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Woher kommen wir, wohin gehen wir? Die Ursprünge des Menschen, sein Weg, seine geistige und spirituelle Entwicklung dargestellt in einem sehr persönlichen Interviewband. Ein Interviewband mit Wolf-Dieter Storl über die Ursprünge des Menschseins, die Evolution unseres Bewusstseins und die Entwicklung von Spiritualität und Religion von der Jungsteinzeit bis heute, von der Höhlenmalerei bis zur Kathedrale. Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was können wir von alten Wegen lernen? Die großen Fragen werden mit seinen Erfahrungen bei indigenen Völkern, besonders den amerikanischen Indianern, verbunden und in den Kontext unserer modernen Welt gestellt. Ausblicke in vorstellbare oder wünschenswerte Entwicklungen der Zukunft runden diesen außergewöhnlichen Band ab.
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Seitenzahl: 203
Buch
Woher kommen wir, wohin gehen wir? Was können wir von alten Wegen lernen? Wie kann unsere Spiritualität aussehen, wenn wir die Botschaften aus der Frühzeit der Menschheit hören und ihnen in unserem Leben Raum geben? Der Kulturanthropologe und Ethnobotaniker Wolf-Dieter Storl antwortet auf die großen Fragen unseres Lebens, verknüpft sie mit seinen Erfahrungen bei indigenen Völkern – besonders den amerikanischen Indianern – und stellt sie in den Kontext unserer modernen Welt. Ein sehr persönlicher Interviewband, der uns zurück zu unseren Wurzeln führt.
Autor
Dr. Wolf-Dieter Storl, geboren 1942, ist Kulturanthropologe und Ethnobotaniker. Er wanderte 1954 mit seinen Eltern in die USA (Ohio) aus, wo er die meiste Zeit in der Waldwildnis verbrachte. Nach dem Studium der Botanik und Völkerkunde an der Ohio State University lehrte er als Dozent für Soziologie und Anthropologie an der Kent State University. 1974 promovierte er als Doktor der Ethnologie in Bern. Seine zahlreichen Reisen und Feldforschungen prägen sein Denken und finden ihren Niederschlag in vielen erfolgreichen Büchern. Wolf-Dieter Storl lebt seit 1988 mit seiner Familie auf einem Einsiedlerhof im Allgäu.
Außerdem von Wolf-Dieter Storl im Programm
Kräuterkunde, Kailash Von Heilkräutern und Pflanzengottheiten, Kailash Die alte Göttin und ihre Pflanzen, Kailash Schamanentum, Kailash Mein amerikanischer Kulturschock, Kailash
Wolf-Dieter Storl
Unsere Wurzeln entdecken
Ursprung und Weg des Menschen
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Deutsche Ausgabe Februar 2024
Copyright © 2009 der Originalausgabe: Aurum in Kamphausen Media GmbH, Bielefeld
Copyright © 2024 dieser Ausgabe: Kailash, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Konzeption und Interview: Dirk Grosser
Lektorat: Regina Rademächers, Dirk Grosser
Covergestaltung: Wilfried Klei
Covermotiv: © Björn Gaus (Autorenfoto), © Fotolia/rgbspace (prehistoric hunter – cave painting reproduction)
Satz: Wilfried Klei
ISBN 978-3-641-37064-0V001
www.kailash-verlag.de
EINFÜHRUNG
1
WANN IST DER MENSCH EIN MENSCH?
2
DIE WIEGE DER MENSCHHEIT
3
WERKZEUG UND FEUER – DIE GROSSE VERÄNDERUNG BEGINNT
4
EIN BLITZ IN DER NACHT – DAS AUFBRECHENDE BEWUSSTSEIN
5
DAS GESCHENK DER SPRACHE
6
DIE TOTEN EHREN – ERSTE RELIGIÖSE RITEN
7
VATER HIMMEL, MUTTER ERDE – EINE NATÜRLICHE SPIRITUALITÄT
8
STEINKREISE UND HÖHLEN – DEN HIMMEL AUF DIE ERDE BRINGEN
9
VOM JÄGER ZUM BAUERN – NEUE WEGE, NEUE GÖTTER
10
STADT UND LAND, CHRISTENTUM UND HEIDENTUM
11
INDIGENE VÖLKER HEUTE – ABORIGINIES, NAGA, SANTAL UND PYGMÄEN
12
ERFAHRUNGEN BEI DEN CHEYENNE
13
HIER UND JETZT – WAS BEDEUTET ES, MENSCH ZU SEIN?
14
AUSBLICK – GEHT DIE EVOLUTION WEITER? WIRD DIE MENSCHHEIT ÜBERLEBEN?
SCHLUSSBEMERKUNG
Dirk Grosser vom Aurum-Verlag fragte mich, ob ich bereit wäre ein Interviewbuch zum Thema Wurzeln der Menschheit, der Kulturen und der Bedeutung der Naturvölker mit ihm zu machen. Da ich ihn als einen sehr offenen, mitfühlenden Menschen kennengelernt hatte, der sehr an philosophischen Themen interessiert ist, sagte ich gerne zu. Ich war mir sicher, dass es ein interessantes Projekt sein würde. In den letzten Jahrzehnten habe ich mich zwar mit Wurzeln befasst, aber es waren vor allem Wurzeln der Heilpflanzen und der Pflanzenheilkunde. Die Beschäftigung mit den Wurzeln der Menschheit, mit der Urgeschichte, den Vormenschen, Prähominiden und Primaten liegt weiter zurück. Ich hatte ja einst das Fach Anthropologie studiert und anschließend gelehrt, aber das scheint mir heute wie ein vergangenes Leben. Da musste ich tief in der Erinnerung graben. Als Anthropologiestudenten mussten wir damals sämtliche Fundorte und sämtliche Knochen- und Steinwerkzeugfunde auswendig lernen und aus dem Gedächtnis hervorrufen können. Das war etwa wie ein Telefonbuch auswendig lernen müssen. Davon ist aber wenig hängen geblieben. Nach dem Grundstudium wurde ich Assistent bei Prof. Luanna Pettay, Paläoanthropologin an der Kent State University in Nordost-Ohio. Ihr Spezialgebiet waren die Neandertaler. Sie schien diese Urmenschen aus der Mittelsteinzeit (Mesolithikum) richtig zu lieben. Ihre Hypothese war, dass Neandertaler keine gesonderte Art der Gattung Homo waren, sondern lediglich eine fortgeschrittene, an dieklimatischen Bedingungen der Eiszeit und Zwischeneiszeit bestens angepasste Rasse war. Sie waren physisch kompakt, wie etwa die Inuit heutzutage; ihre dicken Augenwülste waren nicht äffisch, sondern schützten Gesicht und Augen vor Kälte. Sie war überzeugt, dass ihre materielle Grundausstattung zwar einfach war, aber dass sie – ähnlich den australischen Ureinwohnern – eine hoch entwickelte Geisteskultur hatten. Neandertaler hatten ja ein Hirnvolumen (1200-1750 cm2), welches dasjenige der nachfolgenden Cro-Magnon Menschen (1100-1400 cm2) deutlich übertraf. Die Letzteren, eine aggressive „Killer-Rasse“ aus Nordafrika, habe die friedlicheren Neandertaler dann nach der Eiszeit verdrängt und teilweise absorbiert. Prof. Pettay war selber recht menschenscheu, sie litt an dem Konkurrenzgeist der innerhalb der Fakultät herrschte. Sie fühlte sich wohler mit ihren fünf Weimaraner Hunden als mit ihren Kollegen. Ich vermute, sie sah sich selber als sensible Neandertalerin unter lauter aggressiven Cro-Magnon.
Die Anthropologie zu jener Zeit glaubte sich im Besitz gesicherter unumstößlicher wissenschaftlicher Daten, was die Evolution der Menschen betraf. Nach damaliger Erkenntnis hatte es vier Eiszeiten in den letzten Millionen Jahren, im Pleistozän, gegeben. Zu Beginn der Eiszeitperioden gab es, was Vor- oder Frühmenschen (Hominide) betrifft, lediglich die Australopithecinen im tropischen Afrika. Diese „Südaffen“ mit einem Hirnvolumen nicht viel größer als die der Menschenaffen benutzten primitive Geröllsteine als Werkzeuge. Dann kam die erste Kaltzeit (Günz-Glazial). Dieser weltweite Klimawandel übte, im darwinistischen Sinn, erheblichen Selektionsdruck auf die Australopithecinen aus. Mutationen brachten eine weiter entwickelte Art hervor, nämlich den Pithecanthropoiden (Homo erectus), mit größerem Hirnvolumen und besseren Steinwerkzeugen. Eine weitere Eiszeit (Mindel-Glazial) bedeutete abermals starken Selektionsdruck. Homo erectus – Hirnvolumen 1200cm 2 –, entwarf bessere zweiseitige Faustkeile, zähmte das Feuer. Nach der nächsten Eiszeit (Riss-Glazial) wieder eine evolutionäre Weiterentwicklung: Voilà, der Neandertaler! Und die letzte Eiszeit bescherte uns den Homo sapiens, den „weisen Menschen“. Fortschritt in vier Stufen. So stellte man sich die Evolution – hier stark simplifiziert dargestellt – vor.
Ein wunderbar schlüssiges Gedankengebäude war das, belegt durch (ein paar spärliche) Funde an Zähnen, Schädelresten, Knochen und Feuersteinsplittern. Wie so oft in der Wissenschaft zeigten sich Risse in dem schönen Gebäude: In der ostafrikanischen Olduvai Schlucht entdeckten Mary und Louis Leakey Reste von Hominiden, die auf etwa drei Millionen Jahre datiert wurden und jede bisherige Vorstellung des Alters der Urmenschen sprengten. Prof. Pettay konnte sich nicht entscheiden, ob die Datierung falsch war oder ob es doch stimmen könnte. Inzwischen rücken neue Entdeckungen den Ursprung der Menschen immer weiter zurück, und offensichtlich hat es nicht nur vier Eiszeiten gegeben.
Was den Neandertaler betrifft, da herrscht zurzeit wenig Einstimmigkeit in der Wissenschaftsgemeinde. Aufgrund von DNA-Analysen wird behauptet, der Neandertaler sei eine inzwischen ausgestorbene, vom modernen Menschen zu unterscheidende Art. Das genetische Material sei zu unterschiedlich. Wer weiß? Vervielfältigung von DNA ist eine delikate, fehleranfällige Angelegenheit – Bakterien, Pilze, Nagetiere, Schweiß, Speichel können die Resultate leicht verfälschen. Man sah es an den Analysen ägyptischer Mumien. Da wurden Mikrospuren von Coca und Nikotin gefunden, was die Möglichkeit von Kontakten der pharaonischen Ägypter mit präkolumbianischen amerikanischen Kulturen ins Gespräch brachte. Wahrscheinlicher ist, dass die Spuren von unvorsichtigen, koksenden, Zigaretten paffenden Archäologen stammen. Andere DNA-Analysen von Neandertal-Material lassen keinen Zweifel, dass diese Früheuropäer lediglich ein an die Kälte angepasster Seitenzweig der Menschen waren und dass sie in unseren Genen weiterleben. Diesen Analysen zufolge ist der genetische Unterschied nicht größer als derjenige zwischen den heutigen Nordeuropäern und Westafrikanern.
Einige Jahre nach der Zeit an der Kent State University – was mir im Nachhinein wie ein anderes Leben vorkommt – stieß ich auf die Lehren Rudolf Steiners. Es geschah im Zusammenhang mit einer Feldforschung, die ich in einer anthroposophisch orientierten Kommune im Kanton Genf unternahm. Auch Steiner und die Anthroposophen interessieren sich für die Menschheitsentwicklung. Bei ihnen geht es aber in die andere Richtung. Ihnen zufolge hat sich der Mensch nicht durch zufällige Mutationen im Laufe der Äonen aus einer materiellen Ursuppe entwickelt, sondern der Menschengeist, der geistige Archetypus, hat sich im Laufe der Evolution immer mehr in der Materie verkörpert. Menschheitsentwicklung und Evolution überhaupt ist die Geschichte der fortschreitenden Verkörperung geistiger Urbilder. Das ist natürlich ein ganz anderer Ansatz als den, den ich kannte, und da er folgerichtig durchdacht ist, konnte ich ihn nicht einfach beiseite wischen. Der Mensch hat einen geistig-göttlichen Ursprung, er trägt als Mikrokosmos den gesamten Kosmos, die ganze Schöpfung in Miniatur in sich und in der Gestalt des Christus wurde die Verkörperung vollständig. Christus ist sozusagen der erste voll verkörperte Mensch. Das musste ich erst einmal verdauen. Zehn Jahre hat der Verdauungsprozess gedauert. Steiner öffnete eines der Tore, die mich aus einem, vom positivistisch naturwissenschaftlichen Paradigma geprägten Raum in eine neue Sichtweise herausführten. Es folgten weitere Tore: Indien mit seiner alles durchdringenden Spiritualität und seinen Sadhus, die die Kraft haben, die Götter sichtbar erscheinen zu lassen; die Cheyenne-Indianer und ihre Medizinleute, für die jeder Stein, jede Wolke, jeder Fluss, jede Pflanze, jedes Tier beseelt und ansprechbar ist; der Bauernphilosoph Arthur Hermes, für den die Erde eine Mutter und die Sonne der kosmische Christus ist. Diese Tore führten mich hinaus aus der engen Welt des E=MC2, der angsterfüllten Existenzphilosophie oder des Glaubens an einen abstrakten Gott, der, wenn es ihn überhaupt gibt, jenseits der Schöpfung lebt.
Wann kann man zum ersten Mal von einem Menschen sprechen?
Es scheint, dass der Mensch sich zum ersten Mal als Mensch zeigte, als er das Feuer entdeckte und die Sprache entwickelte. Denn das unterscheidet ihn von anderen Tieren. Alle Tiere haben Angst vor dem Feuer, und Tiere sprechen nicht wie wir, wenigstens nicht auf dieser Ebene, auf der wir uns befinden. Tiere geben einander Signale, Zeichen, die immer auf das Hier und Jetzt und auf die Gegenwart bezogen sind. Aber wir können heraustreten aus dem Hier und Jetzt und können Bezug nehmen auf Vergangenheit und Zukunft.
Wie unterscheidet sich der Mensch von anderen Hominiden?
Ich denke, es ist ein gradueller Unterschied. Die frühen Hominiden werden Steine oder Stöcke aufgehoben und als Werkzeug benutzt haben, so wie es Schimpansen und andere Primaten auch tun. Sie werden auch ein kompliziertes System von Signalen gehabt und zum Teil auch über Gestik und Mimik kommuniziert haben. Aber es muss irgendwann ein Zeitpunkt gekommen sein, an dem irgendeiner der Hominiden, vielleicht ein Australopithecus oder Homo erectus, das Feuer nutzen, z.B. einen brennenden Ast greifen und sich selbst herausnehmen konnte aus dem direkten Bezug zu seiner Umwelt. Mein Eindruck ist, dass das damit zu tun hat, dass bei den Menschen der kindliche Spieltrieb vorhanden war. Sie konnten spielerisch mit einem Feuer umgehen. Bei Tieren ist es auch so, dass die Jungtiere oft sehr verspielt sind, bis sie dann älter werden und ihr Verhalten zum großen Teil durch Instinkte geführt wird. Aber beim Menschen wird der Spieltrieb beibehalten. Überhaupt ist der Mensch, oder sind die Hominiden, ein Leben lang wie Jungtiere. Wir haben ja auch keine nennenswerte Körperbehaarung – und wenn man Affen beobachtet, sehen die Jungaffen viel menschlicher aus als die Altaffen. Und wir haben nicht nur physisch die Charakteristika von Jungtieren behalten, sondern auch in unserem Verhalten. In uns ist eine ständige Neugierde. Und irgendwann – für mich ist das so wie ein Blitzschlag des Bewusstseins – hat irgendein Primat die Furcht überwunden und das Feuer greifen können. Das ist wie das Überschreiten einer Schwelle, ein Übergang zu einer neuen Seins-Weise.
Ich stelle mir das so vor wie die Annäherung an ein seltsames Tier. Das Feuer erschien vielleicht wie ein Tier, das auch beißt, wenn man ihm zu nahe kommt. Und dem sich vorsichtig aber mit Neugierde angenähert wird. Und dann merkt man, dass man etwas damit tun kann.
Ja, genauso muss man sich das vorstellen.
Warum sind die Hominiden überhaupt von den Bäumen herabgestiegen? Die anatomische Umstellung vom Klettern auf Bäumen zum aufrechten Gang ist doch enorm. Wie ist das vonstatten gegangen und was hat die Hominiden dazu gebracht, das zu tun?
Die Wälder im Miozän, die ausgedehnten tropischen Wälder, in denen diese Primaten lebten, schrumpften, und es kam zu einer Art Konkurrenz, wer in den schönen Bäumen bleiben konnte und wer nicht. Die Schwächeren mussten ihre Plätze räumen und sich mehr oder weniger auf die Erde begeben. Es gibt ja Übergangsformen in den Fossilien: Man sieht, dass bei den ganz frühen Prähominiden die Zehen noch viel beweglicher waren, noch viel besser greifen konnten. Die sind zwar immer wieder in die Bäume geklettert, waren aber mehr am Erdboden, denn sie waren eigentlich die Verlierer des Wettbewerbs um die Bäume. Nun muss man sehen, dass die Hominiden, oder die Vorfahren von Menschen und Menschenaffen, eine Voranpassung, eine Präadaption zum aufrechten Gang hatten. Denn sie sind ja nicht wie Eichhörnchen kopfüber geklettert, sondern sie sind aufrecht durch die Bäume geklettert, in einer senkrechten Körperposition. Dann waren sie noch nicht so weit entwickelt wie die Ponginae und die Gorillas und Orang-Utans, dass sie diese überlangen Arme für das Hangeln hatten. Das Aufrechte war also schon ein bisschen vorgegeben. Und das hat ihnen natürlich auch gewisse Vorteile gebracht. Sie konnten besser über die Savanne blicken und mit ihren frei gewordenen Händen konnten die Jungen getragen und Stöcke, Steine oder Nahrungsmittel aufgehoben werden. Das gab ihnen einen Überlebensvorteil. Diese frühen Hominiden haben sich nicht zu dieser Lebensweise entschieden, sie wurden aus dem Urparadies, den Früchte tragenden Bäumen, herausgedrängt.
Es hängt sehr viel von unseren fünf Fingern ab, unserem Greifwerkzeug. Hände sind nicht spezialisiert, anders als die Gliedmaßen der meisten Tiere. Pferde sind z. B. extrem spezialisiert, sie laufen im übertragenen Sinn nur auf den Mittelfingern. Und wir haben unsere Flexibilität in der Entwicklung beibehalten. Wir sind in den Wäldern zu Menschen geworden, wir sind Kinder der Wälder. Wir haben dort etwas entwickelt, was uns heute noch zugute kommt und das ist die direkte Verbindung von Sehen und Handeln. Wir be-greifen tatsächlich die Welt. Und wer von einem Ast zum anderen sprang und nicht richtig be-griff, der konnte sich nicht im Erbstrom verankern. Es gab eine extreme Selektion in Richtung Hand-Auge-Verbindung, was Vorbedingung war für die Werkzeugherstellung. Auch das Farbsehen ist uns in den Wäldern zugute gekommen, denn nicht jedes Tier sieht in Farben. In einem dichten Blätterwald mit verschiedenen grünen Schattierungen, da leuchten Früchte rot oder gelb oder orange hervor, und dann wird das Farbsehen ein großer Vorteil. Das scheint mir bis zur heutigen Zeit nachzuwirken. Wenn die Ampel grün zeigt, fahren wir weiter. Zeigt sie rot, bleiben wir stehen. Das sind Reste unserer Wurzeln, die uns in unserer Biologie und in der Anpassung an die Umwelt, auf dem Weg zum Menschsein, geholfen haben.
Die Hand-Augen-Koordination und das Farbsehen haben ja mit unserem Gehirn zu tun, wo die Informationen verarbeitet werden. Und je entwickelter ein Gehirn, desto entwickelter die Fähigkeiten.
Ich habe gehört, dass durch die Aufnahme von Fleisch in die Ernährung, durch eine erhöhte Proteinzufuhr, das Gehirn wachsen konnte und wir dadurch mehr Möglichkeiten bekamen. Kann man also sagen, dass die Jagd oder das Verteidigen von Aas den Menschen zum Menschen gemacht hat?
Auch, ja. Das Hirn verbraucht ja am meisten Energie von allem, vom ganzen Körper. Was phänomenal war, ist die Zunahme der Hirnkapazität, in Kubikzentimetern gemessen. Wie viel ist das beim Schimpansen oder beim Menschenaffen? So um die 350 Kubikzentimeter. Beim Australopithecinen waren es vielleicht 500. Beim frühen Homo habilis – Homo habilis wegen seiner Fähigkeit, Werkzeuge zu erstellen – bis zu 800 Kubikzentimeter. Beim Homo erectus, der ja wirklich schon als Mensch gelten kann, waren es so um die 1000 bis 1200 Kubikzentimeter. Eine Evolution, die sehr schnell ging. Dann der Mensch der Mittelsteinzeit, der Neandertaler, der hatte eine Gehirnkapazität zwischen 1300 und 1750. Der überschreitet schon die Gehirnkapazität des modernen Homo sapiens. Wir sehen hier eine Entwicklung innerhalb von ca. zwei Millionen Jahren, wie eine Explosion, eine pilzartige Explosion des Hirns. Es gibt Anthropologen, die meinen, dass diese Protein- oder Eiweißzufuhr sehr wichtig war, um diese Entwicklung zu unterstützen. Die Eiweißaufnahme hat sicher mit Beginn der Jagd zugenommen, das ist klar, und besonders als dann Frühmenschen in die nördlicheren Bereiche kamen, spielte die Jagd eine größere Rolle. Aber Eiweißquellen waren immer wichtig: Insekten, Käfer und Larven wurden vorher schon gegessen und man sieht ja auch, dass Schimpansen ab und zu auf die Jagd gehen. Schimpansen jagen sogar Paviane, fressen manchmal Fleisch. Also es ist nicht so, dass die Hominiden plötzlich anfingen, Fleisch zu fressen, es hat sich nur gesteigert. Unser Gebiss ist das eines Allesfressers. Der Mensch ist nicht exklusiv ein Früchtefresser, so wie viele Affenarten, sondern er ist ein Allesfresser, bis zum heutigen Tag.
Dieses größere Gehirn befähigt uns zu größeren Denkleistungen. Die Werkzeugherstellung hast du schon erwähnt, aber auch die Wissensvermittlung an andere Mitglieder der Gruppe oder an die nächste Generation, die Organisation der Gruppe, inklusive Arbeitsteilung.
Was genau bot denn wohl den entscheidenden evolutionären Vorteil?
Ich denke, eigentlich all das. Zum Teil die Kooperation der Gruppe, die ja immer miteinander kommunizieren muss. Dann die Werkzeuge oder vielmehr die Werkzeugtradition. Das heißt, die Jüngeren oder auch andere Mitglieder der Gruppe begreifen oder sehen und ahmen die Form nach. Die Steinwerkzeug-Technik der meisten Homo erecti ist über Jahrhunderttausende mit nur kleinen Änderungen beibehalten worden. Das sind Traditionen. Aber vielleicht sollte man das nicht so überbewerten, denn viele Dinge wurden gar nicht erfunden. Die Pflanzenkunde wurde nicht erfunden, sondern die Tiere wissen instinktiv, durch ihre Nase, durch guten oder schlechten Geruch, ob etwas bekömmlich ist oder nicht, oder ob etwas für sie heilend wirkt.
Bei manchen Schimpansengruppen haben sich richtige Heilkräuter-Traditionen entwickelt, die andere Schimpansengruppen nicht haben. Darauf haben Jane Goodall, Richard Wrangham und andere Schimpansenforscher hingewiesen. Da kommen die Schimpansen und füttern ihre Jungen mit irgendeinem Kraut, oder sie geben ein bitteres Blatt, und die Kleinen mögen das überhaupt nicht und sträuben sich, so wie wenn man einem Kind Lebertran geben würde. Das wurde dann untersucht und es wurde festgestellt, dass dieses bestimmte Kraut z. B. gegen Darmparasiten wirkt, die nur zu einer ganz gewissen Zeit im Jahr auftreten, beispielsweise nach oder während der Regenzeit. Die Schimpansen gehen weite Strecken, suchen dieses Kraut, rollen es zusammen, würgen es herunter und schlucken es. Sie bringen es ihren Kindern und zwingen diese es ebenfalls zu schlucken. Und das ist gelerntes Verhalten. Das ist Wissen, das von einer Generation an die andere weitergegeben wird, das ist eine Tradition, die nicht in allen Schimpansengruppen praktiziert wird.
Ich bin nicht einer, der gerne schwarz-weiß denkt, der immer weiter abgrenzt. Übergänge in der Evolution sind fließend, aber im Fall des Feuers scheint es wie ein plötzliches Satori-Erlebnis gewesen zu sein. Aber sonst ist der Übergang vom Tier zum Mensch ein relativ gradueller, und oft verhalten wir uns immer noch wie Tiere.
Also würdest du sagen, dass eigentlich der gesamte Komplex des Lernens den Vorteil bot, dass wir uns weiterentwickeln konnten …
Ja, jedes Tier hat in der Evolution seine Nische gefunden und hat sich dann spezialisiert. Bei den Hominiden ist die Spezialisierung nicht so streng. Aber dennoch war der Fokus der Evolution bei den Menschen eben das Gehirn. Kein Tier hat so einen großen Kopf, kein Tier braucht so einen großen Kopf. Die meisten Tiere müssen nicht so viel denken, weil der Instinkt sie leitet. Ich sehe das bei den Hunden, die brauchen nicht zu denken. Sie schnuppern in die Luft, und da ist zwei Kilometer weiter eine läufige Hündin, und sie folgen ihrer Nase.
Ich glaube, das tun Menschen auch. Sie denken bloß, dass sie denken würden … Gerade im Bereich der Sexualität sind wir viel animalischer, als wir uns eingestehen wollen.
Ja, aber bei uns ist das zum Teil sehr überlagert vom Denken. Wie mein Vater sagte: „Je gelehrter, desto verkehrter.“ Einige versuchen, alles mit Denken zu bewältigen und verlieren dann den Bezug zu ihren Instinkten. Obwohl manch einer behauptet, der Mensch sei allein ein kulturelles Wesen und habe keine Instinkte. Ich denke, das ist übertrieben. Wir haben rudimentär noch sehr viele Instinkte, wie z. B. den Geruchssinn, der uns vieles sagen kann. Wir sprechen ja tatsächlich davon, dass man jemanden nicht riechen kann. An einem wohlriechenden Ort fühlen wir uns gut, und Dämonen und Teufel, die stinken.
Die Entwicklung des Menschen führte vermutlich über die Hauptstufen Ardipithecus ramidus, Australopithecus afarensis, Homo rudolfensis, Homo habilis und Homo ergaster bzw. Homo erectus und schließlich zu Homo sapiens. Warum ist der Homo sapiens die einzige Art, die diese Entwicklung überlebt hat?
Das klingt sehr präzise, als ob es diese Stadien tatsächlich gegeben habe. Es kommt darauf an, mit welchen Anthropologen man spricht und welche Theorien sie vertreten. Bei jeder Klassifikation gibt es Zusammenfüger und Spalter, also Einige, die verschiedene Arten oder verschiedene Erscheinungen zusammenfügen und das dann als eine Art bezeichnen und Andere, die viele Unterteilungen vornehmen, alles aufspalten. Ganz allgemein kann man sagen, dass die Reihenfolge über Australopithecus, das ist der „südliche Affe“, führte, über den Homo habilis bis hin zu Homo erectus, und dann geht es zu Homo sapiens und als Zwischenart wird dann oft der Neandertaler bezeichnet, was ich allerdings nicht so sehe. Für mich ist der Neandertaler keine Zwischenart, für mich ist der Neandertaler auch nicht ausgestorben. Über die menschliche Evolution gibt es sehr viele unterschiedliche Ansichten. Wir finden natürlich viele Knochen und Gerätschaften und immer mehr werfen viele neue Dinge, die wir finden, neue Rätsel auf. Auch genetische Untersuchungen von Überresten führen dazu, dass diese Theorien immer wieder verworfen werden. Aber so eindeutig klar ist das alles nicht. Das ist nicht eine so exakte Wissenschaft wie, sagen wir mal, die Chemie oder die konventionelle Physik.
Wir haben die Idee einer stufenweisen Abfolge, aber so ist Evolution nicht. Es gibt Übergänge, sehr schnelle Entwicklungssprünge, und es gibt genauso Eigenschaften, die sich erhalten. Der sogenannte Peking-Mensch hatte schon vor 300.000 Jahren schaufelförmige Schneidezähne. Im indonesischen Raum gibt es bei der heutigen Bevölkerung Merkmale, die eigentlich nur einem angeblich ausgestorbenen Urmenschen zugesprochen werden.
Ich bin nicht wirklich überzeugt von dem Phänomen des kompletten Aussterbens frühmenschlicher Formen.
Wir haben wirklich nicht genügend Funde, und da sind so viele Lücken und so viele Möglichkeiten, dass es sehr einfach ist, gegenwärtige Überzeugungen oder Weltbilder dort hineinzuprojizieren.
Es gibt also auch in der Anthropologie Theorien, die von unseren kulturellen Vorurteilen bestimmt werden?
Der erste Neandertaler wurde 1856 gefunden. Damals sagten die sogenannten Experten, das sei sicherlich ein ungewöhnlicher kranker Mensch, ein moderner Mensch, vielleicht ein Kosake aus den Kriegen Napoleons. Ein Experte behauptete, es sei ein rachitischer Typ, man sähe ihm an, dass er in kalten, zugigen Hütten gelebt und nur Kartoffeln gegessen habe. Und dann später, als der Darwinismus seinen Aufschwung erlebte, da hat man dann die Hoffnung gehabt, dass dieser Fund, als so genanntes „Zwischenglied“ oder missing link die Evolution beweist.
Darwin sagte ja, wir hätten unsere Wurzeln in den Primaten, in den Affen. Deshalb wurde, als dann erkannt wurde, dass der Neandertaler vielleicht doch archaisch ist, dieser sehr äffisch rekonstruiert. Marcellin Boule, ein großer Rekonstrukteur von fossilen Funden, hat dann den Neandertaler so rekonstruiert, dass er aussah, als laufe er gebückt. Das Gesicht wurde sehr äffisch gestaltet, denn das passte in das ideologische Schema der Evolution. Die Entwicklung musste vom Affen bis hin zum modernen Menschen führen.
Der Homo sapiens wurde dann aufrecht und edel dargestellt und der Neandertaler gebückt und primitiv. Er habe keine Sprache besessen und kein Feuer, er habe nur Grunzlaute von sich gegeben. Er habe eine platte Nase gehabt, wie die „zurückgebliebenen Rassen in den Tropen“ … Die ganzen Vorurteile dieser Zeit kommen in diesen Theorien zutage. Aus diesem Grund bin ich sehr, sehr skeptisch, was „wissenschaftliche Aussagen“ angeht.