Ruhrpottklüngel - Angie Pfeiffer - E-Book

Ruhrpottklüngel E-Book

Angie Pfeiffer

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Beschreibung

Tragisch, komisch und ziemlich verrückt, so sind sie, die Jollenbecks. Im Herzen des Ruhrgebiets erleben wir ihre Liebes- und Leidensgeschichte. Elisa hat es nicht leicht mit ihren Eltern. Ihr Vater Karl, Geschäftsmann und Schürzenjäger, ist in permanenten Geldnöten. Die Mutter bekommt bei allen anfallenden Problemen mit dem Herzen, ist aber eigentlich kerngesund. Hinzu kommt, dass sie nicht viel mit ihrer widerspenstigen Tochter anfangen kann. Nach dem Tod der Großmutter zieht Opa Adolf bei den Jollenbecks ein. Sein Lebensziel ist es, möglichst immer den nötigen Alkoholpegel zu halten. So versuchen Elisa und ihr Bruder Peter das Leben mit der nicht ganz alltäglichen Familie mehr schlecht als recht zu meistern. Schließlich finden beide Kinder ihren eigenen Weg. Mit Herz und Humor schildert Angie Pfeiffer die Geschichte einer Kindheit und Jugend im Herzen des Ruhrgebiets.

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Obwohl dieser Roman autobiographische Züge hat, sei hier ausdrücklich erklärt, dass nicht die gesamte Handlung der Realität entspricht.

Einige Charaktere sind frei erfunden, in diesem Fall ist jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen oder Persönlichkeiten rein zufällig und nicht beabsichtigt. Auch ist der zeitliche Handlungsablauf nicht immer korrekt.

„Da kommen meine Eltern mit dem neuen Kind.“ Peter, der auf dem Hof spielte, war ganz aufgeregt. „Mama war nämlich im Krankenhaus, weil meine Schwester eine Problemgeburt ist. Jetzt haben sie sie rausgelassen, meine Mutter und meine Schwester auch“, erklärte er seinen Spielkameraden. Vorsichtig näherten sich die Jungen Peters Eltern, die aus dem Auto gestiegen waren. Tatsächlich hielt Ilse Jollenbeck ein Baby im Arm, das fest in eine Decke gewickelt war.

„Frau Jollenbeck, zeigen Sie mir mal das Problem ... ähm ... Problemdings?“, fragte ein vorwitziger Knabe. Ilse musterte ihn irritiert. „Was möchtest du?“

Peter hatte sich vorgedrängelt und stieß seinem Freund den Ellenbogen in die Seite. „Er will wissen, wie sie aussieht“, erklärte er. „Wie heißt die noch mal?“ Er konnte sich den Namen seiner neuen Schwester einfach nicht merken.

Kalle, Peters Vater, hatte amüsiert zugehört, jetzt mischte er sich ein. „Dein Schwesterchen heißt Elisa, und wenn du es sehen möchtest, dann musst du mit in die Wohnung kommen.“ Er legte seiner Frau fürsorglich den Arm um die Schulter. „Komm, Liebes. Deine Mutter wartet sicher schon auf uns.“ Er scheuchte die Rasselbande auseinander, die immer noch um ihn und Ilse herumstanden, um einen Blick auf die Problemgeburt zu erhaschen, denn keiner konnte sich etwas unter diesem Begriff vorstellen.

„Jetzt ist es aber gut, macht gefälligst mal Platz. Und du, Peter kannst mit nach oben kommen.“

„Och nö, ich spiele lieber weiter.“ Peter fand die Schwester, die auch noch angefangen hatte wie am Spieß zu brüllen, hässlich und langweilig.

In der geräumigen Wohnküche angekommen wurde das Ehepaar bereits vom Ilses Mutter Anna erwartet. Behutsam nahm sie Ilse das Kind aus dem Arm. „Ich kümmere mich schon um die Kleine“, erklärte sie. „Du bist nach den Strapazen bestimmt noch schlapp und kaputt, Kind. Leg dich ruhig ein wenig aufs Ohr. Ich bleibe noch hier. Dein Vater kann auch noch eine Stunde ohne mich auskommen.“

„Ach Mutter, was sollten wir bloß ohne dich anfangen“, lächelte Ilse.

„Blödsinn“, brummelte Anna. „Ich passe doch gern auf meine Enkel auf. Schließlich bist du meine einzige Tochter. Und jetzt haben wir auch noch ein Mädchen bekommen.“ Sie wandte sich wieder dem Baby zu, das in ihrem Arm eingeschlafen war.

***

„Was, du willst nicht hören? Na warte, dir werde ich‘s zeigen. Wegen dir habe ich schon wieder Herzschmerzen.“ Kurzerhand packte Ilse ihre kleine Tochter, stieß sie in die Besenkammer und schloss energisch die Tür. Das tat sie immer, wenn die Kleine nicht parierte.

Elisa schnappte nach Luft. Sie fürchtete sich vor der Dunkelheit und der Enge. Die Wände schienen immer näher zu kommen und sie zu erdrücken. Erschrocken kniff das Kind die Augen zu, bedeckte sie mit den Händen. Es versuchte tief einzuatmen, doch die Lungen wollten sich einfach nicht mit Luft füllen. Elisa nahm die Hände von den Augen. Obwohl es stockdunkel war wusste sie, dass die Wände der Kammer immer näher rückten, sie bestimmt gleich zusammenquetschen würden. Während ihr die Tränen über das Gesicht liefen, begann sie zu schreien.

Es klopfte und die ältliche Nachbarin steckte den Kopf durch die Wohnungstür. „Frau Jollenbeck! Ist etwas passiert? Wir hören Elisa bis zu uns nebenan schreien. Mein Mann hat gesagt, ich soll mal nach dem Rechten schauen.“

„Gar nichts ist passiert und ich verbitte mir Ihre ständige Einmischung“, erwiderte Ilse erbost. „Überhaupt schreit das Balg gar nicht mehr.“ Sie öffnete demonstrativ die Besenkammer. Elisa saß zusammengekauert in einer Ecke und schluchzte leise vor sich hin. „Ich schlage meine Tochter eben nicht, ich sperre sie einfach in die dunkle Kammer und schon pariert sie.“

„Aber Frau Jollenbeck, die Kleine ist doch erst drei. Soll ich sie eine Weile mit zu uns nehmen? Dann können Sie in Ruhe Ihre Hausarbeit machen und das Kind läuft Ihnen nicht zwischen den Füßen herum.“

Ilse zuckte mit den Schultern. „Wenn Sie sich das antun wollen. Elisa ist heute wieder einmal besonders bockig. Vielleicht ist es ganz gut, wenn sie mir aus dem Weg ist.“

Die Nachbarin reichte dem kleinen Mädchen sanft die Hand. „Magst du mitkommen? Ich will einen Kuchen backen, du kannst mir bestimmt gut helfen.“

Zögernd ergriff Elisa die dargebotene Hand, stieg dann schnell aus der Besenkammer, bevor sich die dunklen Wände noch einmal um sie schließen konnten. Sie holte tief Luft, zog dabei die Nase hoch und nickte heftig. Die Nachbarin griff in ihre Schürzentasche und zog ein Taschentuch hervor. „Jetzt putzen wir dir erst einmal die Nase und dann backen wir zusammen einen fantastischen Kuchen.“ Sie wandte sich an Ilse: „Sie wissen doch, mein Mann hat einen Narren an Ihrer Tochter gefressen. Er fühlt sich gleich besser, wenn sie in seiner Nähe ist. Die Kleine ist so aufgeweckt.“ So nahm die wohlmeinende Nachbarin das Kind auf den Arm, ging mit ihm eine Wohnung weiter und direkt ins Schlafzimmer, wo ihr Mann lag. Der Nachbar, früher als Hauer tätig, war schwer an Silikose erkrankt. Er konnte kaum noch das Bett verlassen und freute sich immer über einen Besuch des quicklebendigen Kindes. Ständig stand ein Sauerstoffgerät neben seinem Bett, aber richtig fasziniert war Elisa von einem kleinen Ventilator, den er öfter in Betrieb setzte. Er musterte das Kind mitleidig: „Na, meine Kleine, hat die Mama wieder mit dir geschimpft? Oder hat sie dich gar in die dunkle Kammer gesperrt? Was können wir da machen?“

Elisa schaute skeptisch drein, zuckte ratlos mit den Schultern.

„Was hältst du davon, wenn ich der Mama den Hintern versohle?“

„Au ja, mit dem Riemen!“, rief Elisa begeistert aus, was den Nachbarn schmunzeln ließ. Offenbar war er von dem Gedanken angetan: „Ja, mit dem Gürtel. So und jetzt machen wir mal den Ventilator an und schauen, ob ich dann besser Luft bekomme.“

Bis auf kleine Unstimmigkeiten war die Nachbarschaft gut. Man traf sich regelmäßig auf dem Vorderhof zum Schlachten, was letztendlich immer in einem Trinkgelage endete. So manches Huhn flatterte kopflos bis zur Dachrinne, weil es in letzter Minute losgelassen wurde.

Das Leben lief, dreizehn Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, endlich in geregelten Bahnen. Karl hatte eine Anstellung als Anlagenfahrer in der Kokerei bekommen, verdiente dort gutes Geld. Die Werkswohnung war akzeptabel, bestand aus einer Wohnküche und einem Schlafzimmer. Zwar war der Toilettenraum nur über den Flur zu erreichen und man musste ihn mit den Nachbarn teilen, doch hatte das Klosett eine Wasserspülung.

Natürlich gab es kein Badezimmer. Gebadet wurde einmal in der Woche in einer großen Zinkbadewanne, die unten ganz nippelig war, sodass man nicht darin herumrutschen konnte, ohne sich den Podex aufzuschubbern. Zuerst ging der Hausherr in die Wanne, dann die Frau des Hauses und zuletzt die Kinder. Das Wasser wurde im großen Einkochkessel auf den Kohleherd erhitzt und dann vorsichtig umgeschüttet.

Ilse und die Kinder besuchten täglich die Großeltern, um dort zu Mittag zu essen, wobei Ilse meist ein Töpfchen Suppe für ihren Mann mit nach Hause nahm, was die lästige Kocherei überflüssig machte. Die Hausarbeit in der Zwei-Zimmerwohnung hielt sich in Grenzen, sodass Ilse genug Zeit für sich hatte und ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen konnte. Sie verschlang Liebesromane aller Couleur.

Wenn Elisa auch ab und zu störrisch war, was zur Folge hatte, dass sie weiterhin in den dunklen Schrank gesperrt wurde, entwickelte sie sich doch in Ilses Sinn. Das Kind hatte gelernt, dass es seine Mutter möglichst wenig störten durfte, um nicht bestraft zu werden. So versuchte Elisa Ilse aus dem Weg zu gehen und sich ruhig zu beschäftigen.

Wenn die Mutter gute Laune hatte, las sie ihrer Tochter vor. Dann kuschelte sich Elisa an Ilses Knie und hörte aufmerksam zu. Da sich im Besitz der Familie nur zwei Kinderbücher befanden, nämlich ‚Der Struwwelpeter’ und ‚Max und Moritz’, konnte das Kind bald beide Bücher auswendig. Ilse machte sich einen Witz daraus zu behaupten, ihre Tochter könne lesen. Da Elisa stets an der richtigen Stelle umblätterte, entstand dieser Eindruck. Überhaupt fiel es Elisa leicht, Gedichte und Lieder zu behalten. Bei Hochzeiten und anderen Festivitäten im Familienkreis wurde das Kind auf einen Stuhl gestellt und dazu angehalten ein Lied zu singen oder ein Gedicht aufzusagen.

Elisa schämte sich bei solchen Gelegenheiten immer ein wenig. Sie mochte es nicht, derart im Mittelpunkt zu stehen, senkte während des Vortrags die Augen und zupfte an ihrem Rocksaum. Doch sie traute sich nicht, der Mutter den Wunsch abzuschlagen, denn sie fürchtete sich schrecklich vor Ilses Unwillen. Die ältlichen Tanten waren jedes Mal entzückt über Elias Vortrag und brachen in begeistertes Gegacker aus. „Nein, was ist das bloß für ein schlaues Mädchen, Ilse! Das kann die Kleine nur von dir haben.“

„Ja, ich erwäge Elisa auf die höhere Schule zu schicken“, erklärte die Mutter dann, was eine verwegene Aussage war, denn das Kind befand sich gerade einmal im Kindergartenalter.

An den Wochenenden ging das Ehepaar Jollenbeck aus und überließ es dem großen Bruder, sich um die Schwester zu kümmern. Wenn Karl und Ilse dann mitten in der Nacht nach Hause kamen, hatte Peter die kleine Elisa in sein Bett geholt, und die Kinder schliefen eng aneinander gekuschelt. „Die hat so geheult, Mama“, erklärte Peter. „Ich wusste nicht, was ich machen sollte, da habe ich sie rüber geholt.“

Wenn kein Tanzabend angesagt war, traf man sich samstags bei Ilses Bruder Gustav und seiner Frau Betty zum Kaffeetrinken. Gustav war, wie so viele Bergleute, an Silikose erkrankt und Rentner. Er geriet oft in Atemnot, hustete, spuckte Schleim. Neben der Sofaecke, in der er meist saß, stand ständig ein Eimer für Notfälle. Trotzdem war er immer gut gelaunt und freundlich, half, wenn er konnte.

Elisa liebte diesen Onkel heiß und innig. Er zeigte ihr mit unendlicher Geduld alle möglichen Kartentricks, ließ die Buben auftauchen, anschließend verschwinden und brachte sie zum Kichern. Oft ließ er sie ihre selbst erfundenen Geschichten erzählen und tat so, als würde er jedes Wort für bare Münze nehmen. „Du hast den Osterhasen also wirklich gesehen? Da hast du aber Glück gehabt. Wie hat der denn genau ausgesehen?“

Nach dem Kaffeetrinken kamen die Spielkarten auf den Tisch, man spielte ‚Klammern‘, wobei Kalle und Ilse ein Team bildeten und gegen Gustav und Betty antraten. Bevor es losging, schickte man Bertram, den Sohn des Hauses, zur Selterbude an der Ecke. Er besorgte ein paar Flaschen Bier, einen Schoppen Klaren und ein paar Zigaretten Marke Eckstein. Im Laufe des Abends ging Kalle dann noch einige Male zum Kiosk, denn mit einem Schoppen und ein paar Flaschen Bier kam man nie aus. Wenn sie genug getrunken hatte, konnte Betty meist nicht mehr an sich halten: „Jollenbeck mach mich´n Kind, der Gustav hat ja bloß eines hingekriegt.“

„Elisabeth, halt die Schnauze, ich hab mein Bestes getan“, ließ sich Gustav vernehmen. „Und überhaupt achte lieber auf deine Terze!“ Schließlich spielte man immer noch Karten.

„Jollenbeck, biiitte“, Betty war nicht zu bremsen, während Kalle grinste: „Aber Bettykind, sei froh, dass du bloß ein Kind hast! Aber wenn du drauf bestehst …“

Ilse schaute inzwischen ziemlich gräsig, Gustav war genervt: „Pass auf, ich versuch nachher noch mal dich den Gefallen zu tun, aber jetzt halt endlich die Schnauze und lass uns weiterspielen.“

Sonntagnachmittags besuchte man Elses Eltern. Kalle, der zu seinem Vater und der Stiefmutter keinen guten Draht hatte, mochte seine Schwiegereltern sehr, wenn er sich auch oft einen Spaß daraus machte, Anna zu ärgern, indem er gegen den Bundeskanzler wetterte. So auch heute.

„Der Adenauer, der kann höchstens ein beleuchtetes Stopfei erfinden und das hat er noch abgekupfert. Schau dir bloß mal an, wie viel braunes Gesocks jetzt wieder was zu sagen hat und wie der mit den Sozis und den Kommunisten umspringt.“ Mehr brauchte es nicht, um Anna auf die Palme zu bringen: „Wähle du ruhig deine SPD, den roten Herbert und den sauberen Herrn Ollenhauer, der ist 1933 ins Ausland abgehauen. Da lobe ich mir den Kanzler, der ist hier geblieben und er hat die Kriegsgefangenen aus Russland rausgeholt und die Rente erhöht er auch immer anständig!“ Kalle setzte zu einer Erwiderung an, aber dazu kam er nicht mehr, denn jetzt griff Ilse ein: „Mutter du hast ja zwei Kuchen gebacken? Ist das nicht ein bisschen viel?“

Anna ließ sich schnell besänftigen. „Ach Kind, nachdem Elisa am letzten Sonntag so geweint hat, weil ich Peters Lieblingskuchen gebacken habe und ihren nicht, da dachte ich: sicher ist sicher und ihr könnt den restlichen Kuchen doch mitnehmen.“

„Was für ein Theater um die Heulsuse“, brummte Adolf und fixierte seine Enkeltochter streng. Elisa machte sich ganz klein. Sie fürchtete sich immer ein bisschen vor dem immer grummeligen Großvater, seiner lauten Stimme und seinen buschigen, ständig gerunzelten Augenbrauen.

Überhaupt war das Kind seltsam versponnen, dachte sich Geschichten aus, an die es selbst zu glauben schien. Es stellte seine Puppen nebeneinander auf und unterhielt sich stundenlang mit ihnen, statt mit den anderen Kindern im Hof zu spielen. Es aß nicht richtig, war spindeldürr und oft krank. Anna versuchte ihre Enkeltochter mit Lebertran und Milchsuppe aufzupäppeln, aber Elisa verweigerte solche Mästungsversuche mit dem ihr eigenen Starrsinn.

***

Man schrieb das Jahr 1960, die Jollenbecks zogen ins Grüne. Kalle hatte mit viel Mühe eine Neubauwohnung ergattert. Wieder eine Werkswohnung mit einem richtigen Badezimmer und einem Balkon. Auch die Kinder bekamen ein eigenes Zimmer. Rund um das Wohnhaus gab es Wiesen, Gärten und Felder. Zum Entzücken der Kinder gehörte zu der Wohnanlage ein großer Spielplatz. Das war ein Riesenunterschied zu der vorherigen Bleibe mit seinem schmuddeligen Hof, den Ställen, in denen die Ratten mit den Schweinen aus einem Trog fraßen und den nahe gelegenen Bahngleisen. Die Wohnungsmiete war zwar höher, aber das stellte kein Problem dar. Kalle verdiente etwas dazu, indem er, zusammen mit einem Arbeitskollegen die Kohlen verkaufte und auslieferte, die von dem großzügigen Deputat, das jedem Kokereiarbeiter zustand, übrig blieben.

„Verdammt, du betrügst mich, gib es schon zu! Genau wie damals, als du meiner Freundin ein Kind gemacht hast!“

„Was soll ich machen, du willst ja nicht. Soll ich‘s vielleicht ausschwitzen?“

„Wer ist die Schlampe dieses Mal, sag schon! Ich habe sowieso einen Verdacht! Bestimmt treibst du es mit Betty! Pfui schäm dich, die eigene Schwägerin!“ Es rumpelte, Kalle wurde um einiges lauter. „Du dämliche Kuh, was redest du da? Als ob ich Gustav das antun würde. Wofür hältst du mich eigentlich. Du und deine ständige Eifersucht! Wenn du so weitermachst, dann werde ich mir wirklich eine Freundin nebenbei suchen.“

Elisa schreckte aus dem Schlaf auf. „Peter hast du auch was gehört?“

„Ja, Papa schreit und Mama auch. Wenn du Angst hast, dann darfst du in mein Bett kommen.“ Großmütig rückte Peter etwas beiseite, insgeheim froh, dass die kleine Schwester zu ihm ins Bett kroch.

Ilse murmelte etwas, dann war es ruhig.

„Ich glaube jetzt sind Papa und Mama nicht mehr böse aufeinander, ich schau mal nach.“ Elisa krabbelte aus dem Bett und ging zur Tür. „Kommst du mit?“

„Nö, ich bleib lieber hier. Papa meckert bloß herum, wenn ich auftauche. Auf dich ist er ja nie böse“, stellte Peter fest. Er wickelte sich fester in seine Decke. Elisa huschte in den Korridor und schielte um die Ecke. Die Eltern waren augenscheinlich vom Kegeln gekommen. Beide waren nicht mehr ganz standfest, standen sich in der Küche gegenüber und stierten sich an. Ilse stand mit verschränkten Armen vor dem Küchenschrank, während Karl den großen Einkochkessel wie einen Rammbock vor sich hielt. Plötzlich nahm er Anlauf und versuchte seine Frau damit umzurennen. Er verfehlte sein Ziel und landete in der Scheibe des Küchenschrankes, die in tausend Scherben zersprang.

„Da siehst du, was du anrichtest“, kreischte Ilse. „Alles machst du nur kaputt, du Versager.“ Sie griff sich an die Brust. „Ich bekomme schon wieder Herzrasen. Du wirst mich noch unter die Erde bringen und dann hast du endlich freie Bahn.“

Elisa brach in lautes Schluchzen aus, was Karl dazu veranlasste, den großen Kessel fallen zu lassen. Er fiel mit einem Scheppern zu Boden. Für einen Augenblick starrte er vor sich hin. Schließlich machte er einen Schritt auf seine Tochter zu und nahm sie auf den Arm. „Komm her Spatz, ist ja schon gut. Hör auf zu weinen“, versuchte er das aufgelöste Kind zu beruhigen. „Wir machen bloß Blödsinn, ehrlich.“

„Ja, du machst nur Blödsinn und ehrlich bist du doch noch nie zu mir gewesen, du Mistkerl.“ Das war ein Abgang nach Ilses Geschmack. Sie warf den Kopf in den Nacken und stolzierte aus der Küche. Im Hinausgehen blickte sie noch einmal auf ihre kleine Tochter. „Wie du dich bloß von deinem Vater anfassen lassen kannst, der stinkt doch.“

„Papa, habt ihr was gespielt?“, fragte Elisa verwirrt. „Dann hast du aber ganz schön Ärger gekriegt. Kein Wunder, wenn du alles kaputt machst.“

„Du weißt, wie Mama ist. Sie wird manchmal ziemlich böse wegen einer Kleinigkeit. Ich glaube, dass ich inzwischen ziemlich viel kaputt gemacht habe“, murmelte Karl, putzte sich umständlich die Nase und wischte sich dabei verschämt über die Augen. Elisa schaute ihn aufmerksam an. „Du musst nicht traurig sein. Wenn du alles wieder heil machst, dann ist Mama auch nicht mehr böse auf dich.“ Sie stockte, schaute ihren Vater abschätzend an. „Du hast ganz schön Glück. Mama kann dich nicht in die Besenkammer sperren, dazu bist du zu groß.“

„Ich glaube darüber sollte ich einmal in Ruhe mit Mama sprechen“, sagte Elisas Vater nachdenklich. „Vielleicht bist du in Zukunft auch zu groß dafür. Aber jetzt bringe ich dich wieder ins Bett und decke dich ganz fest zu. Kleine Mädchen müssen nämlich viel Schlaf haben.“

Im Kinderzimmer verrieten Peters all zu regelmäßige Atemzüge, dass er sich schlafend stellte. „Schau, dein Bruder hat gar nichts gehört“, ging Kalle darauf ein. „Jetzt aber hopp ins Bett. Jetzt wird geschlafen.“ Er deckte seine Tochter zu und gab ihr einen gute Nacht Kuss. Schon schlaftrunken schnüffelte Elisa an seiner Wange. „Papa, du riechst ein bisschen komisch, aber stinken tust du nicht!“

Am nächsten Morgen schien die Sonne warm und hell ins Kinderzimmerfenster. Verschlafen reckte Elisa sich und schaute hinüber zu ihrem Bruders. Peter saß im Schneidersitz auf seinem Bett, hatte sich die Decke malerisch umgeschlungen und las in einem Micky Maus Heft. „Es wird Zeit, dass du wach wirst. Wir müssen jetzt Waffeln backen“, erklärte er mit einem Grinsen. Sonntagsmorgens buken die Kinder Waffeln zum Frühstück, denn Ilse und Kalle waren ausgesprochene Langschläfer und an Sonn- und Feiertagen selten früher auf den Beinen als ihre Kinder. Allerdings war es Peter, der den Waffelteig zubereitete und die Waffeln buk. Elisa unterstützte ihn moralisch dabei, indem sie ihm ausgedachte Geschichten erzählte, oder etwas vorsang, was Peter heroisch ertrug. Elisa hopste aus dem Bett, blieb jedoch nachdenklich stehen. „Meinst du, dass Mama und Papa sich immer noch zanken? Papa hat nämlich den Küchenschrank kaputt gemacht und Mama ist deswegen ganz schrecklich böse mit ihm.“ Peter krauste nachdenklich die Nase. „Ich glaube sie haben sich schon wieder vertragen. Jedenfalls ist alles ruhig. Am Besten wir tun so als wenn gar nichts passiert wäre.“

Die Waffeln waren gebacken, der Kaffee gekocht, der Tisch gedeckt, doch die Eltern waren immer noch nicht aufgestanden.

„Wir bringen Papa und Mama jetzt das Frühstück ans Bett“, beschloss Peter. „Dann kriegen sie sofort gute Laune und zanken sich ganz bestimmt nicht mehr. Los, hilf mir mal. Du trägst die Kaffeekanne.“ Er bubberte laut vor die Schlafzimmertür. „Das Frühstück ist fertig. Achtung, wir kommen.“

Zu Elisas Erstaunen waren die Eltern wach. Sie saßen im Bett und schienen miteinander zu diskutieren. Jetzt wandten sie sich den Kindern zu. „Das ist ja eine schöne Überraschung. Was haben wir nur für liebe Kinder“, sagte Ilse. Kalle nickte.

Während des Frühstücks gingen beide ausgesprochen höflich miteinander um, was Elisa beruhigt zur Kenntnis nahm. Sie hatte große Angst gehabt, dass sich die Eltern weiter streiten würden. So krabbelte sie nach dem Essen ins Ehebett. „Jungen zu Jungen und Mädchen zu Mädchen“, krähte sie und hopste auf Ilses Seite. „Dann komm mal her, mein Sohn“, sagte Kalle bedächtig, worauf Peter sich würdevoll neben ihn legte. Schließlich war er schon acht Jahre alt und konnte nicht mehr so kindisch sein wie seine kleine Schwester. Als Kalle ihn dann aber kitzelte vergaß er seine Würde schnell, strampelte und kicherte.

„Ich auch, ich auch, Papa“, krähte Elisa und kletterte über die Mutter näher zum Vater hin. „Mädchen zu Mädchen und Jungen zu Jungen“, prustete Peter. Auch Kalle musste lachen. „Komm her, Spatz, wenn du dich traust.“

Und weil es so schön war, kitzelte er seine Frau auch gleich.

***