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Wenn man die Chance bekommt, den Tod von fünfzig Millionen Menschen zu verhindern, sollte man es tun? Diese Frage stellt sich Raphael, dem Guardian, den Gott nach Haskell County schickt, um den Ausbruch der Spanischen Grippe im Jahr 1918 zu verhindern, unwillkürlich.
Sich als Mitarbeiter der U.S. Public Health Service ausgebend, nimmt der Schutzengel Raphael Kontakt zum ortsansässigen Mediziner Lore Miner auf. Der Kriegsheimkehrer kämpft zeitgleich einen Zweifrontenkrieg, einen gegen die um sich greifende Influenza und einen gegen sein Kriegstrauma.
Erst seine aufkeimende Freundschaft zu Raphael bringt Lore etwas Frieden, bevor genau dieser Umstand sein Leben total ins Chaos stürzt. Gibt es für den Guardian und seinen Schützling in einer Welt, die gleichgeschlechtliche Liebe nicht nur ablehnt, sondern mit dem Tode bestraft, eine gemeinsame Zukunft?
Diese Geschichte enthält homoerotische Elemente und ist daher nur für volljährige und aufgeschlossene Leser geeignet!
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Sämtliche Personen dieser Geschichte sind frei erfunden und Ähnlichkeiten daher nur zufällig.
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Dieses Buch enthält homoerotische Handlungen und ist für Leser unter 18 Jahren und für homophobe Menschen nicht geeignet. Im wahren Leben gilt ein verantwortungsbewusster Umgang miteinander und Safer‐Sex!
Dieses Buch ist Teil der Reihe "The Guardians":
Band I: The Guardians - Gabriels letzter Auftrag
Band II: The Guardians - Azazels Versuchung
Band III: The Guardians - Raphaels Herausforderung
beim Umschalten durch die Fernsehprogramme bin ich auf eine Dokumentation über die Spanische Grippe gestoßen. Dieses Thema hat mich so sehr fasziniert, dass ich es zum Grundthema dieses Buches gemacht habe. Bei genaueren Recherchen musste ich dabei leider feststellen, dass Dr. Loring Miner nicht das passende Alter hatte, um Hauptprotagonist in meinem Buch zu werden. Daher habe ich ihm einfach einen Sohn angedichtet und sein Alter entsprechend angepasst. Mein Dr. Loring Miner Sen. hat mit dem realen Dr. Loring Miner nicht mehr gemein, als den Namen.
Ich wünsche Euch viel Vergnügen bei dieser Geschichte, die die ganze Menschheitsgeschichte auf den Kopf stellt. Ich muss an dieser Stelle meine Beta-Leserin anführen, die schon sehr gespannt ist, was ich aus diesen Möglichkeiten mache. Hier sage ich Euch und Ihr: Abwarten und Tee trinken, natürlich geht auch Kaffee!
Eure Celia Williams
Mit enormem Magengrimmen stand Michael, der Anführer der Guardians, auf einem Hügel in der Nähe der kleinen Siedlung Sublette. In dem Örtchen in Kansas lebten gerade einmal achthundert Menschen und einer davon war Loring Miner der Zweite, der praktizierende Arzt von Haskell County. Seufzend rollte der Erzengel die Träne Gottes zwischen den Fingern hin und her. Es fiel ihm sehr schwer, diesen Auftrag zu vergeben. Natürlich wusste er, dass dafür nur ein einziger Guardian in Frage kam, doch es bestand die realistische Chance, dass sich die Tendenz fortsetzte. Die letzten beiden vergebenen Aufträge hatten zur Folge, dass die Schutzengel aus dem Dienst ausschieden und seither ein sterbliches Leben unter den Menschen führten. Natürlich gönnte Michael seinen beiden Freunden ihr Glück.
Vor allem Gabriel hatte sich diese Belohnung verdient. Als Folteropfer hatte er sich bis zu seiner Bekanntschaft mit dem Schotten Angus McBain nicht mehr davon erholt und erst der bärbeißige Mann hatte ihn vollständig ins Leben zurückgeholt. Dass er dafür aus Michaels Diensten ausscheiden musste, war ein kleiner Preis, den sowohl er, als auch Michael gerne bezahlten.
Auch Azazel hatte unter den Menschen ein neues Leben begonnen und lebte seither an der Seite des smarten Fotoreporters, der mit großen Schritten eine politische Karriere ansteuerte. Der charismatische New Yorker würde bald UN-Generalsekretär werden und die Geschicke der Welt mitgestalten, der ehemalige Guardian würde dabei an seiner Seite stehen und ihn tatkräftig unterstützen. Einen besseren Einsatz für einen Schutzengel gab es im Grunde nicht.
Trotzdem gefiel Michael die Aussicht nicht, dass er bald auf seinen besten Freund verzichten sollte. Seit Äonen verband ihn und Raphael ein Band aus Loyalität, Verbundenheit und Kameradschaft. Doch nach Gottes Wille, sollte dieses nun durchtrennt werden. Es gab keine Chance darauf, dass Raphael nach dem Auftrag ins Refugium zurückkehrte. Zwar stand dies nirgends schwarz auf weiß, aber Gott hatte ihm prophezeit, dass die Zeit der Guardians zu Ende ging, ihre Aufgaben bald erfüllt wären und jeder eine eigene, individuelle Zukunft erhalten würde.
Obwohl Michael als Erzengel unverwundbar und regelrecht unsterblich war, so fürchtete er sich doch vor diesen anstehenden Veränderungen. Wenn der Guardian die ihm gestellte Aufgabe gemeistert hatte, kehrte er bis zur nächsten ins Refugium zurück, zumindest war es die ganzen Jahrhunderte so gewesen. Michaels erste Träne bestimmte ihn zum Anführer der Guardians und offenbarte ihm, dass er eines Tages, damals noch in ferner Zukunft, Luzifer den rechten Weg weisen würde, wenn es soweit wäre. Die Zeit kam, näherte sich mit riesigen Schritten und niemand konnte sie stoppen oder aufhalten. Michael ängstigte sich, denn er glaubte, diese Aufgabe nicht bewältigen zu können. Luzifer, Gottes ehemals liebster Engel, hegte einen mordsmäßigen Groll gegen ihn, denn Michael hatte ihn als rechte Hand Gottes ersetzt und dies verzieh der Herr der Hölle nicht.
Leise landete Raphael hinter seinem großgewachsenen Freund. Sorgsam schüttelte er noch einmal seine weißen Flügel mit den silbrigen Spitzen und faltete sie auf dem Rücken zusammen. Sofort verschwanden sie, entmaterialisierten, als wären sie nie da gewesen. Neben Michael fühlte sich Raphael immer extrem zierlich und fast schon feminin. Aber er störte sich auch nicht daran, denn wenn er es täte, würde er die Haare definitiv anders tragen. Sein feines glattes und fast schon weißes Haar fiel ihm in langen seidigen Strähnen bis in den halben Rücken und wirkte wie ein Seidengespinst, welches bei Kontakt zerfaserte. Die hohen Wangenknochen, der kleine aber fast schon üppige Mund und die leicht mandelförmigen Augen unterstützten noch die androgyne Optik des Engels. Egal wen man fragte, jeder sagte, dass Raphael einfach schön anzusehen wäre. Aber seine Schönheit hatte auch einen Nachteil. Er wirkte fast schon zerbrechlich. Menschen scheuten den direkten Kontakt, denn sie befürchteten alle, ihn zu verletzen. Dabei konnte man einen Schutzengel gar nicht verletzen, zumindest nicht auf der körperlichen Ebene. Auf der emotionalen ging es sehr wohl und viele von ihnen mussten schon extreme Seelenqualen erleiden. Trotz seines Alters von mehreren Menschenzeitaltern, hatte Raphael diesbezüglich Glück gehabt. Weder musste er im Krieg kämpfen oder Verwundete versorgen, noch geriet er jemals in Gefangenschaft. Seine Aufträge bestanden fast immer darin, seinen Schutzbefohlenen aufzusuchen und ihn zu heilen. Selten ging seine Aufgabe darüber hinaus. Wen würde er diesmal heilen?
„Michael?“, sprach der Heiler seinen besten Freund leise an. Wenn dieser ihn hier und jetzt sehen wollte, hing sein neuer Auftrag mit der kleinen Siedlung in den USA zusammen. Das Örtchen sah friedlich und ruhig aus. Was lag hier im Argen?
Mit einem traurigen Lächeln drehte sich der Anführer der Guardians zu Raphael herum. Die geöffnete Hand hielt er leicht vom Körper weg und auf seiner Handfläche schimmerte die elfenbeinfarbene Träne Gottes. „Es ist soweit.“
„Was meinst du?“, Raphael verstand die Melancholie seines besten Freundes nicht. Was wühlte ihn nur so auf?
Michael deutete mit dem Kinn auf die Träne und erklärte: „Das hier ist dein letzter Auftrag. Deine letzte Aufgabe wird die schwerste von allen werden. Der Ort hier unter uns ist Sublette, Kansas, und heute ist der 16. Februar 1918.“
Erschrocken schnappte Raphael nach Luft. Mit weitaufgerissenen Augen sah er auf die wenigen Häuser hinunter. Sublette lag in Haskell County und hier nahm die Spanische Grippe ihren Anfang. Auf Grund fehlender Sicherheitsmaßnahmen und fehlender Voraussicht von Seiten der Behörden, konnte sich die Infektionskrankheit von hier aus in der ganzen Welt verbreiten. Wenn nur ein einziger Mitarbeiter der US-Gesundheitsbehörde entsprechend vorsichtig reagiert hätte, wären fünfzig Millionen Menschen am Leben geblieben. Diese Vorstellung ließ Raphael schwindeln.
Traurig trat Michael auf Raphael zu und zog seinen kleineren und wesentlich schlankeren Freund in seine Arme. Normalerweise fasste Michael andere so wenig wie möglich an, doch jetzt und hier musste er einfach eine Ausnahme machen. Seine und Raphaels Wege würden sich von heute an für immer trennen und sie würden sich vermutlich auch nicht wiedersehen, daher erlaubte er sich diesen letzten engen Kontakt.
Auch Raphael fühlte die Unausweichlichkeit der Situation. Er zog im übertragenen Sinne in seine größte Schlacht und wenn er sie gewann, änderte sich die Geschichte der Menschheit grundlegend. Sollte Raphael den Ausbruch eindämmen oder gar komplett verhindern können, würden viele Menschen, die sonst sterben würden, am Leben bleiben, würden die Weltgeschichte mitgestalten, Kinder bekommen und alt werden. Sie konnten Einfluss nehmen, was sie vorher auf Grund ihres frühen Ablebens nicht konnten.
Für Raphael war dies ein zweischneidiges Schwert. Einerseits wollte er als Heiler helfen, dem Tod ein Schnippchen schlagen und die Kranken heilen. Andererseits wusste er, dass unter den Millionen geretteter Menschen nicht nur „Mahatma Gandhis“ und „Mutter Theresas“ waren, es gab auch „Adolf Hitlers“ und „Dschingis Khans“ darunter. Aber durfte man eine ganze Ernte verbrennen, wegen einiger fauler Äpfel? Vor allem wenn man wusste, dass solche üblen Subjekte wie Stalin und Hitler die Sache sowieso überleben würden. Würden sie am Leben bleiben, wenn sich die Geschichte änderte?
Zitternd streckte Raphael seine Hand aus und wartete darauf, dass Michael die Träne in seine Hand fallen ließ.
Mit feuchten Augen drehte die rechte Hand Gottes die Hand nach unten und der feste Perlmuttropfen fiel. Als die göttliche Träne die Haut des Guardians berührte, zerfloss sie und wurde vom Fleisch des Schutzengels absorbiert. Raphael stöhnte und ließ den Kopf in den Nacken fallen. Bisher hatten seine Visionen immer nur kurz gedauert, denn es wurde ihm bisher immer nur ein Gesicht gezeigt und ein Kontext dazu. So erfuhr er wer, wann und wo. Doch diesmal galt es mehr zu beachten. Die Millionen Kranken konnte er nicht heilen, dafür war selbst er nicht stark genug. Diesmal musste er indirekt einwirken. Er zweifelte daran, die Pandemie vollständig verhindern zu können, aber er würde tun, was er konnte. Was er machen sollte und konnte, war die Menschen zu sensibilisieren, dass sie die passenden Schutzmaßnahmen ergriffen und sich die Spanische Grippe nicht wie ein Lauffeuer über die ganze Welt verbreitete.
Im Jahre 1918 spülte die Influenza in drei Wellen über die Welt. Bei der ersten infizierten sich viele, aber die Sterblichkeitsrate war gering. Bei der zweiten sah es schon viel schlimmer aus und wegen der dritten kam der erste Weltkrieg zum Erliegen, weil die Soldaten in den Schützengräben mit Fieberkrämpfen darnieder lagen. Weltweit kam es zu katastrophalen Epidemien. Im Hafen von Shanghai erkrankten die kompletten Dockarbeiter, ganze US-Kasernen mussten außer Dienst genommen werden und die Kampfmoral der deutschen Soldaten sank ins Bodenlose. Viele Historiker gingen davon aus, dass der Krieg auf Grund der Spanischen Grippe verloren ging, zumindest auf der deutsch-österreichischen Seite. Auch dieser Umstand bereitete Raphael Sorge. Was würde passieren, wenn Deutschland-Österreich den Krieg stattdessen gewann? Was würde dann aus dem dritten Reich werden? Würde Hitler letzten Endes über die ganze Welt herrschen?
Rigoros schob er dies Alptraumszenario bei Seite und konzentrierte sich auf die Bilder und Eindrücke, die er empfing. Ein Mann spielte die Hauptrolle in seinem Auftrag. Loring Miner der Zweite hatte die Auswirkungen dieses Influenza-Stammes protokolliert und davor gewarnt. Doch es hatte ihn damals niemand ernst genommen. Erst als es zu spät war, hörte man auf ihn und beachtete seine Berichte. Mit Gottes und Raphaels Hilfe, würde es diesmal anders ausgehen.
Keuchend kehrte Raphael blinzelnd in die Gegenwart zurück. Die warme stützende Hand seines Freundes Michael half ihm, sich schnell wieder zurecht zu finden. Dieser Auftrag würde der härteste und schwierigste sein, den er jemals zu erfüllen hatte. Auch beunruhigte ihn Michaels fatalistische Haltung. Es konnte gut sein, dass dies sein letzter Auftrag sein würde, aber trotzdem würde er ihn gut und gewissenhaft erfüllen. Es ging ja nicht an, dass Raphael gerade jetzt bei dieser wichtigen Aufgabe verzagte. Er musste das schaffen, so wie alles davor. Mit einem zittrigen Lächeln sah er Michael an und ergriff dessen Unterarm. Himmel hilf! Er sollte die Spanische Grippe, eine der schlimmsten Pandemien der Menschheitsgeschichte, verhindern! Konnte man so etwas überhaupt schaffen? Wenn alle Beteiligten entsprechend mitzogen und sich keiner quer stellte, dann ja. Tief durchatmend drückte Raphael den Rücken durch und dachte über die Order nach. Wie sollte er es am besten anstellen?
Zu Michaels Leidwesen beschäftigte sich Raphael schon mit den Befehlen, die er erhalten hatte. Dass sie sich jetzt ein letztes Mal sahen, daran dachte der kleinere Heiler nicht. Schon immer ging der Guardian vollständig in seiner Aufgabe auf. Seufzend akzeptierte Michael, dass ihn Raphael vermutlich nicht ein letztes Mal umarmen würde und sich wohl auch nicht von ihm verabschiedete. Sie würden sich nie mehr wiedersehen und trotzdem musste er gute Miene zum bösen Spiel machen. Raphael war sein Freund und sein engster Vertrauter und nun nahm Gott ihm auch noch das weg. Ein leichter Zorn machte sich in Michael breit und er biss schmerzhaft die Zähne zusammen.
Als guter Heiler erkannte Raphael, mit welchen Ängsten und Sorgen sich sein Freund herumschlug. Es würde für Michael nicht ganz einfach werden, ohne Raphael klar zu kommen. Natürlich nahm ihm Raphael keine Arbeit ab oder traf für ihn die Entscheidungen, aber er stand immer hinter ihm und beriet ihn, verkündete ihm seine Ansicht oder widersprach ihm auch, manchmal sogar heftig. Doch von nun an würde Michael auf diese Unterstützung verzichten müssen. Gott wollte es so und da es außer Michael dann nur noch zwei Guardians geben würde, nämlich Uriel und Ariel, würde er bei weitem nicht mehr so viel Beratung brauchen, hoffte Raphael zumindest.
Leise trat der Heiler auf seinen Freund zu und legte ihm tröstend seine flache Hand auf die Schulter.
Michaels Kopf ruckte herum und sein Blick suchte den des androgynen Engels. Ihre Blicke verflochten sich und sie sagten sich ohne Worten, was sie nie hätten ausdrücken können und es zudem auch nie gewagt hätten. Engel waren für andere Engel tabu. Es gab diesbezüglich keine Ausnahmen. Man fing nichts mit einem Schutzengel an und auch nicht mit einem gewöhnlichen Himmelsboten. Vor allem Michael hatte sich daran zu halten, denn er diente allen als leuchtendes Beispiel. Wenn sich die rechte Hand Gottes nicht an die Vorgaben und Bestimmungen hielt, wie konnte er dann erwarten, dass es andere taten. Seufzend nickte Michael und Raphael wurde von einem gleißenden Licht erfasst. Während sich der Heiler in Luft auflöste, er wurde zumindest optisch zu Rauch und verschwand dann komplett, erkannte Michael, dass auch seine Einsamkeit bald enden würde. Auch seine Aufgabe nahte mit großen Schritten. Zwar wusste er, dass erst noch Ariel und Uriel ihre letzten Aufträge zu erfüllen hatten, bevor er am Zuge war, aber er konnte warten. Da er schon seit Äonen auf die Erfüllung dieser Aufgabe wartete, kam es auf wenige Tage, Wochen, Monate oder sogar Jahre nicht an. Ein trauriges Lächeln legte sich auf die schön geschwungenen Lippen des Anführers der Guardians. Bald würde niemand mehr zum Anführen da sein.
Blinzelnd versuchte Raphael sich zu orientieren. Er fühlte den warmen Körper eines Pferdes zwischen seinen Schenkeln und etwas Schweres drückte ihm in den Rücken. Ein Blick an seinem schlanken Körper entlang zeigte ihm die typische Kleidung der entsprechenden Epoche. Er trug einen Anzug, wie ihn betuchte Bürger der Vereinigten Staaten in der Zeit des ersten Weltkrieges getragen hatten. Sein Oberkörper steckte in einem feinen Leinenhemd, um seinen Hals lag ein dunkelblaues Halstuch und das Hemd wurde von einer festen Weste bedeckt. So wie es sich anfühlte, trug er sogar die obligatorische goldene Taschenuhr bei sich. Der Anzug bestand aus dunkelgrauem Tweedstoff und an den Füßen trug er feste Schnürschuhe, aber keine Stiefel. Zum Reiten wären aber Stiefel definitiv besser. Aber als zumindest optischer „Dandy“ würden diese nicht zu seiner restlichen Aufmachung passen.
Ein Blick nach hinten zeigte ihm den obligatorischen Arztkoffer. Eine recht große, schwarze Tasche mit geradem Boden, die man mit einer Klammer schließen und weit aufklappen konnte. Vermutlich würde er darin ein Stethoskop, Spatel und viel mehr Unnötiges finden. Als Schutzengel benötigte er nichts davon. Schon ein Blick auf einen Menschen verriet ihm, was er hatte, wie es geheilt werden konnte und ob er ihn heilen sollte. Es gab Krankheiten, da griff man nicht in den Verlauf ein, da ein Durchstehen derselben dafür eine andere immunisierte.
Schnaubend bewegte sich das recht zahme Pferd auf die vor Raphael liegende Siedlung zu. Ohne Frage handelte es sich dabei um Sublette, den Verwaltungssitz von Haskell County. Von dort stammte Loring Miner der Zweite, der ein Telegramm an den U.S. Public Health Service nach Washington geschickt hatte. Doch niemand nahm ihn dort ernst. Nun, Raphael nahm ihn ernst und würde ihm helfen, diese Krise zu meistern. Zwar wusste Loring Miner gar nicht, dass sie auf die weltweit größte und gefährlichste Pandemie zusteuerten, aber er würde es unweigerlich im Laufe des Jahres bemerken. Doch wenn sie ihre Aufgabe richtig erfüllten, würde es niemals dazu kommen.
Mit einem leichten Zungenschnalzen trieb Raphael sein Pferd an und sie näherten sich nun zügig Sublette. Die Siedlung, die Bewohner bezeichneten sie doch tatsächlich als Stadt, hatte nicht einmal eintausend Einwohner, lag fünfundvierzig Kilometer von Oklahoma entfernt und man erreichte sie nur zu Pferd oder mit einem Planwagen. Es gab weder eine Zugverbindung, noch eine Postkutschenstation. In dieser Region von Kansas lebten die Menschen ausschließlich von der Landwirtschaft und jeder Quadratmeter fruchtbarer Boden wurde bestellt. Im Moment erledigten das die Menschen hier mit viel Muskelkraft und wenig Technik. Bereits in dreißig Jahren würde der Einsatz von Technik weit überwiegen, doch bis dahin lag noch ein weiter Weg vor den Farmern und Ranchern.
Die ersten Häuser tauchten vor Raphael auf und er musterte die recht ansehnlichen Holzbauten. Es gab die klassischen zweistöckigen Häuser mit den umlaufenden Veranden, die auf einer Linie lagen und die man sowohl mittig, als auch rechts und links verlassen konnte. Purer Wild-West-Chic am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts.
Beim ersten Passanten, der ihm begegnete, erkundigte sich Raphael nach der Praxis des ortsansässigen Arztes. Der ältere Mann verzog keine Miene und wies dem fremden Reiter einfach den Weg. Was er über Raphaels dandyhaftes Erscheinungsbild dachte, entzog sich der Kenntnis des Heilers, aber er ahnte, dass er dabei nicht wirklich gut weg kam.
***
Von der Zuflucht aus beobachtete Michael seinen Freund. Seufzend beschloss er, dass er damit aufhören musste, da er sowieso nicht helfend eingreifen durfte. Es schmerzte ihn schon immer, dass kein anderer Guardian helfen durfte. Gott verteilte seine Aufträge nach einem bestimmten Kalkül und duldete daher keine Einmischung. Zu Anbeginn der Zeit stellte dies für die Engel kein Problem dar. Sie kannten sich nicht gut untereinander, doch seit es die Guardians gab und ein enges Miteinander entstanden war, fühlten sie mit den Kollegen. Trotzdem blieben die Regeln gleich. Erst wenn der Auftrag erfüllt war, durfte ein anderer Guardian eingreifen oder mitmischen. Michael akzeptierte diese Beschränkung, auch wenn es ihm oft schwer fiel, sie einzuhalten.
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Wutschnaubend marschierte Luzifer durch die dunkle Halle seines Höllenpalastes. Die hohen unebenen Wände bestanden aus dunklem Lavagestein und wurden im oberen Bereich porös und wirkten instabil. Doch die Säulen trugen das Gewicht der extrem hohen Decke bereits seit Äonen. Der schlanke und eher drahtige Körper des Höllenfürsten wirkte, als hätte ihn jemand mit Öl eingerieben und sein langes schwarzes Haar floss in Strähnen seinen geraden Rücken hinunter. Trügen seine Arme und Beine nicht unzählige lange gerade Narben, könnte man ihn für ein Fotomodell eines der renommierten Designer wie Lagerfeld oder Joop halten. Doch das Narbengewebe zerstörte die perfekte Optik. Trotzdem wirkte Luzifer nicht beschädigt oder wie das typische Opfer. Voller Aggression versuchte er, eine Lösung für sein Problem zu finden. Die Hellseher hatten ihn kontaktiert und darüber informiert, dass sich alles ändern würde. Die Zukunft war nicht in Stein gemeißelt, das wusste der Höllenkommandant. Doch niemals hätte er mit solch einer drastischen Veränderung gerechnet. Die Guardians agierten diesmal im großen Stil und wenn es dem eingesetzten Schutzengel gelang, die Zeitlinie zu verändern, stand alles auf der Kippe.
Vor der gut erkennbaren Arztpraxis band Raphael sein Pferd an und betrat die umlaufende Veranda. Hieran erkannte man den gesellschaftlichen Unterschied. Einfache Bewohner konnten sich nicht so viel Holz leisten, daher gab es entweder gar keine Veranda oder nur eine direkt vor der Haustür. Die Miners hatten mehr Geld, daher verlief sie rund ums Haus. Energisch klopfte Raphael an den Holzrahmen rechts vom Fliegengitter. Auch hier zeigten sich das Vermögen und auch der medizinische Sachverstand der hier lebenden Familie. Stechmücken übertrugen eine Vielzahl von Krankheiten und man vermied sie am besten, indem man die Mücken bekämpfte und nicht erst die Auswirkungen der Krankheiten.
Eine ältere Dame öffnete die Tür. Ihre extrem schlanke, fast schon dürre Gestalt steckte in einem etwas zu weiten Kleid aus gutem Stoff und einer engen Leinenbluse, die sie bis zum Hals geschlossen trug. Die leichten Zuckungen der Hände zeigten Raphael schon, dass die Frau nicht wirklich gesund war. Seine Fähigkeit in jeden Menschen hineinsehen zu können, offenbarte ihm, dass sie vor etwa fünfundzwanzig Jahren an Fleckfieber erkrankt war und fälschlicherweise gegen Typhus behandelt wurde. Die Unterscheidung fiel nicht leicht und Mediziner dieser Zeit hatten damit so ihre Probleme, schließlich stand ihnen weder Raphaels Fähigkeit noch ein modernes Labor zur Verfügung. „Ja, kann ich Ihnen helfen?“ Auch das Sprachbild der älteren Frau war eine Folge des überstandenen Fiebers, obwohl man sowohl ihrem Akzent, als auch ihrer Wortwahl die gute Erziehung anhörte.
Lächelnd nickte Raphael und stellte sich vor: „Ich bin Dr. Raphael St. Giatros. Ich komme vom U.S. Public Health Service. Ein Dr. Miner hat ein Telegramm geschickt.“ Nun wartete Raphael ab, wie die Frau reagieren würde.
Nickend öffnete sie die Fliegengittertür und bat Raphael ins Haus. „Mein Mann ist im Wohnzimmer.“ Mit langsamen trippelnden Schritten führte sie ihn durch das angenehm kühle Haus. Der Winter brachte in diesem Bereich des Landes oft einstellige Temperaturen und sogar Minusgrade mit sich und diesem Umstand dankte Raphael. Bei extremer Hitze verbreitete sich die Spanische Grippe noch schneller. Im Winter blieben die Leute zu Hause vor dem Kamin, im Sommer sah das anders aus.
Als Raphael die Tür zur sogenannten Guten Stube durchschritt, wollte sich ein älterer Mann bereits aus dem Sessel hochstemmen. Doch als sein Blick auf Raphael fiel, ließ er es einfach bleiben. Voller Verachtung verzog sich das faltendurchzogene Gesicht und der bärtige Mann mit dem graumelierten Haupthaar schlug recht ignorant die Beine übereinander. Noch deutlicher hätte er seine Abneigung nicht verkünden können.
Leider erzielte Raphael oft diese Wirkung bei konservativen Männern. Sie hielten ihn für unmännlich, was seine extravagante Frisur noch unterstrich. Der Engel trug seine Haare lang, sie reichten ihm glatt und fein bis in den halben Rücken. In diesem Fall hatte er sie mit Hilfe eines Lederbandes einfach zu einem Zopf gebunden, nun gut, er hatte es nicht selbst gemacht, aber er hätte es getan, wenn er dafür verantwortlich gewesen wäre. Seine schlanke Figur und sein vollkommen stoppelfreies Gesicht zeugten von Jugend, Vitalität und leider wirkte er dadurch nicht gerade wie die Maskulinität in Person. Viele gestandene Kerle hielten ihn für weibisch. Dabei hatte Raphael gar keine sexuelle Orientierung. Wie alle Guardians empfand er kein sexuelles Verlangen, zumindest hatte er es bisher nicht. Doch auch daran begann Raphael zu zweifeln. Aus welchem anderen Grund hätten sich sonst Gabriel und Azazel mit Menschen eingelassen, sich tatsächlich ernstlich verliebt.
„Guten Tag, Dr. Miner“, begrüßte Raphael den im Sessel sitzenden Arzt. Höflich hielt er ihm die Hand entgegen, auch wenn er nicht mit einer Erwiderung der Geste rechnete. Oft zollte man ihm weit weniger Respekt, als ihm eigentlich zustünde. Doch da er sich nicht als Engel zu erkennen gab, durfte er auch nicht mit Lobhudelei oder ehrfürchtigem Respekt rechnen.
Wie erwartet ignorierte der Arzt die angebotene Hand und schnarrte nur abfällig: „Wer sind Sie und was wollen Sie?“
Mit hochgezogener Augenbraue richtete sich Raphael kerzengerade auf, er gab sich leicht beleidigt, denn ein Mensch wäre es in dieser Situation. Als Engel interessierten ihn die menschlichen Befindlichkeiten wenig. In passendem, beleidigtem Ton und mit auf dem Rücken verschränkten Händen meinte Raphael: „Sie haben doch ein Telegramm an den Health Service geschickt. Aus diesem Grund bin ich hier. Ich soll herausfinden, was es mit den Krankheitsfällen auf sich hat.“
„Pah! Ich würde nie an irgendwen in der Regierung eine Nachricht schicken. Da hilft ja doch keiner! Das war mein Sohn. Er hat sicher das Telegramm geschickt. Dafür ist der dumme Kerl vermutlich extra bis Oklahoma geritten. Zeitverschwendung, wenn man mich fragt.“ Die Tirade des alten Arztes klang Raphael in den Ohren und ein leises Zuschlagen der Fliegengittertür kündigte das Nahen einer Rettung an. Zumindest hoffte der Engel darauf. Er gehörte eher zu den gemäßigten Vertretern der Guardians und daher kanzelte er eher selten Menschen einfach ab. Doch diesen Schmähungen wäre er gerne entflohen.
Lore Miner, der Sohn des letzten Arztes von Haskell County, der nun bequem im Sessel saß, während ein Fremder mitten im Wohnzimmer stand, betrat die gute Stube. Fragend sah er seinen Vater an, während er ihn mit einem tiefen, volltönenden „Vater“ begrüßte.
Oh ja, diesen Mann empfand jeder als männlich und viril, anders als ihn selbst. Normalerweise litt Raphael nicht unter Minderwertigkeitskomplexen, aber neben diesem Mann wirkte er schmächtig und farblos. Der großgewachsene Arzt hatte breite Schultern, ein bärtiges Gesicht und eine stattliche Statur. Einzig das leichte Hinken wies auf ein Gebrechen hin. Von der Träne wusste Raphael, dass es sich um eine Kriegsverletzung handelte und er deswegen den Dienst an der Front hatte quittieren müssen. Loring Miner der Zweite war Patriot und für ihn hatte es außer Frage gestanden, nicht zu dienen. Mit der ersten Freiwilligentruppe setzte er nach Europa über und bekämpfte den deutsch-österreichischen Bund. Man musste diesen Kaisertreuen Einhalt gebieten. Nur in der Demokratie fand ein Volk Gerechtigkeit und unter Königen und Kaisern würde das niemals passieren. Da Ärzte niemals direkt an der Front eingesetzt wurden, hatte Dr. Miner wohl nicht mit solch einer Verletzung gerechnet, aber der Mörsergranate war es egal, dass sie zentral in ein Lazarett einschlug und dabei unzählige Menschen tötete und verletzte.
Fragend sah Lore den kleinen und schmal gebauten Mann im Wohnzimmer seiner Eltern an: „Und Sie sind?“ Er achtete darauf nicht abwertend oder gar arrogant zu klingen. Dies störte ihn immer an seinem Vater und er hatte schon vor Jahren beschlossen, sich kein Beispiel daran zu nehmen. Ob er einen Weißen, Farbigen, Mann, Frau oder Kind vor sich hatte, Lore versuchte alle gleich zu behandeln.
Lächelnd trat Raphael auf den großgewachsenen Arzt zu und reichte ihm die Hand, die dieser auch annahm. „Ich bin Dr. Raphael St. Giatros. Ich bin Arzt beim U.S. Public Health Service. Ich bin wegen Ihres Telegramms hier. Sie haben es doch geschickt?“