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WAS PASSIERT WIRKLICH, WENN ETWAS GESCHIEHT? Was ist ein Ereignis? In seinem neuen Buch erkundet der international gefeierte Philosoph und Kulturkritiker Slavoj Žižek diese alte Frage, indem er Unterscheidungen trifft: Zunächst betrachtet er das Ereignis als Rahmung, als Sturz und als Aufklärung. Dann unterscheidet Žižek drei Ereignisse in der Philosophie: die Wahrheit, das Selbst, das Universale. Und schließlich spricht er über drei Ereignisse in der Psychoanalyse: das Reale, das Symbolische, das Imaginäre. Von Platon über den Buddhismus bis Shakespeare, Wagner, Chesterton, Hegel und natürlich Lacan legt Žižek das Wesen des Ereignisses frei, um schließlich die zentralen Umrisse einer Antwort auf die alles entscheidende Frage zu skizzieren: Was ist ein politisches Ereignis? Ein provokanter und unterhaltsamer Trip in die Philosophie, ein echter Žižek.
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Seitenzahl: 249
Veröffentlichungsjahr: 2014
Slavoj Zizek
Was ist ein Ereignis?
FISCHER E-Books
»Ein Tsunami hat mehr als 200000 Menschen in Indonesien getötet!« »Ein Paparazzo hat Britney Spears’ Vagina fotografiert!« »Mir wurde klar, dass ich alles liegenlassen und ihm helfen musste!« »Die brutale Machtübernahme des Militärs überschattete das Land!« »Das Volk hat gesiegt! Der Diktator ist geflohen!« »Wie ist etwas so Schönes wie Beethovens letzte Klaviersonate überhaupt möglich?«
All diese Aussagen beziehen sich auf etwas, das wenigstens einige von uns für ein Ereignis halten würden – ein amphibischer Begriff, der mehr als fünfzig shades of grey umfasst. Ein »Ereignis« kann sich auf zerstörerische Naturkatastrophen beziehen oder auf den letzten Promi-Skandal, den Triumph des Volkes oder einen brutalen politischen Wandel, die tiefe Erfahrung eines Kunstwerks oder auf eine persönliche Entscheidung. Angesichts dieser Variationen können wir nur Ordnung in dieses Rätsel bringen, wenn wir das Wagnis auf uns nehmen, den Zug zu besteigen und unsere Reise mit einer vorläufigen Definition von Ereignis zu beginnen.
Agatha Christies 16 Uhr 50 ab Paddington beginnt auf einer Zugreise von Schottland nach London, wo Elspeth McGillicuddy, auf dem Weg, ihre alte Freundin Jane Marple zu besuchen, eine Frau erblickt, die im Abteil eines vorbeifahrenden Zuges (der um 16.50 Uhr ab Paddington) erwürgt wird. Alles geschieht sehr schnell und ihre Sicht ist verschwommen, so dass die Polizei Elspeths Bericht nicht ernst nimmt, da es keine Hinweise auf ein Verbrechen gibt. Allein Miss Marple glaubt ihre Geschichte und beginnt Nachforschungen anzustellen. Dies ist ein Ereignis in seiner reinsten und minimalsten Form: etwas Schockierendes, aus den Fugen Geratenes, etwas, das plötzlich zu geschehen scheint und den herkömmlichen Lauf der Dinge unterbricht; etwas, das anscheinend von nirgendwo kommt, ohne erkennbare Gründe, eine Erscheinung ohne feste Gestalt als Basis.
Definitionsgemäß liegt etwas »Wunderbares« in einem Ereignis, von den Wundern unseres alltäglichen Lebens zu denen der höchst erhabenen Sphären, die göttlichen eingeschlossen. Die ereignishafte Natur des Christentums ergibt sich aus der Notwendigkeit, an ein einziges Ereignis zu glauben, um Christ zu sein – den Tod und die Auferstehung Christi. Vielleicht ist sogar das zirkuläre Verhältnis zwischen Glaube und seinen Begründungen noch wesentlicher: Ich kann nicht sagen, dass ich an Christus glaube, weil ich von den Gründen, an ihn zu glauben, überzeugt worden wäre; erst wenn ich glaube, kann ich die Gründe für den Glauben verstehen. Dasselbe zirkuläre Verhältnis gilt für die Liebe: Ich verliebe mich nicht aus bestimmten Gründen (ihre Lippen, ihr Lächeln …) – sondern weil ich sie bereits liebe, fühle ich mich zu ihren Lippen etc. hingezogen. Aus diesem Grund ist auch die Liebe ereignishaft. Sie ist eine Erscheinungsform von zirkulärer Struktur, in der der ereignishafte Effekt rückwirkend die Ursachen oder Gründe[1] für sie bestimmt. Dasselbe gilt auch für ein politisches Ereignis wie die lang anhaltenden Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo, die das Mubarak-Regime zu Fall brachten: Man kann die Proteste leicht als Ergebnis bestimmter Blockierungen in der ägyptischen Gesellschaft erklären (arbeitslose, gut ausgebildete Jugendliche ohne klare Perspektiven etc.), aber dennoch kann keine allein für die synergetische Energie verantwortlich gemacht werden, die die Bewegung entstehen ließ.
In derselben Weise ist das Entstehen einer neuen Kunstform ein Ereignis. Nehmen wir beispielsweise den film noir. In seiner detaillierten Analyse zeigt Marc Vernet,[2] dass die Haupteigenschaften, die die allgemeine Definition des film noir bilden (chiaroscuro-Beleuchtung, schroffe Kamerawinkel, das paranoische Universum des hartgesottenen Ermittlers, in dem Korruption zum kosmischen metaphysischen Merkmal emporgehoben wird, verkörpert in der femme fatale), schon zuvor in Hollywood-Filmen präsent waren. Dennoch bleibt das Geheimnis der rätselhaften Effizienz und Dauer des Begriffs des noir bestehen: Je mehr Vernet in Bezug auf die Fakten recht hat, je mehr er historische Begründungen anbietet, desto rätselhafter und unerklärlicher wird die außerordentliche Stärke und Langlebigkeit dieses »illusorischen« Begriffs noir – des Begriffs, der jahrzehntelang durch unsere Imagination gegeistert ist.
In einer ersten Annäherung erscheint das Ereignis also als Effekt, der seine Gründe zu übersteigen scheint – und der Raum eines Ereignisses ist derjenige, der von dem Spalt zwischen einem Effekt und seinen Ursachen eröffnet wird. Bereits mit dieser annähernden Definition befinden wir uns mitten im Herzen der Philosophie, da die Kausalität eines der grundlegenden Probleme ist, mit denen sich die Philosophie befasst: Sind alle Dinge durch kausale Verknüpfungen verbunden? Muss alles, was existiert, auf ausreichenden Begründungen beruhen? Oder gibt es Dinge, die irgendwie aus dem Nichts geschehen? Wie kann uns also die Philosophie helfen, zu bestimmen, was ein Ereignis ist – ein Vorfall, der nicht auf ausreichenden Gründen beruht – und wie es möglich ist?
Von ihrem Beginn an scheint die Philosophie zwischen zwei Ansätzen zu schwanken: dem transzendentalen und dem ontologischen oder ontischen. Der erste betrifft die universelle Struktur, wie uns die Realität erscheint. Welche Bedingungen müssen zusammentreffen, damit wir etwas als wirklich existent wahrnehmen? »Transzendental« ist der technische Begriff des Philosophen für eine solche Rahmung, die die Koordinaten von Realität definiert – beispielsweise lässt uns der transzendentale Ansatz gewahr werden, dass für einen wissenschaftlichen Naturalisten allein raumzeitliche materielle Phänomene, die durch Naturgesetze geregelt sind, existieren, während für einen vormodernen Traditionalisten auch Geist und Bedeutungen ein Teil der Realität sind, nicht nur unsere menschlichen Projektionen. Dem ontischen Zugriff andererseits ist es um die Realität selbst zu tun, in ihrer Entstehung und ihrem Einsatz: Wie ist das Universum entstanden? Hat es einen Anfang und ein Ende? Was ist unser Platz darin? Im 20. Jahrhundert hat sich der Spalt zwischen beiden Denkweisen extrem vergrößert: Der transzendentale Ansatz erreichte seinen Gipfel mit dem deutschen Philosophen Martin Heidegger (1889–1976), während der ontologische heute von den Naturwissenschaften gekapert worden zu sein scheint – wir erwarten die Antwort auf die Frage nach den Ursprüngen unseres Universums aus der Quantenkosmologie, der Hirnforschung und der Evolutionstheorie. Am Anfang seines neuen Bestsellers Der große Entwurf – eine neue Erklärung des Universums erklärt Stephen Hawking triumphierend, die Philosophie sei tot:[3] Metaphysische Fragen über den Ursprung des Universums etc., die einmal das Thema philosophischer Spekulationen waren, können nun von der experimentellen Wissenschaft beantwortet und folglich empirisch getestet werden.
Was dem Entdeckungsreisenden auffallen muss, ist, dass beide Ansätze in einem Begriff von Ereignis gipfeln: das Ereignis als Enthüllung des Seins – des Bedeutungshorizonts, der bestimmt, wie wir die Realität wahrnehmen und uns zu ihr in Beziehung setzen – in Heideggers Denken; im ontischen Ansatz, der von der Quantenkosmologie verteidigt wird, das ursprüngliche Ereignis, der Urknall (oder die Symmetriebrechung), aus dem unser gesamtes Universum entstanden ist.
Unsere erste tastende Definition von Ereignis als einem Effekt, der seine Gründe übersteigt, wirft uns also auf eine inkonsistente Vielfalt zurück: Ist das Ereignis eine Veränderung in der Weise, wie die Realität uns erscheint, oder ist es eine erschütternde Transformation der Realität selbst? Reduziert die Philosophie die Autonomie eines Ereignisses oder kann sie genau über diese Autonomie etwas aussagen? Also noch einmal: Gibt es einen Weg, Ordnung in dieses Rätsel zu bringen? Das offensichtliche Vorgehen wäre gewesen, die Ereignisse in Gattungen und Untergattungen zu klassifizieren, um zwischen materiellen und immateriellen Ereignissen, zwischen künstlerischen, wissenschaftlichen, politischen oder privaten Ereignissen zu unterscheiden. Allerdings ignoriert ein solcher Ansatz das grundlegende Merkmal eines Ereignisses: das überraschende Auftreten von etwas Neuem, das jegliches stabiles Schema unterläuft. Die einzig angemessene Lösung ist demnach, sich Ereignissen in einer ereignishaften Weise zu nähern: von einem zum anderen Begriff von Ereignis zu streifen, um damit die bestehenden Sackgassen eines jeden zutage zu fördern, so dass unsere Reise durch die Veränderungen der Allgemeinheit selbst führt, um damit – so hoffe ich – dem nahezukommen, was Hegel die »konkrete Allgemeinheit« genannt hat, eine Allgemeinheit, die nicht einfach ein leerer Behälter ihres jeweiligen Inhalts ist, sondern die stattdessen diesen Inhalt aus der Entfaltung ihrer immanenten Antagonismen, Sackgassen und Inkonsistenzen hervorbringt.
Stellen wir uns also vor, wir befänden uns auf einer U-Bahn-Fahrt mit vielen Haltestellen und Verbindungen, bei der jeder Halt für eine mögliche Definition von Ereignis steht. Der erste Halt wird eine Änderung oder eine Auflösung des Rahmens sein, durch den die Realität uns erscheint; der zweite ein religiöser Sündenfall. Darauf folgt ein Symmetriebruch; die buddhistische Erleuchtung; ein Zusammentreffen mit der Wahrheit, die unser normales Leben erschüttert; die Erfahrung des Selbst als rein ereignishaftes Geschehen; die Immanenz der Illusion in der Wahrheit, die die Wahrheit selbst ereignishaft werden lässt; ein Trauma, das die symbolische Ordnung, in der wir uns befinden, aus dem Gleichgewicht bringt; das Aufkommen eines neuen Herrensignifikanten, eines Signifikanten, der das gesamte Feld der Bedeutung strukturiert; die Erfahrung des reinen Fließens von (Un)Sinn; ein radikaler politischer Bruch; und das Ungeschehenmachen eines ereignishaften Ergebnisses. Die Reise wird holperig, aber aufregend, und es wird viele Erklärungen auf dem Weg geben. Beginnen wir also ohne weitere Verzögerung!
Am 7. September 1944, nach der Invasion der Alliierten in Frankreich, wurden Marschall Philippe Pétain und die Mitglieder seiner Vichy-Regierung von den Deutschen nach Sigmaringen im Süden Deutschlands versetzt. Ein exterritorialer Stadtstaat wurde errichtet, regiert von der französischen Exilregierung, der nominell Fernand de Brinon vorstand. Es gab sogar drei Botschaften innerhalb des Stadtstaats: diejenigen von Deutschland, Italien und Japan. Sigmaringen hatte seine eigenen Radiosender (Radio-patrie und Ici la France) und seine eigene Presse (La France, Le Petit Parisien). Die Bevölkerung der Enklave bestand aus etwa 6000 Einwohnern, unter denen sich bekannte kollaborationistische Politiker (Laval), Journalisten und Schriftsteller (Céline, Rebatet), Schauspieler wie Le Vigan, der in Duviviers Golgatha von 1935 Christus gespielt hatte, sowie deren Familien und etwa 500 Soldaten, 700 SS-Mitglieder und einige französische Zwangsarbeiter befanden. Der Schauplatz war von höchstem bürokratischen Wahnsinn geprägt: Um den Mythos zu stützen, die Vichy-Regierung sei die einzig legitime Regierung Frankreichs (was von einem rechtlichen Standpunkt aus auch zutraf), lief die Staatsmaschinerie in Sigmaringen weiter und stieß einen unendlichen Fluss an Erklärungen, Gesetzen, Verwaltungsentscheidungen aus, ohne jegliche Konsequenz, wie ein Staatsapparat ohne Staat, der ganz allein funktioniert und in seiner eigenen Fiktion gefangen ist.[4]
Die Philosophie erscheint ihren Common-Sense-Widersachern oftmals als eine Art Sigmaringen der Ideen, das seine unbedeutenden Fiktionen auswirft und vorgibt, dem Publikum Einblicke zu geben, von denen die Zukunft der Menschheit abhängt, während das wahre Leben woanders stattfindet, gleichgültig gegenüber den philosophischen Gigantomachien. Ist die Philosophie tatsächlich ein reines Schattentheater? Ein Pseudo-Ereignis, das ohnmächtig reale Ereignisse imitiert? Was, wenn ihre Kraft genau in ihrem Rückzug aus dem direkten Gefecht läge? Was, wenn sie in ihrer Sigmaringen-Distanz von der unmittelbaren Realität der Ereignisse eine viel tiefere Dimension derselben Ereignisse wahrnehmen könnte, so dass der einzige Weg, uns in der Fülle der Ereignisse zu orientieren, darin läge, durch die Brille der Philosophie zu schauen? Um dies zu beantworten, müssen wir zunächst fragen: Was ist Philosophie in ihrer grundlegenden Bedeutung?
Im Februar 2002 ließ sich Donald Rumsfeld – damals US-Verteidigungsminister – auf etwas amateurhaftes Philosophieren über das Verhältnis zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten ein: »Es gibt bekannte Bekannte, Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie wissen. Es gibt bekannte Unbekannte, das heißt, es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie nicht wissen. Aber es gibt außerdem unbekannte Unbekannte – die Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen.« Die Pointe dieser Übung lag darin, den bevorstehenden Angriff der USA auf Irak zu rechtfertigen: Wir wissen, was wir wissen (beispielsweise, dass Saddam Hussein der Präsident des Irak ist); wir wissen, was wir nicht wissen (wie viele Massenvernichtungswaffen Saddam besitzt); aber es gibt vor allem jene Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen – was, wenn Saddam etwa irgendeine Geheimwaffe besäße, von der wir keine Ahnung haben …
Was Rumsfeld hinzuzufügen vergaß, war der entscheidende vierte Term: die »unbekannten Bekannten«, die Dinge, von denen wir nicht wissen, dass wir sie wissen – was exakt dem freudschen Unbewussten entspricht, »das Wissen, das sich nicht weiß«, wie der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan (1901–1981) zu sagen pflegte, dessen Werk ein zentraler Bezugspunkt dieses Buchs ist.[5] (Für Lacan ist das Unbewusste kein prä- bzw. irrationaler Raum der Instinkte, sondern symbolisch artikuliertes Wissen, das dem Subjekt nicht bekannt ist.) Wenn Rumsfeld dachte, dass die Hauptgefahren in der Auseinandersetzung mit Irak in den »unbekannten Unbekannten« lägen, den Bedrohungen durch Saddam, die wir nicht einmal erahnen könnten, hätte unsere Antwort darauf lauten sollen, dass die Hauptgefahren ganz im Gegenteil in den »unbekannten Bekannten« liegen, in den uneingestandenen Glaubenssätzen und Vermutungen, von denen wir nicht einmal selbst wissen, dass wir ihnen anhängen. Diese »unbekannten Bekannten« waren in der Tat der Hauptgrund für die Schwierigkeiten, die die USA im Irak vorfanden, und Rumsfelds Auslassung beweist, dass er kein wahrer Philosoph ist. »Unbekannte Bekannte« sind das bevorzugte Thema der Philosophie – sie bilden den transzendentalen Horizont oder Rahmen unserer Erfahrung von Realität. Erinnern wir uns an den klassischen Topos der frühen Moderne in Bezug auf den Rahmen unseres Verständnisses von Bewegung:
Mittelalterliche Physiker glaubten, dass Bewegung durch einen Impuls verursacht wird. Natürlicherweise befinden sich die Dinge in einem Ruhezustand. Ein Impuls bringt etwas in Bewegung; aber dann ebbt sie ab und bringt das Objekt dazu, langsamer zu werden und anzuhalten. Etwas, das sich weiter bewegt, muss weiter angeschoben werden, und ein Schub ist etwas, das man fühlen kann. (Das war sogar ein Argument für die Existenz Gottes, denn etwas sehr Großes – wie Gott – musste durch Schub die Himmel in Bewegung halten.) Wenn die Erde sich also bewegt, warum fühlen wir das dann nicht? Kopernikus konnte diese Frage nicht beantworten … Galilei hatte eine Antwort auf Kopernikus: Einfache Geschwindigkeit wird nicht bemerkt, nur Beschleunigung. Die Erde kann sich also bewegen, ohne dass wir es fühlen. Außerdem ändert sich die Geschwindigkeit nicht, bis eine Kraft sie verändert. Das ist die Idee der Trägheit, die dann die alte Vorstellung eines Anstoßes ersetzte.[6]
Diese Wende in unserem Verständnis von Bewegung, vom Impuls zur Trägheit, verändert fundamental die Weise, in der wir uns zur Realität ins Verhältnis setzen. Eigentlich ist sie ein Ereignis: In seiner grundlegendsten Definition ist ein Ereignis nicht etwas, das innerhalb der Welt geschieht, sondern es ist eine Veränderung des Rahmens, durch den wir die Welt wahrnehmen und uns in ihr bewegen. Ein solcher Rahmen kann manchmal direkt als eine Fiktion vorgestellt werden, die uns dennoch befähigt, die Wahrheit in einer indirekten Art und Weise zu sagen. Ein sympathischer Fall von »Wahrheit, die die Struktur einer Fiktion hat« sind solche Romane oder Filme, in denen ein Stück, das von Schauspielern dargestellt wird (als Teil der Handlung), die amourösen Verwicklungen im Leben der Schauspieler spiegelt. Dies ist z.B. der Fall in dem Film über die Aufführung von Othello, in der der Schauspieler, der Othello spielt, wirklich eifersüchtig ist und, als die letzte Szene aufgeführt wird, die Schauspielerin, die Desdemona spielt, tatsächlich erdrosselt. Jane Austens Mansfield Park liefert ein frühes Beispiel für dieses Vorgehen. Fanny Price, ein junges Mädchen aus einer armen Familie, wird in Mansfield Park von Sir Thomas Bertram großgezogen. Sie wächst mit vier Cousins und Cousinen, Tom, Edmund, Maria und Julia, auf, wird aber schlechter behandelt als diese; allein Edmund ist freundlich zu ihr, und über die Zeit erwächst daraus eine Liebe zwischen beiden. Als die Kinder erwachsen sind, bricht der gestrenge Patriarch für ein Jahr in die Fremde auf. Während dieser Zeit kommen der modische und mondäne Henry Crawford und seine Schwester Mary in die Stadt, was eine Reihe von romantischen Verwicklungen auslöst. Die jungen Leute kommen auf die Idee, ein Stück auf die Bühne zu bringen, Lovers’ Vows; Edmund und Fanny stellen sich anfangs gegen den Plan, in dem Glauben, Sir Thomas würde es nicht gutheißen. Edmund lässt sich schließlich überreden und übernimmt widerwillig den Part von Anhalt, des Liebhabers der Figur, die von Mary Crawford gespielt wird, allein aus dem Grund, damit die anderen nicht gezwungen sind, einen Fremden für die Rolle suchen zu müssen. Das Stück bietet Mary und Edmund ein Vehikel, um über Liebe und Ehe zu sprechen, und liefert zugleich Henry und Maria einen Vorwand, in der Öffentlichkeit zu flirten. Zur großen Enttäuschung aller kehrt Sir Thomas mitten in einer Probe wieder zurück, worauf der Plan aufgegeben wird.[7] Bis zu diesem Zeitpunkt aber sind wir Zeugen einer vermeintlichen Fiktion, die für eine Realität steht, die niemand zuzugeben bereit ist.
Oft ist es nur einem ähnlichen Perspektivwechsel innerhalb einer Erzählung geschuldet, dass wir erfahren, worum sich die Geschichte eigentlich dreht. Ein viel größeres Meisterwerk noch als das berühmte spätere WR: Mysterien des Organismus ist Dušan Makavejevs Unschuld ohne Schutz (1968) mit seiner einzigartigen Struktur eines »Films im Film«. Sein Held ist Dragoljub Aleksić, ein alternder serbischer Luftakrobat, der seine Kunststücke an Flugzeugen hängend vorführt und während der deutschen Besatzung in Serbien ein lächerlich sentimentales Melodram in Belgrad mit demselben Titel gedreht hat. Makavejevs Film enthält diesen Film vollständig, fügt Interviews mit Aleksić und andere dokumentarische Aufnahmen hinzu. Der Schlüssel zu dem Film ist das Verhältnis zwischen diesen beiden Ebenen und die Frage, die sie aufwerfen: Wessen Unschuld ist schutzlos? Aleksićs Film antwortet: die des Mädchens, das Aleksić von den Machenschaften ihrer bösen Stiefmutter und dem Mann, den sie nach deren Willen heiraten soll, retten will. Die wahre Antwort ist aber: Die »Unschuld ohne Schutz« ist die von Aleksić selbst, der seine gefährlichen Akrobatikkunststücke bis ins hohe Alter hinein vorführt, für die Kamera posiert, spielt und singt, von den Deutschen, dann von Nachkriegskommunisten schikaniert und schließlich von den Filmzuschauern selbst herabgewürdigt wird, die nicht anders können, als über seine lächerlich naiven Darbietungen zu lachen. Je weiter Makavejevs Film fortschreitet, desto mehr werden wir uns des Pathos von Aleksićs unbedingter Treue gegenüber seiner akrobatischen Mission bewusst. Was kann auf lächerlichere Weise tragisch sein, als einem alten Mann dabei zuzusehen, wie er in seinem Keller mit den Zähnen an einer Kette hängt und seinen Körper für die Kamera daran schwingen lässt? Setzt er sich nicht auf diese Art dem öffentlichen Blick in all seiner Unschuld aus, ohne über die Mittel zu verfügen, sich vor dem Spott des Publikums zu schützen? Die Veränderung in unserer Perspektive, wenn wir uns bewusst werden, dass die eigentliche Unschuld, die geschützt werden muss, diejenige Aleksićs ist, obwohl er angeblich unser Held ist, ist das ereignishafte Moment des Films. Es ist die Zurschaustellung der Realität, die sich niemand eingestehen möchte, die sich aber nun als unabweislich darstellt und das Spielfeld verändert hat.
In Hollywood ist die Mutter aller Rahmen natürlich das Zusammenfinden eines Paares. Die englische Wikipedia beschreibt die letzte Szene von Spielbergs Science-Fiction-Thriller Super 8: »das Raumschiff fliegt ins All. Händchenhaltend und ruhig schauen Alice und Joe voller Staunen dem Start zu.« Das Paar findet zusammen – wird hervorgebracht –, sobald das Ding, das Lacan das »traumatische Dritte« nennen würde und das als das zwiespältige Hindernis in der Erschaffung des Paares gedient hat, endlich besiegt ist und verschwindet. Die Rolle des Hindernisses ist zwiespältig, weil es zwar unheilvoll sein kann, trotzdem aber notwendig ist, um das Paar überhaupt zusammenzubringen; es ist die Herausforderung, die sie annehmen, oder das Hindernis, das sie überwinden müssen, um herauszufinden, dass sie zusammen sein möchten.[8]
Wie können wir diesen Erzählrahmen unterlaufen, der das Zusammentreffen mit einem Ding der Herstellung eines Paares unterordnet? Nehmen wir Stanisław Lems klassischen Science-Fiction-Roman Solaris und die Verfilmung von Andrei Tarkowski aus dem Jahr 1972. Solaris erzählt die Geschichte eines Raumfahrtpsychologen, Kelvin, der zu einem halbverlassenen Raumschiff gesandt wird, das sich oberhalb eines neuentdeckten Planeten befindet, Solaris, wo sich in der jüngeren Zeit seltsame Dinge ereignet haben (Wissenschaftler werden wahnsinnig, halluzinieren, töten sich selbst). Solaris ist ein Planet mit einer ozeanisch-flüssigen Oberfläche, die sich unablässig bewegt und von Zeit zu Zeit erkennbare Formen imitiert – nicht nur elaborierte geometrische Strukturen, sondern auch riesige Kinderkörper oder ganze Gebäude. Obwohl alle Versuche, mit dem Planeten zu kommunizieren, scheitern, halten Wissenschaftler die Hypothese aufrecht, dass Solaris ein gigantisches Gehirn sei, das unsere Gedanken lesen kann. Kurz nach seiner Ankunft findet Kelvin seine verstorbene Frau, Harey, neben sich im Bett liegend; sie hatte sich umgebracht, nachdem er sie verlassen hatte. Er ist nicht in der Lage, Harey abzuschütteln, alle seine Versuche, sie loszuwerden, scheitern kläglich (nachdem er sie mit einer Rakete in den Weltraum geschickt hat, erscheint sie am nächsten Tag wieder). Bei der Analyse ihres Gewebes erweist sich, dass sie nicht wie normale Menschen aus Atomen zusammengesetzt ist; unterhalb einer gewissen Mikroebene ist dort nichts, nur Leere. Schließlich begreift Kelvin, dass Solaris, dieses gigantische Gehirn, unmittelbar die innersten Phantasien materialisiert, die unser Begehren tragen; es ist eine Maschine, die mein endgültiges phantasmatisches Objekt in der Realität materialisiert, was ich in Wirklichkeit niemals tolerieren könnte, obwohl mein gesamtes psychisches Leben darum kreist. Harey ist eine Materialisierung von Kelvins innersten traumatischen Phantasien.
In dieser Weise verstanden, handelt die Geschichte von der inneren Reise des Helden, von seinem Versuch, sich mit seiner unterdrückten Wahrheit ins Benehmen zu setzen, oder wie Tarkowski selbst formulierte: »Vielleicht hat Kelvins Mission auf Solaris in Wirklichkeit nur ein Ziel: zu zeigen, dass die Liebe des anderen unabdingbar für alles Leben ist. Ein Mensch ohne Liebe ist kein Mensch. Das Ziel der ganzen ›Solaristik‹ ist zu zeigen, dass Menschsein Liebe sein muss.« In klarem Kontrast dazu konzentriert sich Lems Roman auf die träge externe Anwesenheit des Planeten Solaris, dieses »Dings, welches denkt« (um Kants Ausdruck zu verwenden, der sich hier perfekt einfügt): Der springende Punkt des Romans ist genau, dass Solaris ein undurchdringlicher Anderer bleibt, mit dem uns keine Kommunikation möglich ist. Tatsächlich gibt es uns unsere innersten uneingestandenen Phantasien zurück, aber das »Was willst Du?« hinter der Handlung bleibt sorgfältig verborgen (Warum tut es das? Als eine rein mechanische Antwort? Um dämonische Spiele mit uns zu spielen? Um dabei zu helfen – oder uns dazu aufzufordern –, uns mit der uneingestandenen Wahrheit zu konfrontieren?). Es wäre interessant, Tarkowskis Arbeit mit den kommerziellen Hollywood-Neufassungen von Romanen zu vergleichen, die als Grundlage für Filme gedient haben: Tarkowski unternimmt genau dasselbe wie der billigste Hollywood-Produzent, der das rätselhafte Zusammentreffen mit der Andersheit, dem Ding, in die Rahmenhandlung der Herstellung eines Paares wiedereinschreibt.
Der Weg, aus dem Hollywood-Rahmen auszubrechen, liegt folglich nicht darin, das Ding einfach als Metapher für familiäre Spannungen zu verwenden, sondern es in seiner Bedeutungslosigkeit und undurchdringlichen Anwesenheit zu akzeptieren. Dies geschieht in Lars von Triers Film Melancholia (2011), der eine interessante Umkehrung der klassischen Formel eines Objekt-Dings (ein Asteroid, ein Außerirdischer) inszeniert, das als Hindernis in der Herstellung des Paares dient. Am Ende des Films zieht sich das Ding (ein Planet auf Kollisionskurs mit der Erde) nicht zurück wie in Super 8; es schlägt auf der Erde ein, zerstört alles Leben, und der Film handelt von verschiedenen Arten, wie die Hauptfiguren mit der drohenden Katastrophe umgehen – mit Reaktionen, die von Selbstmord bis zum zynischen Einverständnis reichen. Der Planet ist also das Ding in Reinform, wie Heidegger es nennen würde: das reale Ding, das jeglichen symbolischen Rahmen auflöst; wir sehen es, es ist unser Tod, und wir können nichts unternehmen.[9] Der Film beginnt mit einer Eröffnungssequenz in Zeitlupe, in der die Hauptfiguren und Bilder aus dem Weltraum sich vermischen und die visuellen Motive eingeführt werden. Eine Aufnahme von einem Aussichtspunkt aus dem Weltraum zeigt einen gigantischen Planeten, der sich der Erde nähert; sie stoßen zusammen. Der Film setzt sich in zwei Teilen fort, jeweils nach einer von zwei Schwestern benannt: Justine und Claire.
Der erste Teil, »Justine«, zeigt ein junges Paar, Justine und Michael, bei ihrem Hochzeitsempfang auf dem Anwesen von Justines Schwester Claire und ihrem Ehemann John. Der aufwendige Empfang dauert von morgens früh bis in die Nacht mit Essen, Trinken, Tanzen und den üblichen familiären Konflikten (Justines verbitterte Mutter macht sarkastische und verletzende Kommentare, die mit Johns Versuch, sie vor die Tür zu setzen, enden; Justines Chef verfolgt und bekniet sie, einen Werbetext für ihn zu verfassen). Justine zieht sich nach und nach von der Party zurück und distanziert sich; sie hat Sex mit einem Fremden auf dem Rasen, und am Ende der Party verlässt Michael sie.
Im zweiten Teil, »Claire«, zieht die kranke, depressive Justine bei Claire, John und deren Sohn Leo ein. Obwohl Justine nicht in der Lage ist, normale alltägliche Dinge zu verrichten, wie ein Bad zu nehmen oder sogar zu essen, stabilisiert sie sich mit der Zeit. Während ihres Aufenthalts wird Melancholia sichtbar, ein enormer blauer, der Erde ähnlicher Planet, der hinter der Sonne versteckt gewesen war, und nähert sich der Erde. John, ein Amateurastronom, ist aufgeregt wegen des Planeten und freut sich auf den »Fly-by«, den die Wissenschaftler erwarten, die der Öffentlichkeit versichert haben, dass Erde und Melancholia aneinander vorbeiziehen werden, ohne zu kollidieren. Aber Claire hat Angst und glaubt, das Ende der Welt sei nahe. Im Internet findet sie eine Seite, die die Bewegungen von Melancholia um die Erde herum als »Todestanz« beschreibt, mit denen das mutmaßliche Vorbeiziehen Melancholias an der Erde eine Schwerkraftumlenkung bewirken wird, die die Planeten kurz darauf kollidieren lassen. In der Nacht des Vorbeiflugs scheint es, dass Melancholia die Erde nicht treffen wird; dennoch verstummen die Vogelgesänge abrupt, und am nächsten Tag bemerkt Claire, dass Melancholia zurückkommt und doch mit der Erde zusammenstoßen wird. John, der ebenfalls entdeckt, dass das Ende naht, begeht mittels einer Überdosis Tabletten Selbstmord. Claire wird immer unruhiger, während Justine vollkommen unbeeindruckt von dem bevorstehenden Weltuntergang erscheint: Ruhig und still akzeptiert sie das nahende Ereignis und behauptet zu wissen, dass nirgendwo sonst im Universum Leben existiere. Sie tröstet Leo, indem sie eine schützende »Zauberhöhle« baut, eine symbolische Zuflucht aus Zweigen im Garten des Anwesens. Justine, Claire und Leo ziehen sich in das Häuschen zurück, als sich der Planet nähert. Claire ist weiterhin nervös und ängstlich, während Justine und Leo ruhig bleiben und einander an den Händen halten. Alle drei verbrennen sofort, als sich der Zusammenstoß ereignet und die Erde zerstört.
In diese Erzählung sind zahlreiche einfallsreiche Details eingestreut. Um Claire zu beruhigen, schlägt John ihr vor, durch eine Drahtschlinge auf Melancholia zu schauen, die genau seine kreisförmige Gestalt umfasst und damit einrahmt, und dieses Procedere zehn Minuten später zu wiederholen, wobei sie feststellen wird, dass die Form kleiner geworden ist und Lücken in der Einrahmung hinterlässt – als Beweis dafür, dass sich Melancholia von der Erde entfernt. Sie tut es und jubelt, als sie die kleiner gewordenen Umrisse sieht. Als sie aber einige Stunden später durch denselben Rahmen auf Melancholia schaut, ist sie entsetzt, als sie bemerkt, dass die Umrisse des Planeten sich weit über den Rahmen der Drahtschlinge ausgedehnt haben. Der Kreis ist der Kreis der Phantasie, der die Realität einrahmt, und der Schock setzt ein, als das Ding hindurchbricht und sich in die Realität ergießt. Es gibt auch wunderbare Detailaufnahmen von Verwirrungen, die sich in der Natur ereignen, als sich Melancholia der Erde nähert: Insekten, Würmer, Raupen und andere abstoßende Geschöpfe, die normalerweise unter grünem Gras versteckt sind, kommen an die Oberfläche und machen das abstoßende Kriechen des Lebens unter der idyllischen Oberfläche sichtbar – das Reale, das in die Realität einfällt und ihr Bild ruiniert. (Das ist in David Lynchs Blue Velvet ähnlich, wo in einer berühmten Einstellung nach dem Herzinfarkt des Vaters die Kamera äußerst nah an die Grasoberfläche heranfährt, dann in sie eindringt und das Krabbeln ihres Mikrolebens, das abstoßende Reale unter ihrer idyllischen Vorortoberfläche, sichtbar werden lässt.)[10]
Die Idee zu Melancholia entstand in einer Therapiesitzung, die von Trier während einer Behandlung wegen Depression besuchte: Der Psychiater erzählte ihm, dass depressive Menschen dazu tendieren, ruhiger zu handeln als andere, wenn sie unter Druck oder der Bedrohung durch eine Katastrophe stehen – sie erwarten immer schon, dass das Schlimmste geschehen wird. Diese Tatsache bietet ein weiteres Beispiel für den Spalt zwischen Realität – dem sozialen Universum etablierter Gewohnheiten und Meinungen, in dem wir leben – und der traumatischen, bedeutungslosen Brutalität des Realen: Im Film ist John ein »Realist«, ganz und gar in der normalen Realität verankert, so dass, als die Koordinaten dieser Realität sich auflösen, seine ganze Welt zusammenbricht. Claire ist eine Hysterikerin, die in ihrer Panik alles zu hinterfragen beginnt, aber nichtsdestoweniger den vollständigen psychotischen Zusammenbruch vermeiden kann. Und die depressive Justine macht genauso weiter wie immer, denn sie lebt bereits in einem melancholischen Rückzug von der Realität.
Der Film fächert vier subjektive Haltungen gegenüber diesem endgültigen Ereignis (des Planeten, der die Erde trifft) auf, wie Lacan sie verstehen würde. John, der Ehemann, ist die Verkörperung des Universitätswissens, das in der Begegnung mit dem Realen zusammenbricht; Leo, der Sohn, ist die engelhafte Objekt-Ursache des Begehrens für die anderen drei; Claire ist die hysterische Frau, das einzige volle Subjekt des Films (insofern als Subjektivität Zweifel, Hinterfragen, Inkonsistenz bedeutet); und dies lässt überraschenderweise für Justine nur die Position des Herren übrig, desjenigen, der eine Situation von Panik und Chaos zu stabilisieren vermag, indem er einen neuen Herrensignifikanten einführt, der Ordnung in eine verworrene Situation bringt und ihr die Stabilität von Bedeutung verleiht. Ihr Herrensignifikant ist die »Zauberhöhle«, die sie baut, um einen geschützten Ort zu haben, wenn das Ding sich nähert. Wir sollten hier allerdings vorsichtig sein: Justine ist kein schützender Herr, der eine schöne Lüge zur Verfügung stellt – in anderen Worten: Sie ist keine Roberto-Benigni-Figur wie in Das Leben ist schön.[11] Was sie bereitstellt, ist eine symbolische Fiktion, die selbstverständlich keine magische Wirkung hat, die aber auf der Ebene der Panikvermeidung funktioniert. Justines Ansatz ist es, uns nicht angesichts der nahenden Katastrophe zu blenden: Die »Zauberhöhle« befähigt uns, das Ende freudig hinzunehmen. Darin liegt nichts Krankhaftes; ein solches Hinnehmen ist im Gegenteil der notwendige Hintergrund für konkretes soziales Engagement.[12] Justine ist demnach die Einzige, die in der Lage ist, eine angemessene Antwort auf die bevorstehende Katastrophe und die vollkommene Auslöschung eines jeden symbolischen Rahmens zu geben.
Um dieses Hinnehmen eines solchen radikalen Endes in angemessener Weise zu erfassen, sollten wir einen Vergleich zwischen von Triers Melancholia und Terrence Malicks