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Der Traum von einer Eisenbahnstrecke von Colorado über die Rocky Mountains bis nach Mexiko war ein wichtiger Faktor, der dem ganzen Südwesten der USA zu einem wirtschaftlichen Aufschwung verhelfen sollte. Dies ist die Geschichte des fast zwei Jahre andauernden Kampfes zwischen der Denver & Rio Grande Railroad und der Atchison Topeka & Santa Fé Railway, die sich untereinander ein gnadenloses Wettrennen lieferten. Der geplante Bau einer Strecke über den Raton Pass und später zur aufstrebenden Minenstadt Leadville versprach einen ungeheuren Profit - und dafür entfachten beide Eisenbahngesellschaften einen erbitterten Krieg. Vor diesem historischen Hintergrund erzählt der Roman die Geschichte von Clay Caldwell, der auf der Suche nach seinem Bruder Johnny in diese Kämpfe verwickelt wird und schließlich eine Entscheidung treffen muss, bei der es nicht nur um seine eigene Zukunft geht, sondern auch um das Schicksal anderer Menschen.
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Seitenzahl: 374
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ONLY EBOOK - WESTERN
BUCH 3
© 2024 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Alfred Wallon
Titelbild: Vanessa Busse
Umschlaggestaltung: Mario Heyer
Satz: Torsten Kohlwey
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 978-3-7579-4160-4
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Vorwort
Prolog
Unternehmen Raton Pass
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Leadville
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Gnadenlose Gegner
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Tödliche Entscheidung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Nachwort
Über den Autor
Der Bau der großen Eisenbahnen in den USA ist ein untrennbarer und überaus wichtiger Bestandteil der amerikanischen Pioniergeschichte. Nichts ist so sehr mit der Besiedlung des amerikanischen Westens verbunden wie die Eisenbahnlinien und die damit einhergehende große Veränderung, die letztendlich die Indianerstämme in den Untergang trieb und ihre Lebensweisen vernichtete. Der Untergang einer alten Kultur war gleichzeitig auch der Aufstieg der weißen Zivilisation – wenn man letztere überhaupt aus Respekt vor der Kultur der Ureinwohner so bezeichnen darf.
Der Pioniergeist der unzähligen Arbeiter, Ingenieure und Bahnbaugesellschaften, öffnete den Westen auch für Siedler und Farmer. Zu beiden Seiten der Schienen schossen neue Städte wie Pilze aus dem Boden, denn die Eisenbahn brachte auch Wohlstand. Diese Entwicklung versuchten die Stämme der Großen Plains aufzuhalten. Aber sie hatten von Anfang an keine Chance.
Über die systematische Vernichtung der großen Büffelherden ist an anderer Stelle schon sehr viel geschrieben worden. Auch der Wettkampf der Union Pacific und Central Pacific, der beiden größten Eisenbahnlinien und deren schon fast historisch zu nennende Vereinigung am legendären Promontory Point in Utah bildete ebenfalls Stoff für zahlreiche Bücher und Filme.
Weniger bekannt dagegen ist der Kampf zwischen den beiden Eisenbahnlinien Denver & Rio Grande Railroad und der Atchison, Topeka & Santa Fé Railway. Hier wurde auf äußerst rücksichtslose und – zumindest aus heutiger Sicht – kaum nachzuvollziehende Weise um eine territoriale Vorherrschaft in den Bergen Colorados gekämpft. Und zwar mit Mitteln, die die ganze Expansion beider Eisenbahnlinien in ein äußerst fragwürdiges Licht stellen.
Der Traum einer Strecke von Colorado über die Rocky Mountains bis weiter südlich nach Mexiko war schon seit einigen Jahren eine Herausforderung für jeden Ingenieur und Finanzier. Schließlich würde durch den Bau einer solchen Eisenbahnstrecke der ganze Südwesten von diesem Aufschwung profitieren und weitere weitreichende Entwicklungen nach sich ziehen.
Die Union Pacific und Central Pacific hatten bereits deutlich unter Beweis gestellt, welche rasante Entwicklung diejenigen Staaten nahmen, die eine Eisenbahnstrecke durch ihr Land verlaufen ließen. Solcherlei Planungen mussten natürlich auch den alten Santa Fé Trail berücksichtigen, der schon seit etlichen Jahrzehnten die einzige Handelsverbindung zwischen dem Südwesten der USA und Mexiko darstellte. Unzählige Händlerkarawanen hatten diesen beschwerlichen Weg durch unwegsame, gefährliche Gebirgsregionen und menschenfeindliche Wüsten hinter sich gebracht – aber wie viel schneller würde eine Eisenbahn diese Strecke bewältigen können?
Für General William Jackson Palmer war dies nicht nur ein Traum, sondern ein Ziel, das er mit allen Mitteln verfolgte. Palmer, der sich bereits im Bürgerkrieg große Verdienste erworben und dessen ausgeprägtes strategisches Denken ihn sehr rasch an die Spitze der Denver & Rio Grande Railroad katapultiert hatte, erkannte das Potenzial und vor allem den Profit, den diese neue Strecke für seine Gesellschaft erwirtschaften würde. Palmer war ein äußerst geschickter Redner, dem es in relativ kurzer Zeit gelang, finanzkräftige Investoren für dieses Projekt und seine Eisenbahngesellschaft zu gewinnen.
Sein Gegenspieler bei der Atchison, Topeka & Santa Fé Railway war William Barstow Strong, der zehnte Präsident dieser Eisenbahngesellschaft, deren bisherige Entwicklung ähnlich spektakulär verlief. Bevor Strong an die Spitze der Atchison, Topeka & Santa Fé Railway berufen wurde, hatte er bereits zuvor zehn Jahre lang bei anderen kleineren und sehr regionalen Eisenbahnlinien gearbeitet, deren wirtschaftliche Entwicklung jedoch immer sehr positiv beeinflusst. Diese neue Herausforderung sollte jedoch seine größte sein, denn genau wie sein Konkurrent Palmer erkannte auch Strong die wirtschaftliche Bedeutung einer solchen Strecke über die Rockies nach Südwesten.
Ein wichtiges Zentrum der Planungen beider Eisenbahnlinien war der Raton Pass, der eine wichtige Verbindung für den Santa Fé Trail darstellte. Um diese ›strategische Baustelle‹ entwickelten sich im Frühjahr 1878 die ersten gewalttätigen Auseinandersetzungen, die den Beginn des Eisenbahnkrieges markierten und schließlich zu den dramatischen Kämpfen in der Royal Gorge führte.
Die Royal Gorge war eine 1000 m tiefe Schlucht, durch die der Arkansas River verlief und die den einzigen Zugang zur weiter westlich gelegen Minenstadt Leadville darstellte. Die Bedeutung dieser Stadt erkannten beide Eisenbahnlinien, denn dort wurde jeden Tag bis zu 50.000 kg Silbererz gefördert. Der Abtransport würde einen sehr lukrativen Gewinn darstellen, für den sich jede Investition lohnte. Egal unter welchen Umständen sie erfolgte und mit welchen Mitteln sie durchgesetzt werden würde!
Die Royal Gorge war so schmal, dass es dort nur Platz für eine einzige Eisenbahntrasse gab. Deshalb eskalierte die Gewalt sehr schnell, als die Atchison, Topeka & Santa Fé Railway mit Hilfe gedungener Revolvermänner dem Wettbewerb die Hölle heiß zu machen versuchte. Aber auch die Denver & Rio Grande Railroad hatte längst entsprechende Maßnahmen getroffen und versuchte, mit Hilfe der lokalen Sheriffs und weiterer Handlanger den Kampf zu verstärken. Bekannte Männer wie Bat Masterson und Ben Thompson waren ebenfalls in diese Auseinandersetzungen verwickelt, und die Art und Weise, wie sie sich hier einbrachten, trug ganz sicher nicht dazu bei, ihre Namen zu glorifizieren.
Fast zwei Jahre dauerte dieser Kampf um die Vorherrschaft in dieser Region – und mehr als einmal mussten die Gerichte einschreiten, um eine dauerhafte Eskalation der Gewalt zu verhindern. Dieser Zeitraum stellt auch heute noch in der Geschichte beider Eisenbahnlinien ein dunkles Kapitel dar, über das man lieber schweigt als darüber aus heutiger Sicht zu berichten.
Grund genug für mich – und ganz sicher auch eine Herausforderung – diese dramatischen Ereignisse erneut in den Blickpunkt zu rücken und damit zu dokumentieren, dass der Bau einer Eisenbahnlinie nicht zwangsläufig nur Ruhm und Ehre und den wirtschaftlichen Aufschwung einer ganzen Region bedeutet, sondern auch die Schattenseiten machtgieriger Menschen zum Vorschein bringt.
Augsburg, im Juni 2019
- Alfred Wallon
»Ich bedauere, Clay«, seufzte Hank Shepard, der Besitzer des General Store von Trinidad. »Aber dein Kredit und der deines Vaters sind ausgereizt. »Mehr geht beim besten Willen nicht...«
»Was soll das heißen, Hank?«, fragte Clay Caldwell gereizt. »Sind wir nicht mehr gut genug für dich? Wir haben bisher immer unsere Schulden bezahlt und...«
»Die Dinge ändern sich eben«, meinte Shepard und schob den Zettel zurück zu Clay. »Aber bei mir bekommt ihr nichts mehr. Ihr habt das Limit längst erreicht. Ich muss auch zusehen, wo ich bleibe – und ihr schuldet mir zweihundert Dollar seit dem Frühjahr. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, ob ich das Geld überhaupt jemals zurückbekomme. Wahrscheinlich hat das dein Bruder Johnny schon viel früher begriffen.«
Während er das sagte, begann er, einige Waren hinter sich ins Regal zu räumen und schien insgeheim erleichtert darüber zu sein, dass er dadurch den direkten Blickkontakt mit Caldwell vermied.
»Hank, es reicht jetzt!« Caldwells Stimme klang sichtlich gereizt. »Was Johnny getan hat, ist seine Sache. Aber Pa und ich sind noch hier. Und das werden wir auch weiterhin tun. Egal, ob uns andere für verrückt halten. Verdammt – schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!«
Shepard hielt inne und drehte sich wieder um.
»Du und dein Vater - Ihr hättet besser frühzeitig das Angebot von der Denver & Rio Grande Railroad annehmen sollen, Clay«, meinte er abwinkend. »Dann wäre es vermutlich erst gar nicht so weit gekommen. Verschließe die Augen nicht vor der Wirklichkeit. Ihr seid fertig hier, und ihr wisst das selbst auch. Gebt endlich euren verdammten Stolz auf. Noch ist es nicht zu spät.«
»Stehst du jetzt auch auf der Lohnliste der Denver & Rio Grande Railroad, Hank?» Caldwells Augen funkelten wütend. »Was hat man dir denn dafür geboten, dass du dich auch an diesem schmutzigen Spiel beteiligst?«
»Ich versuche nur zu überleben, Clay. Nicht mehr und nicht weniger. Die Arbeiter der Eisenbahngesellschaft kaufen bei mir ein. Das darf ich nicht vergessen. Wenn sie das nicht mehr tun würden, könnte ich den Laden bald schließen.«
»Und bevor du das tust, siehst du lieber untätig zu, wie man uns die Ranch weg nimmt, Hank«, erwiderte Caldwell mit bitterer Stimme. »Kannst du dich eigentlich noch selbst im Spiegel ansehen? Mir jedenfalls würde bei diesem Anblick übel werden.«
»Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst, Clay«, forderte ihn Shepard auf. »Sobald ihr eure Schulden bei mir bezahlt habt, können dein Vater und du wieder einkaufen. Aber nur dann...«
»Du kannst mich mal, Hank«, erwiderte Caldwell, drehte sich abrupt um und verließ den General Store mit schnellen Schritten. Er hatte große Mühe, seine Wut unter Kontrolle zu halten. Weil Shepard ihn wie einen Aussätzigen behandelt hatte. Vermutlich hatten ihm die Leute von der DRG Daumenschrauben angelegt und ihn dazu gezwungen, den Caldwells nur noch Waren zu geben, wenn diese bar bezahlt wurden. Welches Druckmittel die Eisenbahnbosse gegen Shepard in den Händen hielten, wusste Caldwell nicht. Es spielte auch keine Rolle mehr. Die Broken C war am Ende. Sein Vater und er würden dem Druck der Eisenbahngesellschaft nicht mehr lange standhalten können.
Seine Kehle fühlte sich trocken an, als er hinüber zur anderen Straßenseite schaute, wo sich der Saloon befand. Unter normalen Umständen hätte er dort vorbei geschaut und einen Drink zu sich genommen, nachdem alle Einkäufe getätigt worden waren. Aber jetzt hielt ihn nichts mehr in Trinidad.
Wer weiß, wer noch schon alles von der DRG kontrolliert wird?, fragte sich Caldwell insgeheim, während er auf den Bock des Pritschenwagens stieg und nach den Zügeln des Pferdegespanns griff. Als er sie anzog, setzten sich die beiden Pferde langsam in Bewegung.
Täuschte er sich – oder kam es ihm so vor, als wenn ihm die Passanten auf der anderen Straßenseite neugierig nach schauten? Als wenn sie nur darauf gewartet hatten, dass er die Stadt unverrichteter Dinge wieder verließ.
Matt Caldwell und sein Sohn Clay waren die letzten Kleinrancher, die dem Druck der mächtigen Eisenbahngesellschaft bisher die Stirn geboten hatten. Sein Vater hatte alle Angebote der DRG abgelehnt und die Landaufkäufer mit vorgehaltener Flinte zum Teufel gejagt. Was wenige Wochen später dazu geführt hatte, dass die Nachbarn der Caldwells ihr Land verlassen mussten. Weder Clay noch sein Vater hatten jemals herausgefunden, wie es die DRG angestellt hatte, ihre Nachbarn so unter Druck zu setzen, dass sie schließlich aufgegeben hatten. Es spielte auch keine Rolle mehr. Nur das Ergebnis zählte.
Schließlich hatte ein Trupp Arbeiter dafür gesorgt, dass der Fluss umgeleitet wurde und nicht mehr durch das Land der Caldwells führte. Die Rinderherde litt unter diesem Wassermangel, und ein großer Teil der Herde ging schließlich ein. Das war auch der Zeitpunkt gewesen, wo Clays jüngerer Bruder Johnny die Ranch verlassen hatte. Weder Clay noch sein Vater hatten jemals erfahren, wohin Johnny überhaupt wollte.
Vier Wochen waren seitdem vergangen, und von Johnny hatten sie nie wieder etwas gehört. Auch wenn Matt Caldwell versuchte, sich nichts davon anmerken zu lassen, wie sehr es ihn schmerzte, dass Johnny einfach gegangen war, so wusste Clay, dass sein Vater jeden Tag immer schwächer wurde. Wie ein Mann, dessen sämtliche Träume wie eine bunte Seifenblase zerplatzt waren, und der nicht mehr wusste, wie es weiter gehen sollte.
All dies ging Caldwell durch den Kopf, während er den Wagen weiter in Richtung Westen lenkte. Die Broken C Ranch lag knapp fünf Meilen weiter westlich von Trinidad. Und je näher er der Ranch kam, umso mehr grübelte Caldwell darüber nach, wie er seinem Vater am besten klar machte, dass er mit leeren Händen zurückgekommen war.
* * *
Irgendetwas stimmte nicht, als er das Pferdegespann auf dem Hof vor dem Ranchgebäude zügelte. Seine Blicke schweiften in die Runde und suchten nach seinem Vater. Normalerweise hatte er an diesem Vormittag draußen bei den Corrals neben dem Stall einige Ausbesserungsarbeiten vornehmen wollen. Aber merkwürdigerweise konnte Caldwell seinen Vater nirgendwo entdeckten. Ob er sich hinter der Scheune befand und deshalb nicht bemerkt hatte, dass sein Sohn wieder zurückgekommen war?
Caldwell spürte eine innere Unruhe in sich, die er sich nicht erklären konnte. Deshalb hatte er es sehr eilig, vom Bock des Wagens zu steigen und hinüber zur Scheune zu gehen.
»Pa!«, rief er. »Ich bin zurück. Wo bist du? Pa?«
Immer noch blieb alles still. Niemand rührte sich. Caldwell gefiel das nicht. Denn spätestens jetzt hätte sich sein Vater bemerkbar machen müssen. Die Tatsache, dass dies nicht der Fall war, beunruhigte ihn sehr.
Er umrundete die Scheune und hielt weiterhin Ausschau. Aber seinen Vater konnte er trotzdem nicht finden. Ob er vielleicht ins Haus zurückgegangen war, um sich etwas von der harten Arbeit auszuruhen? Normalerweise passte aber solch ein Verhalten ganz und gar nicht zu seinem Vater. Trotzdem schien das die einzige vernünftige Lösung dafür zu sein, dass er die Ankunft seines Sohnes immer noch nicht bemerkt hatte.
»Pa!« versuchte es Caldwell noch einmal. »Verdammt – wo steckst du denn?«
Als er immer noch keine Antwort erhielt, blieb er stehen und tastete mit der rechten Hand nach seinem Revolver. In diesen Sekunden ging ihm alles Mögliche durch den Kopf. Es gab nur eine vernünftige Erklärung dafür, dass sein Vater nicht zu sehen war – und das bedeutete nichts anderes, als dass ihn womöglich jemand daran gehindert hatte.
Hatte die Denver & Rio Grande Railroad vielleicht nur darauf gewartet, bis sein Vater allein auf der Ranch war? Es gab Gerüchte, darüber, dass die einstigen Eigentümer der umliegenden Farmen und Ranches nicht ganz freiwillig ihr Land aufgegeben hatten und man in einigen Fällen sogar nachgeholfen hatte. Weder Caldwell noch sein Vater hatten solchen Gerüchten ihre Aufmerksamkeit geschenkt, denn sie hatten genug mit sich selbst zu tun gehabt.
Sein Blick richtete sich auf das halb offene Scheunentor. Hinterher konnte er sich selbst nicht erklären, warum er sich jetzt langsam dem Tor näherte.
»Bist du da drin, Pa?«
Niemand antwortete. Caldwell zog jetzt seinen Revolver aus dem Halfter. Sein Herz pochte wie wild, als er das Tor erreichte und hindurch ging. Seine Augen brauchten einige Sekunden, um sich an die veränderten Lichtverhältnisse im Inneren der Scheune zu gewöhnen.
Was er dann sah, ließ ihn zur Salzsäule erstarren. An einem Querbalken baumelte eine reglose Gestalt. Mit einem Strick um den Hals!
»Mein Gott...«, murmelte Caldwell. Dann versagte ihm die Stimme, und er eilte auf die reglose Gestalt zu, die am Balken hing. Mit beiden Händen umfasste er seinen Vater, wollte ihn stützen und gleichzeitig verhindern, dass er keine Luft mehr bekam. Erst dann wurde ihm bewusst, was er da eigentlich tat. Als er spürte, wie kalt sein Vater schon war und er in die weit aufgerissenen Augen des Toten blickte, begriff er, dass hier jede Hilfe zu spät kam.
Ohnmächtig vor Wut und Entsetzen zitterte er am ganzen Körper. Er ballte die Fäuste in seiner Hilflosigkeit, während sich Tränen in seinen Augenwinkeln bildeten und die Wangen herunter liefen. Seine Schultern zuckten angesichts dieses schrecklichen Anblicks.
Er wusste nicht, wie lange er vor dem Toten gestanden hatte. Er konnte einfach nicht mehr klar denken. In seinem Kopf jagte ein Gedanke den anderen, und jeder war so verwirrend, dass er das alles gar nicht verarbeiten konnte.
Schließlich holte er eine Leiter, lehnte sie an den Balken und schnitt seinen Vater los. Die Leiche fiel mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden, und Caldwell fühlte sich so elend wie noch niemals zuvor in seinem Leben. Er bückte sich und hob seinen toten Vater mit beiden Armen hoch, nachdem er den Strick um dessen Hals entfernt hatte. Das Gewicht des Toten erschien ihm seltsam leicht. Als wenn er selbst nur eine leblose Hülle auf den Armen trug.
In seinen Augen glitzerte es immer noch feucht, als er in das Gesicht seines Vaters blickte.
»Warum nur, Pa...?«, murmelte er mit erstickter Stimme, während er den Toten ins Haus brachte und im Schlafzimmer auf das Bett legte. Dort blickte er lange auf ihn herab. Aus der unbeschreiblichen Trauer wurde allmählich eine entsetzliche Wut, die jeden weiteren Gedanken bestimmte. Aber all dies änderte nichts daran, dass sein Vater für sich eine endgültige Entscheidung getroffen haben musste.
Caldwells Verstand bemühte sich, zu begreifen, was gerade geschehen war und was dies nun auch für ihn bedeutete. Mit einem tiefen Seufzer wandte er sich vom Bett ab und verließ den Raum.
Erst dann entdeckte er das Stück Papier auf dem Küchentisch. Seine Hand zitterte, als er es an sich nahm und las, was dort geschrieben stand.
... Clay, mein Junge – ich weiß, dass du es nicht verstehen wirst. Sei nicht wütend auf mich und versuche einfach zu begreifen, dass es einzig und allein meine Entscheidung war. Du bist nicht schuld – und auch Johnny nicht. Aber ich kann und will einfach nicht mehr. Ich kann es nicht mehr ertragen, zuzusehen, wie hier alles vor die Hunde geht. Es ist wie ein langsames und qualvolles Sterben. Ich habe mich entschieden, den kürzeren Weg zu gehen. Begrabe mich neben deiner Mutter – und dann solltest du auch gehen, Bleib nicht hier. Diese Ranch ist verflucht. Mach etwas aus deinem Leben und fange ganz neu an. Am besten ganz weit weg von hier. Gott schütze dich, mein Junge – und solltest du irgendwann auf Johnny treffen, dann sage ihm, dass ich verstanden habe, warum er gegangen ist...
Im ersten Impuls wollte Caldwell das Papier einfach in tausend Stücke zerreißen. Dann unterließ er es aber, steckte diese letzte Nachricht in seine Jackentasche und beschloss stattdessen das zu tun, worum ihn sein Vater gebeten hatte.
Er ging zurück ins Schlafzimmer und hüllte den Toten in eine Decke. Dann trug er ihn hinaus – hinüber zu einer Stelle unter zwei Pinienbäumen, wo seine Mutter ruhte. Sie war an einem tückischen Fieber gestorben, als er selbst erst vierzehn gewesen war. Und Johnny noch so jung, dass er sich vermutlich gar nicht mehr daran erinnerte, wie seine Mutter überhaupt ausgesehen hatte. Ihr Vater hatte die beiden Söhne allein groß ziehen müssen, und das war alles andere als leicht für ihn gewesen. Dennoch hatte er nach bestem Wissen und Gewissen versucht, eine Heimat für seine Söhne zu schaffen und ihnen die Gewissheit zu geben, dass es sich lohnte, hier zu bleiben.
Er brauchte drei Stunden, um das Grab auszuheben. Als er es dann zuschaufelte und die Erdbrocken den Toten langsam bedeckten, hatte er keine Tränen mehr. In sich fühlte er nur eine grenzenlose Leere, die von nun an sein ständiger Begleiter sein würde. Weil er genau wusste, dass der vertraute Teil seines Lebens jetzt ein für alle Mal ein Ende gefunden hatte.
»Er war ein guter und ehrlicher Mann«, murmelte Caldwell mit gefalteten Händen am Grab. »Nimm ihn auf und verzeihe ihm das, was er getan hat. Er konnte nicht anders...«
Er verharrte noch einige Minuten mit gesenktem Kopf am Grab, bevor er sich schließlich abwandte und zurück ins Haus ging. Dort packte er das zusammen, was er mitnehmen wollte und verstaute es auf der Ladefläche des Pritschenwagens. Anschließend griff er nach den Zügeln und trieb die beiden Pferde an. Als er die Farm verließ, schaute er kein einziges Mal mehr zurück.
Das Maultier bockte wie verrückt, als Ray Morley nach den Zügeln griff und das Tier auf diese Weise zum Weitergehen bewegen wollte. Aber stattdessen verhielt sich das Maultier noch widerspenstiger und beklagte sich entsprechend laut.
»Da soll mir doch einer...«, seufzte Morley kopfschüttelnd und blickte das Tier wütend an. »Also wenn du nicht gleich gehorchst, dann überlege ich ernsthaft, ob ich nicht eine Kugel für dich störrischen Bock opfern und aus dir Steaks machen sollte. Kommst du jetzt endlich?«
Das Maultier schaute Morley auf eine Art und Weise an, als verstünde es ganz genau, was Morley hatte sagen wollen. Aber die Perspektive, in der Pfanne zu landen, schien ihm gleichgültig zu sein. Stattdessen riss es nach wie vor an den Zügeln und keilte mit den Hufen aus, als Morley auf das Maultier zuging.
Jetzt verfluchte er die Tatsache, dass er nicht lieber ein Pferd genommen hatte, um hinauf zum Raton Pass zu reiten. Pferde waren leichter zu bändigen als dieser sture Bursche, den er im Schlepptau hatte. Er hielt einen Moment inne, wischte sich den Schweiß aus der Stirn und griff nach der Wasserflasche am Sattelhorn. Bei dieser Gelegenheit schnappte das Maultier nach ihm und wieherte hocherfreut, als Morley in letzter Sekunde einen Satz zur Seite machte und beinahe die Wasserflasche hätte fallen lassen.
»Satansbraten!« schnaufte Morley voller Zorn. »Warte, jetzt zeige ich dir mal, wer hier der Herr ist und...«
»Maultiere sind eigentlich ganz friedlich!« erklang plötzlich eine höhnische Stimme seitlich hinter ihm. »Du willst das Tier doch nicht etwa schlagen?«
»Das würde ich lieber bleiben lassen!« meldete sich eine zweite Stimme zu Wort. »Bleib stehen, wo du bist, mein Freund – und behalte die Hände ja schön oben. Ich habe dich ganz genau im Visier!«
»Sam trifft meistens das, was er aufs Korn genommen hat«, warnte ihn der erste Mann, der nun sein Versteck verließ und in Morleys Blickfeld trat. Genau wie der zweite Wegelagerer, der sich weiter links hinter einigen Geröllbrocken verborgen gehalten hatte und mit einem Winchestergewehr auf Morleys Magen zielte. Ein dritter Mann, der gar nichts sagte, sondern nur hämisch grinste, machte das Trio komplett.
Morleys Gedanken überschlugen sich, als ihm bewusst wurde, in welch gefährlicher Situation er sich befand. Die Kerle mochten noch so mitgenommen und verlaust aussehen – aber die Waffen in ihren Händen waren sorgfältig gepflegt. Und sie würden sofort davon Gebrauch machen, wenn Morley auch nur eine falsche Bewegung machte.
»Gringo!«, sagte der Mann, der bisher geschwiegen hatte und dessen fettige Haare ihm bis auf die Schultern seines verwaschenen und geflickten Hemdes fielen. »Das ist ein Gringo, Buck! Weshalb trägt er dann die Kleidung eines Greasers?«
»Keeler hat wieder mal einen hellen Moment«, schmunzelte der zweite Mann, der in Morleys Alter, aber weitaus kräftiger war. Die beiden eisblauen Augen richteten sich mitleidlos auf ihn. »Aber er hat Recht. Du siehst aus wie ein Schafhirte, Mann – aber was bist du wirklich?«
»Ich an deiner Stelle würde lieber antworten«, meldete sich der Anführer zu Wort, den die anderen Buck genannt hatten. Er war groß und schlank und hatte aschblonde Haare. »Sam versteht keinen Spaß, wenn man ihn zu lange warten lässt. Also was ist jetzt?«
»Hört mal«, versuchte es Morley im Guten, während er sich im Stillen verzweifelt seine Chancen auszurechnen versuchte. »Wir können doch in Ruhe über alles reden. Ich will keinen Ärger. Also lasst uns die Sache friedlich regeln. Ich habe in meiner Satteltasche 20 Dollar. Die könnt ihr von mir aus haben. Und das Maultier auch, wenn ihr unbedingt wollt.«
»Ich könnte in der Tat ein Maultier gebrauchen«, meinte Keeler und zuckte zusammen, als ihm Buck mit einer herrischen Geste zu schweigen befahl.
»Wir haben dich was gefragt!«, wiederholte Buck seine Aufforderung. »Rede lieber jetzt, dann wird es nicht ganz so hart für dich...«
»Ich will über den Pass«, erwiderte Morley, nachdem er sich eine halbwegs glaubhafte Erklärung ausgedacht hatte. »Ich sag´s euch noch mal: die 20 Dollars sind alles, was ich habe. Nehmt sie, oder lasst es bleiben. Aber tut mir wenigstens einen Gefallen und behaltet eure Waffen unter Kontrolle. Der Kerl da links sieht ziemlich nervös aus«, meinte er schließlich zu Buck, nachdem er den Mann namens Keeler misstrauisch beäugt hatte. »Vielleicht wäre es besser, wenn du ihm mal sagst, dass er...«
»Buck, der Kerl redet für meinen Geschmack ein bisschen viel«, beklagte sich Keeler und richtete nach wie vor den Lauf seiner Waffe auf Morley. Allerdings konnte man ihm jetzt deutlich ansehen, dass er am liebsten abgedrückt hätte, wenn es nach ihm gegangen wäre.
»Wo er Recht hat, hat Keeler Recht«, meinte nun auch Sam und wartete auf ein Zeichen seines Anführers. »Wir jagen diesen Hungerleider zur Hölle, nehmen uns das Maultier, die 20 Dollars und dann...«
Er sprach diesen Satz bewusst nicht zu Ende. Aber Morley hatte auch so begriffen, dass sein Schicksal in diesen entscheidenden Sekunden mehr als ungewiss war. Fieberhaft überlegte er nach einer Lösung, seinen Hals aus dieser Schlinge zu ziehen, die sich unerbittlich immer weiter zusammen zog. Aber gegen diese drei Wegelagerer hatte er keine Chance. Vielleicht konnte er einen von ihnen niederschießen. Aber die beiden anderen würden ihm dann den Rest geben!
Keelers Augen begannen zu flackern. Ein deutliches Zeichen dafür, dass er sich kaum noch unter Kontrolle hatte. Bruchteile von Sekunden später wollte er abdrücken. Aber er kam nicht mehr dazu. Denn genau in diesem Augenblick fiel ein Schuss – aber aus einer ganz anderen Richtung.
Die Kugel traf Keeler in die rechte Schulter und stieß ihn zur Seite. Im Reflex hatte er noch abdrücken können, aber die Kugel traf das ursprünglich anvisierte Ziel nicht und bohrte sich stattdessen in den Erdboden. Allerdings nur wenige Schritte von Morleys Maultier entfernt. Das Tier wollte sich daraufhin wieder los reißen, und Morley blieb nichts anderes übrig als das Tier wieder rasch zur Räson zu bringen.
»Denkt noch nicht einmal daran!« erklang plötzlich eine warnende Stimme irgendwo oberhalb der Stelle, wo sich Morley befand. »Ich verspreche euch, dass ihr es bereuen würdet...«
Buck und Sam fluchten, befolgten aber dennoch den Ratschlag des Mannes, der jetzt mit einem Gewehr in der Hand zwischen den Felsen hervortrat. Er war groß und hager. Schwarzes Haar, das an den Schläfen bereits graue Stellen zeigte, ragte unter dem breitkrempigen Hut hervor und bedeckte den Kragen seines Hemdes. Er trug die Kleidung eines Weidereiters, aber er sah nicht aus wie ein Mann, der seinen Lebensunterhalt mit knochenharter Cowboyarbeit verbrachte. Und in seinen Augen war etwas zu erkennen, was Buck und Sam zur Vorsicht mahnte. Deshalb hüteten sie sich auch davor, ihre Waffen auf den neuen Gegner zu richten, der sich von einer Sekunde zur anderen eingemischt hatte.
»Nehmt euren Kumpan und seht zu, dass ihr von hier verschwindet!«, sagte der Mann in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »Ihr habt dafür eine Minute Zeit. Worauf wartet ihr noch?«
Morley beobachtete seinen Retter ganz genau in diesen entscheidenden Sekunden. Er schien überhaupt keine Angst vor diesen Wegelagerern zu haben. Stattdessen gab er sich bewusst kalt und gelassen – und das merkten die Halunken.
»Schon gut, Mister«, lenkte Buck schließlich ein und nickte seinem Kumpan Sam zu. »Wir wollten nur ein bisschen Spaß haben und...«
»Verdammte Hühnerdiebe seid ihr!« fiel ihm der Mann ins Wort. »Seid froh, dass ich heute meinen großzügigen Tag habe. Sonst wäre keiner von euch mehr am Leben. Und jetzt haut endlich ab von hier!«
Buck murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Mit Sam ging er rasch zu dem Verletzten. Die beiden hoben den stöhnenden Keeler hoch. Sein Hemd war feucht vom Blut, und das bärtige Gesicht spiegelte die Schmerzen wider. Aber das interessierte den Unbekannten überhaupt nicht.
»Eure Revolver lasst ihr hier«, forderte er stattdessen und genoss die zornigen Blicke der Wegelagerer. »Damit ihr nicht doch noch auf dumme Gedanken kommt. Werft sie da drüben hin. Wo sind eure Pferde?«
»Weiter oben zwischen den Felsen«, erwiderte Buck, der jetzt den Befehl befolgte und seine Waffe weg warf. Auch Sam tat das.
»Dann wisst ihr ja, welchen Weg ihr zu nehmen habt«, erwiderte der schwarzhaarige Mann. »Kommt mir nicht mehr unter die Augen. Beim nächsten Mal habt ihr nicht so viel Glück.«
»Du elender....«, entfuhr es Sam. Aber der Blick seines Kumpans Buck ließ ihn mitten im Satz verstummen. Gemeinsam schleppten sie den Verletzten davon und tauchten wenige Minuten später zwischen den Felsen unter. Ray Morleys Anspannung legte sich jedoch erst einige Minuten später. Denn jetzt wurde ihm bewusst, wie knapp er dem Tod entronnen war. Denn diese Kerle hätten ihn vermutlich getötet, nachdem sie ihm das Geld und das Maultier abgenommen hatten!
* * *
»Das war verdammt knapp, Mister«, sagte Morley zu dem Fremden. »Ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie sich eingemischt haben.«
Der Mann mit den grauen Schläfen erwiderte jedoch nichts darauf, sondern winkte nur kurz ab. Statt einer Antwort stieg er ein Stück höher in die Felsen hinauf und verschwand kurz aus Morleys Sicht. Kurz darauf tauchte er wieder mit einem Pferd auf, das er am Zügel mit sich führte.
»Ich wollte nur sicher gehen, dass wir keine böse Überraschung erleben«, meinte er zu Morley und deutete mit dem Daumen hinter sich. »Diese Strauchdiebe sind wirklich auf und davon. Sie haben wohl begriffen, dass sie diesmal den Kürzeren gezogen haben.«
»Aber nur, weil Sie denen das unmissverständlich gezeigt haben«, erwiderte Morley. »Bei einem Kampf hätte ich den Kürzeren gezogen. Ich bin übrigens Ray Morley.«
»Clay Caldwell«, erwiderte der andere. »Weshalb tragen Sie die Kleidung eines Schafhirten?«
»Nun ja, das macht vieles leichter«, erwiderte Morley zunächst noch ausweichend. Dann beschloss er aber, seinem Lebensretter reinen Wein einzuschenken. Schließlich hätte er ohne Caldwells Hilfe seinen Job niemals zu Ende gebracht. »Ich will hinauf zum Raton Pass«, klärte er Caldwell auf.
»Dann haben wir den gleichen Weg«, nickte Caldwell. »Was halten Sie davon, wenn wir den Rest des Weges gemeinsam zurücklegen? Das dürfte sicherer sein.«
»Einverstanden«, erwiderte Morley. »Und was führt Sie in diese Gegend?«
»Ich will nach Leadville«, entgegnete Caldwell, nachdem er aufgesessen war und abwartete, bis Morley das Temperament seines Maultiers wieder unter Kontrolle hatte. »Aber ob ich dort erst in ein paar Tagen ankomme, spielt keine Rolle...«
Die Art und Weise, wie er das sagte, ließ darauf schließen, dass er ganz persönliche Gründe hatte, aber darüber nichts sagen wollte.
»Suchen Sie vielleicht einen Job?«, wollte Morley dennoch von ihm wissen. »Ich glaube, ich könnte Ihnen helfen.«
»Ich bin kein Schafhirte«, erwiderte Caldwell grinsend.
»Das bin ich auch nicht«, kam prompt Morleys Antwort. »In Wirklichkeit arbeite ich für die Atchison, Topeka & Santa Fé Railway.«
»Sie sind weit weg vom nächsten Schienenstrang«, meinte Caldwell überrascht. »Aber ich nehme an, dass Ihr Weg nicht zufällig zum Raton Pass führt...« Er hielt einen kurzen Moment inne und kam ins Grübeln. »Ich glaube, jetzt wird mir klar, was Sie vorhaben. Der Pass weiter oben – er könnte für Ihre Eisenbahngesellschaft von großer Bedeutung sein, oder?«
»Mehr als das«, stimmte ihm Morley zu. »Deshalb werde ich mich dort mit Uncle Dick Wootton treffen.«
»Von dem habe ich schon so einiges gehört«, meinte Caldwell, während sein Pferd einigen Steinbrocken auswich, die den Pfad säumten. »Der sitzt auf einer Goldgrube da oben und kassiert fleißig Zoll von jedem, der über den Pass will.«
»Uncle Dick ist schon ein ganz besonderer Zeitgenosse«, antwortete Morley. »Wussten Sie, dass er vor etlichen Jahren Kit Carson und John Fremont auf deren Entdeckungsreisen begleitet hat?« Als Morley sah, dass Caldwell das verneinte, fuhr er fort. »Mit Schafen kennt er sich ebenfalls gut aus. 1852 trieb er 8900 Schafe von Taos in New Mexico bis nach Sacramento in Kalifornien. Und zwar in 107 Tagen. Das war eine großartige Leistung, wenn Sie mich fragen. Mit 50.000 Dollars in Gold kam er wieder zurück – und dann baute er eine 27 Meilen lange Zollstraße, errichtete oben auf dem Pass eine Station und ein Hotel und lebt seitdem wie die Made im Speck.«
»Kann ich mir gut vorstellen. Der Pass wird von vielen Frachtwagen und Viehherden benutzt. Wenn Wootton jedes Mal Zoll kassiert, ist das ein einträgliches Geschäft.«
»Ich habe ihm noch ein besseres Geschäft anzubieten«, rückte Morley nun mit der Wahrheit heraus. »Deshalb will ich mit ihm so schnell wie möglich reden. Bevor es die Leute von der Denver & Rio Grande Railroad tun.«
»Es heißt, dass sich beide Eisenbahnlinien ein Wettrennen um die Vorherrschaft in den Rocky Mountains liefern«, sagte Caldwell. »Jeder will der erste sein, der Leadville erreicht. Stimmt das?«
»Kann gut möglich sein«, antwortete Morley und wich Caldwells prüfendem Blick kurz aus. »Wo haben Sie denn davon gehört?«
»Ich kam durch El Moro und sah dort einige Leute von der Denver & Rio Grande Railroad. Sie haben sich im Hotel einquartiert und schienen auf jemanden zu warten. Wer das ist, wissen Sie sicherlich am besten...«
»Jim McMurtrie«, seufzte Morley. »Das ist der Chefingenieur. Wenn der erst hier aufkreuzt, dann habe ich nicht mehr viel Zeit. Der weiß nämlich ganz genau, was er will. Aber noch habe ich einen gewissen Vorsprung – und den möchte ich nutzen.«
»Sie glauben, dass Wootton Ihnen die Zollstraße überlässt?«
»Wenn der Preis stimmt, dann wird er zumindest darüber gründlich nachdenken«, nickte Morley. »Uncle Dick und ich kennen uns – er weiß also, dass ich ihm kein schlechtes Geschäft vorschlagen werde.«
Caldwell erwiderte nichts darauf, sondern schien für einen kurzen Moment ganz mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt zu sein. Morley bemerkte das natürlich, verzichtete aber darauf, Caldwell danach zu fragen. Weil er ahnte, dass er jetzt und hier sowieso nicht erfahren würde, warum Caldwell nach Leadville wollte. Es schienen jedoch nicht nur Geschäfte zu sein. Aber das war einzig und allein Caldwells Sache!
»Die Eisenbahnlinie durch die Rockies ist ein verdammt einträgliches Geschäft«, fuhr er fort. »Seit William Barstow Strong der neue Boss der Atchison, Topeka & Santa Fé Railway geworden ist, sind einige Dinge in Bewegung geraten. Der Mann hat kurz nach seiner Wahl einige der besten Experten verpflichtet – und einer davon ist Albert Alonzo Robinson. Haben Sie von ihm schon mal gehört?«
»Nein«, erwiderte Caldwell achselzuckend und zog sich den Hut tiefer in die Stirn, weil ihn die grelle Mittagssonne blendete. »Muss ich das?«
»Sicher nicht«, erwiderte Morley. »Der Mann ist ein Praktiker der ersten Stunde und weiß, was zu tun ist, wenn es darum geht, ein Wettrennen zu entscheiden. Er hatte die Idee, Schienen über den Raton Pass zu verlegen – und als ich ihm sagte, dass ich Wootton gut kenne, hat er mich sofort beauftragt, los zu reiten und mit ihm die ersten Verhandlungen zu führen.«
»Und was hat die Denver & Rio Grande unternommen?«
»Ich hoffe noch nichts. Aber wenn McMurtrie hier erst auftaucht, dann müssen wir uns umso mehr sputen. Derjenige, der zuerst die Schienen über den Raton Pass verlegt, wird einen entscheidenden Vorteil haben.«
»Selbst wenn Ihre Gesellschaft als erste zum Zuge kommt – glauben Sie wirklich, dass die Konkurrenz das so einfach hinnehmen wird?«
»Wenn ich das wüsste, würde ich nicht als Schafhirte durch die Gegend reiten", gab Morley zu.
»Das klingt alles andere als optimistisch, oder?«
»Es geht hier um verdammt viel Geld«, seufzte Morley. »Was würden Sie denn tun, wenn sich Ihnen eine solche Gelegenheit bieten würde?«
Caldwell erwiderte nichts darauf.
Richens Lacy Wootton, den seine Freunde auch Uncle Dick nannten, blickte misstrauisch auf die drei Männer, die vor einer halben Stunde die Station erreicht hatten. Einer von ihnen war verwundet. Dass er große Schmerzen hatte, konnte man ihm ansehen. Und dass der Ritt zum Raton Pass seiner Gesundheit alles andere als dienlich gewesen war, ahnte Wootton auch. Aber er verzichtete darauf, die Freunde des Verletzten danach zu fragen, wie es zu dieser Schusswunde gekommen war. Denn die Kerle machten alles andere als einen Vertrauen erweckenden Eindruck.
Wootton hatte im Lauf der Jahre gelernt, dass es manchmal besser war, keine unnötigen Fragen zu stellen und lieber beide Augen zuzudrücken. Seit er diese Zollstraße betrieb, waren ihm so manch zwielichtige Gestalten begegnet. Einige hatten ihm ihre Namen gesagt, und andere waren schweigsam geblieben. Aber eins hatten sie alle gemeinsam – nämlich den gehetzten Ausdruck in den Augen, der davon kündete, dass sie lieber heute als morgen untertauchen wollten.
»Bring uns eine Flasche Whiskey, alter Mann!« riss ihn eine kalte Stimme aus seinen Gedanken. Wootton wusste nur, dass er Buck hieß und keine Manieren hatte. Das traf auch für seinen Freund zu, der eben den blutigen Verband des Verletzten gewechselt hatte. Mit dieser Wunde kam er nicht mehr weiter. Die Kugel musste so schnell wie möglich entfernt werden, und anschließend sollte er sich dringend einige Tage ausruhen. Aber Wootton wusste auch, dass die anderen Männer darauf keine Rücksicht nehmen würden. Ganz zu schweigen davon, dass der nächste Doc in El Moro war und die Männer nicht das geringste Interesse daran zu haben schienen, dass ein weiterer außen Stehender von dieser Verletzung erfuhr.
»Hier habt ihr euren Whiskey«, sagte Wootton, nachdem er eine Flasche aus dem Regal geholt hatte und sie auf den Tisch stellte. Dabei musterte er erneut den Verletzten, der völlig erschöpft auf einer Bank hockte und leise vor sich hin stöhnte. »Ihr solltet eurem Freund besser etwas mehr Ruhe gönnen«, meinte er während er die Münzen an sich nahm, die Buck auf den Tisch gelegt hatte. »Drüben im Anbau ist ein Zimmer, das ihr haben könnt. Einen Dollar pro Nacht kostet das.«
»Wir müssen weiter – heute noch«, winkte Buck ab.
»Will euer Freund das auch?«
»Was mischst du dich eigentlich in Dinge ein, die dich nichts angehen?« richtete der zweite Mann nun das Wort an Wootton. Sein Name war Sam, und in seinen Augen flackerte es nervös. »Wir bezahlen für alles, was wir haben wollen. Alles andere geht dich nichts an. Hast du das verstanden?«
»Deutlicher hätten Sie das nicht ausdrücken können«, erwiderte Wootton leicht gereizt.
»Sam hat es nicht so gemeint«, versuchte der Mann namens Buck den aufkommenden Streit zu schlichten. »Wir hatten viel Pech auf dem Weg hierher. Einige zwielichtige Kerle lauerten vier Meilen weiter unterhalb auf uns, und Keeler hat es erwischt. Zum Glück konnten wir diese Bastarde in die Flucht schlagen...«
Wootton nickte nur, erwiderte aber nichts darauf. Ob er diese Geschichte wirklich glaubte, war eine ganz andere Sache. Er spürte nur, dass es besser war, keine neugierigen Fragen zu stellen und ging deshalb wieder zurück zur Theke. Er tat so, als wenn er auf seine Gäste nicht mehr achtete. Aber in Wirklichkeit registrierte er genau, was sie taten. Dabei fiel ihm natürlich auf, dass der Mann namens Buck immer wieder einen Blick aus dem Fenster warf und zurück in die Richtung schaute, aus der sie vor knapp zwei Stunden zur Station gekommen waren.
Wootton zog daraus die richtigen Schlüsse, und seine Unruhe wuchs. Denn dass die Männer Dreck am Stecken hatten, war für ihn eine klare Sache. Sie würden nicht zögern, auch ihn in seine Schranken zu verweisen, wenn er jetzt etwas unternahm. Zwar schaute er immer wieder zum Ende der Theke, wo er sein Gewehr an einer Halterung abgestellt hatte. Aber Bucks Blick warnte ihn davor, dieser Stelle zu nahe zu kommen. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn er trotzdem einen entsprechenden Versuch gestartet hätte?
Der Verletzte stöhnte erneut und schlug plötzlich um sich. Im Fieberdelirium wusste er nicht, was er tat. Seine beiden Freunde hatten alle Hände voll zu tun, um ihn wieder zu beruhigen. Sam fluchte, weil dies ein deutliches Zeichen dafür war, dass sie wohl oder übel dazu gezwungen waren, eine Zwangspause einzulegen und zumindest die kommende Nacht hier zu verbringen.
»Mein Angebot gilt nach wie vor«, meinte Wootton. »Bringt ihn hinüber in den Anbau und gönnt ihm etwas Ruhe. Vielleicht geht dann das Fieber wieder runter.«
»Der Alte hat recht«, sagte Sam zu seinem Kumpan Buck. »Du siehst doch, wie fertig Keeler ist. Wenn wir ihn jetzt wieder aufs Pferd setzen, krepiert er und...«
»Das weiß ich selbst«, fiel ihm Buck ins Wort. »Na gut, bringen wir ihn dorthin. Komm, fass mit an, Sam!« Und zu Wootton gewandt, sagte er: »Wir bleiben aber nur eine Nacht.«
»Ich kann mir die Wunde mal ansehen, wenn Sie wollen«, schlug dieser vor. »Ich verstehe zwar nicht so viel davon wie ein richtiger Arzt – aber hier draußen muss man sich selbst helfen, wenn man überleben will...«
Buck schien skeptisch, nickte aber schließlich, während er den verletzten Keeler auf die Beine brachte und ihn stützte.
»Wo ist das Zimmer?«, wollte er dann von Wootton wissen.
»Ich gehe vor«, erwiderte dieser, kam hinter der Theke hervor und näherte sich dem Ausgang. Der Verwundete stöhnte immer noch vor sich hin. Sein Gesicht war schweißüberströmt, und das Hemd war von Blut getränkt. All dies registrierte Wootton, während er hinüber zum angrenzenden Gebäude ging.
Das Haus hatte die Bezeichnung ›Hotel‹ ganz sicher nicht verdient, aber hier oben am Raton Pass stellte es die einzige Möglichkeit dar, ein Quartier zu bekommen. Das Gebäude stand auf einem steinernen Sockel, war aber ansonsten ganz aus kantigen Holzstämmen errichtet und sah mehr zweckmäßig als wohnlich aus. Es roch nach Schweiß und Rauch, als Wootton die Tür zu dem betreffenden Zimmer öffnete und Buck und Sam zunickte, einzutreten.
Die beiden Männer legten den verletzten Keeler auf das Bett, während Wootton wieder zur Tür ging.
»Ich hole noch eine zweite Flasche Whiskey«, meinte er trocken. »Das wird er zur Betäubung brauchen. Etwas anderes habe ich nicht.«
»Geh mit ihm, Sam«, wandte sich Buck an seinen Kumpan. »Und pass auf, dass er keine Dummheiten macht.«
»Darauf warte ich nur«, fügte Sam mit einem hämischen Grinsen hinzu und hielt dabei seine rechte Hand in der Nähe des Revolvers. Wootton sah das und blickte angesichts dieser unverhüllten Drohung grimmig drein. Dann aber vergaß er seine Wut und konzentrierte sich auf das Wesentliche.
Sam blieb dicht hinter ihm, während Wootton das Gebäude verließ. Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt schon weit überschritten, als die beiden Männer zurück zum anderen Gebäude gingen. Ausgerechnet in diesem Moment bemerkte Wootton als erster die beiden Reiter, die sich von Süden her der Station näherten und hielt für einen kurzen Moment inne. Das geschah so plötzlich, dass Sam es zu spät bemerkte und gegen ihn stieß. Er fluchte und wollte mit der rechten Faust zu einem Schlag ausholen, unterließ es dann aber, als er ebenfalls die beiden Reiter näher kommen sah. Und als er erkannte, dass eines der beiden Tiere ein Maultier war, wusste er, was die Stunde geschlagen hatte.
»Verdammt«, murmelte Sam. »Auch das noch...«
In diesem Moment achtete er nicht mehr auf Wootton, sondern rannte, so schnell wie er konnte, wieder zurück zum Anbau, in dem sein Kumpan Buck mit dem verletzten Keeler zurück geblieben war.
»Buck!«, rief er ganz aufgeregt. »Buck, komm raus!«
Sekunden später tauchte Buck in der Tür auf. Und er verhielt sich genauso aufgeregt wie Sam. Wootton zog daraus die richtigen Schlüsse und zog sich hastig in Richtung des Gastraums zurück, wo sich sein Gewehr befand.
»Bleib stehen, Alter!« erklang die wütende Stimme Sams hinter ihm. Bruchteile von Sekunden später fiel ein Schuss. Aber Wootton hatte in diesem entscheidenden Moment mehr Glück als Verstand, denn die Kugel, die ihm gegolten hatte, pfiff nur wenige Inches an seinem Kopf vorbei und bohrte sich in die Holzbalken des Hauses. Zu einem zweiten Schuss kam Sam nicht mehr, denn jetzt hatte Wootton sein Ziel erreicht. Sofort griff er nach dem Gewehr, nahm es an sich und ging sofort zum Fenster.
Sein Blick richtete sich auf die beiden näher kommenden Reiter. Aber zu seinem Erstaunen musste er erkennen, dass sie plötzlich verschwunden waren.
* * *
Als der erste Schuss fiel, wusste Clay Caldwell sofort, was er zu tun hatte. Er zog seine Winchester aus der Halterung am Sattel und trieb sein Pferd rasch hinüber zu einer Gruppe Felsen. Das geschah so rasch, dass Morley gar nichts anderes übrig blieb, als Caldwell zu folgen. Zum Glück schien das Maultier zu begreifen, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um sich störrisch zu verhalten.
»Sie bleiben hier und kümmern sich um die Tiere«, sagte Caldwell zu ihm, als er abstieg und ebenfalls seine Waffe zog.
»Jetzt warten Sie doch mal!« versuchte ihn Morley zurück zu halten. »Sie können doch nicht einfach...?«
»Man sollte immer das tun, was der Gegner am wenigsten erwartet«, erwiderte Caldwell. Was Morley darauf erwiderte, bekam er jedoch nicht mehr mit. Denn sein einziges Interesse galt jetzt den Männern, die plötzlich das Feuer auf ihn und Morley eröffnet hatten. Und sein Gefühl sagte ihm, dass er den Grund dafür kannte.
Er nutzte jede mögliche Deckung aus und schlich sich näher an das Haus heran, wo er die beiden Männer zuletzt gesehen hatte. Aber dort befanden sie sich nicht mehr. Ob sie sich ins Haus zurückgezogen und dort verschanzt hatten, wusste Caldwell nicht. Deshalb zog er es jetzt vor, erst einmal abzuwarten, was weiter geschah.
»Einer ist draußen!« erklang plötzlich eine krächzende Stimme aus dem angrenzenden Haus. »Passen Sie auf!«
Noch ehe die letzten Worte verklungen waren, fielen zwei weitere Schüsse aus dem zweiten Haus. Eine Glasscheibe zersplitterte, aber die Kugeln richteten ansonsten keinen weiteren Schaden an. Im Gegenteil. Der Mann, der Caldwell gewarnt hatte, kicherte nur und verhöhnte den wütenden Schützen.
»Wer Uncle Dick Wootton reinlegen will, muss das schon schlauer anstellen!« kam seine Antwort. Dass der Mann im zweiten Haus deshalb laut fluchte, schien Wootton zu gefallen, denn er eröffnete nun ebenfalls das Feuer auf die Stelle, wo er den Gegner vermutete und zwang ihn mit zwei Schüssen, erst einmal in Deckung zu gehen.