4,49 €
Im dritten Jahrtausend kämpfen die Menschen um den Erhalt ihres Rechtsstaates. Da das normale Justizsystem mit den Anforderungen des Lebens im All nicht mehr klar kommt, erschaffen Wissenschaftler im Namen der Regierung die Richterhenker, die Judge-Men. Sie sorgen in allen Welten des besiedelten Raums für Recht und Ordnung.
Diese speziell gezüchteten Hybriden verfügen über keinerlei Gefühl und strafen jeden Verbrecher entsprechend seines Vergehens. Ihre Strafe ist der Entzug von Lebenszeit, hin vom Verlust von wenigen Monaten, bis zum Tode. Die Lebenszeit geht nicht verloren. Der Judge-Man bunkert sie gewissermaßen und kann sie abgeben, an Todkranke oder an Menschen, deren Arbeit noch nicht beendet ist. Zumindest hatten es sich die Erschaffer der Judge-Men so gedacht.
Doch was geschieht, wenn ein Richterhenker entgegen seiner Veranlagung für eines seiner Opfer Gefühle entwickelt? Kann der stoische Vollstrecker lernen, damit umzugehen und vielleicht sogar die Liebe des anderen Mannes erwidern?
Diese Geschichte enthält homoerotische Szenen und ist daher nur für aufgeschlossene und volljähre Leser geeignet!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Sämtliche Personen dieser Geschichte sind frei erfunden und Ähnlichkeiten daher nur zufällig.
E-Books sind nichtübertragbar und dürfen auch nicht kopiert oder weiterverkauft werden.
Dieses Buch enthält homoerotische Handlungen und ist für Leser unter 18 Jahren und für homophobe Menschen nicht geeignet. Im wahren Leben gilt ein verantwortungsbewusster Umgang miteinander und Safer‐Sex!
Wo ein Gesetz ist, da ist auch Strafe – Jared betrachtete die matt glänzende Messingtafel an der Wand des Hauptquartiers der Judge-Men. Da Latein heute nicht mehr zur Allgemeinbildung gehörte, verstanden nur sehr wenige den Leitspruch der Richterhenker, doch Jared hatte für sein Medizinstudium das große Latinum gebraucht und verstand den Text. Seufzend betrat er seinen Arbeitsplatz. Als kleines Rädchen in der Riege der Wissenschaftler galt er nur als Mitläufer und hatte nicht wirklich viel zu sagen. Trotzdem gefiel ihm die allgemeine Entwicklung nicht. Mittlerweile hatte er das Gefühl, dass die Henkerrichter immer mehr missbraucht wurden und da sie mithilfe von Idarid, einem seltenen Mineral von Thalus III, ruhig gehalten wurden, begehrten diese auch nicht dagegen auf.
Vor dreihundert Jahren schufen mehrere geniale Wissenschaftler die erste Generation der Judge-Men. Dies geschah aufgrund des Beschlusses der Vollversammlung des Völkerrates im Jahr 2645 und das Konzept wurde ein voller Erfolg. Die Richterhenker erhielten mannigfaltige Fähigkeiten und dazu einen übersteigerten Gerechtigkeitssinn, damit sie ihre Gaben nicht für eigene Zwecke missbrauchten. Trotz der enormen Effektivität wurden die Judge-Men der Welle an Gewalt und Verbrechen auf dem Heimatplaneten und den vielen Kolonien nicht Herr. Es uferte immer weiter aus und die Regierung beschloss, das ganze Konzept zu überarbeiten. Hundert Jahre nach der Schaffung der Judge-Men, verließ der erste Vertreter der zweiten Generation die Retorte. Diese neuen Richterhenker erinnerten nur noch in ihrer Gestalt an Menschen. Sie waren alle großgewachsen, durchtrainiert und fit. Ihre Haut schimmert bläulich-weiß und ihre Augen leuchteten azur-blau, regelrecht unnatürlich, und wenn sie ihre Fähigkeit zur Wahrheitsfindung einsetzten, verfärbten sich ihre Augen zu einem strahlenden Silber. Da sie künstlich erzeugt wurden, entsprachen alle samt dem gleichen Stereotyp, sie waren groß und bedrohlich mit markanten Gesichtern und schneeweißem Haar. Hier zeigte sich meist die einzige Individualität, es gab keine Vorschriften bezüglich der Frisur. Jeder Judge-Man suchte sich diese selbst aus, klassisch-kurz, peppig ausrasiert, brav-schulterlang, löwenmähnenartig, einfach alles was man sich vorstellte. Die Natur hatte eben ihren eigenen Kopf und ließ sich nicht vollständig in eine starre Form pressen.
Natürlich bekamen die Judge-Men die Situation nach und nach in den Griff. Ihr Ruf, knallhart durchzugreifen und keinerlei Gnade zu kennen, in Kombination mit ihrem martialischen Auftreten sorgte für eine erzwungene Rechtschaffenheit der Menschen. Wenn ein Henkerrichter auf einen Planeten geschickt wurde, zitterte die Bevölkerung schon allein des Gedankens wegen, da musste man dem Judge-Man gar nicht begegnen. Die Regierung setzte mit jedem Jahr die Strafen höher, obwohl die Verbrechensrate sank. Jared vermutete, dass dies nur aus einem Grund geschah, damit sie die Lebenszeit abschöpfen und anderweitig nutzen konnten. Früher genügte ein simpler schriftlicher Antrag mit einer passenden Begründung, um die einkassierte Energie zu erhalten. Heute musste man entweder eine meterdicke medizinische Akte sein Eigen nennen oder Millionen Kredits auf dem Bankkonto. Auf diese Art verlängerten Wohlhabende und Intelligente ihr Leben. Damit es nicht auffiel, ging mindestens ein Drittel der Lebensjahre an Kranke, diese wählten die Ärztevereinigung nach unterschiedlichsten Kriterien aus. Jared verstand diese Selektion nicht, aber er vertraute den Medizinern ebenso wenig wie seinen eigenen Vorgesetzten. Diese taten alles dafür, dass defekte Judge-Man außer Dienst gestellt wurden und auf dem sogenannten Rescue-Planet landeten. Doch selbst daran zweifelte Jared mittlerweile. Konnte es wirklich sein, dass die Regierung Geld in den Lebensabend von vollkommen stoischen und untätig herumsitzenden Richterhenkern investierte? Die Wissenschaftler behandelten die blassen Männer wie Stückgut, wie eine Ware, die man hin und her schieben konnte. Auch die Politiker sprachen meist von den Richterhenkern wie von einer Sache. Da diese nur sehr wenig sprachen und ansonsten keine Gefühle zeigten, neigte man dazu, sie zu versachlichen. Doch Jared wusste, dass dies nicht korrekt war, so durfte man nicht mit Menschen umgehen, auch nicht mit den Judge-Men.
Jared betrat den Expresslift und fuhr in dem riesigen Hochhaus aus Kunststahl und Plexiglas in seinen Arbeitsbereich. Die halbrunde Kabine hatte ein Mordstempo drauf, darüber täuschten auch der weiche, helle Bodenbelag und die metallenen Wände nicht hinweg. Sein kleines Büro befand sich mittig im Gebäude, verfügte also nicht über Tageslicht, nur eine Tür verband ihn mit dem Flur und mit der Außenwelt. Bei einer Wochenarbeitszeit von fast fünfzig Stunden verbrachte er verdammt viel Zeit in diesem fensterlosen Kabuff. An manchen Tagen hatte Jared das Gefühl, dass die hellgrauen Wänden langsam aber sicher näher rückten und ihn irgendwann unter sich begruben. Seufzend setzte er sich auf seinen ergonomisch geformten Stuhl und überblickte seinen Schreibtisch. Ein Stapel Datenfolien und Speicherchips warteten auf Bearbeitung. Sein Job war die Auswertung und Analyse der Trainingsergebnisse der Judge-Men, die im Erdgeschoss und Keller des Gebäudes trainiert wurden. Ihre Quartiere hatten die Richterhenker in dem flachen Anbau, wobei man hier eher von Zellen sprechen sollte. Natürlich wurden die Justiziare offiziell nicht weggesperrt, aber ihre Räume hatten eine Abmessung von zweieinhalb Metern im Quadrat, also nicht viel mehr als eine frühere Gefängniszelle. Dank der Judge-Men gab es keine Gefängnisse mehr, die Regierung hatte sie, nachdem sich die Richterhenker als effektiv erwiesen hatten, einfach abgeschafft. Jared hielt auch dies für eine falsche Entscheidung. Wurde man als Taschendieb erwischt, auch wenn man nur einen Laib Brot gestohlen hatte um seine Familie zu ernähren, wurde man nach dem Judge-Maß abgestraft, man erhielt für ein solch lapidares Vergehen einen Lebenszeitentzug von mindestens einem Jahr. Dies hielt Jared für überzogen, trotzdem begehrte er nicht dagegen auf. Die Regierung allgemein und die Justizbehörde speziell gehörten nicht gerade zu den toleranten Institutionen und schon gar nicht im Umgang mit ihren Kritikern.
Seufzend konzentrierte er sich auf die Testergebnisse der letzten Probanden. Die Analyse von Leistung und Blut zeigten, dass ihre Idarid-Einstellungen perfekt passten. Vollkommen gefühllos konnten die Richterhenker ihrem unschönen Gewerbe nachgehen.
Als nächstes beschäftigte sich Jared mit den Akten von zehn älteren Judge-Men. Diese standen im Verdacht, dass ihr Gerechtigkeitssinn einen Defekt aufwies. Dies manifestierte sich meist erst in späteren Jahren, wenn ein Richterhenker eine stattliche Anzahl Dienstjahre auf dem Buckel hatte. Jared vermutete, dass es sich nicht um einen genetischen Defekt handelte, der hier verspätet auftrat, sondern Mutter Natur ihre Finger im Spiel hatte. Diese Anomalie trat immer bei Justiziaren auf, die Extremes erlebt und durchgestanden hatten. Jared war davon überzeugt, dass diese Männer anfingen selbständig ihr Hirn zu benutzen und so ihre Konditionierung durchbrachen. Zwar fehlte ihnen immer noch die Fähigkeit zum Mitgefühl, aber sie konnten nichtsdestotrotz uneingeschränkt denken. Bisher hatte Jared keine wirklich gute Möglichkeit gefunden, diesen Judge-Men zu helfen. Die obersten Wissenschaftler nahmen sie meist außer Dienst. Einige Wenige wurden chirurgisch behandelt und auf den äußersten und somit den wildesten und lebensfeindlichsten Kolonien eingesetzt. Dies entsprach im Prinzip einem Todesurteil. Die Judge-Men hatten im Grunde eine unbegrenzte Lebensspanne, da sie automatisch einen Teil der absorbierten Lebensenergie in ihren Zellen speicherten und nicht wieder abgaben. Sie also an den Rand zu schicken, entsprach einer Hinrichtung auf Raten. Nur verzweifelte und verfolgte Menschen reisten in die Randgebiete des besiedelten Raums und versuchten sich dort eine Existenz aufzubauen. Jared kannte niemanden, der so verzweifelt war.
Sein geschulter Blick ging über das Deckblatt der ersten Akte. Judge-Man 136, einer der ersten Vertreter der zweiten Generation. Dieser Richterhenker musste mindestens zweihundert Jahre alt sein, neugierig blätterte Jared um und betrachtete das kleine 3D-Bild des Mannes. Er sah höchstens wie Ende Dreißig, Anfang Vierzig aus. Auf keinen Fall wirkte er wie ein Tattergreis. Am Ende des Datenpakets entdeckte er den Grund der Überprüfung. Der Judge-Man hatte einer Frau nur vier Monate Lebenszeit entzogen, anstatt der gesetzlich vorgeschriebenen zwölf. Jared fand, dass ein Jahr Lebenszeit als Strafe für einen illegalen Datendownload auch recht happig war. Wenn er das richtig sah, hatte die Verurteilte einen Song, genauer gesagt ein Liebeslied, aus dem Internet heruntergeladen und nicht dafür bezahlt. Resigniert schloss Jared die Akte und die Datenfolie rollte sich wieder auf. Dieser mindestens zweihundertjährige Richterhenker sollte nun einen Teil seines Gehirns einbüßen, nur weil er genau wie Jared, die Strafe für überzogen hielt. Sie war übertrieben, doch niemand begehrte dagegen auf. Gab es eine Möglichkeit, dem Justiziar zu helfen? Jared dachte sehr angestrengt darüber nach.
136 verließ die weiß gefliesten Gemeinschaftsduschen und betrat seine eintönige Zelle mit der spärlichen Möblierung. Das schmale Handtuch um seine Hüfte stellte im Moment seine einzige Kleidung dar. Am Fußende seines Bettes lag sein „Freizeitdress“, wenn man es denn so nennen wollte. Stumm und mit effizienten Handgriffen befreite sich 136 von dem Tuch und schlüpfte in die schwarzen Stoffhosen und das enge schwarze Langarmshirt. Alle Kleidung der Judge-Men war schwarz, denn es bildete den stärksten Kontrast zu ihrer bläulichen bleichen Haut. Mit einer Bürste entwirrte 136 noch sein langes weißes Haar, es fiel ihm bis in den halben Rücken und wurde von den Ausbildern und Kontrollern nur geduldet, weil es so schön martialisch aussah, wenn er es an den Schläfen zu zwei Zöpfen flocht. 136 wirkte wie ein Krieger aus längst vergangener Zeit, auch wenn er eher das Produkt einer zukünftigen Science Fiction Story war. Leise seufzend hockte er sich am Fußende auf sein Bett und schlüpfte in die schwarzen Schnürschuhe, sie hatten eine weiche nachfedernde Sohle und bestanden aus einem weichen Kunstmaterial, heute konnten sich nur noch die Superreichen echtes Leder leisten. Sein Kampftraining lag hinter ihm und nun musste er hier warten, entweder auf sein nächstes Training, Taktik, Ausdauer oder wieder Nahkampf, oder auf seinen nächsten Einsatz. Diese Warterei machte die Hälfte seines Lebens aus. Nur wenn er irgendwo stationiert war, um für Recht und Ordnung zu sorgen, konnte er seine Freizeit selbst gestalten. In diesen Momenten genoss er die Lektüre eines guten Buches, doch dies durften seine Kontroller nie erfahren. Wer las, der dachte und denken war bei den Judge-Men unerwünscht. Es bestand schließlich das Risiko, dass sich ein Judge-Man öffentlich gegen die Regierung auflehnte und all die bestehenden Missstände im System anprangerte. Automatisch, wenn er so unnütz auf die nächste Aktivität wartete, drifteten 136‘ Gedanken zu einem alten Theaterstück, über welches er vor Jahren gelesen hatte. 136 verglich sich mit einem der wartenden Landstreicher. Er wartete auf Godot, der doch niemals kam.
Jared marschierte zum Lift und wählte das Stockwerk der Kontroller. Er hatte in einem Moment des Wagemutes beschlossen, mit dem Judge-Man zu sprechen und herauszufinden, warum dieser nur ein vermindertes Strafmaß eingestrichen hatte. Der Fahrstuhl trug ihn in Windeseile durch das Hochhaus und er verließ die Kabine im sechsundvierzigsten Stock. Mit einem leisen Zischen öffnete sich die Tür und gab den Blick auf den Empfangsbereich frei. Jared fand es leicht paradox, dass man die Judge-Men im Erdgeschoss und Keller unterbrachte und die Kontroller, die sie überwachen sollten, fast unter dem Dach. Nur die führenden Wissenschaftler und der Justizminister und dessen Stab saßen noch über ihnen, in den obersten Stockwerken. Am Empfangstresen saß eine attraktive Frau mit einer eiskalten Ausstrahlung. Mit der sollte man sich nicht anlegen, sagte zumindest Jareds Unterbewusstsein. Der Wissenschaftler hatte bereits in seiner Jugend gelernt, dass es meist ins Auge ging, wenn er die leise Stimme in seinem Inneren ignorierte. Daher lächelte er jetzt ganz freundlich und begrüßte den Empfangsdrachen äußerst höflich: „Ich bin Jared Attwell, Wissenschaftsabteilung, zuständig für statistische Erfassung. Ich möchte gerne den Kontroller von Judge-Man 136 sprechen. Es geht um seine Überprüfung.“
Gnädig nickend aktivierte die Dame die interaktive Steuerung ihres Head-Sets und kontaktierte den entsprechenden Mitarbeiter der Justiz-Behörde. Jared hoffte, dass er nicht allzu lange warten musste. Das Gespräch der Frau verlief kurz und bündig, sie machte weder viel Worte noch Aufhebens. Man merkte, dass sie von ihren Kollegen als Prellbock geschätzt wurde.
„Zimmer 46.18. Warten Sie im Vorzimmer. Kontroller Mitchell bittet Sie dann hinein. Den Gang hinunter, die vierte Tür auf der rechten Seite“, nach dieser Anweisung vertiefte sich die Empfangsdame wieder in den Text auf ihrem Bildschirm.
Was sie wohl las? Kopfschüttelnd entsorgte Jared diese Überlegung aus seinen Hirnwindungen und konzentrierte sich auf sein aktuelles Anliegen. Dafür würde er all seine Konzentration brauchen. Leise durchquerte Jared den beeindruckend wirkenden Eingangsbereich des Stockwerks und ging den langen Flur hinunter. An den Wänden hingen Fotografien von Judge-Men im Einsatz. In den Anfangsjahren der Behörde hatte man tatsächlich noch Werbung für ihr neues „Sondereinsatzkommando“ machen müssen. Die Justiziare stellten damals eine Ausnahme dar und es gab noch ganz klassisch Gerichtshöfe, mit Richtern, Anwälten und manchmal auch Geschworenen. Doch heute gehörten die Judge-Men zum Standard und jede andere Art der Rechtsprechung galt als veraltet, regelrecht antik.
Nachdem Jared bei der Justizbehörde angefangen hatte, beschloss er, dass er allgemein mehr über Rechtsprechung und Bestrafung wissen musste. Akribisch, ganz der gewissenhafte Wissenschaftler, arbeitete er sich in diese Materie ein, angefangen bei der Rechtsstaatlichkeit der alten Griechen und Römer, über die mittelalterliche Inquisition, Gottesurteile und all den Scheiß, bis hin zum Justizsystem der Industriezeit, dem direkten Vorgänger der Judge-Men. Dieses System hatte gut funktioniert, war aber vor der Indienststellung der Justiziare aus allen Nähten geplatzt und der Lage einfach nicht mehr Herr geworden. Doch, anstatt mehr Gerichte einzurichten und effektivere Polizisten zu schaffen, gingen die Verantwortlichen vor dreihundert Jahren einen anderen Weg. Sie verschmolzen gewissermaßen beide Instanzen. Der Judge-Man spürte auf, nahm fest und urteilte sofort, an Ort und Stelle, ab. Die Gefängnisse fielen weg und der Ermittlungsbeamte, sprich der Polizist, wurde zum besseren Kopfgeldjäger degradiert. Heute suchten Polizisten schwer zu findende Straftäter und Verdächtige und informierten die Judge-Men oder nahmen die Person in Haft, bis der Justiziar eintraf.
Genervt checkte Jared die Zeit und stellte fest, dass er bereits seit einer dreiviertel Stunde hier saß und wartete. Mit jeder verstreichenden Minute erkannte er, dass es eine blöde Idee gewesen war. Was hatte er sich nur gedacht? Vermutlich würde er eh keinen Zugang zu dem Justiziar erhalten. Nervös rutschte er auf seinem Stuhl vor und zurück. Die karge Einrichtung und die kalten Farbtöne schüchterten Jared ein. Alles war in grau, schwarz und weiß gehalten, entsprach also ganz den Farben der Richterhenker. Seinem eigenen kleinen Reich in diesem Gebäude hatte Jared mit Hilfe von farbigen Statistiken und Diagrammen etwas Farbe verliehen und so das Ambiente etwas aufgelockert. Aber wenn er nicht mit dem betreffenden Justiziar sprach, konnte er nur schlecht beurteilen, ob wirklich ein Defekt vorlag. Seine Werte zeigten keine Anomalitäten, also sollte eigentlich alles normal sein, war es aber nicht. Warum ließ er sich trotz der verstärkten Gabe von Idarid nicht korrekt steuern? Einzig seine hohe Ergreifensrate von Straftätern hatte dafür gesorgt, dass man ihn nicht sofort außer Dienst stellte.
Die Bürotür ging auf und ein Mann mittleren Alters erschien im Durchgang. Dieser sah auf Jared nieder und blaffte ihn an: „Attewell?“
Jared nickte verhalten und musterte den Kontroller von 136. Dieser wirkte sehr beherrscht und von sich überzeugt. Leise seufzend erhob sich Jared.
„Mitkommen!“, der Kerl verschwand nach dieser rüden Aufforderung wieder in seinem Büro. Wie unhöflich! Erst ließ er Jared ewig warten und dann gab er weder eine Erklärung, noch eine Entschuldigung ab. Jared betrat das recht große Büro und ging auf den Besucherstuhl zu. Auch hier hatte man das kühle Farbspektrum bevorzugt. Etwas Dunkelblau gab der Mischung aus grau, schwarz und weiß etwas Würze. Jareds Nase fing das Aroma von Gewürzen und Tomaten auf. Ah, der Kontroller hatte also gerade eine verlängerte Frühstückspause genossen, deshalb hatte er warten müssen. Burrito wenn seine Nase korrekt arbeitete. Gelassen setzte sich Jared auf den eher unbequemen Stuhl und schlug die Beine übereinander. Das Wissen um die künstlich verlängerte Pause gab ihm wieder Oberwasser und somit wieder mehr Selbstvertrauen. Jared gehörte nicht zu den Männern, die sich in jedes Getümmel stürzten und für seine Rechte focht, er ging eigentlich lieber den Weg des geringsten Widerstands, doch diese Sache erschien ihm wichtig. Als Vertreter einer Minderheit, denn Homosexuelle waren es leider noch immer, verstand er Repressalien und Vorurteile. Er wollte unbedingt, dass man Judge-Man 136 fair und korrekt behandelte. Warum sein Herz gerade an diese Sache hing, konnte er nicht sagen.
Der Kontroller blickte den jüngeren Wissenschaftler an und versuchte, sich ein Bild von ihm zu machen. Kopfschüttelnd und gelassen lehnte sich Sam Mitchell in seinem Bürostuhl zurück.
Jared hielt still, zappelte nicht, wartete einfach ab. Kontroller waren eine ganz eigene Spezies, zumindest kam es dem Wissenschaftler oft so vor. Sie neigten zur Pedanterie und waren meist überkorrekt. Für einen Wissenschaftler oder Forscher gehörten auch Spontanität und eine kleine Portion Wagemut zum alltäglichen Geschäft. Die meisten wissenschaftlichen Neuerungen basierten auf hanebüchenen Ideen oder wahnwitzigen Vorstellungen einzelner Forscher, die aber nicht davon ablassen konnten, es zu versuchen. So hatten sie auch vor Jahrhunderten die Justiziare geschaffen, es war ein genetischer Feldversuch und er glückte. Bis dahin hatte es der Ethikrat immer abgelehnt, menschliche DNA mit tierischer zu versplicen, doch der Erfolg gab den Forschern Recht.
„Was führt Sie zu mir?“, erkundigte sich der ältere Mann und nagelte Jared dabei regelrecht mit seinem Blick fest.
Jared schob sein Unbehagen bei Seite. Er räusperte sich leise und erklärte: „Ich habe die Akte von 136 auf den Schreibtisch bekommen. Laut der Datenanalyse liegen seine Werte in der Norm. Er hatte keine Ausreißer bei den Hormonen und Hirnwellenscans, folglich sollte er entsprechend seiner Konditionierung und seinen Vorgaben arbeiten, aber er tut es nicht. Ich möchte bitte mit ihm sprechen, vielleicht liegt das Problem wo anders?“ Jetzt musste Jared abwarten. Mitchell würde jedes gesagte Wort in Gedanken checken und zusätzlich Jared beurteilen. Manchmal kam es Jared so vor, als hätten die Kontroller dieselben telepathischen Fähigkeiten wie die Justiziare. Natürlich wusste Jared, dass dies nicht sein konnte, denn die Blutwerte aller Angestellten der Justizbehörde wurden regelmäßig überprüft und telepathische Fähigkeiten, die ab und zu auch von Natur aus vorkamen, ergaben einen messbaren Ausschlag bei diesen Überprüfungen. In diesem Fall wurde der entsprechende Mitarbeiter in eine andere Abteilung versetzt, er landete bei den Psy-Ermittlern. Sie jagten Verbrecher auf rein telepathischer Ebene. Ihre Erfolgsrate lag bei über achtzig Prozent und ihre Hinweise waren pures Gold wert.
„Was erhoffen Sie sich davon, Attwell?“, fragte Mitchell in knurrigem Ton nach.
Jared fuhr mit seiner Hand über sein Bein und verschränkte die Hände vor seinen Knien, nun sah er neugierig und gespannt aus. Er hatte sich in seiner Jugend ausgiebig mit Körpersprache beschäftigt, da bei ihm selbst die Empathie etwas zu kurz gekommen war. Jared konnte Menschen nicht gut einschätzen, ihm fehlte dafür einfach das Gespür, doch er hatte einen sehr analytischen Verstand. Also lernte er Körpersprache zu lesen und die verborgenen Empfindungen dahinter zu erkennen. Sein Gegenüber behielt seine Wachsamkeit bei, unterstellte aber noch keine Arglist oder ähnliches. So musste es bleiben. „Er ist ein Mysterium und ich muss entscheiden, ob ich eine Neukonditionierung, einen chirurgischen Eingriff oder eine Außerdienststellung des Objekts empfehlen soll.“ Ganz bewusst hatte Jared seine Antwort so formuliert, dass er wie ein neugieriger Wissenschaftler klang, der ausschließlich Interesse an den Ergebnissen hatte und an nichts anderem. Na zumindest dafür war die Wartezeit gut gewesen. Jared hatte für fast jede Frage eine passende Antwort parat.
„Warum denken Sie über eine Neukonditionierung nach? Normalerweise empfehlt Ihr Forscherfutzies sofort eine Lobotomie“, kam es schnarrend von dem Kontroller.
Auch für 136 war eine vorgesehen, außer Jared konnte es verhindern. Mitchell ließ sich nicht aufs Glatteis führen und wollte es genauer wissen. Jared schürzte die Lippen und nutzte nun die sexuelle Seite seines Wesens. Er ließ den Schwulen nur selten heraus hängen, doch er hielt sein Gegenüber für ein hundertprozentiges Heteromännchen, der mit warmen Attitüden nichts anfangen konnte. Wahrscheinlich brachte ihn dies aus dem Konzept und so brachte Jared sein Anliegen besser durch. Jared stellte seinen unteren Fuß etwas auf und zog ihn dichter an den Stuhl, so kam sein überschlagenes Bein etwas höher. Mit seinen schlanken Händen strich er nun erneut über seinen Schenkel und faltete die Hände nun mittig darauf. Geziert zuckte er mit den Schultern, schwuler ging es nun wirklich nicht. Seine Rechnung ging auf.
Irritiert lehnte sich sein Gegenüber zurück, brachte unmerklich so viel Abstand zwischen sie, wie es ging, ohne unhöflich zu wirken. Trotz aller Aufgeklärtheit blieb eine Spur Angst vor Ansteckung im Umgang mit Homosexuellen. Bei Frauen geschah es seltener, aber Männer reagierten unterbewusst so, sie konnten es nicht abstellen. Diese Reflexe hatte die Evolution ihnen mitgegeben, denn wenn sie bei Weibchen ankommen wollten, durften die sie auf keinen Fall für männerliebend halten.
Jared setzte jetzt noch einen drauf und beugte sich, soweit er konnte nach vorne, ohne vom Stuhl zu fallen und antwortete in verschwörerischem Ton: „Ich habe erst über diese beiden Optionen nachgedacht, aber 136 hat eine spitzenmäßige Ernterate. Kein anderer Judge-Man arbeitet so effektiv. Daher ist mir dieser Ausrutscher ein absolutes Rätsel. Es kribbelt mir regelrecht in den Fingern, es zu ergründen. Ganz ehrlich, ich habe auch noch einen anderen Hintergedanken. Wenn ich das Rätsel löse und eine Neukonditionierung unter meiner Anleitung klappt, bekomme ich vielleicht die Chance auf eine Beförderung. Meine Karriere stagniert und so eine Entdeckung… .“ Gekonnt ließ Jared diese Aussage im Raum hängen. Jetzt sollte Mitchell heraushören, was er wollte. Die meisten Menschen verstanden und akzeptierten Ehrgeiz.
Auch dieser Kontroller machte da keine Ausnahme. Laut mit der Zunge schnalzend verschränkte der ältere Mann die Arme vor der Brust. Diese Haltung betonte den leichten Bauchansatz, trotzdem wirkte er immer noch recht ansehnlich. Jared wartete ab, gab dem Kontroller die Zeit, die Aussage zu überdenken. Drängen machte den anderen nur misstrauisch.
„In Ordnung. Ich stelle Ihnen einen Passierschein und ein Besucherticket aus. Sie können heute Nachmittag zu 136. Sie haben eine Stunde. Anschließend erscheinen Sie wieder hier bei mir. Ich will einen Vorbericht, bevor Sie die Wissenschaftsabteilung hinzuziehen“, bestimmt der Kontroller.
Jared nickte und unterdrückte ein befreites Lächeln. Auf keinen Fall durfte er es jetzt noch vergeigen. Konzentriert ließ er Neugierde und Eifer auf seinem Gesicht erscheinen. Tief in seinem Inneren dachte er nur: „136, ich komme!“
Da die Judge-Men keine Familien hatten, erhielten sie im Normalfall auch keinen Besuch. Doch es kam ab und an vor, dass ein Zeitbeschenkter sich bei dem entsprechenden Justiziar bedanken wollte, vor allem bei ehemals Kranken passierte dies recht häufig. Zu den Besuchszeiten erschienen auch Wissenschaftler, die irgendwelche Studien anstellten und dazu Daten oder Infos von den Richterhenkern brauchten. Das Wanddisplay in der Zelle von 136 zeigte diesem einen Besucher an, der im Besucherzimmer drei auf ihn wartete, Besuchszeit von zwei bis drei. Sofort erhob sich 136 und schritt in gemächlichen Schritten den kargen Flur entlang. Die Wände hatten einen weißen Anstrich und der Boden bestand aus einem schwarzen Kunstbelag, der die Schritte leicht abfederte und Geräusche schluckte. Vor dem Besucherzimmer klopfte 136 höflich an und betrat dann zügig den Raum. Sein Blick scannte den Gast und beurteilte ihn zügig, dazu benötigte er nicht einmal seine empathischen Fähigkeiten, die fast so stark ausgeprägt waren, wie seine telepathischen. Der jüngere Mann stand hinter dem Tisch und seine Hände klammeren sich um die Stuhllehne. Der hübsche schwarzhaarige Mann wirkte unsicher, trotz seines Alters von etwa Ende zwanzig, wirkte er wie ein unsicherer Teenager. 136 ahnte, dass der Wissenschaftler, dies erkannte er an der weißen-grauen Uniform, wegen seines Fehlverhaltens hier war. Abwartend positionierte er sich auf der anderen Tischseite und betrachtete den schwulen Mann vor sich. Auch dies erkannte er problemlos, nicht an dessen Aussehen, sondern an den empathischen Signalen, die von diesem ausgingen. Der schlanke Forscher fand ihn anziehend. Selten reagierten Menschen mit Begehren auf ihn, denn die meisten fürchteten ihn instinktiv.
Da der Richterhenker in Hab-Acht-Stellung verharrte, beschloss Jared die Initiative zu ergreifen und fragte vorsichtig nach: „Wollen wir uns setzen?“
Sofort griff der Justiziar den Stuhl, zog ihn zurück und setzte sich kerzengerade an den Tisch. 136 wartet einfach ab, überließ dem Fremden das weitere Vorgehen.
Der schmerzhaft neutrale Blick aus diesen azurblauen Augen ruhte auf Jareds Gesicht. Seufzend setzte sich Jared ebenfalls hin und verschränke seine Hände auf dem Tisch. Wie sollte er es angehen? Den Bericht für den Kontroller hatte er bereits geschrieben, schließlich wollte er sein Gegenüber nicht erforschen, sondern ihn darauf hinweisen, dass sein Ende nahte und er, wenn möglich, die Flucht ergreifen sollte. Natürlich wusste er nicht, ob dies die Konditionierung der Justiziare überhaupt zuließ. Seufzend eröffnete er das Gespräch: „Ich bin Jared Attwell, ich bin für die Auswertung des Trainings und der Einsätze zuständig. Deine Akte ist auf meinem Schreibtisch gelandet.“ Abwartend sah er den Weißhaarigen vor sich an. Dass er ihn im Gegensatz zu Mitchell am Vormittag duzte, gehörte zum vorgeschriebenen Standard. Justiziare besaßen keine Grundrechte, sie waren nicht einmal als Menschen anerkannt, da ihre DNS fremde Anteile enthielten. Die Wissenschaftler schwiegen sich darüber aus, was sie eingemischt hatten, doch Fakt blieb Fakt. Jared sah dies zwar anders, aber er durfte nicht vor laufender Kamera darauf verzichten. Das Protokoll musste eingehalten werden.
136 erkannte sofort, dass sein Gegenüber sehr darauf achtete, was er sagte. Sein Blick ging ganz bewusst zur Überwachungskamera und dann zurück zu seinem Besucher.
Jared verstand die stumm gestellte Frage und nickte bestätigend. Sie konnten nicht frei sprechen, da sie wie üblich überwacht wurden. Selbst wenn niemand in diesem Moment zusah oder zuhörte, würde später jemand die Aufnahme analysieren und sie konnten beide Schwierigkeiten bekommen, wenn es zu Unregelmäßigkeiten kam. „In deinem letzten Einsatzbericht ist vermerkt, dass du ein vermindertes Strafmaß kassiert hast. Warum hast du so entschieden?“
Tief, aber langsam durchatmend, musterte er seinen Gast. Es durfte nicht auffallen, dass ihn die Frage verwirrte. Was sollte dieses Fragespiel? Hatten sie eben nicht beide festgestellt, dass eine offene Kommunikation nicht möglich war? Die Wissenschaftler vor dreihundert Jahren hatten die Richterhenker als Kontakttelepathen erschaffen, das hieß, dass sie Körperkontakt brauchten, um in den Geist eines Anderen einzudringen, doch dazu waren nur die Wenigsten bereit. Jeder fürchtete, dass der Richterhenker Verstöße entdecken und ahnden könnte. Natürlich bot er diese Form der Kommunikation auch von sich aus nicht an, denn damit würde er beweisen, dass er Straftaten einfach übergehen konnte, denn jeder hatte irgendetwas auf dem Kerbholz. Unbewegt starrte er den Schwarzhaarigen an. Dessen schokoladenbraunen Augen blitzten auf, schienen etwas mitteilen zu wollen.
Jareds Hand zuckte, er hatte für eine Millisekunde tatsächlich darüber nachgedacht die Hand von 136 zu ergreifen, um diesem per Gedankenübertragung mitzuteilen, dass er sterben würde, wenn er nichts dagegen unternahm. Aus allen Berichten und Statistiken wusste Jared, dass sie die Richterhenker wie willenlose Schafe zur Schlachtbank führten, wenn ihre Zeit kam. Sie verfrachteten sie irgendwohin, angeblich auf den Rescue-Planet. Doch diesen hatte Jared nicht finden können, es gab ihn wahrscheinlich nicht und die Justiziare wurden einfach eliminiert. Da sie dem Gesetz nach keine Status hatten, konnte man die Verantwortlichen nicht einmal dafür zur Rechenschaft ziehen, wenn es eines Tages herauskam. Man konnte nur darauf hoffen, dass die Praktik abgeschafft wurde, aber selbst das war ungewiss.
136 betrachtete die unbewusste Bewegung von Jared Attwell und wunderte sich. Niemand fasste freiwillig einen Judge-Man an. Wenn dieser ein Verbrechen scannte, musste er entsprechend handeln und die Strafe vollstrecken, daher wichen alle Menschen ihnen aus. Dass der Kleine vor ihm diese grundsätzliche Überlebensregel fast vergessen hätte, zeigte ihm, dass dieser wirklich dringend etwas ungesagt mitteilen wollte. 136 atmete tief durch und konzentrierte sich auf sein Gegenüber.
Jared musste ihm zum Reden bringen, in einem Monolog konnte er nicht genug mitteilen, ohne dass es auffiel. „Was denkst du, was soll ich empfehlen? Es gibt nicht viele Möglichkeiten, was nun mit dir geschieht.“ Wieder wartete Jared ab. Vielleicht regte sich der Justiziar ja jetzt? Vielleicht hatte er bisher die Dringlichkeit seiner Lage verkannt?
Nichts, was ihm der adrette Forscher gerade mitgeteilt hatte, war eine Überraschung. 136 wusste, dass andere Judge-Man nach solch einer Fehlentscheidung verschwanden. Manche konnte man in ein Transportschiff in Richtung Randplaneten steigen sehen, andere verschwanden einfach so. Von den Justiziaren in den Kolonien erfuhr man eine Zeitlang etwas, da regelmäßig Leute dort hinflogen und ohne langen Aufenthalt wieder zurückkehrten. Alle Flüge, die mit den Judge-Men zusammenhingen starteten vom Flugfeld der Justizbehörde und das lag hinter der Trainingsfläche der Richterhenker. Startete oder landete ein Gleiter während sie ihr Ausdauertraining absolvierten, bekamen sie es mit. Es befanden sich nie viele Judge-Men in den Randbezirken des kolonisierten Weltraums, aber ein oder zwei gab es immer. Doch die Flüge mit Kranken oder anderen Zeitempfängern wurden nach einer Zeit weniger. Die meisten Justiziare hielten dort draußen höchstens ein Jahr durch. Früher oder später wurden sie von den Bewohnern der Kolonie getötet. Dort am Rand, lebten hauptsächlich Andersdenkende, verkappte Rebellen und Verbrecher, welche die Strafe durch die Judge-Men fürchteten. Folglich wollten sie dort draußen alles haben, nur keine Richterhenker. Doch jetzt musste 136 beurteilen, was er mit seinem Gegenüber machte. Ließ er die Berührung zu und entdeckte dabei ein Verbrechen, musste er es auch ahnden, wenn er nicht eine Kontrolle durch einen anderen Richterhenker riskieren wollte. Rundum eine Entscheidung mit möglichweise verheerenden Konsequenzen. 136 beschloss es zu wagen, er ging das Risiko ein. Unter dem Tisch schlüpfte er aus seinem Schuh und schob nun seinen nackten Fuß in das Hosenbein des Wissenschaftlers. Nackte Haut traf auf nackte Haut. Der Justiziar bewunderte die Beherrschung des Menschen. Die meisten hätten zumindest gezuckt, doch sein Gegenüber regte sich überhaupt nicht. Vorsichtig stellte er den mentalen Kontakt her, sanft ging er dabei vor, für den Anderen musste es sich wie ein geistiges Streicheln anfühlen. Wenn Attwell jetzt erschrak, war alles vorbei.
Jared konzentrierte sich auf das fremde Gefühl. Es fühlte sich an, als würde ihn jemand seinen Nacken kraulen, doch niemand berührte ihn. Blinzelnd konzentrierte er sich auf die Empfindung in seinem Inneren und das Gefühl, welches der Hautkontakt in ihm auslöste. Fragend sah er 136 an.
Dieser behielt ihn konstant im Blick, reagierte zumindest äußerlich gar nicht.
Doch im Geiste fühlte Jared eine Reaktion, es fühlte sich an, als zwickte ihn sein Gegenüber sachte in die Schulter. Okay, er hatte nicht geahnt, dass Justiziare dies konnten. Er war immer davon ausgegangen, dass diese nur die Gedanken und Erinnerungen sehen konnten, aber nicht kommunizieren. Doch er wollte die Gelegenheit nutzen, also konzentrierte er sich auf das, was er mitteilen wollte: <Kannst du mich hören?>
<Ja.>
Die Antwort war bar jeder Emotion und Jared erschauerte leicht. War dies die Wirkung von Idarid? Egal, er musste seine Botschaft loswerden: <Du bist auf der Abschussliste. Es gibt für dich nur wenige Optionen. Neukonditionierung, dem werden sie vermutlich nicht zustimmen, Lobotomie, dann bist du im Prinzip nur noch ein lebender Roboter auf zwei Beinen, der Dienst am Rand schieben muss oder sie schicken dich auf den Rescue-Planet. Aber eins will ich dabei noch anmerken: Trotz ausführlicher und akribischer Recherche konnte ich diese angeblichen Rescue-Planet nicht finden, ich denke er ist eine Erfindung.>
Selten teilte jemand einem Judge-Man so frei und vollständig seine Meinung und auch die bestehenden Fakten mit. Jeder verheimlichte Unangenehmes vor den Justiziaren, weil er fürchtete, dass es für ihn persönlich Folgen haben würde. Doch der übersteigerte Gerechtigkeitssinn ließ ein Ausnutzen der Fähigkeiten gar nicht zu, niemals. Sollten sich aber menschliche Empfindungen einschleichen, konnte dieses unerwünschte Mitgefühl dafür sorgen, dass ein Justiziar so handelte wie er und das Strafmaß reduzierte. Dieses Handeln schoss ihn automatisch ins Aus. Jetzt hatte er die Wahl. Der Kleine hatte Recht, sie würden sich nicht die Mühe machen und eine Neukonditionierung wagen, da diese in seinem Alter vermutlich auch nicht funktionieren würde. Bisher gab es nur sehr wenige bestätigte Fälle von geglückter Rekonditionierung. Die Lobotomie war schlimmer als der Tod, dann doch lieber den „Rescue-Planet“ und somit ein schneller Tod. Aber am Rand hätte er noch ein Jahr unbeobachteten Lebens, wenn er der Gehirnverstümmelung entgehen könnte. Wenn er der dortigen Bevölkerung aus dem Weg ging, könnte er dort noch etwas Zeit mit Lesen verbringen. Dafür würde er sich entscheiden, wenn er es durfte. <Die Kolonien, wenn die Lobotomie ausfällt. Ansonsten lieber ein schneller Tod>, sendete er daher seinem Gegenüber.
Jared blinzelte erstaunt. 136 hatte die menschlichste Entscheidung getroffen, sich fürs Überleben wenn möglich, ansonsten für einen schnellen und schmerzfreien Tod. Unmerklich nickte er und überlegte. Sein kleines kirres Forscherhirn hatte bereits darüber nachgedacht, ob es die Möglichkeit gab, 136 an einer Lobotomie vorbeizuschleusen. Aber dies konnte nur gelingen, wenn 136 mitmachte und gut schauspielerte. Es barg zudem ein enormes Risiko für Jared, falls es schief ging. Tief durchatmend konzentrierte er sich auf den Richterhenker auf der anderen Tischseite: <Ich werde deine Papiere manipulieren und sie werden dich dann irgendwann für den Transfer zum Rand abholen. Wenn es soweit ist, darfst du nicht aus der Rolle fallen. Wenn sie merken, dass gar keine Lobotomie stattgefunden hat, kostet dies dich und mich das Leben. Bei einer Entdeckung kann keiner von uns beiden der Strafe entgehen.> Dann setzte Jared die Kommunikation verbal fort. Es musste für einen Überwacher so wirken, als versuchte er wirklich herauszufinden, an was die Fehlfunktion von 136 lag. Telepathisch informierte er den Richterhenker über sein Vorgehen und erntete nur ein mentales Schnauben als Antwort. War das ein Anflug von Humor? Jared wusste es nicht und bedauerte, dass er es vermutlich auch nie herausfinden würde. Wenn er seine Aufgabe gut machte, würde sein Gegenüber in einen Raumgleiter steigen und zu einem Langstreckenschiff geflogen werden. Dieses brachte den attraktiven Judge-Man in die Kolonien am Rand des von Menschen besiedelten Raums und er würde nie wieder etwas von ihm hören. Egal, Hauptsache war, dass dieser seine restliche Zeit so gut wie möglich nutzte.
Jared stellte seine gefühlt eine Million Fragen, bekam aber keine Reaktion seines Gegenübers. Er fragte so Dinge wie: Was geht in dir vor? Hältst du die Strafen für zu hoch? War es ein Versagen deines Gerechtigkeitssinns? Hat die Frau Emotionen in dir ausgelöst? Nimmst du die vorgeschriebene Menge Idarid? Wie wirkt das Mineral auf deinen Körper? Gibt es mentale Auswirkungen wegen des Idarids? So ging es die ganze restliche Besuchszeit weiter. Jared fragte und wartete eine angemessene Zeit auf eine Antwort, die aber nie kam. Also fragte er einfach weiter. Am Ende seines Besuchs verließ er äußerlich gefrustet das Besuchszimmer Drei, doch innerlich frohlockte er. Er hatte es geschafft, 136 zu warnen und konnte nun dessen Einsatz am Rand empfehlen. Hoffentlich folgte man seiner Einschätzung. Vor allem hoffte er, dass er die Dateien wirklich entsprechend manipulieren konnte, damit der Richterhenker nicht im Hirn herumgepfuscht bekam.
Am nächsten Morgen ergänzte Jared seinen vorbereiteten Bericht und fügte die Empfehlung an. Dann schickte er ihn per Mail an Mitchell. Mal sehen, wie schnell dieser reagierte.
Im Laufe des Tages schaffte Jared es, das Ganze bei Seite zu schieben, damit er wieder konzentriert seiner Arbeit nachgehen konnte. Bei ihm meldete sich an diesem Tag niemand und auch am zweiten nicht.
Weeklis Drei Tage nach dem Besuch erhielt er eine Besuchsaufforderung vom Kontroller. Besuchsaufforderung klang so freundlich, aber eigentlich handelte es sich um eine Vorladung, der man Folge leisten musste. Mitchell hatte ihn wie einen kleinen Laufburschen in sein Büro bestellt. Nun ja, nachdem seine Ambitionen in Bezug auf die Aufdeckung der Fehlkonditionierung gescheitert war, sah der Kontroller in ihm wohl nur noch einen besseren Laborassistenten. Seufzend akzeptierte Jared diese gefühlte Degradierung, wenigstens hatte er alles ihm Mögliche für 136 tun können. Auch mit der Manipulation von dessen Dateien hatte er bereits begonnen. Das Ändern im Computer konnte er problemlos schaffen, er kannte sich verdammt gut mit der Software der Justizbehörde aus, doch die abgelegten Datenfolien konnten ihm zum Verhängnis werden. An die kam er nicht heran und wenn man sie kontrollierte und dann nachforschte, würde man ihm auf die Schliche kommen.
Pünktlich stieg er im sechsundvierzigsten aus dem Express-Lift und näherte sich dem „Empfangsdrachen“, doch diese hatte Kenntnis von seinem Termin und winkte ihn einfach durch. Gemächlichen Schritts passierte er den Flur und klopfte an Mitchells Bürotür. Keine Antwort erklang. Leise seufzend betrat er den Warteraum und er setzte sich, im genauen Wissen, dass er wahrscheinlich wieder warten musste.
Jareds Gedanken schweiften unweigerlich wieder zu 136. Dieser hatte etwas Fremdes und auch Erschreckendes in ihm ausgelöst. Er wusste schon immer, dass er auf Männer stand, doch ein Ausleben dieser Veranlagung fiel ihm schwer, da er dafür einem anderen Menschen vertrauen musste. Bei einer intimen Beziehung würde ein anderer Mann in seinen Körper eindringen, ihn besitzen, ihn mit seinem Samen füllen. Jared schauderte bei dieser Vorstellung und bewunderte die Frauen, die dies immer in Kauf nahmen. Doch seit er 136 besucht hatte, träumte er von diesem, von einem bedrohlichen Richterhenker, der ihn bei anhaltendem Körperkontakt vermutlich einiges an Lebenszeit abknöpfen würde. Dass sie sich schon berührt hatten und dies ohne Folgen geblieben war, entging Jared dabei völlig. Den lockeren Kontakt von 136 Fuß zu seinem Bein verdrängte er einfach aus seinem Gedächtnis oder ordnete ihn gefühlsmäßig einfach anders ein. Auch Jared hatte das eine oder andere Gesetz übertreten, Kleinigkeiten, aber mittlerweile wurden auch diese hart geahndet. Ein Berühren kam daher gar nicht in Frage, auch wenn er beim Besuch im unteren Bereich kurz darüber nachgedacht hatte. Wenn 136 von sich aus keine Kommunikation ermöglicht hätte, wusste Jared nicht, ob er nicht vielleicht doch die Hand des anderen Mannes ergriffen und den Verlust an Leben in Kauf genommen hätte. Natürlich konnte er jetzt, im Nachhinein, nur noch darüber spekulieren, an was es lag, dass der Richterhenker ihn verschont hatte. Lag es daran, dass seine Fähigkeit, die Lebenszeit zu entziehen, an die Benutzung seiner Hände gekoppelt war oder war dessen Konditionierung einfach schon so defekt? Nichtsdestotrotz erwachte er nun seit dem Besuch öfters mitten in der Nacht schweißgebadet und mit einer mördermäßigen Erektion, die ihm das Wiedereinschlafen unmöglich machte. Jedes Mal musste er erst selbst Hand anlegen und vor seinem inneren Auge sah er dabei die bläulich-weiße Haut von 136 und dessen leuchtend blaue Augen vor sich, während er kam. Hilflos keuchend spritzte sein Samen in seine Hand und er schauderte über sich selbst. Niemals konnte er etwas mit 136 anfangen oder einem anderen Justiziar. Dies war vollkommen ausgeschlossen und es grenzte an selbstzerstörerischer Perversion, dies sich auch nur vorzustellen. Niemand mit klarem Verstand würde etwas mit einem Richterhenker zu tun haben wollen. Das wäre so, als würde sich ein Reh in einen Wolf verlieben, unmöglich, ausgeschlossen, einfach nicht machbar.
Wieder riss Mitchell die Tür schwungvoll auf, scheinbar in der Hoffnung den kleinen „Statistikheini“ zu verunsichern. Doch Jared beschloss sich nicht einschüchtern zu lassen. Er mochte nur eine unnötige Schwuchtel sein, aber er war trotzdem ein Mensch mit Rechten. Hoch erhobenen Hauptes marschierte er in das Büro des Kontrollers und ließ sich auf dem Besucherstuhl nieder.
„Das war wohl nichts“, meinte Mitchell in süffisantem Ton, als er um seinen Schreibtisch herumging. Dann ließ sich der etwas kräftigere Mann in seinen Stuhl fallen und verschränkte die Hände auf der leergeräumten Tischplatte.
Jared betrachtete den extrem ordentlichen Arbeitsplatz und fand seine anfängliche Einschätzung bestätigt. Mitchell war ein Pedant erster Güte, der sprichwörtliche Korinthenkacker. Krampfhaft unterdrückte er ein Grinsen und nickte ergeben: „136 ist null mitteilsam. Aus dem ist nichts herauszubringen. Ich war echt gefrustet als ich aus dem Erdgeschoss noch oben fuhr.“ Es fiel Jared zwar schwer, aber er musste vor Mitchell kuschen und sich etwas unterwürfig geben. Je später jemand das Bildmaterial von seinem Besuch sichtete, umso besser.
Befriedigt lehnte sich der Kontroller zurück. Er kannte 136 seit er vor fünfundzwanzig Jahren seinen Dienst bei der Justizbehörde angetreten hatte und der Kerl hatte seither höchstens zehn Worte mit ihm gewechselt. Wenigsten waren seine Einsatzberichte genügend aufschlussreich, daher fiel dieses verbale Defizit wenig ins Gewicht. Manchmal fragte er sich sogar, ob der Richterhenker überhaupt sprechen konnte. Im Prinzip bevorzugte er sogar solche wie 136, sie waren extrem pflegeleicht und unkompliziert. „Hätte ich ihnen gleich sagen können. 136 gehört zur schweigsamen Sorte. Sie empfehlen eine Lobotomie und seine Fähigkeiten in den Randkolonien weiter zu nutzen. Welches Risiko birgt dieses Vorgehen?“
Tief durchatmend sammelte sich Jared, er durfte auf keinen Fall übereifrig oder zu bemüht wirken. Er musste sachlich die Vorteile vortragen, durfte auf gar keinen Fall die Nachteile verschweigen, damit er nicht parteiisch wirkte. Lässig zuckte er mit der Schulter: „Er kann in diesem Zustand in den Kolonien noch viele Lebensjahre ernten, zwar fehlt ihm nach einer Lobotomie sämtliche Empathie, aber die wird er in den Kolonien dort draußen auch nicht wirklich brauchen. Eine Außerdienststellung und Verlegung zum Rescue-Planet wäre Ressourcenverschwendung. Selbst wenn er nur drei oder vier Monate abliefern kann, ist das immer noch besser als die Alternative. Aber das ist ihre Entscheidung, ich kann nur eine Stellungnahme abgeben, was sie im Endeffekt daraus machen, ist ihre Sache.“ Vollkommen neutral klang Jareds Stimme und die Reaktion seines Gegenübers bestätigte ihm, dass er genau die richtige Mischung gefunden hatte. Er klang einerseits rechtfertigend, schließlich hatte er sein angegebenes Ziel nicht erreicht, und andererseits beleidigt, weil Mitchell ihn hatte so lange warten lassen. Ein bellendes Lachen von Mitchell und dessen entspanntes Zurücklehnen in den Bürostuhl überzeugten Jared davon, dass er seine Sache gut gemacht hatte.
„Gut, gut. Ich denke ich werde ihrer Empfehlung folgen und 136 wird in die Kolonien verlegt. Das wäre dann alles, Attwell“, komplimentierte der Kontroller seinen Gast im Prinzip einfach zu seiner Bürotür hinaus.
Ruckartig kam Jared auf die Beine und ließ die Empörung in seinem Inneren zu, erlaubte sich diese Emotion zu zeigen, gleichzeitig nutzte er ein leicht tuntiges Gehabe, um den Kontroller davon zu überzeugen, dass er den Rausschmiss beleidigt akzeptierte. Mit seinem schwulen Verhalten hielt er diesen gleichzeitig auf Distanz. Da er eigentlich überhaupt nicht dazu neigte, bereitete es ihm ein nahezu abartiges Vergnügen, den voreingenommenen Bürohengst auf diese Art zu täuschen.
Doch bevor es Jared die Tür hinaus schaffte, hielt ihn Mitchell ein letztes Mal auf. Dieser schob ihm eine Datenfolie hin und Jared beugte sich automatisch darüber um sie zu lesen. Zeitgleich erhielt er aber vom Kontroller auch die passende Erklärung dazu: „Das ist die Empfehlung für die Lobotomie morgen Früh und die Verlegung von 136. Es ist wesentlich unbürokratischer, wenn ein Wissenschaftler gegenzeichnet, dann muss das Ganze nicht vors Komitee.“
Das Komitee genehmigte solche „Sondervorgänge“ und war gewissermaßen die letzte Instanz, bevor ein Jugde-Man außer Dienst gestellt oder lobotomiert und an den Rand verlegt wurde. Seufzend beugte sich Jared nach vorne und drückte seinen Daumen augenrollend auf das Schriftstück. Seine Reaktion deutete an, dass er sich vom Kontroller leicht missbraucht fühlte, denn dieser wollte nur den bürokratischen Weg abkürzen. Wenn nämlich ein Dokument mit einer Beurteilung von zwei unterschiedlichen Abteilungen vorgelegt wurde, neigte das Komitee dazu, es einfach durchzuwinken und keine Anhörung abzuhalten. Natürlich zeichnete Jared gegen, denn so verringerte sich das Risiko für 136.