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Als Santiago wegen eines ungerechtfertigten Haftbefehls aus der Stadt fliehen muss, stößt er nicht nur auf die Leiche eines jungen Mädchens. Auch auf seinen besten Freund, den alle nur ›Cowboy‹ nennen, wurde aus dem Hinterhalt geschossen. Gemeinsam verfolgen sie die Spur des mutmaßlichen Täters und geraten dabei in einen Strudel aus Korruption und Intrige, die auch vor Mord nicht zurückschreckt. Nachdem selbst ihre Familien, Freunde und Bekannte in Gefahr geraten und die Justiz untätig bleibt, weil selbst in die Machenschaften verstrickt, nehmen Santiago und Cowboy das Recht in die eigene Hand - auf eine Weise, die ihren Gegnern das Fürchten lehrt …
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Seitenzahl: 482
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Santiago
Fight for Justice
Western – Novel
Blossom Rydell
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar
1. Auflage
Covergestaltung:
© 2024 Blossom Rydell
Coverfoto:
© 2024 Blossom Rydell
Dieses Werk enthält sexuell explizite Texte und erotisch eindeutige Darstellungen mit entsprechender Wortwahl. Es ist nicht für Minderjährige geeignet und darf nicht in deren Hände gegeben werden. Alle Figuren sind volljährig, nicht miteinander verwandt und fiktiv. Alle Handlungen sind einvernehmlich. Die in diesem Text beschriebenen Personen und Szenen sind rein fiktiv und geben nicht die Realität wieder. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen oder Orten sind rein zufällig. Das Titelbild wurde legal für den Zweck der Covergestaltung erworben und steht in keinem Zusammenhang mit den Inhalten des Werkes. Die Autorin ist eine ausdrückliche Befürworterin von ›Safer Sex‹, sowie von ausführlichen klärenden Gesprächen im Vorfeld von sexuellen Handlungen, gerade im Zusammenhang mit BDSM. Da die hier beschriebenen Szenen jedoch reine Fiktion darstellen, entfallen solche Beschreibungen (wie z.B. das Verwenden von Verhütungsmitteln) unter Umständen. Das stellt keine Empfehlung für das echte Leben dar. Tipps und Ratschläge für den Aufbau von erfüllenden BDSM-Szenen gibt es anderswo. Das vorliegende Buch ist nur als erotische Fantasie gedacht. Viel Vergnügen!
Impressum
© 2024 Blossom Rydell
Verlag: Kinkylicious Books, Bissenkamp 1, 45731 Waltrop
Druck: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
ISBN siehe letzte Seite des Buchblocks
»Wo das Volk die Regierung fürchtet,
herrscht Tyrannei.
Wo die Regierung das Volk fürchtet,
herrscht Freiheit.«
Thomas Jefferson (1743-1826)
Kapitel 1
Um sich zwischen den struppigen Bäumen zu verstecken, zügelte Santiago seine erdbeerfarbene und vom Staub bedeckte Stute, die kräftig aus den Nüstern blies. Er hatte sie in einiger Entfernung unterhalb des Kamms eines hohen Bergrückens zum Stehen gebracht, wo die Pinien und Wüstenzedern am dichtesten wuchsen. Aber selbst das hieß nicht viel, hier in den abgelegenen, trockenen Gegenden im Südosten von ›Arenoso‹ – einige hundert Meilen westlich der Grenze zu ›New Mexico‹ und etwa doppelt so weit nördlich der Grenze zum ›alten Mexico‹.
Er nahm den ramponierten, einst weißen Sombrero vom Kopf, ließ ihn an der Kinnschnur um seinen Hals hängen und kratzte sich kräftig durch das kurze, fast schwarze Haar. Wo der Sombrero seine Stirn bedeckt hatte, war ein Streifen hellbrauner, cremefarbener Haut zu sehen – das Erbe seines kastilischen Vaters. Der Rest seines etwas breiten Gesichts wies im Augenblick die graubraune Farbe des örtlichen Staubs auf, sogar bis tief in die Falten hinein, in denen sich seine dunkelbraunen Augen befanden. Seine Nase und die Lippen waren fast als schmal zu bezeichnen und spiegelten den Einfluss der nordeuropäischen Vorfahren seiner Mutter wider. Obwohl seine Gesichtszüge unverwechselbar waren, waren sie weder schön noch hässlich; bestenfalls passten sie einfach zu ihm.
Mit den Händen am Horn und dem Hinterzwiesel des Sattels stemmte er sich hoch und warf einen schnellen Blick den Abhang hinunter auf den Pfad hinter ihm. Wie immer in der Nachmittagshitze, flimmerte die Entfernung auch an diesem zweiten Tag im Juni 1885. Irgendetwas bewegte sich zwischen den Kaktusstämmen, vielleicht eine halbe Meile entfernt. Seine Hand griff nach dem Karabiner, aber als eine Gabelbockantilope und zwei Kitze in Sichtweite kamen, hielt er inne und ließ sich wieder in den Sattel fallen, während er entspannt den verschwitzten Hals seines Rotschimmels tätschelte.
Einen Moment später stellte er sich in die Steigbügel, schwang sein rechtes Bein über den Sattel und ließ sich auf den steinigen Boden sinken. Sein Pferd stöhnte aus tiefem Brustkorb und blieb mit hängendem Kopf stehen, schnell und schwer atmend. Santiago öffnete die Satteltasche und holte sein Fernglas hervor, das in ein sauberes Hemd eingewickelt war. Dann ging er zu einer der Pinien, stützte seine Unterarme auf einen Ast und hielt das schmale Ende des Teleskoprohrs an sein Auge. Behutsam passte er dessen Länge an, um zu fokussieren, und überprüfte seine Spur den ganzen Weg zurück – zum Eingang des Canyons, etwa sechs Meilen südöstlich und vielleicht dreißig Yards tiefer, wo er das Tal betreten hatte.
Nachdem er die Wüstenszenerie mehrere Minuten lang abgesucht hatte, ging er zurück zu seinem Pferd, hob die Kinnkordel des Sombreros über den Kopf und hängte den breitkrempigen Hut daran am Sattelknauf auf. Dann drehte er sich um und schritt hinauf zum nahen Grat, der durch eine Reihe freiliegender dunkler Felslinien gekennzeichnet war, die das Rückgrat der Topographie der Region bildeten. Als er von Ost nach West wanderte, befand er sich tatsächlich auf dem zweiten von vier ungefähr parallelen Graten, die sich auf einer Nord-Süd-Achse erstreckten, wobei jeder etwas höher war als der vorhergehende, aber auf seinem Kamm eine ähnliche felsige Gratlinie aufwies. Der erste Grat war von einer tiefen Schlucht durchschnitten; die auch sein Zugang in das Tal hinter ihm gewesen war.
Als sich Santiago dem Kamm näherte, beugte er seinen dürren, nicht ganz sechs Fuß großen Körper und überwand die letzten Meter auf Händen und Knien. Er schob das im Armeestil gehaltene und mit einer Klappe versehene ›Cross-Draw‹-Holster wieder an seine linke Hüfte, bevor er sich auf dem Bauch ausstreckte und den Kopf über die dunklen Felsen reckte, um die Szene im Westen zu betrachten, die der hinter ihm glich.
Von hier aus überblickte er ein langes Gefälle von etwa fünf Meilen, das fast dreihundert Yards abfiel, und sah sich einem ähnlichen Gefälle gegenüber, das zum nächsten Grat anstieg. Die ausgedehnten Hänge waren unten durch ein trockenes, sandiges Flussbett getrennt. Es war ein schmales Tal – ein wenig zu breit, um als Canyon zu gelten. Der Boden war mit einem harten, kiesigen Lehm bedeckt, einer Mischung aus fein- und grobkörnigem Sand, Steinen und Kies. Überall auf den oberen Hängen gab es Felsvorsprünge aus geschichteten, dunklen Aufbrüchen und Schutt, die in ihren zufälligen Formationen in Höhe und Breite stark variierten.
Trotz der offensichtlichen Dürre war die Pflanzenwelt überraschend üppig. Die Hänge schienen fast grün zu sein, mit dürretoleranten Pflanzen: Salbei, Hasenpinsel, verschiedenen dürren Sträuchern, Flecken von struppigem Gras, mehreren Kakteenarten, sowohl hoch als auch bodennah, und gelegentlichen Yucca-, Maguey- und Paloverde-Bäumen, mit Beständen der niedrig wachsenden Pinyon- und buschigen Wüstenzedern in den oberen Bereichen. Weiter westlich, hinter dem nächsten Grat, gab es einen deutlich höheren mit einigen Douglasien, Fichten und Gelbkiefern in der Nähe der Spitze und mit Espen- und Pappelbeständen weiter unten. Weit hinter diesem vierten Grat konnte Santiago die schneebedeckten Gipfel eines südlichen Ausläufers der Rocky Mountains sehen.
Langsam und bedächtig wanderten seine Augen über die Weite, während er sich auf den warmen Boden legte.
Nach ein paar Minuten entfernte er sich wieder Stück für Stück vom Grat und kehrte die Reihenfolge um, indem er tiefer hielt, bevor er sich ganz aufrichtete und durch die Bäume hinunter zu seinem Rotschimmel ging. Im spärlichen Schatten einer Pinie, atmete et jetzt leichter. Vor der Stute stehend, kraulte er sie hinter den Ohren und blies sanft in Richtung der Nüstern, worauf sie den Kopf schüttelte und schnaubte.
Nach einem letzten Blick zurück, den Hang hinunter, nahm er die Zügel in die Hand und schritt, den Pinien folgend, auf den Grat zu, während ihm der Rotschimmel mit schleppenden Schritten folgte. Als er oben war, führte er die Stute tiefer in die kürzeren, dürren Nadelbäume und ließ sie die nächsten zwanzig Minuten zwischen ihnen gehen, bis sich die Atmung des Tieres wieder beruhigte.
An einer geeigneten Stelle hielt er an, ließ die Zügel unter sanftem Zug auf den Boden fallen – für sie das Signal stehen zu bleiben – und entnahm den Packtaschen eine große, flache Feldflasche. Er drehte den Verschluss auf, nahm den Sombrero vom Sattel, drehte den dicht gewebten, lackierten Strohhut um und leerte die Hälfte des Feldflascheninhalts in die umgedrehte Krone. Dann stellte er sich vor den Rotschimmel und hielt ihm den umgedrehten Hut unter die Nase. Als seine Stute mit dem Trinken fertig war, klopfte er ihr liebevoll den Hals und hängte den feuchten Sombrero an einen Pinienzweig.
Noch einmal nahm er sein Teleskop zur Hand und ging zum Grat zurück. Seine Arme auf die Felsen stützend, ließ er das Fernglas erneut über die Distanz gleiten, die er gerade abgesucht hatte – und beobachtete sie mehrere Minuten lang, bis er wieder hinunterrutschte und zu seiner Stute zurückkehrte, die an dem spärlichen Gras knabberte, das auf dem sandigen Boden um die Pinyon-Kiefern wuchs. Aus einer kleineren Feldflasche goss er etwa die Hälfte in den Hut, füllte sie aus der großen auf, und bot das Wasser seinem Pferd an, bis alles geleert war. »Das war's für heute Abend, mein Mädchen. Ich hebe dir noch etwas für morgen auf, aber dann müssen wir nach Wasser suchen, Estrella«, sagte er leise, ihr den Kopf streichelnd.
Dann hob er die kleinere Feldflasche an seine Lippen, nahm mehrere kurze Schlucke von dem warmen Wasser und hängte beide Flaschen an eine Kiefer, ehe er sich wieder seiner Stute zuwandte, die Lederschnüre löste, die die Satteltaschen hielten, sie abnahm und am Fuße des Baumes ablegte. Seelenruhig zog er seine ›Winchester 1873‹, Kaliber 44, aus dem ›Scabbard‹ und lehnte sie gegen den Stamm. Aus dem auf der gegenüberliegenden Seite nahm er ein ›Scott Messenger‹-Gewehr im Kaliber 10, mit einem leicht verkürzten Schulterschaft und auf 14 Zoll gekürzte Doppelläufe, dass er neben das andere legte. Zurück bei Estrella, löste er die Gurte und hob den Sattel und die Decke herunter. Den Sattel stellte er neben die Kiefer, sodass die feuchte Seite frei lag, und hängte die Decke über einen Ast. Aus den Packtaschen holte er Seil, machte daraus eine sechs Yard lange Leine und schlang das Ende um den Hals seiner Stute, ehe er ihr das Zaumzeug abnahm und es an einen anderen Ast hängte. Anschließend untersuchte er ihre Hufe und benutzte die stumpfe Klinge eines Taschenmessers, um Schmutz und Kieselsteine unter den Kanten der Hufeisen herauszuhebeln.
Zurück bei den Satteltaschen holte Santiago einen Futterbeutel hervor, den er aus einer alten Latzhose gebastelt hatte und in dem sich ein Sack Hafer befand. Er schüttete eine Portion Hafer in den Futterbeutel und band ihn seiner Stute um, wobei er ihr noch ein paar Mal über den Hals klopfte. Dann band er den Hafersack wieder zu, schob ihn in die Packtaschen zurück und nahm eine Bürste zur Hand, mit der er sie abbürstete, derweil sie ihren Hafer fraß, und es ihm dankte, indem sie einen kleinen Haufen Pferdeäpfel fallen ließ. »Gleichfalls, Estrella«, flüsterte er ihr ins Ohr und machte den Futtersack los.
Nach einem großen Zug aus der kleinen Feldflasche, schnappte er sich seinen Schlafsack und das Fernglas und schlich erneut den Grat hinauf. Dort breitete er die Wachstuchplane und die drei Decken aus, streckte sich auf dem Bauch darauf aus und begann ein weiteres Mal damit, nach Südosten zu blicken. Eine Viertelstunde später rollte er sich auf den Rücken und rückte den Revolver im Holster, einen ›Single-Action Army-Colt‹ mit demselben Kaliber seines Karabiners, in eine bequemere und besser erreichbarere Position an der Vorderseite seiner linken Hüfte. Einige Minuten blickte er noch in die blassblaue Weite des wolkenlosen Himmels, bevor er die Augen schloss und einschlief.
*
Santiago war gerade wieder auf den Beinen, als die Sonne unterging, und blickte erneut zurück in die Schlucht, durch die er das Tal betreten hatte. Danach ging er zu seinem Rotschimmel, der damit beschäftigt war, die lokale Flora abzuknabbern, und band ihre Leine an einen anderen Baum, an dem mehr Gras wuchs. In seinem Rucksack fand er Schiffszwieback und ›Beef Jerky‹, mariniertes Trockenfleisch. Er streckte sich auf dem Schlafsack aus, um sein Abendessen zu kauen, während er im schwindenden Licht den wöchentlichen Anzeiger durchlas.
Als es dunkel war, war er wieder auf dem Grat, suchte langsam in alle Richtungen und hielt kurz inne, als er auf dem westlichsten Grat, oben zwischen den immergrünen Bäumen, das Flackern eines kleinen Feuers sah.
*
Am nächsten Morgen ritt Santiago gemächlich weiter Richtung Westen und legte zusätzliche Gehpausen ein. Er wollte Estrella nicht drängen und überprüfte häufig seine Spur. Erst am späten Vormittag erreichte er die Anhöhe des letzten und höchsten Bergrückens. Sein Weg verlief etwas nach Süden, in Richtung einer Gruppe Pappeln, die etwa zwei Drittel des Weges den Hang hinauf standen. Von dort war das offene Ende eines ›Arroyos‹ zu sehen, der sich in den Hang schnitt – einen trockenen Wasserlauf, der sich nach ausreichend Regen vorübergehend füllte. Er ließ seine Stute einem Wildpfad folgen, der zum ›Arroyo‹ führte. Als sie näherkamen, hob seine Stute mit einem lauten Schnaufen den Kopf und ihr Gang wurde lebhafter.
»Brrr …, mein Mädchen.« Santiago zog leicht an den Zügeln. »Langsam und vorsichtig.«
Sie drehte ihren Kopf ein wenig, mit einem scheinbar unheilvollen Blick, verlangsamte aber ihr Tempo.
Zwischen den sechs Yards hohen Steilwänden aus geschichtetem Basalt, der die Landschaft um ihn herum kennzeichnete, öffnete sich vor ihm der ausgetrocknete Wasserlauf zu einer sandigen Fläche. Er zügelte seine Stute, stieg in der Nähe der Mündung des kleinen Canyons ab. legte die Zügel über einen Pinienzweig und zog die Schrotflinte aus dem ›Scabbard‹. Dann schob er den Sombrero auf seinen Rücken, ließ sich auf die Knie sinken und blickte vorsichtig um den Felsen herum, der das offene Ende der Nordwand des Arroyo markierte. Das Klappern von Estrellas Hufen war nicht gerade leise gewesen, und so war es eher eine Frage der Vorsicht als der Heimlichkeit.
Santiago spürte die etwas kühlere Luft auf seinem Gesicht. Hier gab es üppige Flecken grünen Grases, ein paar belaubte Sträucher und ein Dutzend Pappeln. Ihre ausladenden Äste schnitten tief in die Sommerhitze und linderte ein wenig den in den Augen brennenden Schmerz der strahlenden Sonne. Der Bach war vielleicht dreißig Yards lang und begann abrupt an einem Felsvorsprung aus hellbraunem Gestein, der einen scharfen Kontrast zu den dunklen, rotbraunen Basaltschichten bildete, die die Seiten der Schlucht säumten. Nahe dem schmalen Ende sah er etwas Glitzerndes und vermutete, dass es sich um Wasser handelte, das er dort zu finden gehofft hatte.
Er nahm einen der runden Steine zu seinen Knien und warf ihn weit in die Schlucht, wo er das Wasser laut aufspritzen ließ. Aber als er außer einem zwitschernden, weißgrauen Königstyrannen, der auf einem Pappelzweig herumhüpfte, nichts weiter hörte, stand auf und ging zu seinem Pferd zurück. Dann zog der den Zügel vom Ast und näherte sich mit der Schrotflinte in der einen und den Zügeln in der anderen Hand noch einmal der Schlucht. Ein weiteres Mal spähte er um die felsige Ecke, bevor er in die Öffnung hinaustrat. Seine Stute war dicht hinter ihm und versetzte ihm einen sanften Schubs. »Langsam, mein Mädchen. Wir wollen es doch nicht versauen, oder?«
Nach knapp sechs Yards endete der Pfad an einem Ausläufer feuchten Sandes – offenbar an der Stelle der Senke, wo das dürftige Quellwasser wieder im Boden versickerte. Dort blieb er stehen, schob die Schrotflinte in die Schutzhülle zurück und ging in die Knie, um mit den Händen ein Loch im Sand auszuheben. Sofort begann sich die Vertiefung mit Quell- als auch Grundwasser zu füllen.
Als könnte sie es nicht abwarten, versetzte ihm Estrella einen Stoß gegen den Hintern.
»Na, hör' mal«, knurrte er. »Halt!« Als sie stehenblieb stand er auf und tätschelte ihren Hals. »Du kannst ja ein wenig trinken.« Während er die Zügel festhielt, trank sie durstig aus der flachen sandigen ›Schüssel‹. Erst als sie alles getrunken hatte, zog er sie zurück zum Eingang der Schlucht und band sie fest. Dann führte er sein Ritual durch, Gewehr, Schrotflinte herunter- und den Sattel abzunehmen, um sie noch einmal schnell abzubürsten. Anschließend wälzte sie sich im trockenen Sand, worauf er sie erneut bürstete und erneut zum Sandloch führte, in dem sich inzwischen wieder frisches Wasser gesammelt hatte. Zurück in der Mündung des ›Arroyo‹ holte er die Leine und band sie an eine Pappel, die von üppigem Gras umgeben war, ehe er sie vom Zaumzeug befreite und in aller Ruhe grasen ließ.
Mit der Schrotflinte und den beiden Feldflaschen ging er zur Quelle am Fuß der hellbraunen Felswand, spülte beide Behälter aus und füllte sie mit dem Wasser, das von einem schmalen Vorsprung tropfte. Seelenruhig zog er seine Stiefel und Kleider aus, legte die Hose zur Seite, spülte und wrang sein leicht verblichenes Baumwollhemd, die Socken und seine Unterwäsche aus – und hängte alles zum Trocknen an einen abgestorbenen Pappelast. Dann wusch er sich selbst, nahm derweil mehrere Schlucke aus der kleinen Feldflasche und trocknete sich so gut es ging mit seinem großen Halstuch ab.
Mit schussbereiter Waffe streckte er sich nackt auf einem großen, glatten Felsen im Schatten der Wand des Canyons aus und nippte an der Flasche. Noch bevor die Sonne eine Stunde weiter war, stand er auf, füllte die Feldflasche wieder auf und zog die noch leicht feuchte Kleidung an, wobei er seine ungewaschene, staubige Latzhose und seine Stiefel über das saubere Ensemble zog.
Schließlich ging er zurück zu seiner Stute und ließ sie ein weiteres Mal ungestört trinken.
Als Estrella satt war, sattelte er sie, packte sein Gewehr und seine Ausrüstung wieder ein und stieg auf. Immer noch ganz ruhig lenkte er die Stute zu der Stelle, an der er am Abend zuvor das Feuer gesehen hatte, zwischen den hohen Bäumen nahe dem Gipfel des Bergrückens.
*
Gut neunzig Minuten später betrachtete Santiago die Überreste eines Lagerfeuers, stieg ab und studierte den Boden. Während er langsam um die Feuerstelle schritt und den Radius erweiterte, fand er die Stiefelabdrücke einer großen, schweren und einer kleinen, leichteren Person, die er eingehender untersuchte. Als er sich wieder erhob, bemerkte er die Spuren zweier Pferde, die von Süden kamen und dann vom Lager aus nach Norden liefen, einem selten benutzten Pfad folgend. Er schaute sich den zertrampelten Bereich an, wo die Pferde für die Nacht angebunden worden waren, ehe er zu der Stelle wechselte, an er die Abdrücke der Hufeisen deutlich lesen konnte. Sein Blick wanderte hinüber zu einigen der in der Nähe stehenden Bäume, an deren Rinde und den Enden abgebrochener Zweige sich Haare fanden. Sorgfältig zupfte er welche davon ab und wickelte sie in ein Stück Zeitungspapier aus seiner Satteltasche., ehe er wieder auf seine Stute stieg und der Spur der beiden Pferde im Schritttempo folgte.
*
Nach einer halben Stunde, in der er die ganze Zeit über in nördlicher Richtung geritten war, hielt er an, stieg ab und hängte seinen Sombrero ans Sattelhorn. Dann benutzte er das Fernglas zur Hand, um auf seine Spur zurückzublicken, die nun zum größten Teil von Bäumen verdeckt war. Ein paar Minuten später ergriff er die Zügel seiner Stute und führte sie zum Gipfel des Bergrückens hinauf. Dort wiederholte er die Inaugenscheinnahme des gegenüberliegenden Abhangs, bevor er mit Estrella über den Kamm nach unten ging – noch weiter von immergrünen Bäumen gedeckt. Erst unten setzte er den Sombrero wieder auf, stieg in den Sattel und lenkte sie nach Norden – einem Wildpfad unterhalb des Bergrückens folgend. Soweit es der Boden erlaubt, ließ er sie leicht galoppieren, und trabte oder schritt, wenn sie zwischen verstreuten Felsen oder dicht stehenden Bäumen hindurchkamen. An einer Stelle lenkte er sie weiter bergab, zum Ende einer langen Pappelreihe, wo sich eine weitere Quelle befand – umzäunt, um andere Tiere fernzuhalten – ließ sie trinken und füllte die Feldfalschen auf. Dann stieg er wieder auf, ritt zurück zum bewaldeten Bergrücken und nahm seinen Kurs nach Norden wieder auf …
***
Kapitel 2
Später am Nachmittag, als sich die Sonne dem westlichen Horizont näherte, trieb Santiago seine Stute zum Grat hinauf. Auch jetzt hielt er sich wieder an seine Routinen und untersuchte sie vorsichtig, bevor er sie über den Kamm führte. Nachdem er wieder aufgestiegen war, ritt er den Hang hinunter, ein wenig Richtung Norden, bis er die Spur der beiden Pferde kreuzte, die immer noch nördlich ritten und zwischen den Bäumen hoch oben am Osthang blieben.
Er folgte etwa dreißig Yards, bevor er sich nach unten beugte und die Abdrücke auf dem Boden betrachtete. Dabei trieb er Estrella sanft mit den Knien an, sodass sie in einem kleinen Kreis um die Spuren herumlief. Dann hielt er an, stieg ab und schob sich den Sombrero auf den Rücken, streckte eine Hand aus und fuhr mit dem Finger sanft über den eingedrückten Rand eines Hufabdrucks. Unmerklich nickend stand er auf und ging ein Stück des Weges zurück, wo er sich erneut hinhockte, um einen dunklen Fleck auf einem der Felsen zu berühren. Als er den Finger zurückzog, drehte er ihn zum Licht und musterte die zurückgebliebene schwache, rötlichbraune Farbe.
Santiago erhob sich langsam und blickte, sich mit der linken Hand am Sattelhorn festhaltend den Pfad hinunter, obwohl sich seine Augen auf nichts Bestimmtes zu konzentrieren schienen. Nach einigen Augenblicken wandte er den Kopf in die Richtung, wo die beiden Pferde weitergegangen waren. Er zog den Sombrero wieder auf den Kopf, schwang sich auf seine Stute, lenkte sie nach Süden und trieb sie zu einem schnellen Galopp an.
*
Die Sonne ging gerade unter, als er in einer Entfernung von gut hundert Yards, leicht abwärts vom Pfad, die Rute eines Kojoten ausmachte. Der Präriewolf zerrte an etwas, das er nicht sehen konnte, aber es befand sich in der Nähe eines bizarren Hügels aus flachen, dunklen Felsplatten. Als der Steppenwolf das Hufgetrappel des Pferdes hörte, wirbelte er herum, nahm eine gerade Haltung ein, senkte den Kopf und streckte den Hals nach vorne, wobei sich das Fell auf seinem Rücken sträubte. Er knurrte, zog die Lefzen zurück und entblößte scharfe, gelbe und ausgeprägte Reißzähne.
Estrella wurde langsamer, aber Santiago trieb sie mit den Fersen wieder in einen Trab und steuerte nun direkt die Stelle an.
Sofort knurrte der Kojote laute und duckte sich tiefer. Doch dann drehte er sich abrupt um und rannte, während er Santiago und Estrella wiederholte Blicke über die Schulter hinweg zuwarf, mit eingeklemmter Rute den Abhang hinunter, ehe er etwa siebzig Yards entfernt stehenblieb und sie misstrauisch beäugte.
Aber Santiagos Aufmerksamkeit galt einem niedrigen Steinhaufen und nicht ihm. Er brachte seine Stute in einem seichte, Bachbett zum Stehen, gleich oberhalb der Steine, die ganz offensichtlich von menschlicher Hand aufgeschichtet worden waren, und bemerkte sofort, was die Aufmerksamkeit des Kojoten erregt hatte. Denn aus dem oberen Ende des Hügels ragte die abgenagte Spitze eines Reitstiefels.
Noch im selben Moment zügelte er Estrella, schwang sich aus dem Sattel, und begann freizulegen, was die flachen Steine zu verbergen versuchten. Bereits nach einer Schicht kam die teilweise angezogene Leiche einer jungen Frau in typischer Reitkleidung der Rancher zum Vorschein. Sie lag mit dem Rücken auf einem sandigen Kiesbett. Die weit geöffneten Augen ihres leicht nach rechts gedrehten Kopfes waren voll Dreck, der rechte Arm am Ellbogen angewinkelt, mit der Hand auf Höhe des Kinns, während der andere unter ihrem Rücken verdreht war. Ihre Beine waren an den Knien leicht angewinkelt und nach links abgewinkelt. Nur der Stiefel, an dem der Kojote gezerrt hatte, saß noch an ihrem linken Fuß, während der andere nackt war.
In ihrer bizarr anmutenden Ruhe kam sie ihm eher wie ein Mädchen und weniger wie eine junge Frau vor. Sie hatte hellbraunes Haar und reine Haut, aber die Züge ihres Gesichts waren durch mehrere Blutergüsse, einen tiefen Schnitt an der Unterlippe, eine blutige, abgeflachte Nase und eine konkave Delle in der Stirn, direkt über ihrem linken Auge, entstellt. An ihrem offenen Hemd fehlten einige Knöpfe. Ihre festen Brüste waren freigelegt. Ihre Unterwäsche war zerrissen, die Hose am linken Bein bis zum Knie nach unten gerafft. Die offene Kleidung zeigte Bissspuren auf ihrer Brust, einen gequetschten Bauch und blutverschmierten Schritt. Ihr fehlender rechter Stiefel steckte unter ihrer linken Schulter.
Santiago kniete neben der Toten nieder und griff nach der nach oben gerichteten rechten Hand, unter deren Fingernägeln sich eine weiche bräunliche Substanz befand, die ihm bekannt vorkam. Er warf der Leiche einen langen, ernsten Blick zu, dann schaute er auf und sah den Kojoten, der noch immer unten am Hang stand und ihn nicht aus den Augen ließ. Langsam stand er auf und schritt die Senke hinauf, wo er sich neben mehreren Stiefelabdrücken niederkniete, um sie eingehend zu betrachten.
Schließlich kehrte er zu seiner Stute zurück, um seinen Schlafsack hinter dem Sattel hervorzuholen. Dann rollte er ihn in der Nähe der Leiche aus und legte die Decken zusammen, die er wieder verstaute. Jetzt widmete er sich dem Mädchen, hob dessen Körper an und legte ihn auf die wasserdichte Plane. So gut es ging, zog er sie wieder an und blies ihr den Sand aus den Augen, die sich selbst jetzt nicht ganz schließen ließen. Schließlich wickelte er sie fest in das Wachstuch, steckte deren Enden ein und verschnürte den Körper mit kurzen Stricken, die er aus der Estrellas Führleine geschnitten hatte.
Mit Leichtigkeit hob er die Tote hoch, gab seiner Stute einen schnalzenden Befehl zu folgen, und trug seine Last in Richtung Pfad zurück. Als er ihn erreichte, wandte er sich nach Norden, auf eine Felsformation zu, die ihm aufgefallen war, kurz bevor ihm der Kojoten aufgefallen war, der sich inzwischen davongeschlichen hatte. Etwa zwanzig Yards oberhalb des schmalen Weges, inmitten eines offenen Zedernwäldchens, ragte der geschichtete, rotbraune Fels deutlich hervor. Die Formation bildete hier eine fast gleichmäßige Fläche, drei Yards breit und fünf Yards hoch, deren Schichten an Steinstufen erinnerten, die zu einem imposanten Gebäude führten.
Behutsam legte Santiago den toten Körper ab und band Estrella an der anderen Seite des Felsen fest, ehe er die Satteltaschen abnahm und eine kleine Bratpfanne aus Gusseisen zum Vorschein brachte, mit der er Erde und Steine auszuheben begann – parallel zur Kante des Felsvorsprungs. Es benötigte einiges an Aufwand, um einen sechs Fuß langen Graben bis auf dreieinhalb Fuß Tiefe auszuheben.
Obwohl die Sonne längst untergegangen war, bot die Abenddämmerung noch ausreichend Licht.
Zufrieden mit seiner Arbeit, hob Santiago den Leib der toten Frau hoch und legte sie vorsichtig ins ausgehobene Grab. Nach einem stillen Moment der Andacht füllte er das Loch mit der ausgehobenen Erde und stampfte sie so fest wie möglich, bis sie einen kleinen Hügel bildete, den er zu einer ebenen Fläche glättete. Von einem in der Nähe gelegenen Felsvorsprung sammelte er mehrere große, flache Steine auf, die so schwer und groß waren, dass kein Tier außer einem Bären sie bewegen konnte. Er platzierte sie so, dass das Grab bis auf einen Meter darüber hinaus vollständig bedeckt war, bevor er eine zweite Schicht hinzufügte. Inzwischen war es dunkel geworden und nur noch schwach erhellt von den Sternen am grauen Himmel.
Estrella schnaubte leise und trat ein wenig an Ort und Stelle herum.
Santiago sah zu ihr auf. Dann stand er auf, griff nach seinem Sombrero, füllte dessen Krone aus der großen Feldflasche und bot ihr das Wasser an. Erst als er seine Stute liebevoll versorgt hatte, baute er sich sein Lager für die Nacht und aß einige Trockenkekse und etwas vom ›Beef Jerky‹.
*
Am Morgen errichtete er zwei kleinere, aber markante Steinhaufen an den oberen Ecken des stufenförmigen Felsens, einen weiteren am Rand des Pfades und einen letzten auf dem Gipfel des Grats – in direkter Linie zum Grab. Erst jetzt bestieg er Estrella und machte sich auf den Weg nach Norden, den Spuren der beiden Pferde folgend.
Zumeist verlief der Pfad zwischen Tannen, Fichten und Kiefern mit ihren hohen, spärlichen Baumkronen. Obwohl die Bäume weit auseinander standen, boten sie auf der Höhe des Grates eine gewisse Erleichterung gegenüber der Sommerhitze im ausgetrockneten Tal.
*
Im späteren Verlauf des Vormittages bemerkte Santiago eine weitere Spur beschlagener Hufe, die vom Grat nach unten führte und sich der, der beiden anderen Pferde in nördliche Richtung anschloss.
Santiago stieg ab, um sie sich näher anzusehen und lächelte, als er wieder aufstieg und den Spuren folgte. Die neue, frischere und immer über den alten liegend, ließ darauf schließen, dass sich der Reiter in einigem Abstand hinter den anderen befand.
*
Kurz vor Mittag zügelte Santiago plötzlich seine Stute, drehte sich im Sattel, um das Fernglas aus dem Gepäck zu ziehen, und hielt sich, wieder nach Norden blickend, das Teleskop ans Auge. Vielleicht eine Meile vor ihm konnte er die Hinterhand eines Pferdes sehen, das quer zum Pfad stand und dessen Rest durch Baumstämme verdeckt wurde. Dennoch konnte er klar erkennen, dass es sich um ein ›Appaloosa‹ handelte. Er beobachtete es einige Minuten lang durch das Glas, aber die einzige Bewegung war ein Wedeln des dunklen Schweifs.
Er dirigierte Estrella vom Pfad in Richtung des Kamms, höher hinauf, und wandte sich dann wieder nach Norden. Nach fast einer Meile stieg er ab, zügelte sie, zog das Gewehr aus dem ›Scabbard‹ und hängte den Sombrero an den Sattelknauf. Nach einem sanften Klapps auf den Hals, ging er durch die Baumreihen lautlos auf das andere Pferd zu.
Nach einer Weile blieb er hinter einer Tanne stehen. Eine kaum wahrnehmbare Brise, verursacht durch die warme Luft, die vom Talboden aufstieg, brachte ihn in Windrichtung des ›Appaloosa‹, das sich als Wallach entpuppte und mit gesenktem Kopf neben einem Mann in Wildlederkleidung stand, der zusammengesunken auf dem Rücken lag. Die Lage des Körpers wirkte unbeholfen und wenig bequem – auch schien kein sichtbares Leben in ihm zu sein.
Santiago weitete seine Beobachtung aus und blickte sich auf dem abschüssigen Gelände in seinem Sichtfeld um. Mit dem Gewehr im Anschlag ging er leise auf die Szene zu, die er beobachtet hatte. Als er etwa fünf Yards entfernt war, schnaubte der Wallach und wandte sich ihm ruckartig zu. »Ya’at’eeh, Níyol«, raunte er ihm auf Navajo zu, was ›Grüß dich, mein Junge‹ bedeutete, und hielt dem nervösen Tier den Handrücken entgegen.
Trotz einigem Schnauben und Stampfen blieb der Wallach in der Nähe des leblos auf dem Boden liegenden Körpers. Aber als sich Santiago ihm mit noch immer ausgestreckter Hand näherte, schnupperte er kurz und wurde etwas ruhiger.
Santiago summte melodisch, tätschelte die Wange des Wallachs und blies sanft in Richtung seiner Nüstern. Ein paar Minuten blieb er neben dem Kopf des ›Appaloosa‹ stehen, streichelte dessen Hals und kraulte ihm sanft die Ohren, während er bedeutungslose Laute murmelte. Seine Augen waren jedoch auf den Körper in der Nähe gerichtet, einen gut gebauten, dunkelhäutigen Mann mit einem breiten Gesicht mit hohen Wangenknochen, dessen langes, schwarzes Haar durch eine Wunde gescheitelt war. Eine flache, gleichmäßige Bewegung, deutete darauf hin, dass er noch atmete.
Nach einem letzten Klaps auf die Schulter des sichtlich ruhigeren Pferdes lehnte Santiago sein Gewehr an eine Tanne, ging auf den Mann zu und kniete sich neben ihn. Für einige Sekunden legte er ihm die Finger an die Halsschlagader, ehe er ihn genauer untersuchte. Dabei zog er ihn behutsam in eine bequemere Position und tastete Schultern, Rippen und Wirbelsäule ab. Schon auf den ersten Blick war ihm das verkrustete Blut in den Haaren aufgefallen, dass das wahre Ausmaß der Wunde verbarg.
Santiago stand auf und ging auf den Appaloosa zu, pfiff kurze, monotone Töne und klopfte ihm auf den Hals. Dann trat er auf den Pfad und ging etwa fünfzehn Yards nach Süden. Dort legte er seine Hände trichterförmig um seinen Mund, presste die Daumen gegen seine Lippen und pfiff einen lauten, schrillen Ton, gefolgt von einer kürzeren Wiederholung. Sofort konnte er hinter sich den Wallach nervös stampfen hören. Nachdem er noch einmal in derselben Abfolge gepfiffen hatte, vernahm er Estrella, die sich schnell durchs Unterholz bewegte und knapp hundert Yards von ihm entfernt auf den Pfad hinaustrat. Nach einer weiteren, leiseren Wiederholung wandte sie den Kopf in seine Richtung und kam ihm Galopp auf ihn zu. Als sie langsamer wurde und neben ihm stehen blieb, klopfte er ihr fest auf die Schulter. »Gutes Mädchen«, lobte er sie.
Gleich darauf kramte er in seinen Gepäcktaschen, bis er das zerfetztes Stück Flanell fand, in das er eine kleine Handseife gewickelt hatte. Mit beidem und seiner kleinen Feldflasche kehrte er zu dem Mann zurück und kniete sich neben ihn. In den nächsten Minuten befeuchtete und wischte er abwechselnd die Kopfwunde des Mannes, bis ein drei Zoll langer Schnitt zum Vorschein kam. Der Schnitt war tief genug, um fast einen Zoll von dem freizulegen, das wie Schädelknochen aussah und eine flache Furche aufwies. Nur blutete die Wunde jetzt wieder.
Santiago goss mehr Wasser über die Wunde, trat dann auf den Pfad und pfiff erneut, wenn auch leiser.
Estrella stand noch dort, wo er sie herbeigerufen hatte, hob sofort den Kopf und kam auf ihn zu.
Er tätschelte ihr wieder lobend die Schulter und führte sie vom Pfad in die Nähe des bewusstlosen Mannes – aber auf die vom Wallach abgewandte Seite und legte sie dort an die Leine. In der rechten Packtaschen suchte er das Nähzeug und sein Rasiermesser heraus, mit dem er die langen schwarzen Haare um die Wunde abrasierte, ehe er sie noch einmal gründlich ausspülte und sauber vernähte. Als er fertig war, holte er eine seiner Decken hervor. Mit dem Messer schnitt er einen handbreiten Streifen ab, spülte ihn mit Wasser aus der Feldflasche aus, wrang ihn aus und wiederholte es mit dem Stück Flanell, dass er faltete und auf die Wunde legte. Dann nahm er den Streifen der Decke und übte Druck aus, indem er den Verband um den Kopf und unters Kinn des Mannes band.
Dann packte er Rasiermesser, Seife, Faden und Nadel wieder in die Packtasche. ging zurück zu dem Mann und entfernte unter dessen Körper mehrere Steine und häufte etwas Sand unter dem Kopf zu einer Art Kissen, um ihn ein wenig anzuheben. Noch einmal fühlte er den Puls, legte ihm für einen Moment die Hand auf die Stirn und kümmerte sich anschließend um die Pferde. Er sattelte beide ab, untersuchte ihre Hufe, bürstete sie, gab ihnen etwas Wasser und Hafer und band sie an. Dann platzierte er seinen Sattel an einen Baumstamm in der Nähe des Mannes, legte Gewehr und Schrotflinte in Reichweite und lehnte sich gegen den Sattel, wobei er den kühlen, feuchten Sombrero tief in die Augen zog.
***
Kapitel 3
Kurz vor Sonnenuntergang regte sich der Mann.
Santiago legte den Sombrero beiseite, kniete sich neben ihn und beobachtete, wie er den Kopf bewegte, stöhnte und mit den Händen übers Gesicht fuhr, ehe er blinzelnd die Augen öffnete und ihn überrascht neben sich knien sah.
»Ya’at’eeh, Shichaha’oh«, flüsterte der Mann, ehe er ins Englische wechselte: »Sei gegrüßt, Shadow. Hast du mich skalpiert?«
»Ya’at’eeh, Akalii«, erwiderte Santiago auf Navajo und griff nach seiner Feldflasche. »Weißt du, wer auf dich geschossen hat, Cowboy?«
»Geschossen?« Cowboy hielt einen Moment inne und runzelte verwirrt die Stirn. » Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich von der Ranch aufgebrochen bin, um die Viehauktion in ›Shepherds Crossing‹ zu besuchen … Wo sind wir? Wie lange bin ich schon hier?«
»Hier, nimm ein paar kleine Schlucke.« Santiago bot von seiner Flasche an und stützte ihm leicht Kopf und Schulter. »Wir sind auf der Ostseite von ›Green Ridge‹, auf dem Wildpfad, gegenüber dem Canyon, den sie ›French Girl Creek‹ nennen. Ich habe dich hier gegen Mittag gefunden.«
Nach wenigen Schlucken schob Cowboy die Flasche von sich. »Ist das Geld noch in meinen Satteltaschen?«
»Ich werde nachsehen.«
»Als ich aufbrach, waren dreihundertdreißig Dollar darin.«
»Sieht so aus, als wäre alles noch da.«
»Aber warum wurde dann auf mich geschossen, und warum bist du hier oben, Shadow?«
»Nun, das Erste kann ich mir vorstellen und das Zweite ist eine lange Geschichte. Wie wär’s mit einem weiteren Schluck Wasser?«
»Ich kann die Flasche halten. Leg' nur meinen Kopf etwas höher.«
Santiago reichte sie ihm. »Um ehrlich zu sein: Ich bin auf der Flucht vor Sheriff Banks, der einen Haftbefehl gegen mich erwirken will.«
Der Mann unterbrach das Trinken und sah ihn fragend an. »Was hast du ausgefressen?«
»Eigentlich nichts.« Santiago zuckte die Schultern. »Das ist der lange Teil der Geschichte, aber den lassen wir erst einmal beiseite ... Gestern habe ich ein Stück südlich von hier die Spur zweier Reiter aufgenommen. Einer von ihnen muss ziemlich schwer sein und hat große Stiefel. Die andere, … Nun ja, sie war eine junge Frau, wie sich herausstellte. Sie waren in dieselbe Richtung unterwegs wie ich, also habe ich ihre Spur verfolgt. Kurz vor Sonnenuntergang habe ich dann die Leiche des Mädchens gefunden, versteckt unter einigen Felsen in einer seichten Flussrinne. Sie wurde misshandelt und sehr wahrscheinlich vergewaltigt. Ich habe sie letzte Nacht begraben und wollte heute versuchen, den Mann einzuholen, der das getan hat. Aber stattdessen habe ich dich gefunden, Cowboy. Ich schätze, er hat dich kommen sehen und auf dich geschossen, weil er dachte, du wärst hinter ihm her.«
Cowboy begann die Augen zu schließen. »Ähm, … ich glaube, ich muss ein bisschen schlafen.«
»Ja, sicher. Aber bevor du dich ausruhst, trinkst du erst noch etwas, und sag' mir, wenn du sonst noch irgendwie verletzt bist.«
»Fühlt sich an, als wäre ich auf meiner linken Schulter gelandet.« Cowboy spannte den Arm an, ehe er die Augen schloss. »Aber es scheint zu gehen.«
»Okay, ruh' dich aus. Ich werde vielleicht ein paar Fallen stellen, aber die meiste Zeit in deiner Nähe sein.«
*
»Ist das ein Kaninchen?«, fragte Cowboy, als er wieder erwachte.
»Ja.« Santiago nickte. »Du scheinst dich besser zu fühlen, oder?«
»Ein bisschen. Aber es war eine harte Nacht.«
»Es waren zwei harte Nächte, Cowboy. In der ersten Nacht hast du Fieber bekommen, und gestern hattest du über den Tag bis in die Nacht hinein Fieberschübe und Schüttelfrost. Gestern Mittag habe ich deine Kopfwunde noch einmal gereinigt. Sie war septisch, also habe ich sie kauterisiert. Schon möglich, dass dort keine Haare mehr wachsen.«
Cowboy hob die Decke an, mit der ihn Santiago zugedeckt hatte, und bemerkte, dass er teilweise entkleidet worden war. »Habe ich mich eingenässt?«
Santiago nickte. »Ich habe die dir nassen Sachen ausgezogen, konnte dich aber nicht waschen. Ich muss heute unbedingt noch Wasser finden.«
»›Meadow Spring‹ sollte gleich hinter dem Grat sein.« Cowboy stützte sich auf seinen Ellbogen. »Ich werde zum Wasser gehen«, meinte er, sich aufsetzend. Doch dann zögerte er, begann nach hinten zu kippen und konnte sich gerade noch mit den Ellbogen auffangen, ehe er mit einem »Uff!« wieder auf dem Rücken lag und flach atmete. »Vielleicht ist es besser, … du gehst …«, brachte er zwischen mehreren Atemzügen keuchend über die Lippen. »Westseite … ›Cottonwoods‹ … Ist nicht weit.« Er streckte seinen Arm aus und deutete auf den leicht nach Norden geneigten Bergrücken.
»Gut. Ich nehme die beiden Pferde, lasse dir aber die ›Yellow Boy‹ da … Bist du hungrig?«
»Ja, aber später …«
»Es ist genug da. Ich ziehe dich hier hinter den Stamm, … weg vom Pfad.«
»Nein, nein ... Lass' mich einfach hier … Kaninchen?« Cowboy machte eine verlangende Geste seiner noch immer ausgestreckten Hand.
Santiago trug Cowboys Hut und Packtaschen neben sich her. Dann brachte er den Sattel, legte das gebratene Kaninchen darauf ab und lehnte Cowboys ›Yellow Boy-Winchester‹ mit seiner abgesägten Schrotflinte dagegen. »Ist voll geladen«, erklärte er ihm, »und die beiden Läufe meiner Schrotflinte auch« Dann reichte er ihm seine Feldflasche. »Tief durchatmen und austrinken. Es sind nur ein paar Schlucke. Ich fülle die Flasche gleich mit auf.« Als sich Cowboy nach einer Minute wieder auf die Ellbogen brachte, stützte er ihm den Kopf, um ihm das Trinken zu erleichtern. Dann sattelte er Estrella und band den Wallach an den Führstrick. »Bist du bereit, Cowboy?«
»Bin ich, und bring# mir ein Bier mit.«
*
Erst kurz nach Mittag kehrte Santiago zurück, und seine Hose tropfte noch am Saum. Die Pferde sahen gepflegt aus und schritten lebhafter daher als noch beim Aufbruch. »Bier gab's nicht, aber ich habe Weide gefunden. Wie steht's mit einem Tee?«
»Ist besser als Bier«, murmelte Cowboy unter seinem von Kugeln durchsiebten Hut.
Santiago löste Cowboys aufgerollte Wildlederhose hinter seinem Sattel, rollte sie auf und zog an jedem Bein, um das Leder zu strecken. Anschließend schüttelte er sie kräftig aus und hängte sie über einen Ast, damit sie nicht direkt der Sonne ausgesetzt war.
»Hast du Latrinenpapier, Shadow?«
»Etwas Zeitungspapier … Ich helfe dir hoch.« Santiago kramte in der Satteltasche und zog eine Seite heraus. »Wenn du es nicht eilig hast, wie wär's, wenn du dich erst ein bisschen aufsetzt, ehe wir dich auf die Beine stellen?«
»Eine gute Idee.«
Santiago half ihm in eine sitzende Position und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Lass' mich vorher noch die Kopfwunde ansehen.« Er hatte sie nicht verbunden, um Luft dranzulassen, strich ein paar Haare aus dem Weg und schaute sich die Stelle an. »Sieht gut aus. Tut aber sich noch höllisch weh … Ich mache ein Feuer für den Tee, sobald du dein Geschäft verrichtet hast.«
»Such' mir einfach einen Baum, an den ich mich anlehnen kann. Mir geht es besser«, meinte Cowboy. »Hilf mir hoch.«
Santiago hockte sich neben Cowboy und legte sich dessen Arm über die Schultern. »Bereit?«
»So bereit ich es sein kann.«
Sie versuchten es gemeinsam, wobei Santiago ihn mehr stützte als ihn tatsächlich hochzuheben. Zusammen gingen sie auf die andere Seite des nahegelegenen Pfads zu einer Espe, vor der Cowboy stehenblieb.
»Klappte doch besser als erwartet«, konstatierte er. »Gib mir das Papier und mach' das Feuer für den Tee an ... Aber du hast recht. Es tut höllisch weh.«
Als Santiago ein Feuer machte, hörte er ein lautes Knacken aus der Richtung von Cowboys ›Latrine‹. »Brauchst du Hilfe?«
»Nein. Ich habe nur einen Ast abgebrochen, um ihn als Krücke zu benutzen!«, rief Cowboy, als er immer noch ohne Hose, aber durch die Länge seines Wildlederhemds geschützter Scham, gestützt auf einen dicken Zweig, langsam zurück zum Lager trottete.
Santiago hatte eine kleine Kaffeekanne aus seinem Gepäck geholt und zog gerade sein noch feuchtes Kopftuch aus der Gesäßtasche. Als er es entfaltete, kam ein Bündel Weidenzweige und ein wenig Rinde zum Vorschein, die er in die Kanne fallen ließ. aus seiner kleineren Feldflasche goss er etwas Wasser hinein, setzte den Deckel wieder auf und stellte sie auf die glühenden Kohlen neben dem Feuer.
Auch ohne die 1760 veröffentlichte Studie der ›British Royal Society‹ zu kennen, die besagte, dass die Weide einen Stoff namens Salicin produzierte, der bei Einnahme zum Analgetikum Salicylsäure verstoffwechselt wurde, wusste er von amerikanischen Eingeborenen, dass sie vorübergehend Schmerzen linderte und Fieber senkte.
»Ich werde die Schlingen der Fallen überprüfen.« Er schnappte sich seinen Karabiner. »Bis ich zurückkomme, sollte der Tee fertig sein.«
*
Während sie am nächsten Morgen bei der Glut des erlöschenden Feuers saßen, trank Cowboy noch mehr Weidentee. Mit Hilfe seines fetten ›Pemmikans‹ hatten sie ein weiteres Kaninchen gebraten und in den Saft, der in der Pfanne verblieben war, ihren Zwieback eingetaucht.
»Hast du irgendwo meinen Hut gesehen, Shadow?«, erkundigte sich Cowboy.
Santiago schüttelte den Kopf und grinste spöttisch. »Oh ja, habe ich. Der ist ziemlich angefressen. Schaut so aus, als wäre in der Nacht noch ein Wildschwein vorbeigekommen. Siehst du, hier …, zwischen den Einschusslöchern.« Er warf ihm die zerfetzten Überreste des schwarzen Filzes zu.
Cowboy warf einen kurzen Blick darauf, murmelte etwas über Stachelschweine und ließ ihn dann neben die Feuerstelle fallen. »Wollte schon fragen«, er nickte in die Richtung des Sombreros, der an einem Ast hing, »wo du diese mexikanische Kopfbedeckung aufgetan hast?«
»Ach, der ist dir aufgefallen? … Dir entgeht aber auch nichts.« Santiago lachte. »Den hat mir Jorje verkauft, ehe ich die Ranch verließ. Ich dachte, der Sombrero würde mein Aussehen etwas verändern, falls mich der ›Sheriff‹ oder seine Leute aus der Ferne entdecken.« Er grinste, als er hinzufügte: »Vielleicht gewöhne ich mich ja daran, so in drei oder vier Jahren.«
»Warum ist der eigentlich hinter dir her?«
Santiago neigte sich vor und schürte die Glut mit einem Stock, dann lehnte er sich wieder zurück. »Du weißt doch sicher noch, dass mein Vater außer der Ranch auch andere Grundstücke gekauft hat.«
Cowboy nickte. »Stimmt. Meine Eltern haben ab und zu darüber gesprochen. Ein paar hat er noch gekauft, ehe die Eisenbahn kam.«
»Ja, hauptsächlich in ›Waypoint‹, aber auch einige in ›Shepherds Crossing‹ und unten in ›Dorado Springs‹. Meist in Nähe der Gleise, aber noch bevor in ›Waypoint‹ alles parzelliert worden war, … abgesehen von den Vermessungspfählen für die Stadtgrundstücke und den Markierungen für die Bahntrasse. Damals waren die Grundstücke billig, zumindest im Vergleich zu heute.« Er hielt kurz inne. »Er verkaufte einige der Stadtgrundstücke, als die ›K&ASR‹ ihre Linie fertiggestellt hatte, wie die Ecke, ab der sich jetzt die Bank befindet, und einige in ›Crossing‹ und ›Springs‹. Hat ihm eine ordentliche Stange Geld eingebracht. Er finanzierte damit mein Jurastudium und errichtete auch mein Büro auf einem anderen seiner Eckgrundstücke. Aber er ließ einige der unbebaut, und das ist der Grund für diesen Haftbefehl.«
»Man ist wegen unbebauter Grundstücke von deinem Vater hinter dir her?« Cowboy schaute ihn verwirrt an.
»Es geht vor allem um zwei, die an der südwestlichen und nordöstlichen Ecke der ›Jackson Street‹ und ›Wagon Road Avenue‹ in ›Waypoint‹ liegen, in unmittelbarer Nähe vom Bahnhof.«
»Also direkt im Stadtzentrum.«
»Genau … Du weißt, wer Granger Lestly ist, oder?«
»Sicher. Dieses große Tier aus Texas, oder zumindest will er eines werden. Er versucht es deinem Vater gleich zu tun, ist aber zu spät zur Party erschienen. Soll wohl mit Leuten drüben aus ›Smokey Valley‹ verwandt sein.«
Santiago nickte bestätigend. »«
»Er suchte mich unmittelbar nach der Beerdigung meines Vaters auf und wollte mich dazu bringen, ihm diese Grundstücke zu verkaufen. Ich erklärte ihm, dass ich mir erst die Unterlagen meines Vaters ansehen müsse, was sicher einige Wochen in Anspruch nehmen würde. Darauf reagierte er recht erbost, erklärte, ich sei ein schlechter Geschäftsmann, sein gutes Angebot auszuschlagen, und ging verärgert weg.«
»Direkt nach der Beerdigung?«
Wieder nickte Santiago. »Als mein Bruder und ich die Aufzeichnungen durchgingen, stellte sich heraus, dass Lestly schon seit Jahren hinter diesen Grundstücken her ist. Es gab seinerseits mehrere Angebote, die mein Vater aber rundheraus abgelehnt hat. Aus den Notizen ging hervor, dass die sich anschließenden Grundstücke in Lestlys Besitz sind und auch, was er plant.«
»Was genau hat er denn vor?«
»An einer Ecke will er ein großes Hotel und an der anderen eine noble Bar und Spielhalle errichten. Wir denken, dass unser Vater Lestly nicht mochte oder etwas gegen dessen Pläne hatte. Außerdem war er mit Jacob Baylor befreundet. Sein Laden hätte für den Bau der Bar abgerissen werden müssen, und dasselbe gilt für Wissers Büchsenmacherladen, wenn Lestly die Idee mit seinem Hotel verwirklichen will. Unser Vater hat mit dem Angebot gekontert, ihm seine Grundstücke abzukaufen, aber von einem solchen ›Deal‹ wollte der nichts hören.«
»Baylor und Wisser … Mir reicht es schon, Lestly als Vermieter zu haben.«
»Wir halten auch nicht viel von ihm, und vergiss nicht, dass mein Bruder mit Christina verheiratet ist.«
»Baylors Tochter, ich weiß.«
»Vor gut einem Monat kam er noch einmal auf mich zu. Im Unterton schwang deutlich mit, dass ich sein Angebot besser annehmen solle, wolle ich vermeiden, dass es sehr unangenehm werden würde.« Santiago zuckte die Achseln.
»Du hast wieder abgelehnt, nicht wahr?«
»Ja, und es wurde unangenehm.«
Cowboy schenkte ihm einen neugierigen Blick. »Was hat er gemacht?«
»Er ist mit ›Sheriff‹ Banks schon lange eng befreundet, und ich habe den Verdacht, dass er mit Gunderson, dem obersten Bezirksrichter, eine Absprache getroffen und dazu gebracht hat, einen Enteignungsbeschluss für die beiden Grundstücke zu erlassen. Vermutlich, damit der Bezirk sie dann an ihn verkaufen kann.«
»Enteignung?«
»Bedeutet, dass mir jegliche Nutzung untersagt wird und der Bezirk das Grundstück für einen öffentlichen Zweck übernimmt … Mit anderen Worten: Der Bezirk erklärt ein wichtiges öffentliches Bedürfnis, das nur durch Nutzung des Grundstücks gestillt werden kann. So ein Grund kann der Bau einer Brücke oder eines Grabens zur Entwässerung sein. In diesem Fall scheint es aber wohl eher um eine höhere Steuereinnahme zu gehen und die Bestechungsgelder, die Lestly zahlt. Letztlich sollen sie mir zahlen, was die Grundstücke wert sind. Aber ich bin sicher, sie werden einen Weg finden, das zu umgehen.«
»Und warum sind sie hinter dir her?«
»Weil sie ein Problem haben, wenn sie die Sache schnell abschließen wollen. Dazu müssen sie mir die richterliche Mitteilung nämlich persönlich in die Hände drücken, damit sie wirksam wird. Ansonsten geht es nur mit einer öffentlichen Bekanntmachung, und das dauert mehrere Monate. Also hat sich Gunderson einen Kniff überlegt und vor ein paar Tagen einen Haftbefehl gegen mich erlassen, in der er mich der Vereitelung der Rechtspflege anklagt. Dabei hat er vergessen, dass der Bezirksschreiber Miller mit meinem Vater befreundet war und es mir gesteckt hat …«
»Und da bist du natürlich direkt stiften gegangen«, grinste Cowboy.
»Nicht direkt. Am nächsten Tag suchte mich Christina auf, um mich zu warnen, dass Banks dabei war eine Truppe zusammenzustellen. Ich war im Büro, um die Eigentumsdokumente an mich zu nehmen und wollte mich gerade durch die Hintertür verabschieden. Nachdem sie es mir erzählt hatte, blieb ich östlich der Gleise, konnte aber bereits einige Reiter mit Dienstmarken sehen, die sich meinem Büro näherten. Sie ignorierten mich, was mich nicht wirklich wunderte, denn aus dieser Entfernung konnten sie nur einen Mexikaner mit einem Sombrero ausmachen. Ich machte mich auf den Weg zu Miss Kuiper, um meine Wander- und Jagdausrüstung zu holen, schlich mich dann südlich um die Stadt in den Isabella Canyon und kam hier vorbei.«
»Können sie dich dafür ins Gefängnis stecken?«
»Nein, ich kann nicht einmal dafür verhaftet werden, weil es so ein Verbrechen gar nicht gibt. Zumindest nicht, solange alles legal abläuft.«
»Warum läufst du dann weg?«
»Weil Banks dreister geworden ist. Vermutlich, weil mein Vater aus dem Weg ist. Ich schätze, sie werden mich verhaften, ob legal oder nicht, und bin mir absolut sicher, dass ich den Aufenthalt im Bezirksgefängnis nicht überleben würde. Es wäre einfach mein Pech, wenn ich mich in meiner Zelle erhängen oder von einem anderen Gefangenen erstochen oder auf der Flucht erschossen würde. Hinzu kommt, dass einige der Beamten nichts für mich übrighaben, besonders nachdem ich für Stelle und ihre Mädchen diese Friedensbürgschaft bekommen habe … Also nehme ich besser einen Umweg.«
»Umweg klingt nach einem Plan. Hast du einen?«
Santiago nickte. »Ich will nach ›Shepherds Crossing‹. Dort stelle ich einen Antrag beim Staatsgericht, um den irrsinnigen Haftbefehl aufzuheben und vielleicht auch die Beschlagnahme.«
»Also, ich bin bereit losreiten«, meinte Cowboy.
»Morgen, Amigo. Ein weiterer Tag der Ruhe wird dir nicht schaden«, bremste ihn Santiago. »Die Auktion ist eh vorbei und Banks Bande scheint nicht zu wissen, wo sie mich suchen müssen. Hier oben zwischen den Bäumen ist es sehr viel angenehmer als unten. Wir könnten ja zur Quelle rüber und die Nacht dort verbringen.«
»Nun, wenn du es nicht eilig hast. Okay, klingt gut.«
»Musst du jetzt überhaupt noch nach ›Crossing‹?«
»Nun, … ähm, ja, … vielleicht ist das eine oder andere Tier übriggeblieben?«
»Ja, sicher«, kicherte Santiago, »die, die keiner haben wollte … Ich brauche keinen Partner bei dieser sinnlosen Jagd, Cowboy.«
»Apropos Jagd«, wechselte Cowboy das Thema. »Kommst du zu uns rüber, um Enten zu schießen, wenn sie nach Süden aufbrechen.«
»Versuch' nicht, mich diesem Trick zu überrumpeln. Ich kann das schon gut allein regeln. Du solltest nach Hause reiten und es ein paar Tage ruhig angehen lassen. Vergiss nicht, dass du angeschossen wurdest.«
»Ich brauche eh ein Bad, Shadow«, blieb Cowboy bei seiner Taktik. »Aber dieses kalte Quellwasser … Na ja, schätze, es ist immer noch besser, anstatt als letzter in die Badewanne zu müssen. Ich glaube, dass ich sogar noch etwas Seife habe.«
»Du wechselst immer noch das Thema, und nicht gerade effektiv …« Santiago wandte abrupt seinen Kopf nach Süden. »Warte!«, forderte er ihn mit leiser, aber eindringlicher Stimme auf. »Da kommt jemand.«
***
Kapitel 4
Sie standen beide auf und verhielten sich eine kleine Weile ganz still.
Konzentriert drehte Santiago seinen Kopf von einer Seite auf die andere.
»Drei Pferde, vielleicht vier, im leichten Trab«, raunte Cowboy ihm mit geschlossenen Augen zu. »Gib mir die Schrotflinte.«
Santiago huschte zu dem Baum, an dessen Stamm er seine Langwaffen gelehnt hatte, nahm beide an sich und kehrte zu Cowboy zurück. »Vielleicht solltest du dich bei den Pferden positionieren«, schlug er vor und reichte ihm die Schrotflinte. »Ich bleibe hier oben und höre mir an, was sie wollen. Halte auch nach rechts Ausschau. Ich glaube, von dort nähert sich jemand. Aber bleib' ruhig«, fügte er hinzu und blieb neben der glimmenden Glut des Lagerfeuers stehen.
Cowboy nickte, ging etwa fünfzehn Yards den Hang hinunter und wandte sich dem Pfad zu, der direkt oberhalb der Stelle lag, wo sie ihre Pferde angebunden hatten.
Mit den Gewehren schräg vor sich, konnten sie nun durch die Bäume mehrere Männer auf Pferden sehen, die auf dem Pfad nach Süden ritten – und als sie die Bäume hinter sich ließen, erkannte Santiago, dass es drei waren, mit goldenen Sternen an der Brust, die ihre Tiere etwa fünfzig Yards entfernt zum Stehen brachten.
»Hallo! Wir sind ein Suchtrupp auf der Suche nach einem vermissten Mädchen!«, rief der große Mann auf dem vordersten Pferd herüber. »Ich bin ›Deputy US Marshal‹ Connor Lonegan!«
Santiago ließ den Lauf seiner ›Winchester‹ in Richtung Boden sinken und hielt es jetzt nur noch mit der linken Hand. »Sie können herkommen und verweilen!«, rief er zurück.
Die drei Gesetzeshüter ließen ihre Pferde den Pfad entlanggehen, bis sie auf gleicher Höhe mit dem Lager waren.
»Wenn sich Ihr Mann weiter unseren Pferden nähert, könnte er sie erschrecken, ›Deputy‹, und im schlimmsten Fall von meinem Freund erschossen werden!«, warnte Santiago.
Lonegan hielt beim Absteigen inne. »Gehen Sie zurück und holen Sie Ihr Pferd, Mister Edwards!«, rief er über die Schulter hinweg.
»Verstanden, ›Marshal‹!«, ertönte es zwischen den Bäumen.
Als alle drei abgestiegen waren, kam Lonegan mit langsamen Schritten auf Santiago zu und reichte ihm die Hand. »Connor Lonegan, aus ›Fort Birney‹. Ich arbeite für den dortigen Bundesbezirksrichter.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen, ›Deputy‹. Ich bin Santiago López Ortiz y Fernandez de Bobadilla aus ›Waypoint‹. Aber Ortiz reicht.«
Lonegan deutete auf die beiden Männer, die ihn begleiteten. »William Goodson und Leo Trombley sind vorübergehende ›Deputy Marshals‹, ebenso wie Sean Edwards, der sein Pferd holt.«
Santiago nickte den Männern zu, die beide Mitte dreißig und von mittlerer Statur waren. Goodson hatte einen Vollbart, Trombley nur einen Schnurrbart. Beide wirkten kompetent und aufmerksam, ohne irgendwie grausam oder arrogant zu wirken. »Mein Freund heißt Akalii Tsosie, was auf Navajo Cowboy bedeutet. So nennt er sich auch. Seine Familie hat eine Ranch drüben in ›Flat Grass Valley‹.«
Cowboy kam herbei und schüttelte dem ›Deputy‹ mit einem »Ya’at’eeh, ›Marshal‹« die Hand, ehe er die beiden anderen Männer auf die gleiche Weise begrüßte.
»Wir waren gerade dabei das Lager abbrechen, aber ich könnte Ihnen Kaffee machen, wenn Sie möchten.« Santiago deutete auf die leere Kanne
»Ortiz?« Lonegan bedachte ihn mit einem prüfenden Blick. »Gibt es gegen Sie nicht einen Haftbefehl aus ›Jackson City‹? Eine seltsame Anklage wegen Vereitelung der Rechtspflege?«
»Das ist mir zu Ihren Ohren gekommen.« Santiago schmunzelte. »Ich bin auf dem Weg zum Büro des Staatsgerichts in ›Shepherds Crossing‹, um die Sache zu klären.«
»Nun, ich könnte natürlich erwähnen, dass unten im Büro des Staatsschreibers ein ›Deputy‹ aus ›Jackson County‹ wartet«, bemerkte Lonegan lächelnd. »Ich bin darauf beschränkt, in ›Arenoso‹ die Bundesinteressen für den östlichen Bezirk des Gerichts durchzusetzen. Also bin ich nicht hinter Ihnen her.«
»Das dachte ich mir, zumal jedes Bundesgericht über diesen Haftbefehl lachen würde.«
»Damit dürften Sie recht haben«, bestätigte der ›Deputy‹ nickend, ehe sein Tonfall ernster wurde. »Aber ich habe eine schlechte Nachricht für Sie. «
»›Sheriff‹ Hanson, unten in ›Crossing‹, sagte mir, der ›Deputy‹ aus ›Jackson‹ habe ihm erzählt, sie hätten einen Miguel mit ihrem Nachnamen wegen Behinderung der Justiz verhaftet und sei bei der Festnahme verletzt worden. Ein Familienmitglied?«
»Miguel ist mein jüngerer Bruder, hat mit der Sache aber rechtlich nichts zu tun«, erwiderte Santiago, ehe er besorgt fragte: »Ist er schwer verletzt worden?«
»Kann ich nicht sicher beantworten. Ich weiß nur, dass er im Gefängnis von ›Jackson County‹ ärztlich behandelt worden sein soll. Mir wurde zugetragen, dass ›Sheriff‹ Hanson nicht viel davon hält wie Banks die Dinge regelt.«
»Vermutlich.« Santiago starrte in die rauchende Glut.
Nach einem Moment des Schweigens wandte sich der ›Deputy‹ an Cowboy. »Mister, ähm, Tsosie? Das sieht nach einer üblen Wunde am Kopf aus. Was ist passiert?«
Cowboy zuckte mit den Schultern und wollte den Kopf schütteln, verzog dann aber schmerzhaft das Gesicht und ließ es sein. »Ich weiß es nicht wirklich. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich vor ein paar Tagen von der Ranch geritten bin, um mich auf den Weg zur Viehauktion in ›Crossing‹ zu machen. Danach wachte ich hier auf dem Bergrücken mit einem angeschlagenen Kopf auf und Shadow beugte sich über mich.«
»Shadow? Ihr Pferd?«
»Nein, das heißt ›Niyol‹, auf Englisch ›Der Wind‹. Meine Familie nennt Santiago ›Shichaha‘oh‹, was auf Navajo Schatten bedeutet.«
Lonegan wandte sich leicht herum und schaute Santiago an, der noch immer schweigend dastand und auf die glimmende Glut starrte, ehe sich wieder Cowboy widmete: »Also weißt du nicht, was passiert ist?«
»Nein. Ich erinnere mich nicht einmal daran, wie ich hergekommen bin.«
»Keine Ahnung, wie an diese Schnittwunde geraten bist?«
»Shadow meint, es ist eine Schusswunde. Einige Tage hatte ich wohl ordentliches Fieber, und er hat sich um mich gekümmert. Genau hier, wo wir gerade lagern. Aber ich kann mich nicht erinnern, angeschossen worden zu sein.«
»Du hast also niemanden sonst gesehen?«
»Das kann ich nicht sagen. Schon möglich, aber ich kann mich einfach nicht erinnern. Da müssen Sie Shadow fragen. Er glaubt, zu wissen, was passiert ist.«
»Könnte er auf dich geschossen haben?«
»Shadow?« Cowboy kicherte. »Die Wahrscheinlichkeit tendiert gegen Null.« Er grinste noch immer. »Er ist mein bester Freund. Wir kennen uns schon seit Kindertagen. Außerdem ist er ein sehr guter Schütze. Hätte er auf mich geschossen, würden wir nicht miteinander reden. Er hätte dann wohl auch kaum einen Grund, sich um mich zu kümmern. Sie sind auf dem falschen Dampfer, ›Deputy‹.«