Ronco - Die Tagebücher 31: Alte Spuren - Alfred Wallon - E-Book

Ronco - Die Tagebücher 31: Alte Spuren E-Book

Alfred Wallon

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Beschreibung

Es ist viel Zeit vergangen, seit ich meine letzten Tagebuchaufzeichnungen verfasst habe. Andere wären an dem zerbrochen, was ich durchmachen musste. Manches davon verfolgt mich immer noch in meinen Träumen.Vielleicht ist es auch die Ungewissheit meiner Herkunft, die mich dazu bringt, alles aufzuschreiben. So begann ich meine Suche nach Don Carpenter, weil ich mir von ihm Antworten auf meine eigene Vergangenheit erhoffe. Aber noch immer habe ich einen mächtigen Gegner. Einen Mann namens Titus Lancaster, der mit allen Mitteln verhindern will, dass die Geheimnisse meiner Vergangenheit ans Tageslicht gelangen.

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RONCO

In dieser Reihe bisher erschienen

2701 Dietmar Kuegler Ich werde gejagt

2702 Dietmar Kuegler Der weiße Apache

2703 Dietmar Kuegler Tausend Gräber

2704 Dietmar Kuegler Apachenkrieg

2705 Dietmar Kuegler Das große Sterben

2706 Dietmar Kuegler Todesserenade

2707 Dietmar Kuegler Die Sonne des Todes

2708 Dietmar Kuegler Blutrache

2709 Dietmar Kuegler Zum Sterben verdammt

2710 Dietmar Kuegler Sklavenjagd

2711 Dietmar Kuegler Pony Express

2712 Dietmar Kuegler Todgeweiht

2713 Dietmar Kuegler Revolvermarshal

2714 Dietmar Kuegler Goldrausch

2715 Dietmar Kuegler Himmelfahrtskommando

2716 Dietmar Kuegler Im Fegefeuer

2717 Dietmar Kuegler Die Ratten von Savannah

2718 Dietmar Kuegler Missouri-Guerillas

2719 Dietmar Kuegler Höllenpoker

2720 Dietmar Kuegler Das Totenschiff

2721 Dietmar Kuegler Der eiserne Colonel

2722 Dietmar Kuegler Der Feuerreiter

2723 Dietmar Kuegler Die Ehre der Geächteten

2724 Dietmar Kuegler Der letzte Wagen

2725 Dietmar Kuegler Die Händler des Todes

2726 Dietmar Kuegler Das Massaker

2727 Dietmar Kuegler Jagd auf Ronco

2728 Dietmar Kuegler Gewehre für Juarez

2729 Dietmar Kuegler Der Weg nach Vera Cruz

2730 Dietmar Kuegler Am Ende aller Wege

2731 Alfred Wallon Alte Spuren

2732 Alfred Wallon Sterben in El Paso

Alfred Wallon

Alte Spuren

Als Taschenbuch gehört dieser Roman zu unseren exklusiven Sammler-Editionen und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt.Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.© 2023 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Rudolf Sieber-LonatiUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-180-9

Gegenwart, 1. Oktober 1891, Prescott / Arizona, Abends gegen 18:30 Uhr

Ich weiß, dass ich schon sehr lange meine Aufzeichnungen nicht fortgesetzt habe, seit ich für die Wells Fargo arbeite. Eigentlich hätte ich gedacht, dass die Schatten der Vergangenheit endlich hinter mir liegen würden. Aber selbst jetzt werde ich von Albträumen heimgesucht, in denen ich um mein Leben kämpfe, weil ich zu Unrecht verfolgt werde. Das ist nicht mehr so, ich bin rehabilitiert, arbeite als Sicherheitsagent für die Wells Fargo und habe eine Familie, auf die ich mit Recht stolz sein kann.

Wenn ich meinen ältesten Sohn Jellico beobachtete, wird mir bewusst, wie viel Zeit vergangen ist. Bald wird er erwachsen sein, und dann werden sich vermutlich viele Dinge in seinem Leben ändern. Wahrscheinlich steht das auch in dem Brief von Pedro Abogado, der schon gestern angekommen ist. Henry Duncan, der Chef der Wells-Fargo-Agentur in Prescott, hat ihn mir heute Mittag gegeben und meinte, es wäre wohl etwas Wichtiges. Schließlich ist der Absender der Anwalt Pedro Abogado aus Mexiko, der nach Andrew Hiltons Tod die Geschäfte des Fuhrunternehmens seriös betreibt und außerdem noch Testamentsverwalter des Hilton-Erbes ist. Ein Erbe, das Jellico antreten wird. Er kommt bald in das Alter, wo diese Klausel wirksam wird.

Wahrscheinlich ist dieser Brief eine Erinnerung daran. Aber ich finde einfach nicht die Muße, ihn zu öffnen und zu lesen. Noch immer lassen mir die Schatten keine Ruhe. Und was ich zuletzt erlebt habe, das ist genug, um es nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Deshalb ist es richtig, dass ich diese Aufzeichnungen fortsetze. Ich tue es nicht nur, um meinen eigenen Seelenfrieden zu finden, sondern ich will das alles auch für meine Familie fest­halten. Damit auch die beiden Mädchen Mariabel und Linda eines Tages begreifen, warum ihr Vater manchmal sehr nachdenklich dreinblickt. Manuela weiß schon vieles, aber auch nicht alles. Ich will sie damit nicht belasten. Erst wenn ich mit mir selbst ins Reine gekommen bin, werde ich ihr alles sagen.

Jellico ist in einem Alter, wo er das schon verstehen würde. Er hat schließlich auch so einiges in seinen jungen Jahren erlebt und erfahren, was Gewalt und Tod bedeuten. Dass er das dennoch so gut weggesteckt hat, ist für mich schon eine Art glückliche Fügung. Ich will die Schatten so lange wie möglich von ihm fernhalten. Obwohl ich spüre, dass eine Flucht aus der Vergangenheit nicht möglich ist. Noch immer will man verhindern, dass ich etwas über meine eigenen Wurzeln erfahre und erkenne, von wem ich abstamme. Verantwortlich dafür ist ein Mann namens Titus Lancaster. Ich kenne diesen Mann nicht und bin ihm bis heute noch nicht begegnet. Und doch weiß ich, dass meine Vergangenheit für ihn so wichtig ist, dass er mit allen Mitteln versucht, mich an weiteren Nachforschungen zu hindern.

Ich möchte verstehen, warum er das tut und was geschehen könnte, wenn ich mehr herausfinde. Deshalb werde ich nicht aufgeben und meine Nachforschungen fortsetzen. Jeder Mensch hat das Recht darauf, seine Eltern zu kennen und zu wissen, von wem er abstammt. Nur ich durfte dieses Gefühl bisher nicht erleben und schätzen. Ich besitze mittlerweile drei Medaillons, die etwas mit meiner Familie zu tun haben. Eins davon hatte ich schon immer, die beiden anderen entdeckte ich bei meiner Suche nach der Vergangenheit. Alle drei sehen gleich aus, und auf dem Medaillon sieht man den Kopf einer Frau. Es könnte meine Mutter sein, aber ich weiß bis heute nicht, was aus ihr geworden ist.

Ich denke, dass ich zwei Geschwister habe. Aber ich kenne ihre Namen nicht und habe keine Ahnung, wo sie sich jetzt aufhalten. Vielleicht leben sie auch schon nicht mehr. Dann ist es jedoch meine Pflicht, zu erfahren, was ihnen zugestoßen ist und ob es vielleicht noch weitere Verwandte gibt. Diese Sehnsucht lässt mich oft nicht einschlafen, weil ich mich mehr damit beschäftige, als ich anfangs gedacht habe. Manuela versteht das und versucht mich zu trösten und mir auch eine Stütze zu sein. Aber letztendlich muss ich die Wahrheit herausfinden. Nur dann werde ich Ruhe finden.

Die ganze Sache kam wieder neu ins Rollen, als mir Henry Duncan einen Zeitungsartikel zeigte, in dem ein Name genannt wurde, der für mich ganz wichtig war: Don Carpenter, der Sohn des Treckführers Ezrah ­Carpenter, der 1848 in Texas Führer eines Trecks war, der von Indianern überfallen und ausgeraubt wurde. In den ausgebrannten Resten der Wagen fanden mich damals die Mönche, die mich später in ihrer Mission aufzogen.

Über all dies habe ich schon Aufzeichnungen verfasst und muss deshalb nicht mehr darauf eingehen. Wichtig ist mir jetzt all das, was ich erlebt habe, als ich erkannte, dass der Frieden und die Hoffnung auf ein glück­liches Familienleben immer noch keine Option für mich waren. Weil es gewissenlose Menschen gab, die mir dieses Leben nicht gönnten und meine Nachforschungen ­stoppen ­wollten. Sie wussten jedoch nicht, wie hartnäckig ich sein konnte, wenn es darum ging, einer Spur zu folgen, an dessen Ende viele Rätsel endlich geklärt werden konnten. So nahm ich die alten Spuren wieder auf, und eine davon war die Suche nach Don Carpenter, die mich auch zu Feinden aus meiner Vergangenheit führte. Gefährliche Killer, die von Titus Lancaster bezahlt wurden.

Kapitel 1

„Ist Henry Duncan da?“, fragte ich Luther Collins, der das Telegraph Office in der Wells-Fargo-Station betrieb und gerade damit zugange war, eine Nachricht zu übermitteln. Er war so in seine Arbeit vertieft, dass er mich gar nicht bemerkt hatte. „Er hat gesagt, dass er mit mir sprechen will.“

„Er ist nebenan“, erwiderte Collins. „Gehen Sie nur weiter, Ronco.“

Ich nickte Collins kurz zu und stand dann Henry Duncan gegenüber. Duncan war nicht nur der Leiter der Wells-Fargo-Zweigniederlassung in Prescott und damit mein Boss vor Ort, sondern er war im Lauf der letzten Jahre auch ein Freund und Vertrauter geworden.

„Du scheinst berühmt geworden zu sein“, sagte Henry Duncan zu mir, nachdem wir uns mit einem kurzen Hände­druck begrüßt hatten. Er hielt in seiner rechten Hand ein Exemplar des Phoenix Independent und deutete mit dem Zeigefinger der linken Hand auf die Überschrift. „Was für ein Glück, dass Ned Buntline niemals mit dir gesprochen hat. Wer weiß, was er sonst alles über dich geschrieben hätte?“

Ich begriff nicht, warum Henry jetzt grinste, während er mir die Zeitung reichte, damit ich selbst einen Blick auf den Artikel werfen konnte, der auf der Titelseite stand. Es musste mächtig interessant sein, was er bis jetzt gelesen hatte, und er wollte mich unbedingt darauf hinweisen. Warum auch immer!

„Du weißt, dass nicht alles stimmt, was in der Zeitung steht“, erwiderte ich. Ich hatte in meiner bewegten Vergangenheit selbst erlebt, was bestimmte Zeitungen über mich geschrieben hatten und dass ich in deren Augen ein gefährlicher Mörder gewesen war, ohne dass sich die besagten Schreiberlinge überhaupt Zeit dafür genommen hatten, um sich mit meinem Leben im Detail zu befassen.

„Trotzdem ist es gut, dass darüber geschrieben wurde“, meinte Henry, griff hinter sich ins Regal und holte eine Flasche mit zwei Gläsern heraus. Echter Kentucky Bourbon war das, er schien also einen Grund zum Feiern zu haben. „Das bedeutet nämlich, dass sich die Wells Fargo um die Sicherheit ihrer Passagiere und den Schutz der ihr anvertrauten Frachtladungen kümmert. Und du hast schließlich auch einen Teil dazu beigetragen. So steht es jedenfalls hier geschrieben.“

„Das ist mein Job, Henry“, sagte ich. „Und ich versuche, ihn so gut wie möglich zu machen. Nicht mehr und nicht weniger.“

Dann nahm ich mir den Artikel vor und las ihn durch, weil Henry Duncan ausdrücklich darauf bestanden hatte. Wahrscheinlich, weil ich ihm wieder mal zustimmen sollte, wie gut es war, in den Diensten einer solch mächtigen Gesellschaft zu stehen und dort immer gebraucht zu werden. Ich war zwar dankbar, dass Wells Fargo mir diese Chance gegeben hatte, aber ich schloss James B. Hume und John J. Valentine, die beiden Bosse der Gesellschaft, nicht unbedingt täglich in meine Gebete ein.

„Lies ruhig, was die Zeitung über dich schreibt“, forderte mich Henry jetzt mit einer ungeduldigen Geste auf. „Das ist ein guter Artikel, und du kommst ebenso gut weg.“

Ich seufzte innerlich, tat dann aber doch, um was Henry mich gebeten hatte. Es ging um eine Bande von zwielichtigen Halunken, die in den letzten Wochen und Monaten schon öfters Überfälle auf die Postkutschenlinie zwischen Prescott und Phoenix gestartet hatten. Zweimal waren sie dabei erfolgreich gewesen, aber beim dritten Mal hatte ich sie stoppen können. Es war ein kurzer, aber heftiger Kampf gewesen, und ich war froh, dass mein Freund Lobo in diesen entscheidenden Minuten mir zur Seite gestanden hatte. Gemeinsam war es uns gelungen, zwei der Halunken mit gezielten Schüssen außer Gefecht zu setzen, und die anderen beiden Halunken hatten dann aufgegeben. Weil sie begriffen hatten, dass nicht den Hauch einer Chance bestand.

Jetzt hockten sie im Gefängnis von Yuma und saßen dort ihre Strafe ab. Ob sie diese harte Haft überhaupt durchstehen würden, war auch nicht sicher. Wer das Gefängnis von Yuma kannte, der wusste, was es bedeutete, dort eingesperrt zu sein.

Ich hatte gar keine Gedanken mehr an diese Sache verschwendet, weil ich längst schon wieder mit anderen Dingen zugange war. Der Verfasser dieses Artikels, ein Reporter namens Jeremiah Flynn, ging noch einmal kurz darauf ein. Aber der eigentliche Inhalt drehte sich um mehrere Passagiere, die öfter mit der Postkutsche diese Strecke zurückgelegt hatten, und auch sie äußerten sich lobend darüber, dass man keine Angst mehr haben musste, unterwegs von Banditen angegriffen zu werden.

Ich las die Namen derjenigen, die hierzu eine Stellungnahme abgegeben hatten. Ein Name stach mir sofort ins Auge. Zunächst wollte ich gar nicht glauben, was ich gerade gelesen hatte. Ich blinzelte kurz, las nochmals die betreffende Stelle und begriff nicht, was der Zufall mir jetzt für eine Chance geboten hatte.

„Du hast es registriert, oder?“, riss mich Henrys Stimme aus meinen Gedanken, die sich in diesen Sekunden förmlich überschlugen. „Es ist nicht unbedingt ein seltener Name, aber ich dachte, du solltest es wissen.“

„Stimmt“, sagte ich, warf einen kurzen Blick auf das Erscheinungsdatum der Zeitung und stellte fest, dass sie schon drei Tage alt war. „Wie bist du an diese Ausgabe gekommen?“

„Sie lag in den Papieren und Dokumenten dabei“, klärte mich Henry auf und schob mir eines der beiden Gläser zum Rand des Schreibtischs. „Trink erst mal was. Ich denke, du kannst es brauchen.“

„So kann man es auch formulieren“, meinte ich, zog einen Stuhl vor, nahm Platz und griff nach dem Glas. Ich kippte den Inhalt in einem Zug hinunter und deutete Henry an, das Glas noch einmal nachzufüllen.

„Ich nehme an, dass du der Sache auf den Grund gehen willst?“, fragte Henry.

„Worauf du dich verlassen kannst. Ich hätte niemals gedacht, dass der Zufall so etwas ermöglichen kann. Don Carpenter“, murmelte ich, während ich das Glas Bourbon nahm. „Es könnte möglich sein, dass er sich noch hier zwischen Prescott, Phoenix und Tucson aufhält. Du weißt, was das für mich bedeutet?“

„Nur zu gut, Ronco“, lautete Henrys Antwort, während ich den zweiten Bourbon trank und die wohltuende Wärme in meinem Magen spürte. „Du willst dich auf die Suche nach Carpenter begeben?“

„Ja“, sagte ich sofort. Henry kannte große Teile meiner Vergangenheit und wusste demzufolge auch, was dieser Zeitungsartikel jetzt in mir auslöste. Eine Flut von Gedanken und Erinnerungen strömte förmlich von allen Seiten auf mich ein, und ich konnte mich gar nicht dagegen wehren. Don Carpenter wusste vermutlich nicht viel über mich. Vielleicht hatte ihm sein Vater von mir erzählt, aber auch das gehörte immer noch zu den ungelösten Dingen aus meiner Vergangenheit. Allein die Tatsache, dass er mit der Wells-Fargo-Kutsche gereist war und mir vielleicht hätte begegnen können, stachelte mich förmlich an, dieser Sache auf den Grund zu gehen. Aber vielleicht wusste er gar nicht, dass ich in Prescott lebte und selbst für Wells Fargo arbeitete. Es waren jede Menge Fragen, die sich in mir auftürmten, und es wurde höchste Zeit, nach den richtigen Antworten zu suchen.

„Also wirst du ein paar Tage unterwegs sein?“

„Ich werde noch heute losreiten, Henry“, sagte ich kurz entschlossen. „Ich muss nur noch mit meiner Familie darüber sprechen. Ich kann dir aber nicht sagen, wie lange es dauern wird, bis ich wieder zurück bin. Sprich bitte mit Lobo darüber, wenn er zurück aus Tucson ist. Ich werde nicht auf ihn warten können.“

Ich wollte mich schon wieder erheben und in Richtung Tür gehen, als mich Henry Duncans Stimme innehalten ließ.

„Ronco, ich weiß, was dieser Hinweis für dich bedeutet und dir jetzt womöglich durch den Kopf geht. Ich bitte dich nur um eins: Sei vorsichtig. Manche alten Spuren sollten besser nicht weiterverfolgt werden. An deren Ende warten oft Enttäuschung und das Wissen, dass viel zu viel Zeit vergangen ist.“

„Du meinst es gut, Henry, und das weiß ich“, entgegnete ich. „Aber ich muss das einfach tun, verstehst du? Es hat nichts mit der Geschichte im Halcon Canyon und mit meinen Jahren als Geächteter zu tun. Es geht ausschließlich um mich und meine Wurzeln. Ich weiß ja noch nicht einmal meinen richtigen Namen und kenne meine Familie nicht. Jeder Mensch sollte aber seine Wurzeln kennen.“

„Ich weiß, dass ich dich nicht zurückhalten kann, und ich werde das auch nicht tun“, antwortete Henry. „Aber bei allem, was dich jetzt bewegt, solltest du auch daran denken, dass du eine Familie hast. Deine Frau und deine drei Kinder brauchen dich. Sie werden nicht begeistert davon sein, wenn sie hören, dass du diese alten Spuren verfolgst und wiederfinden willst.“

„Das lass mal meine Sorge sein, Henry“, fügte ich mit gepresster Stimme hinzu. „Ich werde nach Phoenix reiten und mit dem Reporter sprechen, der diesen Artikel geschrieben hat. Vielleicht kann er mir ja etwas mehr über Don Carpenter sagen. Der kleinste Hinweis wäre schon viel wert. Ich schicke dir ein Telegramm, sobald ich mehr weiß. Einverstanden?“

„Ich wünsche dir Glück, Ronco“, meinte Henry. „Das ist das Mindeste, was ich tun kann.“

Es war ein eigenartiger Moment, als ich mich von Henry Duncan mit einem kurzen Händedruck ­verabschiedete. Wir beide wussten ganz genau, dass wir uns unter Umständen einige Zeit nicht sehen würden. Aber der schlimmste Moment stand mir noch bevor, wenn ich Manuela sagen würde, was ich vorhatte.

*

„Sag bitte, dass das nicht wahr ist“, murmelte Manuela mit einem fassungslosen Blick. „Du willst das tatsächlich tun? Ist dir eigentlich klar, was das für uns alle bedeutet, Ronco?“

Die letzten Worte klangen etwas lauter und spiegelten auf diese Weise die Enttäuschung wider, die von ihr Besitz ergriffen hatte. In ihren Augen blitzte es wütend auf, und sie fuhr sich mit der linken Hand durch die langen schwarzen Haare. Ein Zeichen, dass sie sich kurz davor befand, einen richtigen Streit vom Zaun zu brechen. Das Schlimme daran war, dass ich sie sogar verstehen konnte. Denn ein Familienvater ließ seine Frau und seine drei Kinder nicht einfach für eine längere Zeit zuhause, um eigene Dinge zu regeln, die in einem krassen Gegensatz zu einem normalen und harmonischen Leben standen.

Aber das waren eben die Schatten der Vergangenheit, die mich wieder eingeholt hatten. Wahrscheinlich hatten sie nur darauf gewartet, aus den hintersten Winkeln meiner Erinnerungen wieder zum Vorschein zu kommen und mein weiteres Denken und Handeln zu bestimmen.

„Manuela, du musst das verstehen“, sagte ich, ging auf sie zu und wollte sie in die Arme nehmen. Sie ließ es zwar zu, aber ich spürte, dass sie trotzdem auf etwas Distanz ging. In ihren Augen glitzerte es feucht, aber sie riss sich zusammen und wollte diese Schwäche jetzt nicht zeigen.

„Sind wir dir nicht mehr wichtig genug?“, fragte sie mich. „Was ändert es daran, wenn du diese alten Spuren wieder verfolgst? Jellico, die Zwillinge und ich sind doch deine Zukunft, und wir brauchen dich.“

„Ich brauche euch auch“, sagte ich. „Aber in mir ist trotzdem eine Leere, die mich quält. Ich will wissen, wer ich wirklich bin und woher ich komme, und jetzt habe ich zum ersten Mal wirklich eine Chance, das herauszufinden. Wenn ich diesen Don Carpenter finde und mit ihm sprechen kann, dann besteht eine reelle Chance, mehr über die Hintergründe von damals zu erfahren. Unter Umständen ist ja auch sein Vater Ezrah noch am Leben. Obwohl auf einem Grabstein stand, dass er im Westen verschollen ist. Das heißt aber auch, dass er noch leben könnte. Und das kann ich nur klären, wenn ich mit Don Carpenter sprechen kann. Ich habe mit großer Wahrscheinlichkeit zwei Geschwister und kenne sie nicht, Manuela. Du würdest doch auch mehr wissen wollen, oder?“

Ich spürte, dass Manuela, wenn sie wirklich ehrlich zu sich selbst war, diese Frage nur mit Ja beantworten konnte. Das tat sie schließlich auch, und ich war erleichtert darüber. Die erste Hürde war geschafft, aber es warteten noch weitere auf mich. Schließlich mussten das auch die Kinder erfahren, und sie mussten ebenfalls verstehen, warum ich nicht anders handeln konnte.

„Lobo wird nach dir schauen, sobald er wieder aus Tucson zurück ist“, versprach ich meiner Frau. „Ich habe schon mit Henry Duncan darüber gesprochen. Vielleicht sind es wirklich nur ein paar Tage. Aber ich muss das tun.“

„Was musst du tun, Dad?“, erklang plötzlich eine helle Stimme hinter mir. Im ersten Moment zuckte ich ­zusammen, weil ich gar nicht gehört hatte, dass Jellico in der Tür zum Wohnzimmer stand. Wahrscheinlich schon etwas länger, und das bedeutete, dass er einen Teil des Gespräches zwischen mir und Manuela bereits mitbekommen hatte. Jellico war der Sohn von Linda Hilton, meiner ersten Frau. Aber Manuela hatte ihn von Anfang an ins Herz geschlossen und behandelte ihn wie ihre eigenen Kinder Mariabel und Linda. Jellico war jetzt zwölf Jahre alt, sehr aufgeweckt und neugierig. Irgendwie musste ich immer an meine Zeit in der Mission am Pease River denken und später an die Zeit bei den Apachen, wenn ich Jellico anschaute. Für seine zwölf Jahre war er schon recht groß, und die blonden Haare trug er auch etwas länger, genau wie ich damals.

„Du willst weg“, sagte Jellico zu mir. „Warum?“

„Ich muss nach jemandem suchen, mein Junge“, sagte ich und ging zu ihm. „Jemand, der mir vielleicht etwas über meine Eltern erzählen kann. Das ist wichtig für mich.“

Jellico dachte einen Moment lang nach, bevor er wieder das Wort ergriff und mich dabei sehr ernst anschaute.

„Du reitest jetzt?“

„Ja“, erwiderte ich. „Aber ich komme bald wieder. Du musst jetzt auch mit auf Mariabel und Linda aufpassen. Du bist bald erwachsen, Jellico. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann.“

Die Art und Weise, wie ich das sagte, blieb nicht ohne Folgen. Er kam einfach auf mich zu, und ich nahm ihn in den Arm. Momente wie diese hatte ich als Kind schmerzlich vermisst, weil ich ohne Eltern aufgewachsen war. Deshalb wollte ich wenigstens ihm und den Zwillingen etwas davon geben, und die Kinder dankten mir das auf ihre Weise.

„Ich passe auf die beiden auf, Dad“, sagte Jellico. „Versprochen.“

Dann wandte er sich wieder ab und verließ den Raum. Dieses kurze Gespräch hatte vielleicht gerade mal zwei Minuten gedauert, aber der Moment war unglaublich intensiv gewesen. Selbst ich musste kurz schlucken, weil mich große Emotionen überkamen. Manuela erging es ähnlich, denn eine Träne rann aus dem linken Augenwinkel herunter auf die Wange, und ihre Hände zitterten.

„Er ist ein guter Junge“, sagte Manuela schließlich mit stockender Stimme. „Und er macht sich Sorgen.“

„Das verstehe ich sehr gut“, antwortete ich. „Ich werde bald wieder zurück sein. Hoffentlich in dem Wissen, dass sich das Dunkel um meine Vergangenheit endlich lichtet. Es ist höchste Zeit.“

Während ich das sagte, warf ich einen Blick aus dem Fenster hinaus in den Garten, der sich hinter unserem Haus befand. Jellico hatte schon damit begonnen, sein Versprechen einzulösen, indem er sich jetzt schon rührend um die beiden Mädchen kümmerte und mit ihnen spielte. Manuela kam zu mir und lächelte warmherzig, als sie das sah. Es war ein schöner Moment, und der gab mir Kraft für das, was jetzt noch auf mich zukam. Ich hatte beschlossen, dass ich nicht mehr ein Mann ohne Wurzeln sein wollte, und deshalb musste ich dieser Spur einfach folgen.

*

Zwei Stunden später hatte ich meinen braunen Hengst Fox aus dem Corral geholt und das Tier gesattelt. Fox stammte aus der Zucht des russischen Emigranten Fedor Pokrowsko, der ebenfalls zu meinen langjährigen Freunden gehörte. Fedor hatte auch meinen ersten schwarzen Hengst Wildcat in Pflege, und er bildete nun den Grundstock von Fedors Zucht. Der Russe hatte mittlerweile eine Wells-Fargo-Station in Arizona übernommen und belieferte zudem die Wells Fargo auch mit Pferden aus seiner Zucht.

In Momenten wie diesen bemerkte ich, wie viel Zeit seitdem vergangen war, und ich beschloss, Fedor wieder mal zu besuchen, sobald sich Zeit dafür ergab, und dann auch zusammen mit meiner Familie.

Viel Gepäck hatte ich nicht dabei. Alles, was ich brauchte, befand sich in den beiden Satteltaschen. Hinter dem Sattel hatte ich noch eine Deckenrolle festgebunden und einen langen Mantel, falls sich das Wetter verschlechterte.

Nun kam der Moment, den ich am meisten fürchtete: Der Abschied von meiner Familie! Ich band die Zügel des Pferdes am Corraltor fest und ging noch einmal zurück zum Haus, in dessen Eingangstor Manuela mit den drei Kindern stand. Ich bin nicht unbedingt ein Mann großer Worte, aber mir ging es trotzdem nahe und ich bemühte mich deshalb, es nicht zu zeigen. Ich nahm Mariabel und Linda auf den Arm und versprach ihnen, bald wieder zurück zu sein. Jellico legte ich meine Hand auf die Schulter, beugte mich zu ihm herunter und sagte zu ihm: „Ich bin stolz auf dich, Jellico. Pass gut auf Manuela und deine Schwestern auf. Ich weiß, dass du das schaffst. Und Lobo ist ja auch bald wieder hier.“

Ich hatte eigentlich gedacht, dass er nichts mehr sagen würde, aber dann ergriff er dennoch das Wort. Und das, was er sagte, verursachte eine Gänsehaut auf meinem Rücken.

„Finde die Leute, die dir das angetan haben, Dad. Sorge dafür, dass sie bestraft werden.“

Diese beiden Sätze beinhalteten so viel. Ich wusste, dass er begriffen hatte, was in mir vorging, und das erfüllte mich mit noch mehr Stolz. Der Junge hatte jetzt schon einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Das würde ihm später helfen, die Welt besser zu verstehen, und ihn gleichzeitig erkennen lassen, was Recht und Unrecht war.

Ich schaute noch einmal zu Manuela. Sie kam auf mich zu und verabschiedete sich von mir mit einem Kuss, der all das beinhaltete, was sie für mich empfand.

„Ich werde euch alle vermissen“, sagte ich mit gepresster Stimme, während ich mich wieder von ihr löste und zurück zu Fox ging. Ich stieg in den Sattel, nahm die Zügel, und Fox trabte los. Er schien irgendwie zu spüren, dass ein neues Abenteuer auf mich wartete, und schnaubte voller Erwartung.

Ich drehte mich nicht mehr um, als ich die Straße entlangritt. Sonst hätte ich unter Umständen Gewissensbisse gehabt. Es war schon schwer genug, was ich vorhatte.

*

Zwei Tage vorher

In San Francisco

In einem Haus auf dem Twin-Peaks-Hügel

Der Mann, der in einem bequemen Sessel saß und das Telegramm nun schon zum wiederholten Mal sorgfältig las, blickte sehr nachdenklich drein. Den Ausblick auf San Francisco und die Bucht, der sich ihm vom Fenster bot, konnte er nicht mehr genießen. Der Inhalt des ­Telegramms war zu gravierend und veranlasste ihn, weitere Schritte in die Wege zu leiten, von denen er eigentlich bis jetzt geglaubt hatte, dass sie nicht nötig gewesen wären. Nun aber war ein rasches Handeln erforderlich.

Titus Lancaster war fünfundvierzig Jahre alt und von kräftiger Gestalt, ohne behäbig zu wirken. Blonde gewellte Haare umrahmten ein willensstarkes Gesicht, und der Oberlippenbart verlieh ihm noch ein martia­lisches Aussehen. Er griff nach einer kleinen Holzkiste, die auf seinem Schreibtisch stand, und öffnete sie. Darin befanden sich teure Zigarren, die er regelmäßig aus Kuba importierte, aber nicht darauf achten musste, was ihn das kostete.

Ein erfolgreicher Geschäftsmann wie Titus Lancaster musste sich überhaupt keine finanziellen Sorgen machen. Im Lauf der letzten zwanzig Jahre war es ihm gelungen, unbemerkt ein Imperium aufzubauen, das sich mittlerweile auf zahlreiche Geschäftsbereiche ausgeweitet hatte. Nicht nur im Großraum San Francisco und Nevada, sondern auch im ganzen Südwesten der Vereinigten Staaten. Nichts wies nach außen darauf hin, dass er Anteile an verschiedenen Unternehmungen hatte. Meist hielt er sich im Hintergrund, traf aber dennoch die Entscheidungen, die dann von den von ihm eingesetzten Leuten befolgt werden mussten.