritter, Bauern und Bürger.
Columbus hatte gerade Amerika „entdeckt”, als die Europäer auch bei sich etwas “entdeckten”: ihre Individualität. Eingebunden in die gottgefügten Läufe dieser Welt und die auch das Seelenleben bindenden Mächte der Kirche und der gesellschaftlichen Kräfte lebten die Menschen des abendländischen Mittelalters. Aber genau dieses Selbstverständnis brach um 1500 auf, visualisiert durch Albrecht Dürer, der sein Künstler-Ich messiasgleich darstellte. Die neue Zeit war mehr als die Entdeckung der Neuen Welt, die Weltumsegelung mehr als das Wissen des deutschen Kaisers spanischer Zunge, dass in seinem Reich die Sonne nie untergeht und die Erde immer eine sonnenzugewandte Seite hat. Die Aufbrüche zu einem weiteren Horizont und die Zusammenbrüche geistlicher und weltlicher Autoritäten auf dem Hintergrund ihres offensichtlichen Machtmissbrauchs schärften die Wahrnehmung der Menschen und damit auch des wahrnehmenden Subjektes. Die Renaissance mit ihren Prachtbauten und dem Ablasshandel, mit dem Peterspfennig und dem Verschachern von Bischofssitzen wurde von der künstlerisch gestalteten Terrine zum gusseisernen Kessel, in dem alles wie von Feuer erhitzt zu brodeln begann: höllische Zeiten.
Das alte Zeitalter ging furios zu Ende. Ein besonderes Fanal setzten chiliastische6 Eiferer in Münster, wo sie eine Gottesstadt gründeten7. Ein Versuch, der wenig später und weniger blutig auch von Calvin in Genf wiederholte wurde.
Im Orient hatte 1501 Schah Ismael I den Iran mit schiitischem Islam geeint. 1519 eroberten die Türken Syrien, Ägypten und Algerien, Süleiman II, „der Prächtige“ wurde 1520 Sultan des Osmanischen Reiches. Die Türken belagerten 1529 Wien8. Diesem Ost-West-Kontakt verdankte die österreichische Monarchie ihre Kaffeehäuser: Zwar stießen in der Folge zwar die Einflussgebiete weiterhin aneinander, aber die kulturellen wie kulinarischen Entwicklungen verliefen fast isoliert. Der zentraleuropäischen Aufklärung und industriellen Revolution entspricht kein gleichzeitiges vordergründiges Pendant in der islamischen Welt.
Daher kommt es erst heute zum Aufeinanderprallen zweier Weltbilder in den islamisch geprägten Gesellschaften der Gegenwart. In den islamischen Kulturbereich mit seinem ausgeprägten Traditionsbewusstsein drang die Technik der Neuzeit aus dem Okzident ein. Vielleicht befindet sich islamische Teil der Menschheit derzeit in einer Art „Krieg der Paradigmata“. Zwar sagt man der Technik wie auch der Naturwissenschaft nach, sie seien wertfrei, aber durch ihre Anwendung und ihre Ziele sind sie niemals steril verpackt, sondern tragen die Keime des kulturellen Bereiches, aus dem sie stammen, in sich. Ein Osama Bin-Laden, der mit einem Handy auf einem Maultier durchs afghanische Gebirge ritt, verkörperte einen Paradigmen-Synkretismus9, bei dem die Ungereimtheiten dominieren.10
Vielfältige Ursachen bewirkten die sozialen Unruhen des deutschen Mittelalters mit ihren keineswegs kongruenten Interessengruppen. 1523 erhoben sich die Ritter, von Franz von Sickingen angeführt; doch ihre Zeit war abgelaufen. Parallel wuchs das Leiden unter den Bauern über das kritische Limit und sie erhoben sich relativ zeitgleich an ganz verschiedenen Orten. Friedrich Engels betrachtete dies als den „großartigsten Revolutionsversuch des deutschen Volkes“11 und den Thüringer Aufstand als Höhepunkt, bei dem Thomas Müntzer unterschiedliche antifeudale Kräfte in seiner Bewegung vereinte. Die wirtschaftlichen Verhältnisse zwangen zum Umdenken (Karl Marx). Keine Gedankenspielereien, sondern ganz konkrete Nöte drängten die Ritter und Bauern zum Aufstand. Vergleichbar damit führte zwar der Millionär Osama bin Laden Al Quaida an, konnte aber nicht als Prototyp des radikalisierten Islamisten dienen. Auch heute bilden die Mehrheit weder Millionärssöhnchen noch Akademiker, sondern Underdogs.
Auch Thomas Müntzer stammte aus einer begüterten Familie und hatte studiert. Dadurch gehörte er eben nicht zu denen, die er anführte. Aufstände unseres Mittelalters lassen sich partiell mit den islamistischen Befreiungsschlägen vergleichen. Dabei begehrten außer den ausgebeuteten Bauern auch die Bürger gegen die Repressalien der staatlichen und kirchlichen Obrigkeit auf.
Wir Christen in der Bundesrepublik stehen in dieser Geschichte, aber zugleich auch an ihrem Ende: Analog zum 16. Jahrhundert begegnet uns in der Gegenwart ein tiefgreifender Paradigmenwechsel.12 Die Identifikation von Religion und Region hat sich überlebt.
Anfang des 16. Jahrhunderts kristallisierte sich die Bedeutung des Individuums heraus. Martin Luther lebte und definierte den Glauben als persönliche Erfahrung und Entscheidung. Darüber hatte nicht mehr kollektiv die Kirche zu entscheiden ließ. Die Individualisierung signalisierte in der bildenden Kunst Albrecht Dürer, indem er seit 1500 seine Drucke signierte und als geistiges Eigentum markierte. Da suchte Luther noch seinen Weg. 17 Jahre später, im Durchbruchsjahr der Reformation, erstellte ebenfalls in Nürnberg Veit Stoß seinen berühmten Engelsgruß, die Verkündigung Mariens. Freischwebend im Raum und umgeben von den 55 Blüten des Rosenkranzes verkündete der Erzengel Gabriel der Jungfrau Maria die Geburt Christi. Dieses freischwebende Medaillon kostete den Auftraggeber Anton II. Tucher etwa so viel wie Albrecht Dürer für sein Haus hinblätterte. Über das Medaillon platzierte der Künstler Gottvater. Diesen stellt er aber nicht kraftstrotzend dar, sondern leidend und noch dazu gebrandmarkt. So sah der Künstler selbst aus.13 Gott gab er sein Antlitz. Dürer malte den Menschen göttlich, Stoß gestaltete Gott menschlich.
Die Nürnberger Künstler stellten sich als Messias und Gottvater dar. Sie traten aus der Anonymität heraus und gaben dem neuen menschlichen Selbstwertgefühl religiöse Dimensionen.
Der bis heute wirksame Umbruch des Weltbildes vor 500 Jahren verband sich mit sozialen Verwerfungen und provozierte chiliastische Phantasien. Historische Darstellungen präferieren Persönlichkeiten, zu denen sich Mehrheiten bekannten und deren Wirken Erfolge zeitigte, wie Luther, Zwingli und Calvin. So gelten die verzweifelten Bauernaufstände oder das agonisierende Aufbäumen der Ritterschaft vielen heute als tote Zweige jener Epoche. Die Sieger malten jene Protagonisten mit negativen Konnotationen und verdrängten ihre relevanten Anteile.
Parallelen und Differenzen zur Gegenwart lassen sich an manchen Persönlichkeiten besonders gut veranschaulichen. Zu diesen gehört als schillernder Akteur der heißen Phase der Reformation Thomas Müntzer. Auf ihm muss ein Schwerpunkt liegen.
Von seinem Charisma her scheint er dem Protagonisten Martin Luther ebenbürtig und von seinem theologischen Feuer her ebenfalls. Das Paar reizt in seiner Entwicklung vom Miteinander bis zum Gegeneinander, zum Vergleich mit Fidel Castro und Ernesto Che Guevara: Che Guevara und Müntzer endeten in der Revolution, Luther und Castro überstanden die revolutionäre Phase ihrer Bewegungen und gelangten ins ruhige Fahrwasser einer neuen, durch sie geprägten Orthodoxie, die sich de facto als konterrevolutionär ent-puppte.
Der Argentinier Che Guevara, Jahrgang 1928 erlebte seine „Berufung“ 1951 bei einer Tour mit einem alten Motorrad durch Lateinamerika, wo er die erschreckende Armut der ruralen Bevölkerung und die sozialen Kontraste realisierte. 1956 kämpfte der Arzt an der Seite von Fidel Castro auf Kuba gegen den blutigen Diktator Batista. Nach dem Sieg ordnete Guevara beim „Obersten Kriegsrat“ gegen Akteure des Batista-Regimes Todesurteile auch ohne Gerichtsverhandlung an. Er wollte den "Neuen Menschen" durch hohe moralische Ansprüche wie auch durch gewaltsame Methoden erzwingen.
In der Kubakrise 1961 war Guevara bereit, Atomraketen auf die USA abzufeuern. Als Revolutionär im Kongo und Südamerika forderte er, sich als Guerilla im Kampf von „unbeugsamem Hass“ antreiben zu lassen, als „effektive, gewaltsame, selektive und kalte Tötungsmaschine“. 1967 in Bolivien in einem Gefecht gefangen genommen, wurde er tags darauf ohne Gerichtsverhandlung hingerichtet– was er durch eigene Praxis als Minister in Kuba legitimiert hatte.
Diese Kritik an menschenverachtenden Revolutionären richtet sich nicht gegen die Ziele der Revolutionen zur Befreiung von Menschen aus Unterdrückung, sondern begleitet die Kritik an menschenverachtenden Diktatoren, demokratisch gewählten menschenverachtenden Regierungen oder gewissenlosen Konzernen. Martin-Luther King (19291968) als Zeitgenosse Che Guevaras (1928-1967) demonstrierte überzeugend andere effektive Kampfmittel als Mord.
Der tote Revolutionär wurde teilweise aus Perspektiven fotografiert, die eine Art von Heiligenbild als Ergebnis hatten. Als „Heiliger“ kam er aus dem Urwald auf die T-Shirts. Keine Ikone wurde Müntzer, der wesentlich selbstkritischer auf die Motive gewaltsamen Widerstands sah. Das kirchliche Selbstverständnis verdrängte dank des Übervaters Luther den protestantischen Revolutionär Müntzer als Mitreformator. Von dieser schwarzen Folie hob sich der subalterne Mainstream positiv ab. Das Verdrängte kommt allerdings meist mit unheimlicher Macht wieder (Sigmund Freud).
Eine Schwarze-Folien-Darstellung von 1846 zum 300. Todestag von Luther:14
Angesichts schrecklicher Ereignisse der Gegenwart holen wir dieses Schreckgespenst braver Protestanten aus der Verdrängung ins Bewusstsein: Der Geist Gottes weht, wann und wo er will. Das meinte auch Martin Luther, aber selbst von diesem Giganten ließ sich der Geist Gottes nicht vorschreiben, bei wem er nicht wehen dürfte und brachte Menschen zum Schwärmen. „Schwärmer“ waren für Luther ein rotes Tuch. Nicht wenige von ihnen brachte der Geist dazu, menschliche Gebilde, die angebetet werden könnten, zu zerstören. Luther stürmte wie ein wild gewordener Stier auf dieses rote Tuch zu. Obgleich Luther rot sah, brachte er eine wichtige Erkenntnis ein: Die Zerstörung von äußerlichen Bildern ändert nichts am Bedürfnis der Menschen, solche Anbetungsgegenstände zu haben. Sie werden sich also andere suchen. Die Luther-Ikone der lutherischen Orthodoxie entlarvte wunderbar Otmar Hörl mit seinen Kunststoff-Lutherikonen.
3 Die lateinische Vulgata war die offizielle Bibelversion der römischen Kirche. Beim Rückgriff auf die griechischen und hebräischen „Originale“ stellten die Humanisten viele Ungenauigkeiten oder gar Fehler in den Übersetzungen fest.
4 Wie im gut recherchierten Film „Das Leben des Brian“ der Monty Pythons.
5 In den 70ern galt „Sympathisant“ als „verfassungsfeindlich“. Manchmal stand man als Pfarrer unter Generalverdacht der Konservativen, das „System“ zu „unterwandern“. Das Nachdenken über Jesus gefährdete die freiheitlich demokratische Grundordnung. Innenminister Stoiber ließ gar evangelische Gotttesdienstbesucher vom Verfassungschutz beobachten.
3 Seine Antwort auf eine entsprechende Frage des Journalisten Reinhold Beckmann 2004 differenzierte Schröder später deutlich regimekritisch.
4 Das Ende des Mittelalters wird von Historikern unterschiedlich definiert. Die genannten Wendepunkte könnten einander ergänzen; zumindest signalisieren sie für jeweils ihren Bereich einen fundamentalen Umbruch und Veränderungen in der Gesellschaft, die das Miteinanderleben, die Gestaltung der Politik oder die Weltsicht bestimmen.
5 Der Kleriker Nikolaus Kopernikus, *19. 2. 1473 Thorn, †24. 5. 1543 Frauenburg (Ostpreußen) konnte sich bei seinen astronomischen Beobachtungen die Bewegungen der Planeten mit dem klassischen geozentrischen Weltbild nicht mehr erklären und berechnete, dass die Sonne der Mittelpunkt für die Laufbahnen der Planeten einschließlich der Erde sei. Dieses heliozentrische Weltbild publizierte er in „De revolutionibus orbium coelestium“ als mathematisch-naturphilosophisches Modell. Die Erkenntnis dieser Revolutionen der Flugbahnen der Planeten bewirkten einen zentralen Paradigmenwechsel, da sie das geozentrische durch das heliozentrische Weltbild ablösten und sich dabei auch eine neue Frage nach der Lokalisierung Gottes stellt sowie die Bedeutung, die Rom mit dem Papst für die Heilsgeschichte hat. Die Erde und mit ihr die Menschen und auch das religiöse Zentrum Rom wurden aus ihrer zentralen Stellung verbannt. Das Gefühl, nicht im Mittelpunkt zu stehen, verunsicherte viele Menschen.
6 Chiliastisch nennen Fachleute die Vorstellung eines tausendjährigen Zwischenreiches zwischen „unserer Weltzeit“ und dem „Reich Gottes“. Die Berechnungen des Weltendes orientieren sich an verschlüsselten Formulierungen der Offenbarung des Johannes.
7 Im Münster-„Tatort“ glaubt Pathologe Karl-Friedrich Börne, Zeugnisse jener Zeit vor sich liegen zu haben.
8 Luther schrieb dazu sein „Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott in diesen Zeiten“.
9 Synkretismus bezeichnet die Vermengungen Inhalte zweier oder mehrerer Religionen zu einer neuen Einheit.
10 Diese Erfahrung machten in der Bundesrepublik viele sog. Gastarbeiter, die aus wirtschaftlichen Gründen „Welten gewechselt“ hatten und eine Synthese der kulturellen Prägung und der neuen Umwelt nicht praktizieren konnten.
11 Friedrich Engels: Der deutsche Bauernkrieg. In: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, 1960, S. 409.
12 Verglichen mit der Reformationszeit führen die deutschen Kirchen eine saturierte Existenz mit beschaulicher Landeskirchenherrlichkeit.
13 Wegen einer Schuldscheinfälschung, auf die eigentlich die Todesstrafe stand, war der gefragte Stoß gebrandmarkt worden.
14 Aus „Dr. Martin Luthers Leben“ Herausgegeben von dem christlichen Vereine im nördlichen Deutschland. Halle, 1846, S.104
Die Reformation vollzog sich als ein komplexer Prozess. Die beherrschenden theologischen Themen erschienen nicht herausgelöst aus dem gesamtgesellschaftlichen Prozess. Zur Reformation gehören folglich rebellische Phänomene jener Zeit, die sich aus anderen Motiven speisten, also außer dem Bauernaufstand das Aufbegehren der Ritter.
Wie ein „letzter Ritter“ 15 in seiner vergeblichen Revolte wirkte Franz von Sickingen. 1481 auf Burg Ebernburg geboren, heiratete er mit knapp 20 Jahren Hedwig von Flersheim, deren Bruder Philipp später Bischof von Speyer wurde. Die beiden bekamen sechs Kinder. Als 1515 Hedwig im Kindbett starb, wurde ihr Witwer militärisch aktiv. Franz von Sickingen zeigte sich trotzig, aber unzeitgemäß als klassischer Ritter. 1525 beim Bauernkrieg setzen die Fürsten kriegsentscheidend Kanonen ein. Die veralteten Ritter verloren rapide an Einfluss. Von Sickingen bewies klassische Rittertugenden: Standhaftigkeit, Entschlusskraft und Mut. Er führte jedoch Fehden gemäß dem altdeutschen Faustrecht. Dieses Recht stand in Konkurrenz zum Römischen Recht. Dieses wiederum benachteiligte die Ritter als niederen Adel und auch die Bauern. Als er mit Sekundanz von Götz von Berlichingen eine Fehde gegen Worms führte, ächtete ihn Kaiser Maximilian stehenden Fußes.
Daraufhin verdingte sich von Sickingen bei Maximilians Konkurrent Franz I. von Frankreich. Unter französischer Fahne führte er Fehden gegen Hessen, Frankfurt und Lothringen. Den erfolgreichen Helden nahm Maximilian 1519 wieder in die eigenen Reihen auf. Nach dessen Tod vernachlässigte Karl V. die Zahlungen für geleistete Dienste und schuldete von Sickingen am Ende über 100.000 Gulden.
1519 traf der Ritter auf Ulrich von Hutten16. Dessen Auffassung einer Reformation der Kirche passte dazu, dass Sickingen schon früher Martin Luther für seine Interessen gewinnen wollte und ihm Unterschlupf angeboten hatte.17 Von Hutten verstärkte von Sickingens Intention, die Macht der Kirche in weltlichen Bereichen einzuschränken. Der Missbrauch geistlicher Kompetenz für irdische Macht war ihm zuwider. Die Kirche sollte predigen, nicht Geld scheffeln. In jenen Jahren suchten führende Gestalten der Reformation Zuflucht auf der Ebernburg, die bald „Herberge der Gerechtigkeit“ genannt wurde.
Auch die schutzsuchenden Reformatoren Johannes Oekolampad und Martin Bucer arbeiteten im Schutz von Sickingens an einer Neugestaltung der Kirche, etwa dem Abendmahl in beiderlei Gestalt und deutsche Messen. In beiderlei Gestalt bedeutet den „Laienkelch“, wobei nicht mehr die Priester eine privilegierte Stellung im Heilsgeschehen haben sollten. Diese auf der Ebernburg praktizierten Umwälzungen prägten die Zukunft jener mutigen Männer. Als von Sickingen dann gegen Trier zog, verließen sie die Burg und konnten in Pfarreien weiterwirken.
Bei dieser Fehde 1520 trafen sich von Sickingen und von Hutten, dem der kirchliche Bann angedroht worden war. Nach dem unbefriedigenden Ausgang des Wormser Reichstages 1521 gingen sie zum Angriff über. Von Hutten versuchte, mit überzeugten Rittern die „ungeistlichen Geistlichen“ aus dem Weg zu räumen. Gegen ihn bildeten die Fürsten eine Koalition, die 1523 eine große Offensive begann. Im April war von Sickingen militärisch derart geschwächt, dass er auf Burg Nanstein (Westfalen) flüchtete. Die Fürstenkoalition beschoss die Festung mit über 1000 Kanonenkugeln an zwei Tagen. Das hielt diese nicht aus. Von Sickingen stand am 1. Mai hinter einer Schießscharte, die von einer Kanonenkugel getroffen wurde. Die Mauer brach ein; der „letzte Ritter“ wurde unter ihren Steinen begraben. Er konnte zwar noch gerettet werden, doch sein Unterleib war zermalmt worden und er starb wenige Tage später. Sein Tod nahm dem „Pfaffenkrieg“ das Zentrum. Die Zeit der Ritter war zu Ende, als der letzte Rebell durch die neue militärische Technik zu Tode gekommen.
Da Götz, eigentlich Gottfried von Berlichingen eine eigene Lebensbeschreibung18 diktierte, sind wir nicht auf das historische Schauspiel von Goethe mit dem berühmten „Götz-Zitat“19 angewiesen. In unseren Kontext tritt er durch seine Freundschaft zu Franz von Sickingen. Im Bauernkrieg rechneten seine Feinde den professionellen Raubritter den Bauern zu. Wenig überzeugend behauptete er später, sie hätten ihn zur Kooperation gezwungen.
Damals war er Mitte vierzig. Für einen noch dazu gehandicapten Ritter in jenen wilden Zeiten ungewöhnlich starb er mit über 80 Jahren 1562 auf Burg Hornberg – nach unglaublich vielen Fehden. Seine Rüstung wie seine eiserne Hand ist noch zu besichtigen und zeigt im Kontext von Kanonen die anachronistische Seite seines Rittertums. Er selbst schreibt von sich als „Reiter“.
1504 verletzte ihn bei der Belagerung von Landshut ein Schuss aus einer Feldschlange. Die Kugel traf den Schwertknauf und dessen Splitter trennten die Hand am Handgelenk vom Arm. Im Feldlager amputierte sie ihm der Medicus endgültig, um einen Wundbrand zu verhindern.20 Seinem Wissen nach hatte ein Reiter „Kochle“ eine Prothese aus Eisen. Einige Jahre später ließ er sich eine solche anpassen und avancierte zum „Ritter mit der eisernen Hand“. Diese Prothese, eine sogenannte „Balbronner Hand“ verfügte über verschiedene Bewegungsmechanismen und eine einfache Greiffunktion, die wieder aufgelöst werden konnte.
Auf der Suche nach einem Stützpunkt erwarb er 1517 Burg Hornberg von Konrad Schott von Schottenstein, seinem Freund.21. Berlichingen zeichnete sich als edlen Mann, aber de facto war er käuflich. So ließ er sich etwa binnen Jahresfrist für eine Fehde gegen Konrad Schott anheuern, den er weiterhin als Freund bezeichnete. Diese Fehde nahmen ihm seine Gesinnungsgenossen übel, wobei es Konrad nicht gelang, ihn gefangen zu nehmen. Immerhin war Götz so ehrlich, Konrad die letzte Rate für die Burg (2500 Gulden) zu zahlen. Die Übergabe sollte an Konrads Frau Dorothea von Schottenstein in Schweinfurt erfolgen. Da Schotts Männer nicht alle Schweinfurter Stadttore bewachten, konnte Götz auf eine Warnung hin entkommen. Er hatte sich vorher strategisch überlegt, welches Tor warum besonders bewacht wäre. Er wählte das unbedeutende Tor nach dem Schleiteich; der weitere Weg machte ihm anschließend viele Umstände, aber deswegen war es wohl auch nicht gut bewacht…22 Das unscheinbare Tor muss man auch heute noch suchen. „Damit kann Götz nur das äußere Obertor (erbaut1502) gemeint haben. Der Schleiteich ist der Spitalsee. Der Schleichleinsgraben ist der Pfanngraben, dessen Wasser durch den Spitalsee floss.“23
Der Weg nach Norden durchs Obertor schien den Verfolgern strategisch uninteressant; der Süden mit dem Main, der Westen nach Würzburg, der Osten nach Bamberg boten die angesagten ausgebauten Fluchtwege. So entschied sich Götz für das kleine Tor bei der Neuen Gasse 57, wo er das Überraschungsmoment für sich verbuchen konnte.24
Im folgenden Bauernkrieg gewannen die Bauern Götz für sich – angeblich mit Drohungen, was der Solidarität nicht förderlich war. Er entzog sich bei der erstbesten Gelegenheit den Aufständischen, wie dies Friedrich Engels beschrieb: „Die vor Würzburg vereinigten Haufen hatten inzwischen den Frauenberg belagert und am 15. Mai, noch ehe die Bresche geschossen war, einen tapfern, aber vergeblichen Sturm auf die Festung versucht. 400 der besten Leute, meist von Florian Geyers Schar, blieben in den Gräben tot oder verwundet liegen. Zwei Tage später, am 17., kam Wendel Hipler an und ließ einen Kriegsrat halten. Er schlug vor, nur 4.000 Mann vor dem Frauenberg zu lassen und mit der ganzen, an 20.000 Mann starken Hauptmacht unter den Augen des Truchseß bei Krautheim an der Jagst ein Lager zu beziehen, auf das sich alle