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Im zweiten Band über die Geschicke der Bewohner des kleinen, beschaulichen Dorfes Ellerndörp entwickelt die Geschichte um die junge Erika zwischen dem hart arbeitendem, früh verwaisten Dorfbewohner Wigand und dem "gottbegnadeten" Musiker Joel eine neue Dramatik, die im ersten Teil bereits angelegt ist, nun aber erst voll an Fahrt gewinnt und unerbittlich auf die entscheidende Krise zusteuert. Während sich Wigand in inniger, selbstloser Liebe um Erika bemüht, gerät sie ins Zweifeln: Ist der schöne, begabte Joel wirklich der Liebenswertere von beiden? Und dann ist daneben noch Erikas Tätigkeit als Schriftstellerin, die sie aller Welt verheimlicht, selbst ihrem zukünftigen Gatten. Als sich dann erste literarische Erfolge einstellen – vielleicht ist ja Erika selbst die wahre "Gottbegnadete"? –, führt dies zu allerhand Verwicklungen. Aber auch in der Liebe muss sich Erika entscheiden, was schließlich zwei Menschen das Glück und einem dritten ein tragisches Ende beschert. Nataly von Eschstruth stellt mit diesem eindrucksvollen Doppelroman ein weiteres Mal unter Beweis, warum sie, neben Hedwig Courths-Mahler, eine der meistgelesenen Unterhaltungsautorinnen ihrer Zeit war.Nataly (Natalie) Auguste Karline Amalie Hermine von Eschstruth (1860–1939; (Ehename: Nataly von Knobelsdorff-Brenkenhoff) war eine deutsche Schriftstellerin und eine der beliebtesten Erzählerinnen des Wilhelminischen Zeitalters. Sie schildert in ihren Unterhaltungsromanen in eingängiger Form vor allem das Leben der höfischen Gesellschaft, wie sie es aus eigener Anschauung kannte. Sie entstammte einer hessischen Familie und war die Tochter des königlich preußischen Majors Hermann von Eschstruth (1829–1900) und der Amalie Freiin Schenck zu Schweinsberg (1836–1914). 1875 durchlief sie eine Ausbildung in einem Mädchenpensionat in Neuchâtel in der Schweiz und bereiste später die wichtigsten europäischen Hauptstädte. Von Eschstruth schrieb Frauenromane, die in der Schicht der wilhelminischen Adelsgesellschaft oder bei hohen Hofbeamten spielen und erzählt dort fiktiv-biographische Geschichten. Das Umfeld der Romane ihrer Hauptschaffensperiode in den 1880er und 1890er Jahren vermittelt heute einen Eindruck von alltäglichen und historischen Details; vom Unterhaltungswert haben von Eschstruths Bücher nichts eingebüßt.-
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Seitenzahl: 328
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Nataly von Eschstruth
Roman
Mit Illustrationen von A. Mandlick.
Saga
Von Gottes Gnaden - Band II
German
© 1894 Nataly von Eschstruth
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711448175
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Wundersame Nacht! — Es dunkelt so früh, — die Wolken jagen wie phantastische Spukgebilde über den fahlen Himmel, und grell, unvermittelt, wie von Geisterhänden launisch geworfen, zucken blasse Mondstrahlen über die stille Welt, wenn die Dunstmassen sich teilen oder gleich flatternden Schleiern zerreissen.
Der Sturm saust daher, wirbelt welkes Laub auf und treibt es dem einsam schreitenden Mann ins Gesicht; kühl, regenfeucht.
Still ringsum, — totenstill, nur in den Bäumen rauscht und ächzt es, und das Hofthor schmettert ins Schloss.
Von Mensch und Tier kein Laut.
Nur dort naht eine dunkle, schattenhafte Gestalt. Der Schritt verklingt in dem weichen Erdreich, kein Mantel flattert und klatscht im Wind, Wigand verschmäht ihn bei seinem abendlichen Rundgang. Langsam, gedankenvoll schreitet er dahin, ahnungslos, dass auf der Veranda, im Dunkel des Pfeilers eine schlanke Mädchengestalt lehut, welche mit vorgeneigtem Köpfchen auf ihn nieder schaut.
Erika.
Ihr Blick umfasst die Gestalt des jungen Mannes, als schaue sie ihn zum erstenmal. Und just, als wolle er ihr liebevoll helfen, schiebt der Mond sein freundlich Gesicht durch die Wolken und verklärt den einsamen Wandrer mit Silberlicht.
Erika sieht ihn vor sich, in der verspotteten Düffeljoppe, in den mächtigen Stiefeln, welche sie sonst so unschön und lächerlich gefunden.
Heute kam ihr kein ähnlicher Gedanke. Sie hat nur noch das Empfinden, eine hohe, markige Männergestalt zu sehen, so fest und eisern, dass alle Versuchung und alle Anfechtung der Welt sie nicht ins Wanken zu bringen vermögen.
Und dann schaut sie in sein Angesicht.
Das Mondlicht umgibt es mit einem Glorienschein — oder liegt es nur an dem Auge der Lauschenden, dass es ihr deucht, von dem ruhigen, treuen Antlitz gehe ein Strahlen aus, ebenso rein, ebenso makellos hell, wie die Seele, welche hinter dieser Stirn wohnt? —
Er sieht nicht glücklich, nicht heiter aus, im Gegenteil, eine stille Resignation, ein fremder Schmerzenszug liegt in dem sonst so liebenswürdigen Gesicht. Und jetzt hebt er das Haupt und blickt zu ihrem Fenster empor, — bleibt zögernd stehen und wartet, ob nicht vielleicht ihr Schatten an der hellen Scheibe vorüber gleitet.
Und der Mond leuchtet noch heller denn zuvor, und Erika sieht mehr, viel mehr, wie sie eigentlich sehen wollte, sie sieht, wie schwer es Wigand heute geworden ist, sich zum Anwalt ihres Glückes zu machen. —
Ein Windstoss pfeift um das Haus, Wolken jagen verhüllend über den Himmel, und Landen schrickt empor wie aus tiefem Traum und schreitet hastig weiter.
Erika aber wickelt sich fester in ihren Shawl und huscht die Treppe hinab, denselben Weg entlang zu eilen welchen Wigand soeben gekommen.
Sie muss hinaus in die frische, stürmische Nacht, sie muss allein sein mit ihren Gedanken!
Noch nie im Leben hat ihr etwas einen so tiefen, nachhaltigen Eindruck gemacht, wie Wigands Fürsprache bei ihrer Mutter.
Noch nie ist sie derart überrascht, beschämt und verwirrt gewesen, als wie in diesem Augenblick. Ihr ruhiges Gleichgewicht hat einen Stoss erhalten, der sie auf völlig neue Bahnen drängt. —
Ein Gefühl tiefer, unaussprechlicher Bewunderung erfüllt sie. Sie bewundert plötzlich einen Mann, den sie ehedem nur in Freundschaft achtete, den sie mehr noch voll Übermut und Engherzigkeit belächelt, weil er zu sparsam und vernünftig war, hier in der Einsamkeit einen thörichten Kleiderluxus zu treiben.
Dass er eine treue, opfermutige Seele war, hatte sie nach des Vaters Tod schon zu ihrer eigenen Beschämung erfahren, dass er aber so edel, so selbstlos sein eigen Wollen und Wünschen unter die Füsse trat, um nur sie glücklich zu machen, das hatte sie nicht erwartet, und das traf sie voll erschütternder Gewalt.
Der Gedanke, von ihm geliebt zu sein, peinigte und quälte sie und erfüllte sie dennoch wieder mit einem Gefühl stolzer Freude, in diesem vortrefflichsten aller Herzen so fest und innig beschlossen zu sein!
Und zwischendurch drängen sich ihr unaufhaltsam stets neue Vergleiche zwischen ihm und Joël auf. All ihre phantastisch verblendete Neigung, welche lediglich auf der Schönheit ihres Ideals basiert, kann es nicht verhindern, dass stets neue Schatten auf das strahlende Bild des „Gottbegnadeten“ fallen.
„Nimmt man ihm seine Schönheit, was bleibt noch liebenswertes an ihm?“
Erika presst die Hände vor die Augen; sie will es nicht sehen. Sie klammert sich an die Illusion, dass er ein hochtalentierter Mann, einer jener nervösen, leidenschaftlich gereizten Musiker ist, wie es nun einmal das Schaffen und Arbeiten dieser beklagenswerten Glücklichen mit sich bringt.
Unliebenswürdig! Welch ein berühmter Musiker ist liebenswürdig, welcher ist geduldig, ruhig, kaltblütig wie andere Sterbliche gewesen? — Keiner.
War es aber auch ein Glück für die betreffende Gattin, ihr ganzes Sein und Wesen unter den Ausbrüchen solcher Feuerseele in ein Nichts zusammenschrumpfen zu sehen?
Warum ist es eine eigenartige Thatsache, dass im seltensten Fall die Ehe eines bedeutenden Musikgenies von Bestand ist? Von wie viel geschiedenen und getrennten Ehen kann unser modernes Kunstleben auf dem Gebiet der Musik erzählen, wie wenig dauerhaftes Glück hat es zu verzeichnen!
Erika fröstelt bei diesem Gedanken.
Joël ist schon jetzt rücksichtslos, gereizt und von nervöser Unliebenswürdigkeit, wie soll das mit den Jahren werden, wenn sein aufreibender Beruf an ihm zehrt, wenn ihn Erfolge noch anspruchsvoller, Misserfolge noch verbitterter und grillenhafter machen?
Und doch, kann nicht auch ein grosser, glänzender Erfolg alles zum besten wenden und eine Krise in seinem Charakter herbeiführen, welche den Missmutigen, so lange Zeit durch den Willen des Vaters Unterdrückten und Gequälten, jählings an Leib und Seele gesunden lässt?
Das junge Mädchen möchte sich gern in die Überzeugung hineinleben, aber stets kommt ihr von neuem der Gedanke, dass Joëls Wesen nicht von momentanen Widerwärtigkeiten beeinflusst, sondern stets von unliebenswürdigen Eigenschaften durchsetzt gewesen ist.
Hat Wigand nicht unvergleichlich mehr des Harten und Traurigen durchgemacht? Ist er, der früh Verwaiste, nicht von Kindesbeinen an ein Stiefkind des Glückes gewesen? Hat er nicht stets von ferne stehen müssen, wenn Joël sich im Vollgenuss des Lebens freute, hat er nicht in saurer Arbeit um seine Existenz ringen müssen, viel schwerer und bitterer, als Joël in den drei Monaten seiner „Verbannung“, wo er die Hände im Schoss, wie ein Prinz gelebt und dennoch ununterbrochen gemurrt und getobt hatte?
Angesichts jenes Kampfes um Sein und Nichtsein, wie Wigand ihn zeitlebens geführt, erscheint das kurze Ringen Joëls wie ein Tropfen gegen Meeresflut. Hat Wigand jemals ein Wort der Erbitterung über sein freudloses Dasein laut werden lassen? — Nein! Er dankte voll kindlicher Frömmigkeit und Demut seinem Hergott tagtäglich, dass er ihn durch seine gesunden Hände so reich gesegnet habe, dass er ihm Kraft und Fähigkeit gegeben, arbeiten zu könenn. Wer hat in Ellerndörp jemals ein unfreundliches Wort von Wigand gehört, wer sah jemals ein mürrisches, unzufriedenes Gesicht an ihm?
Wigand, immer Wigand! Warum drängt sich sein Bild stets von neuem verdunkelnd vor das schöne, ideale Angesicht Eikhoffs?
Früher hat Erika ungeduldig solche Gedanken unterdrückt, heute spinnt sie dieselben weiter und weiter aus, mit einer gewissen Absichtlichkeit, als dränge es sie, wenigstens geheim im Herzen ein Unrecht an Wigand gut zu machen.
Nie hatte die Persönlichkeit des stillen, blonden Mannes so umglänzt von Tugend, so edel und bewundert vor Erikas geistigem Auge gestanden wie heute, und nie hatte Wigand einen so herrlichen Sieg errungen, als jetzt, wo er mit blutendem Herz alles verloren gegeben.
Als Landen das Speisezimmer betrat, fand er trotz der vorgeschrittenen Theestunde Erika allein in demselben anwesend.
Einen Augenblick schien es, als steige zarte Röte in ihre Wangen, als beschleiche sie ein für Wigand unerklärliches Gefühl der Befangenheit. Dann trat sie ihm schnell entgegen und bot ihm die Hand. Auch er stand unter einem fremdartigen Einfluss, und um denselben zu brechen, zwang er sich zu harmlosester Unbefangenheit. „Komme ich zu früh, Cousinchen? Ist Tante noch beschäftigt?“
„Sie schreibt an die Geheimrätin und bittet, du mögest sie noch einen Augenblick entschuldigen.“
„Und das sagst du so gelassen, als sei dir dieser wichtige und frohe Brief ganz gleichgültig?“
Sie lächelte. „Das solltest du eigentlich annehmen, lieber Wigand, denn ich abscheulich undankbare Person habe ja noch kein Wort des Dankes für deine so sehr, sehr freundliche Fürsprache gefunden. Verarge es mir nicht! Es kam alles so plötzlich und unvorbereitet, dass es mich völlig konsternierte!“
„Ich glaubte, Freude und Glück könnten in diesem Falle nicht so überraschend kommen, denn Joëls letzter Brief bereitete genugsam auf die Pläne der Mutter vor!“
Sie schien die letzten Worte zu überhören. „Freude und Glück!“ — wiederholte sie nachdenklich, mit leiser Stimme. — „Wer sagt uns, Wigand, ob der Aufenthalt in der Residenz Glück und Freude für mich bedeutet? Ich bin so fremd in der Welt geworden, und werde scheu und befangen wie ein Kind sein! — Wer weiss, wie man mich in der Gesellschaft aufnimmt, wer weiss, ob ich je eine frohe Stunde in einem Ballsaal erleben werde!“
Wigands Stirn umwölkte sich. „Dir in der Gesellschaft eine passende und erfreuliche Stellung zu schaffen, dürfte doch wohl die erste Sorge der Geheimrätin und die liebste Ritterpflicht Joëls sein!“
Erikas Blick haftete auf dem Teppich und schien das wirre, türkische Muster zu verfolgen. Heisse Glut stieg in ihre Wangen. „Das hoffe ich ja auch von Herzen und vertraue in dieser Beziehung der Liebenswürdigkeit meiner Wirte, dennoch hat schon manche Hoffnung getrogen.“
„Warum plötzlich solch schwarze Gedanken, Cousinchen! Verdirb dir doch nicht die Vorfreude durch diese pessimistischen Befürchtungen! Wenn die Residenz mit all ihren bunten Bildern und schönen Eindrücken erst einmal acht Tage den Reiz der Neuheit auf dich ausgeübt, ist das stille Ellerndörp mit seinen in Schnee vergrabenen Einwohnern vergessen!“
Seine Stimme bebte, obwohl er lachte und im Scherz sprach.
Da blickte Erika jählings zu ihm empor und Landen starrte betroffen in ihr liebliches Antlitz. Ihm deuchte es, ihr Auge habe nie so voll warmer Innigkeit auf ihm geruht, wie in dieser Minute. Sie schüttelte beinahe heftig das Köpfchen. „Glaube es nicht, Wigand! Und böte die Residenz mir das Schönste und Herrlichste, Ellerndörp und seine lieben, treuen Herzen werden mir in all der Pracht fehlen, wie das Quellwasser einem Dürstenden!“
Frau Koltitz trat ein, sie hatte die letzten Worte gehört. „Macht ihr Reisepläne, liebe Kinder, so helft auch mir dabei! Nun, da der Brief mit der Zusage expediert ist, überkommt mich die Sorge, wie Erika, dieses junge, unerfahrene Kind, allein die beschwerliche Reise mit dem öfteren Umsteigen bewerkstelligen soll. Die Geheimrätin schreibt, Joël würde die liebe Gastin gern als Reisemarschall abholen, doch sei er momentan mit den Arbeiten, welche die Vorbereitung seiner Opernpremiere mit sich bringe, derart überhäuft, dass an ein Abkommen gar nicht zu denken sei. — Sie bittet, dass ich die Tochter persönlich bringen möchte, aber du lieber Gott, ich habe zeitlebens nie allein in einer Eisenbahn gesessen, habe von Billetlösen und Gepäckexpedieren gar keine Ahnung, denn mein guter Mann besorgte alles und überliess mich lachend meiner schrecklichen Unselbständigkeit. Da dachte ich, lieber, guter Wigand, ob du vielleicht — ob es nicht möglich wäre ... man könnte es wohl einrichten, dass du ein paar Tage abkömmlich bist —“
„Gewiss, meine teuerste Tante! Ich bin momentan durchaus entbehrlich hier, denn Claasen habe ich so weit herangezogen, dass er ganz gut einmal selbständig sein kann!“
Frau Koltitz streckte ihm aufleuchtenden Blicks beide Hände entgegen. „So wolltest du Erika wahrlich das Opfer bringen, du einzig guter Mensch? O, wie danke ich es dir von ganzem Herzen!“
„Lass mich für das ehrende Vertrauen danken, welches du in mich setzest!“ — Der Sprecher war dunkelrot geworden. „Wenn Erika mit meinen Diensten vorlieb nehmen will —“
Da brach der erste, helle Jubellaut von ihren Lippen.
„O, nun ist alles gut, nun werde ich mich nicht mehr vor der Reise, vor der fremden Stadt und den unbekannten Menschen fürchten! Wenn du bei mir bist, lieber Wigand, werde ich mich so sicher fühlen wie in Abrahams Schoss!“
„Und selbstverständlich bleibst auch du ein paar Wochen in der Residenz, Wigand!“ fuhr Frau Henriette eifrig fort. „Du machst Eikhoffs die Freude, der Premiere beizuwohnen und breitest deine schützenden Hände über mein Kücken, bis sie sich in der neuen Umgebung heimisch und flügge fühlt. Du bedarfst ebensowohl der Zerstreuung, wie Erika, und du weisst doch: — geteilte Freude ist doppelte Freude!“
„Herrliche, herrliche Idee!“ klatschte Erika glückselig in die Hände. „Lieber Wigand, du musst bei mir in der Residenz bleiben. Du darfst mich nicht meinem Schicksal überlassen. Hörst du? Ich bitte dich von ganzem, ganzem Herzen darum. Wenn du willst, dass ich mich in der Fremde wohl fühlen soll, so bleibe bei mir!“
Die Hand des jungen Mannes, welche sich auf die Sessellehne stützte, zitterte und sein Antlitz flammte in heissem Entzücken. Wie tauchte die Sonne des Glücks noch einmal so unerwartet an seinem verdüsterten Lebenshimmel auf!
Er wusste nicht, was er in seiner ersten Erregung sagte, er hatte nur das eine Empfinden, dass er seit dem Tod des Obersten noch nicht wieder so froh und heiter in dem Gutshaus von Ellerndörp gewesen.
Erika war wie ausgewechselt. Eine schier mutwillige Freude überkam sie; Lachen und Scherzen hin und her, die Abendstunden flogen dahin wie im Traum.
Als sie schliesslich das Köpfchen auf die weissen Kissen neigte, die Ruhe zu suchen, ward sie sich bewusst, dass dieselbe bereits in ihr Herz eingezogen war, ehe Schlaf und Traum ihre Stirn geküsst.
Das Bewusstsein, Wigand als Schutz und Schirm in der Nähe zu behalten, hatte etwas Tröstendes und Beruhigendes für sie. So heftig wie ihr Herz bei dem Gedanken an Joël erzitterte, so still und friedlich schlug es, wenn sie an Wigand dachte, gleich einem Kind, welches sich mutig einer Gefahr entgegen wagt, wenn treue und sichere Hand es führt.
Modder Dörten hörte die Nachricht von der Abreise der jungen Herrschaften mit sehr gemischten Gefühlen. Als Erika am andern Morgen mit hochklopfendem Herzen hinabeilte, der getreuen Hüterin des Hauses das hochwichtige Ereignis mitzuteilen, fand sie Frau Hagen zu ihrer Überraschung nicht in den Küchenräumen vor.
Liesing lächelte verschmitzt und neigte sich näher zu dem Ohr der jungen Herrin. „Töven’s ’n beten, gnä’ Frölen, se sitt all wedder bi’n Swin un flennt em wat vor!“
„Beim Schwein sitzt sie?“ entsetzte sich Erika, „in dem Schweinestall?“
„Nee, am Morgen lätt se de Säu all rut! Kieken Se in lütten Gaarden, da wart’ se ihr Söting!!“ — Und diesen Scherz herzhaft belachend, nahm die Sprecherin unter jeden Arm ein Brett mit backfertigem Brod und steuerte energisch nach dem Backhaus hinüber
Erika aber wandte sich dem kleinen Garten zu, woselbst sie Modder Dörten finden sollte.
Schon von fern hörte sie ein seltsames Gemisch von menschlichen Zärtlichkeitslauten und einem mächtigen, hochbehaglichen Grunzen, wie es gewöhnlich nur aus dem Kofen tönt.
Behutsam lugte das junge Mädchen um die Ecke der Gartenmauer, von wo aus das entlaubte Fliedergebüsch freien Ausblick auf den kleinen Rasenplatz hinter dem Wirtschaftsgebäude gewährte.
Ein überraschendes Bild zeigte sich.
In dem matten Schein der Spätherbstsonne auf der weissbereiften Erde rollte sich ein riesiges, überfettes Schwein auf dem Rücken, in wohligem Behagen mit den vier kurzen Stummelbeinen um sich schlagend und laut aufquiekend und grunzend, wenn Frau Dörten ihm kitzelnd an den Hals fuhr. Die alte Frau kniete neben dem lieben Borstentier, in höchster Lustbarkeit mit spitzem Finger die Sau in den Hals piekend, unter jedesmalig neckender Wiederholung: „Un’ da makt he piek! — und da makt he piek! — piek — piek!“ — was die alte Moke jedesmal als unbändigen Witz mit lautem Quieken anerkannte.
Modder Hagen war aber gar nicht so ausgelassen, wie es auf den ersten Blick schien. Während all ihrer Heiterkeit liefen grosse, dicke Thränen haltlos über ihre Wangen, welche sie jedesmal vorher abwischte, ehe sie „piek, piek“ machte.
Einen Augenblick stand Erika in starrem Staunen, umsonst nach einem tiefen Sinn in diesem kindlichen Spiel zu suchen.
Endlich trat sie vor, schlug die Hände zusammen und rief: „Um alles in der Welt, Muting, was soll denn das bedeuten?!“
Die Alte wandte ihr wehmütig das thränenfeuchte Gesicht zu und wischte mit dem Handrücken unter der Nase her. — „Ach dau leive Good!“ seufzte sie zum Herzbrechen, „wenn man dat Veih erst so schick hat, un’ hät’s so wiet, un wenn’s dann an’t slachten geiht ... ach dau leive Good!“ — Der Schürzenzipfel fuhr unter erneutem Jammer über die Augen.
„Jetzt soll schon geschlachtet werden?“
„Nee, in nächste Tid noch nicht — äwerst — bal achtern Fest ... un de arm’ leive Sau ahnt sik all gar nich, wat ’r passirn sull, und dorüm will ik ihr bi lütten an’s Slachten gewöhn’!“
Erika biss sich auf die Lippen, um ihre Heiterkeit zu bemeistern. „An das Schlachten wollen Sie das Schwein gewöhnen?! Aha, jetzt verstehe ich! ‚Un dann makt he piek —“ das bedeutet den Fleischer!“
„Jo, jo, so is!“ nickte Fru Hagen melancholisch. „Wenn de Slachter dann bigaht un’ ihr sticht, glövt de arm Mokking, et is ok’n Snaak! On merkt’ nich so!“
„Ja, das ist sehr gut, das wird sie völlig darüber hinweg täuschen, wenn sie sich einbildet, es sei alles nur ein Scherz! Aber hör, Modder Dörten, ich komme mit einer Neuigkeit!“
„Wat Tausend?!“
„Vetter Wigand und ich fahren für ein paar Wochen in die Residenz!“
Die Alte schnellte empor und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „As Brutlüt??!“
Erika schrak jählings zusammen. Unbemerkt war Wigand um das Haus gekommen und stand hinter ihr.
Beide starrten sich einen Moment an und wurden blutrot.
Landen fasste sich zuerst und trat gelassen näher. „Ich begleite das gnädige Fräulein, damit ihr unterwegs nichts zustossen kann. In der Residenz aber soll sie tanzen und lachen und scherzen, vergnügt und lustig sich amüsieren, wie es ihren Jahren zukommt. Wenn sich Fräulein Erika dann den Herrlichsten von allen unter den Herren der Residenz ausgesucht hat, bringt sie ihn heim zu uns, und wir feiern Hochzeit in Ellerndörp!“ — Er sprach ruhig die letzten Worte, sogar scherzend, und dennoch klang seine Stimme anders wie sonst.
Modder Dörten aber zog ingrimmig die Brauen zusammen. „So möt kummen! — Setten Se uns’ Frölen den infamigten Daugenixen nur so recht vör de Näs — dat sik so’n Windhund, wie’n gewissen Jemand ut de Residenz for ganz und gar hier indrängt! Allzu gaud is dömlich, Herr Baron ... äwerst — ik will nichts seggt heven!“
Und damit riss die Alte die noch immer in ausgelassener Munterkeit spielende Sau unsanft am Schwanz, ihrer Freiheit ein energisches Ende zu bereiten, kniff empört die Lippen zusammen und zerrte den vierfüssigen Liebling so eilig nach dem Stall, als fürchte sie, ein gehasster Stadtherr könne auch nach Mokking seine begehrlichen Hände ausstrecken.
„Aber, Dörten, seien Sie doch nicht so wunderlich!“ Fru Hagen schüttelte den Kopf, dass die weisse Nüschenhaube wirbelte. „Nee, — bin ich ok nich, äwerst ihr, Kinnings, ihr ...“ sie presste abermals trotzig den Mund zusammen und stemmte sich gegen die widerspenstige Bache, dass sie kirschrot wurde, „man tau, oll Swin, suss sollst zur Straf bi’n Frölen sine Stadtherrnhochtid upfreten waren!“
Diese Drohung war so entsetzlich, dass Mokking sein Ringelschwänzchen angstvoll beilegte und sich, laut aufgrunzend, durch die enge Stallthür klemmte, Modder Hagen verschwand nebenan, und Erika und Wigand machten kurzer Hand Kehrt und eilten in entgegengesetzter Richtung davon.
Sie kamen sich beide recht kläglich vor, denn Mutter Hagens Zorn war ein gerechter.
Erika schoss es plötzlich selber durch den Sinn: „Warum willst du eigentlich fort? Ist es nicht blamabel, sich den Stadtherren wie ein zierlich serviertes Schaugericht vor die Nase setzen zu lassen? Sie ging ja nur um eines einzigen willen, und dieser konnte den Weg zu ihr just so gut finden, wie sie zu ihm.“ — Das war ein ärgerliches Empfinden, und wenn es ja auch neben der Freude und Aufregung nicht lange Bestand hatte, so hinterliess es doch ein Samenkörnlein, welches in ihrem Herzen Wurzel schlug. —
Wigand erging es kaum besser. Er durchmass mit Riesenschritten das bereifte Ackerland. Eigentlich wollte er nach der Wintersaat ausschauen, aber er hatte weder Augen noch Gedanken dafür.
Vor seinen Ohren klang noch immer Fru Hagens zürnende Stimme: „Allzu gaud is dömlich.“
Es lag eine gewisse Wahrheit darin. Wer dem Gegner ohne jeden Widerstand sofort das Feld räumt, der ist ein Feigling, und wer nicht in ehrlichem Kampf seines eignen Vorteils gedenken will, der ist dumm.
Und beides widerstrebt ihm. Verlangt es die Liebe und Treue wahrlich, sich selber wie ein Opfertier geduldig dem fremden Stahl zu neigen?
Nein, es gibt genug ritterliche und ehrliche Waffen, um für sich selbst zu kämpfen.
Er legt Joël kein Hindernis in den Weg, er verschmäht es, durch List oder Intrigue sein Bild aus Erikas Herzen zu drängen, aber er weicht auch nicht vor ihm: er stellt sich zuversichtlich an seine Seite. — Ist es ein Unrecht, dass er sich nun auch einmal bemühen wird, sich der Geliebten in vorteilhaftem Licht zu zeigen, er, welcher bisher stets bescheiden im Schatten stand? Nein!
Er hat ja lange genug in der Welt, in dem eleganten Haus- und Gesellschaftskreis der Geheimrätin verkehrt, es wird ihm nicht schwer werden, den ungewandten langweiligen Landmann abzustreifen, um im Salon neben Joël zu bestehen. Kleider machen Leute, und seine kleinen Ersparnisse ermöglichen es ihm, sich für die paar Wochen seines Aufenthaltes in der Stadt angemessen zu equipieren.
Wigand errötet beinahe bei diesem Gedanken. Es kommt ihm so unwürdig vor, einer Äusserlichkeit irgend einen Erfolg zu verdanken, und dennoch, die Welt verlangt es, und gegen andere unvorteilhaft abstechen, kann auch eine unwürdige Stellung veranlassen.
Landen hat sich ja früher auch gut gekleidet, ohne irgend welchen Luxus zu treiben, und wenn er in der Einsamkeit des Landlebens, in Feld und Wiese, bei Sturm und Regen die elegante Façon eines städtischen Kleiderkünstlers sparte, so war es nur natürlich und vernünftig.
Er würde sich jetzt im Hause der Geheimrätin auch dann besser gekleidet haben, wenn Erika nicht zugegen wäre, lediglich, weil es der Takt erfordert, nicht um durch solch kleinliche Mittel auf das junge Mädchen zu wirken.
Wird es Erika überhaupt bemerken?
Ja, er glaubt es, denn er kennt ihren ausgesprochenen Schönheitssinn und weiss, wie just die schöne Aussenseite Joëls ihr naives Herzchen entzückt hat!
Allzu gaud is dömlich!
Mutter Hagen hat recht. Er will auch fernerhin gut sein, aber nicht mehr allzugut.
Er will sich um anderer willen nicht ganz und gar vergessen, sondern sich offen und ehrlich an dem Wettstreit beteiligen, anstatt voll mutloser Bescheidenheit den Sieg verloren geben, ehe er einen Kampf gewagt.
Die nächsten Minuten brachten ihm andere Gedanken. Er entdeckte interessante Wildfährten und wurde von ein paar Knechten angesprochen, welche den Versuch machten, einem neuen Terrain, welches bisher brach gelegen, Torf abzugewinnen.
Das Resultat war kein günstiges und Wigand zerbrach sich den Kopf, wie dieses Land wohl auszunützen sei. In der landwirtschaftlichen Schule der Residenz sollten in nächster Zeit Vorträge über Moorkultur, das Urbarmachen und Kultivieren des Landes gehalten werden, wie gut lässt sich sein angenehmer Aufenthalt in der Residenz mit solch nützlichem Studium verbinden!
Mutter Dörten und ihr weiser Urteilsspruch wurden momentan aus seinen Gedanken verdrängt, ohne jedoch darin gelöscht zu werden. Auch hier glich er einem Samenkorn, welches seinerzeit reiche Frucht tragen wird. —
In freudiger Hast und Erregung flogen die nächsten Tage dahin.
Ein Besprechen, Beraten und gegenseitiges Hilfeleisten führten Mutter und Tochter Koltitz in dieser kurzen Zeit mehr und inniger mit Wigand zusammen, wie in der langen, trostlosen Zeit seit dem Tode des Obersten.
Obwohl die ersten Schneestürme über die Heide brausten und Ellerndörps Dorfgasse sich einzupuppen und einzuspinnen begann, wie die Raupe für einen langen Winterschlaf, lachte dennoch hinter den Mauern des Gutshauses das sonnigste Leben, so froh und hoffnungsvoll wie nie vorher.
Wigands natürliche und aufrichtige Liebenswürdigkeit feierte manch heimlichen Sieg und manch heimliche Bitte stieg aus dem Herzen der Mutter zu Gott empor, wenn sie an die Heimkehr ihrer lieben Wandervögel dachte.
Was in dem stillen Frieden der Einsamkeit zu phlegmatisch und blind neben einander hergeht, ohne die notwendige Anregung aufzublicken und zu erkennen, das rüttelt oft das stürmische Leben und Treiben der Welt aus dem Schlafe, und was hier täglich sich fern gegenüber steht, ohne sich zu erreichen, das treibt die Hochflut da draussen einander in die Arme. Vielleicht, — vielleicht reisst sie es auch für ewige Zeiten auseinander. —
Endlich waren die Koffer gepackt.
Hochklopfenden Herzens drückte Erika das weiche Filzhütchen auf den zierlichen Kopf und liess sich von Mütterchen den warmen Reisepelz um die Schultern legen, dieweil Modder Dörten, trotzdem sie unversöhnlich schmollte, eine mächtige Tasche voll Reiseproviant herzuschleppte.
Ali watschelte schnuppernd neben ihr her und selbst Erikas zärtlichster Abschied von diesem Adoptivsohn des Hauses Hagen konnte keine weichere Stimmung in der pikierten Pflegemutter hervorrufen.
„Wenn de leive Good de Harten to lütt schaffen hätt, sorgt he wul förn doppelt groten Magen!“ bemerkte sie anzüglich und Erika flog ihr laut lachend um den Hals und versicherte: „Wat bist förn narrschen Bullerballer, Olling! Kiek nur Dag for Dag nach’n Weg ut! Wenn ik mit’n Utlänner as Schatz antaufahren kumm’, sost schon min grotet Hart kennen lern’!“
Wie reizend stand ihr dieser Übermut! — Die Wangen lachten wie Rosen unter dem zarten Schleier und die Augen blitzten, als wären zwei helle Sternlein vom Himmel gefallen.
Wigands Blick umfing das reizende Bild voll Entzücken und das Gefühl, sich für ein paar Stunden ganz und gar nur ihrem Dienst weihen zu dürfen, hatte etwas Stolzes und Erhebendes.
Das stand ihm gut!
Modder Dörten lachte das Herz unter Thränen, als die ritterliche Gestalt des jungen Mannes neben Erika erschien, als er sie mit einem so strahlenden Lächeln in den Wagen hob, als entführe er sie für sich selber zum Eigentum, nicht aber einem andern in die Arme.
Lange standen die Ellerndörper und schauten dem Wagen nach, bis er fern am Saum der Heide verschwand.
Schnee wirbelte nieder und das Gutshaus lag so still und einsam, als könne nie wieder ein Frühlingstag voll Licht, Lust und Leben darin anbrechen!
Frau Geheimrätin Eikhoff empfing Erika persönlich an der Bahn und war ganz entzückt von Wigands scharmanter Idee, der Premiere der Dorflurle beiwohnen und Joëls Triumphe schauen zu wollen. Sie reichte ihm in ihrer etwas kokett graziösen Weise beide Hände entgegen und wandte sich dann abermals zu Erika, das junge Mädchen nach einem schnellen, scharf musternden Blick zum zweitenmal in die Arme zu schliessen.
„Tausendmal willkommen, meine kleine Heideblume! Ich freue mich unbeschreiblich, den guten Engel von Ellerndörp endlich mit Augen zu schauen! Und wie allerliebst hat sich die kleine Schelmin zurecht gemacht. Ganz chic und d’après la dernière mode! Man glaubt ja gar nicht, dass man Besuch vom Lande empfängt! — dabei frisch und rosig wie eine Maienknospe!! Bei einer solch jugendlichen Tochter wird es wahrlich sehr glaubhaft erscheinen, wenn ich alte Frau sie der Welt als Töchterchen zuführe!“
„Wie schmeichelhaft würde dies für mich sein, gnädigste Tante, und wie schön, könnte die Welt recht viele Ähnlichkeit zwischen mir und dieser schwesterlichen Pflegemama entdecken!“
Frau Elly kniff momentan die Augen zusammen.
„Nun höre ein Mensch, wie allerliebst das Heideröschen Elogen zu sagen versteht!“ — Wieder zog sie die Kleine sehr huldvoll an sich, wandte sich dann in lebhafter Weise an den elegant galonierten Diener zurück und erteilte ihm ihre Befehle in einer Weise, welche das vorüber wogende Publikum unwillkürlich auf die schöne Frau aufmerksam machen musste.
Wigand erkannte sie kaum wieder.
Die Geheimrätin hatte sich auffallend verändert. Ihr ehemaliges Phlegma war einer muntern, beinahe allzu jugendlichen Lebhaftigkeit gewichen und ihre Vorliebe für sentimentale schwarze Spitzen und geheimnisvoll verhüllende Schleier hatte einem völlig entgegengesetzten Geschmack Platz gemacht. Sie trauerte nicht mehr. Ein zartes, crêmefarbenes Capothütchen, von Marabus umrahmt, mit Metallstickerei in Kupfer effektvoll geschmückt, gab den dunklen Stirnlöckchen eine reizende Folie und hielt den duftigen Gazeschleier, welcher das Antlitz umspannte.
Ein kupferfarbenes Sammetkostüm zeigte gelblichen Pelzbesatz, hochmodern gearbeitet und bis auf das seidene Futter herab kostbar und elegant. Als sie in den Wagen stieg, verrieten sich ein gleichfarbiger Atlasunterrock und die passenden seidenen Strümpfe.
Ein Hauch von Veilchenduft umwehte die elegante Frauengestalt und Erika konnte sich dem eigenartig bestrickenden Zauber, welcher von ihr ausging, nicht verschliessen.
„Selbstverständlich wohnst du bei uns im Hause, Wigand, dearest boy!“ — atmete sie auf, als sie sich neben Erika behaglich in die Wagenpolster zurücklegte, gleichzeitig aber schnellte sie wieder empor und klopfte noch einmal ungeduldig an das Wagenfenster.
„Das Gepäck soll per Droschke nachkommen, Heinrich! — Jetzt ist keine Zeit zum warten! James! — James!!“
Der Kutscher bog sich nach dem Fenster vor.
„Befehl, gnädige Frau!“ —
„Zufahren, was die Riemen halten! — In der Leipzigerstrasse Station machen! Heinrich soll die Einladung zum Diner bei dem Grafen Nesslar abgeben. Wenn möglich Antwort. — Zu!“ —
„Befehl, gnädige Frau.“
Auf lautlosen Gummirädern sauste die Equipage in die belebten Strassen hinein und Frau Elly nahm ihr unterbrochenes Thema wieder auf. „Also du wohnst bei uns, Wigand! Ich habe dir dein altes Stübchen zurecht machen lassen, obwohl es für dich grossen Herrn jetzt etwas eng und primitiv sein wird! — Ihr glaubt aber nicht, Kinder, wie es zur Zeit drunter und drüber geht bei uns! Joël hat so enorm viel Wünsche betreffs Einladungen, dazu etliche Freunde von ihm ebenfalls als Logierbesuch während der Premiere, — Menschen, welche wir anstandshalber einladen mussten! Zum Beispiel den jungen Baron Bastolff, Sohn des Ministers zu X., — dann den Kommerzienrat Solfing, immens reicher Mann, angebetet in musikalischen Kreisen! Er hatte seinen Haushalt aufgelöst, um den Winter in Kairo zu verleben, will aber der Dorflurle zuliebe noch bleiben! Da bat Joël ihn, bei uns Wohnung zu nehmen! Solche Gäste aber machen Ansprüche und verursachen Kopfzerbrechen und da müsst ihr doppelt nachsichtig sein, liebe Kinder!“ —
Die Worte sprudelten von ihren Lippen und Wigand fand kaum Zeit zu danken und sie der vollsten Bescheidenheit und Dienstwilligkeit ihrer Ellerndörper Einquartierung zu versichern.
„Ja, meine teuerste Erika! ich rechne stark auf deine Hilfe als Vicetochter des Hauses! Mon Dieu ... ich sage permanent ‚du‘ und annektiere dich schon ganz und gar! — Lassen wir es dabei, Herzchen! Warum immer Sekt abwarten, um Schmollis zu trinken! Wir vereinfachen die Sache, nicht wahr?“ — und wiederum zog sie die Kleine an sich und hauchte einen Kuss auf ihre Stirn.
„Und nicht so unaufhörlich devot zu mir sein, Heideblümchen, das ist langweilig! Wenn ich dir nicht zu alt bin, betrachte mich als Freundin! Trotz des erwachsenen, berühmten Sohnes ist mein Herz wirklich noch ganz jung und mitfühlend geblieben!“
Häuser, Parkanlagen, Menschen, Wagen und Pferde wirbelten wie ein Traum an ihnen vorüber und all das ungewohnte Leben und Treiben übte einen seltenen Reiz auf die empfindsame Seele des jungen Mädchens aus.
Wigands Stimme liess sie jählings auflauschen.
„Wie geht es nun eigentlich Joël, liebe Tante! fühlt er sich jetzt wohl und zufrieden in seinem Wirkungskreis! Und bist du überzeugt, dass derselbe auch dauernd sein Glück ausmachen wird?“ —
„Fraglos, lieber Wigand! Wie ein Fisch im Wasser fühlt er sich in seinem ureigentlichen Element. Wie sollte es auch anders sein! Bei dieser phänomenalen Begabung! Du ahnst ja gar nicht, Wigand, was er in der Dorflurle geleistet hat! Etwas Grosses, Unsterbliches, etwas noch nie Dagewesenes! Intendanten und Kapellmeister sind ja rein von Sinnen vor Begeisterung. Die Sänger und Sängerinnen wie elektrisiert! Sie danken meinem Sohn kniefällig für diese Partien, in welchen sie ungemessene Lorbeeren ernten müssen. Joël wohnte den Proben natürlich bei — und ich konnte es mir auch nicht versagen, schon hie und da im voraus zu naschen, ich fuhr auch gestern mit in das Theater! — Himmel, welche Musik! welche Melodien! Der Intendant sagte mir, er sei überzeugt, dass die Zukunftsmusik in den Händen meines Sohnes ruhe! Und wie gelassen und ruhig nimmt Joël die Ovationen auf, welche ihm schon jetzt gebracht werden! — Man vergöttert den Jungen ja! — O ihr werdet ihn sehen, Kinder, ein Gott, ein König unter Vasallen! Und wie wird das nun erst werden, wenn der riesige Erfolg der Dorflurle die ganze Welt in Flammen setzt!“
Mit strahlenden Augen lauschte Erika.
„Hat er denn erforscht, wer ihm den Operntext geschrieben hat?“ fragte sie leise, heiss erglühend und mit gesenkten Augen.
„Nein! denk dir, Herzchen! all sein Forschen ist erfolglos geblieben! Aber fraglos hat ein ganz bedeutendes Genie das entzückende Libretto speziell für ihn geschaffen. Das Geheimnisvolle steigert sich sogar noch, seit in einem der ersten Journale der köstlichste aller Romane: ‚Truggeister‘ erscheint. Alle Welt ist entzückt davon! Man spricht nur noch von dem neuen Roman und zerbricht sich den Kopf darüber, wer hinter dem Pseudonym ‚E. von der Heid‘ sich verstecken mag! Fraglos ist es eine hervorragende Persönlichkeit der Residenz, welche über unsere Künstler- und Militärkreise trefflich unterrichtet ist! In dem menschenscheuen, verbitterten Major a. D. glaubt man mit Sicherheit eine hiesige Persönlichkeit wieder zu erkennen, aber mon Dieu ... wie viele verbitterte Pensionäre gäbe es nicht! — Viel näher liegt die Vermutung, dass mit dem Helden, dem schönen, so unglücklich beanlagten Sänger unser erster Tenor gemeint ist, — man stolpert über manch kleine Thatsache, welche sehr geschickt, hie und da ein wenig verschleiert — in die Handlung eingeflochten ist. Nun — mit einem Wort — dieser Roman regt alle Gemüter auf und macht enorm von sich reden. Und das Seltsamste ist, dass Joël darauf schwört, ‚Truggeister‘ und ‚Dorflurle‘ seien die Werke ein und desselben Künstlers. Viele Redewendungen und Ausdrücke stimmen allerdings genau überein, ein Hauch von mädchenhafter Schwärmerei liegt zeitweise über dem Ganzen, andrerseits aber wieder eine Kraft der Gestaltung und eine Fülle überraschender Gedanken, welche nur in einem Männerkopf oder dem einer sehr geistreichen Frau gereift sein können!“ —
„Und Joël hat nicht versucht, das Pseudonym zu lüften?“ —
„Gewiss, mein lieber Wigand! Aber die Redaktion scheint mit ihrem interessanten Geheimnis kokettieren zu wollen, sie versichert in höflichsten Worten, verpflichtet zu sein, den wahren Namen der Autorin verschweigen zu müssen!“ —
„Der Autorin! Also doch eine Dame?“ —
Die Geheimrätin knöpfte voll nervöser Erregung an ihrem Handschuh und streifte die matten Goldreifen der Armbänder etwas höher daran empor.
„Auch in dieser Beziehung war der Chefredakteur ein Schelm! In dem einen Brief spricht er von dem Autor — in dem andern von der Autorin. Gleichviel, Joël amüsiert sich unendlich in dem Gedanken, dass dieses verschleierte Bild von Saïs fraglos Farbe bekennen wird, wenn die Dorflurle mit Erfolg aufgeführt wird.“ —
Sowohl die Geheimrätin wie Wigand hatten nicht beobachtet, wie Erikas Köpfchen während dieser Unterhaltung zur Brust sank, gleich einer tauschweren Blüte, wie glühende Röte immer höher und höher die Wangen färbte, bis unter die goldigen Stirnlöckchen hinauf.
Die Equipage hielt noch in der Leipzigerstrasse vor der Wohnung des Grafen Nesslar, der Diener riss soeben wieder eilfertig den Schlag auf und meldete, den Hut devot in der Hand haltend: „Zu Befehl, gnädige Frau. Der Herr Graf waren anwesend und werden mit viel Vergnügen von der liebenswürdigen Einladung Gebrauch machen.“
„Gut, weiter fahren!“ — Die Geheimrätin sah sehr blasiert aus, aber ihre Augen blitzten unter dem Gazeschleier auf.
„Natürlich, er kommt, ich konnte es mir denken, — die Menschen kommen ja alle so rasend gern zu uns, und was diesen Grafen Nesslar betrifft“ — Elly lächelte müde und neigte den Kopf vertraulich gegen Erikas Schulter: „so gibt er sich noch ganz besondern Hoffnungen hin! Er hat nämlich eine Schwester, ein schönes, imposantes Mädchen, Vollblutaristokratin, dabei reich und talentiert — und ... hahaha — bis über die Ohren in meinen Joël verliebt! — Armes Ding! Ich glaube nicht, dass mein arroganter Schlingel auch nur das mindeste für sie fühlt, — es fliegen ihm ja die Herzen wie Heuschreckenschwärme entgegen, und habe ich es schon als Danaïdenarbeit verworfen, all seine Anbeterinnen zu kennen oder noch Notiz von den seufzenden Jungfräuleins zu nehmen!“
„Macht Joël diese allgemeine Anbetung nicht ganz nervös?“
„Zeitweise ja, wenn man ihn allzusehr mit Liebe oder Hass quält. Im grossen ganzen gehört es jedoch zu seinem Lebenselement, sich verehren und lieben zu lassen. Frauengunst ist für ihn Luft zum Atmen, er kann nicht ohne sie existieren, aber er achtet sie eben auch nicht höher als wie eben Luft! — Was ihn heute anregt und erheitert, ist morgen schon ein überwundener Standpunkt. Ist ja auch gut so! Ein Künstler muss frei sein; will er stets an einem und demselben Punkt kleben, erlahmen seine Schwingen und tragen ihn nicht mehr zur Sonne empor!“
Der Wagen hielt vor einem eleganten, prächtig geschmückten Portal und die Sprecherin richtete sich hastig empor.
„Nous voilà, meine lieben Kinder, nochmals herzlich willkommen und gegrüsst in unserem Heim! Du kennst dich ja noch aus, mein guter Wigand! Bitte, betrachte dich heute noch ebenso als Sohn des Hauses wie früher! — Für Erikachen werde ich persönlich sorgen!“
Im Vestibül brannte bereits das Gas in mächtigen Kristallkuppeln, welche zwei Karyatiden aus Goldbronze über blumengefüllte Vasen empor hielten.
Der Portier stand neben dem Gitterthor, welches die innere Flurhalle von der Durchfahrt absperrte und ein elegantes Kammerzöfchen mit Haube und weisser Tändelschürze hüpfte die Treppe herab, nach dem Handgepäck des gnädigen Fräuleins zu fragen.
„Lassen Sie sich von Heinrich geben!“ nickte Elly der Knixenden eilig zu. — „Apropos, hat die Schneiderin geschickt?“
„Vor einer halben Stunde erst, gnädige Frau! Ich war schon ausser mir vor Ungeduld!“ versicherte Doris mit viel theatralischer Entrüstung. „Habe ihr auch gesagt, dass gnädige Frau ganz empört über solche Unpünktlichkeit seien und künftighin alles wieder von Gerson nehmen würden!“
„Gut, ganz gut, Doris. Wo ist mein Sohn?“
Doris musterte ziemlich ungeniert Herrn v. Landen und knixte abermals. „Der gnädige Herr lassen sich bei den Herrschaften vielmals entschuldigen, er ist telephonisch zu Borchardt gerufen. Zum Thee hofft der gnädige Herr indess wieder zurück zu sein.“
„O schade, schade! Bitte, verzeiht ihm, liebe Kinder! Der arme Junge ist momentan gar nicht Herr seiner Zeit, es lastet gar zu viel auf ihm! — Denkert! Wo ist Denkert?!“
Der Portier trat geschäftig vor. „Zu Befehl, gnädige Frau!“
„Haben Sie das Blumenarrangement bestellt? — Wird es richtig an die Adresse geschickt werden?“
„Janz jewiss und wahrhaftig, gnädige Frau! Schmidt meinte, für det Fräulein habe er so zu sagen alle Tage wat uff Bestellung.“
„Gut.“ Frau Elly legte den Arm um Erika und führte sie die Treppe empor. „Es handelt sich nämlich um die Diwa, welche die ‚Dorflurle‘ singen wird, eine sehr verwöhnte Person, welche sich natürlich auch in Joël verliebt hat! Aus ‚Geschäftsinteresse‘ schickt er ihr täglich ein paar Blumen, um sie auf Feuer und ... bei Stimme zu erhalten. O Kind, du ahnst nicht, was alles bedacht sein will! — So, endlich sind wir am Ziel!“ — sie schob Erika und Wigand in einen Salon, dessen Pracht im ersten Augenblick schier erdrückend wirkte. — „Gott sei Dank! solch ein Reisetrubel ist fürchterlich. Doris, nehmen Sie dem gnädigen Fräulein Mantel und Hut ab, bitte Wigand, thue desgleichen! Und dann ruht euch erst mal ein paar Minuten aus und nehmt im Esszimmer einen kleinen Imbiss; unsere Theestunde liegt nämlich ungewohnt spät, nach Schluss der Oper!“
Dem jungen Mädchen wirbelte der Kopf. Es kam ihr vor, als sei sie aus ihrer tiefen Ruhe und Einsamkeit in einen sinnverwirrenden Strudel gestürzt, welcher ihr momentan den Atem benahm. Dazu wirkte die Enttäuschung, nicht einmal von Joël empfangen zu werden, sehr niederdrückend für sie. Was aber hatte sie auch anders erwartet? Die Liebe ist ja für ihn nur eine amüsante, kleine Abwechselung im täglichen Leben, und die Einladung seiner Mutter nichts anderes, als eine bezahlte Quittung für die Gastfreundschaft, welche ihr Sohn in Ellerndörp genossen.
Wigands Blick streifte verstohlen ihr Gesichtchen, welches nicht mehr so rosig aussah wie zuvor.
„Es wird gut sein, wenn Erika heute frühzeitig zur Ruhe geht, liebe Tante; die Reise hat sie doch ein wenig angestrengt, wie man für alles Ungewohnte zuerst Lehrgeld zahlen muss.“
Frau Elly blickte überrascht auf. „Willst du nicht auf Joël warten, mein Herzchen? Es kann höchstens zwölf Uhr werden, bis er heute zurückkehrt!“