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2-Sylter-Geschichten Stolz ist Reichtum und Schwäche für die, die sonst nichts Nennenswertes vorweisen können. Klaas Ockenga Carina Carina wächst nach dem plötzlichen Tod der Eltern bei ihrem Großvater auf der schönen Nordseeinsel Sylt auf. Sie eifert in allem ihrem toten Vater nach, will Rechtsanwältin und Pferdezüchterin werden. Doch es kommt anders. Sie wird als Model entdeckt. In der Welt zählt nur eins: Schönheit. Sie verfällt nun in diesen Wahn. Als ihr Großvater stirbt, erbt sie ein kleines Vermögen und eine Pferdezucht. Sie lernt den Tierarzt Torben kennen, und weiß, das wird ihr Mann. Sie sieht sich am Ziel all ihrer Wünsche. Sie ist reich, schön und alle sollen das anerkennen, ihr zu Füßen liegen. Nur sie verliert fast alle Freunde, den Mann, den sie liebt und steht vor einem Scherbenhaufen. Carla Carla bekommt ihren Traumjob als Fitnesstrainerin in einem exklusiven Fünf-Sterne Hotel auf Sylt. Sie hat dort eine kleine Wohnung gefunden und lebt sich schnell ein. Ihr 3-jähriger Sohn Sören ist vom ersten Moment an verliebt in die Insel, wo er endlich seinen ganzen Tatendrang völlig unbeschwert ausleben kann. Sylt ist gerade in aller Munde, entwickelt sich zu der Insel der Reichen, Schönen und der Partys. Ganz nach Carlas Geschmack. In diesen Kreis der Klientel möchte auch sie schnellstens aufsteigen. Nur der Alltag zeigt bald seine Tücken. Alle Versuche scheitern, den Mann zu finden, der sie in die Partyszene einführt. Dann tritt Sörens Vater erneut in ihr Leben. Mit allerlei Psychotricks versucht sie, den reichen Mann zu umgarnen, dabei rutscht sie immer weiter ab.
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Seitenzahl: 1509
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Angelika Friedemann
2 Sylter-Geschichten
Carina
Carla
Impressum
Copyright: © 2023 Alle Rechte am Werk liegen beim Autor: Angelika Friedemann, Herrengasse 20, Meinisberg/ch. [email protected]
Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783751983594
Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder Reproduktion (auch auszugsweise) in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder anderes Verfahren) sowie die Einspeicherung, Verarbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung mit Hilfe elektronischer Systeme jeglicher Art, gesamt oder auszugsweise, ist ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung untersagt. Alle Übersetzungsrechte vorbehalten.
Bildnachweis: Quelle: piqs.de
Carina
Stolz ist Reichtum und Schwäche für die,
die sonst nichts Nennenswertes vorweisen können.
Klaas Ockenga
~~~~~~
Über den noch blauen Himmel zogen langsam vom Wattenmeer her, dunkle, bedrohliche Wolken, die bedingt durch den immer stärker werdenden Wind, schnell näher kamen. Jetzt jedoch schien noch die Sonne auf das kleine Planschbecken, welches im Garten stand. Die drei Mädchen sprangen quietschend vor Freude darin herum, während Pieter Jensen ihnen schmunzelnd von der Terrasse aus zuschaute. Selbst Klaafs, der in die Jahre gekommene Schäferhund, war schon in Deckung gegangen, nachdem er einen Schwall Wasser abbekommen hatte. Im Augenblick lag er zu Pieters Füßen und schnarchte vor sich hin, während er sich seine Pfeife ansteckte und abermals auf seine Uhr blickte.
„Na, Pieter, da hast du den drei Lütten ja eine Freude gemacht.“
„Moin, Thekla! Na, die Deern wollte unbedingt so ein Becken. Da hab ich’s man gekauft, nöch. Willst du deine Kleine abholen?“
„Lieber jetzt. Da scheint ein Unwetter zu kommen und ich muss auch noch zu den Hansens, Krischan holen, da kann ich gleich Petra mitnehmen. Katja, Petra, kommt, anziehen! Wir müssen los“, rief sie die beiden Mädchen. Die kamen gleich angerannt. „Mama, lass mich doch noch ein bisschen bleiben!“
Pieter stand auf, da das Telefon klingelte.
Einige Minuten später kam er raus und Thekla erschrak, er war kreideweiß und sie sah, wie die Pfeife in seiner Hand zitterte. Er schien um Jahre gealtert.
„Pieter, ist dir nicht gut?“
Er setzte sich und es dauerte einen Moment, bis er antworten konnte.
„Robert … er … sie hatten einen … Unfall. Sie sind alle… Sie wollten doch die Deern abholen. Wie soll ich ihr das bloß sagen?“ Er sprach kaum hörbar. Thekla sah entsetzt den großen Mann mit den fast weißen Haaren an und begriff, dass etwas Schlimmes passiert war. Sie legte ihre Hand auf Pieters Schulter und drückte leicht zu.
„Komm, trink man ´nen Lütten, dann geht es dir gleich besser.“
Sie ging hinein, kam wenig später mit einem Schnapsglas heraus, reichte es dem Mann und der kippte ihn gleich hinunter. Allmählich fasste er sich und blickte auf seine Enkelin, die noch fröhlich mit Wasser herumtollte und spritzte. Die arme Deern, ging es ihm durch den Kopf.
„Geht’s?“
Er sah zu ihr hoch. „Ist schon gut. Mut ja man!“
Thekla Nielsen sagte nichts weiter, wischte sich verstohlen über das Gesicht, auch bei ihr saß der Schock tief. Wenig später verabschiedeten sich die drei Personen.
Pieter schickte seine Enkeltochter anziehen. Er räumte draußen alles ein wenig zusammen, ohne darüber nachzudenken, da sich der Himmel immer mehr verfinsterte, während sich die Äste unter dem wütenden Wind bereits bogen und die Blätter rauschen ließ. Einzelne Sturmböen brausten heftig über das Land und Klaafs legte sich auf seine Decke im Wohnzimmer, seitlich neben dem Kamin. Hier war sein Lieblingsplatz, besonders in den kalten Wintermonaten, wenn lustig das Feuer flackerte und knisterte.
„Opa, heute ist er ja man doll wütend, was?“
„Wen meinst du denn, min Deern?“
„Na, den blanken Hans natürlich.“ Carina sah ihren Großvater staunend mit ihren großen, grünen Augen an.
Pieter ging in die Küche, kochte Kakao und für sich Tee. „Opa, wann kommen denn Mama und Papa? Die wollten doch heute Nachmittag hier sein.“
„Carina, setz dich. Ich muss dir etwas sagen.“
Jetzt liefen die Tränen, die er schnell wegwischte. Er stellte, mit zitternden Fingern, die beiden Pötte auf den Tisch und setzte sich neben seine Enkeltochter, legte einen Arm um sie, zog sie enger an sich. „Mama und Papa kommen nicht. Die Polizei von Heide hat angerufen, sie hatten einen Autounfall.“ Seine Stimme brach und er musste eine Pause machen.
„Nu haben sie den Zug verpasst“, lachte sie ihn an.
„Nein, nicht ganz. Deine Eltern hatten einen schweren Unfall und sind… tot.“ Die Tränen rollten. Er bemerkte, wie das Kind ihn groß ansah, so zog er sie enger an sich. Der kleine Körper in seinem Arm zitterte.
„Opa, was heißt das? Kommen sie erst später?“ Die knapp dreijährige Deern verstand den Sinn nicht und Pieter erklärte es ihr mit vorsichtigen Worten. Erst allmählich begriff sie und weinte bitterlich in den Armen ihres Großvaters.
Nachdem Carina endlich eingeschlafen war, saß Pieter im Wohnzimmer und sah die Fotografien seines Sohnes und seiner Schwiegertochter an. Auch er selbst konnte das alles noch nicht erfassen.
Gerade erst vor drei Wochen, als sie ihm die Lütte gebracht hatten, waren sie so glücklich gewesen, da Eileen nochmals schwanger war. Sie wollten so gern noch ein Brüderchen für ihre Tochter und er hatte sich mit den beiden gefreut: Ein weiteres Enkelkind!
Die dunkelbraunen Augen seines Sohnes sahen ihn lachend an. Es war ein stolzes, hübsches Gesicht, es strahlte Übermut, Lebensfreude aus, so wie Robert auch immer war. Als Kind manchmal kaum zu bändigen, ständig unterwegs, mit einen Kopf in dem nur Unfug und Dummheiten zu steckten schienen. Dabei ein guter Schüler, sehr intelligent, wissbegierig. Alles fiel ihm leicht, das Lernen, das Studium. Ständig hatte er alles hinterfragt, wollte alles wissen. Es gab kein Thema, was ihn nicht interessierte. Seine besondere Liebe aber gehörte, schon seit seiner Kindheit, den Pferden und der Natur, später kam die Arbeit seines Vaters dazu. Bereits mit dreizehn, vierzehn Jahren hatte er sich für dessen Fälle interessiert, mit ihm darüber gesprochen und auch da alles begehrt zu wissen. Für Robert stand früh fest, dass er einmal in die Fußstapfen seines Vaters treten würde, und bald wollte die Familie zu ihm ziehen, Robert seine Kanzlei übernehmen. Daneben seine Schwiegertochter, die zierliche, aparte, rothaarige, nüddeliche Frau mit den meergrünen Augen: Ruhiger, stiller, aber auch in ihr hatte man die Freude am Leben gespürt. Sie, die mit der Natur eins zu sein schien, die begabte Fotografin, die stets durch einmalig, aussagekräftige Landschaftsaufnahmen von sich reden, machte. Ein glückliches, zufriedenes Paar.
„Ach, Lisa“, sprach er mit seiner Frau, „nun sind die beiden bei dir und ich bin ...“ Was passiert eigentlich mit der Lütten? Pieter bekam einen Schreck.
Draußen tobte das Unwetter, wie er erst jetzt bemerkte. Der Sturm pfiff um sein Haus, die Bäume und deren Ästen krümmten sich, knarrend und ächzend. Der Regen peitschte gegen die Scheiben, um als kleiner Sturzbach daran herunter zu fließen.
Er ging zum Telefon und rief seinen Freund Rolf Tieken an. Nur mühsam gelang es ihm, von dem Tod seines Sohnes zu sprechen. Es folgte eine Weile Schweigen auf beiden Seiten, auch für Rolf war es ein Schock. Er kannte den Jungen von Geburt an, er war mit seinen Söhnen Klaas und Lars zusammen aufgewachsen, ein ständiger Gast in seinem Haus gewesen. Auch hier kam nach einer Weile die Frage: Was passiert mit Carina?
„Die Deern wird dann eben bei mir bleiben müssen, nöch. Ich muss mich da morgen drum kümmern. Ich muss nach Hamburg, alles Auflösen und für die Beerdigung sorgen. Sie werden neben Lisa ihre letzte Ruhe finden“, brachte er mit zitternder Stimme, leicht schleppend, heraus.
Die Tränen flossen über seine Wangen, über das Gesicht. Kurze Zeit später beendete er das Gespräch. Erneut griff er zum Hörer, auch ihre Eltern mussten benachrichtigt und die schmerzliche Nachricht überbracht werden. Es war eine schwere Bürde für ihn, aber es musste sein. Maureen McGillem meldete sich und Pieter versuchte, ihr so schonend wie möglich von dem Tod ihrer Tochter zu erzählen. Er hörte ihren Schrei und wenig später sprach er mit Ian. Auch da folgte ein Weilchen Stille, was sollte man auch sagen? Der Schock musste aufgenommen und verarbeitet werden. Pieter legte wenig später auf, da man alles Weitere morgen besprechen wollte, wenn man mehr wusste.
Mit seiner Pfeife in der Hand setzte er sich vor das Fenster, schaute den Urgewalten der Natur zu. Er wusste, schlafen konnte er in dieser Nacht sowieso nicht. Umständlich, immer noch mit zitternden Fingern, zündete er sie nach einigen Versuchen an.
Zweiunddreißig Jahre war es her, dass seine Frau Lisa bei der Geburt von Robert gestorben war. Damals gab es noch keine so gute medizinische Versorgung wie heute. Sie war nach der Geburt zu schwach gewesen, das kleine zierliche Wesen. Sie war ihm immer so vorgekommen, als wenn sie ein Engel wäre, mit ihren langen, blonden Haaren, den Augen, so blau wie das Meer. Drei Jahre hatten sie gewartet, bis sie endlich schwanger wurde. Wie hatten sie sich auf das Kind gefreut. Lisa war nur noch berauscht die Monate über durch die Gegend gelaufen, fast geschwebt und ihm war es nicht anders gegangen. Alles schien so perfekt, bis zu dem Tag der Geburt seines Sohnes. Sie hatte Stunden vorher schon keine Kraft mehr, dass Kind musste geholt werden. Der Blutverlust und die Strapazen waren zu viel für diese kleine feingliedrige Frau gewesen. Nur einmal noch hatte sie kurz die Augen geöffnet und ihn fragend angesehen. Er hatte ihre Hand gehalten, ihr von dem Sohn erzählt und sie schlief lächelnd und zufrieden für immer ein. Erst nach Minuten oder waren es Stunden, er wusste es nie, kam eine Schwester, und die Gewissheit, dass sie für immer gegangen war.
Für ihn war eine Welt zusammengestürzt. Der Schmerz war damals fast unerträglich, aber er konnte nicht lange trauern, da war schließlich ein Kind, ein Säugling, um den er sich kümmern musste, die Hinterlassenschaft seiner geliebten Frau.
Aber da war Ulla Tieken gewesen, die ebenfalls vor einigen Monaten den kleinen Klaas bekommen hatte, die Freundin seiner Frau, die sich gerade die ersten Monate um alles gekümmert hatte. Sie zeigte ihm, wie man mit einem Baby umging, wie man es pflegte, wickelte, wie man eine Flasche zubereitete und es später fütterte.
Nach fünf Monaten hatte er sich Mathilde geholt. Eine ältere Frau aus der Nachbarschaft, die ihm geholfen hatte, den Haushalt zu bewältigen, und die sich um den Jungen kümmerte. Er musste schließlich arbeiten. Da war seine Kanzlei, die Pferde, die Wiesen, das große Haus mit dem Garten.
„Opa, ich kann nicht schlafen.“
Pieter schreckte aus seinen Erinnerungen hoch, als er die Stimme seiner Enkelin hörte. Er nahm sie auf seinen Schoß und gleich drückte sich die Kleine fest an ihn.
„Der blanke Hans ist heute besonders wütend und pfeift über die Insel. Komm, ich bring dich in dein Bett und erzähle dir noch eine Geschichte.“
Auf dem Arm trug er sie nach oben, legte sie ins Bett und deckte sie zu.
„Opa, ist der so wütend, weil Mama und Papa nicht mehr kommen?“
„Vielleicht, min Deern, vielleicht. Es waren einmal zwei kleine Nixen, Siri und Kira. Siri hatte immer vor allem Angst, Kira dagegen war immer schrecklich abenteuerlustig, musste alles nachsehen und war neugierig. Sie lebten tief im blauen Meer bei König Finn, in einem schönen, weißen Unterwasserschloss.“
„Opa, sind Mama und Papa im Himmel?“
Seine große, warme Hand umschloss die Kleine seiner Enkelin. „Ja, min Deern. Sie sind bei Oma und sie schauen auf uns beide hinunter und passen gut auf uns auf.“
„Sind sie so wie Sterne?“
„Ja und wenn morgen der Himmel klar ist, gucken wir beide uns die Sterne an und vielleicht entdecken wir die drei.“
„Kann ich dann doch noch mit ihnen reden und hören sie mich?“
„Aber sicher doch, min Deern. Du kannst auch weiter deinen Eltern alles erzählen. Sie hören dir zu und wenn du Glück hast, genau aufpasst und zuhörst, antworten sie dir ganz, ganz leise. Was aber nur du mit deinem Herzen hören kannst, sonst niemand.“
„Opa, bleib ich jetzt immer bei dir?“
„Aber sicher doch. Ich kann dich ja nicht allein lassen, nöch.“
„Aber meine Spielsachen?“
„Da mache dir man keine Sorgen, die Sachen hole ich alle her. Du bleibst dann für ein paar Tage bei Tante Thekla. Ich fahre nach Hamburg und regle da alles. So, min Deern, nu schlaf man.“
„Gute Nacht, Opa, ich habe dich lieb.“
„Ich habe dich auch sehr lieb, min Lütte.“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, nahm die kleinen Hände seiner Enkelin und wartete, bis sie eingeschlafen war.
Mit einer großen Tasse Tee und seiner Pfeife in der anderen Hand setzte er sich an das Fenster, blickte hinaus. Der Regen hatte etwas nachgelassen und auch das Heulen des Sturmes verlor an Intensität. Er wusste aus jahrelanger Erfahrung, dass es schnell besser würde. Klaafs stand müde auf, streckte seine alten Knochen, bevor er sich zu Pieters Füssen niederließ, nicht ohne vorher noch einmal tief auszuschnaufen. „Ja, mein Alter, wir sind beide auch nicht mehr die Jüngsten, aber nun müssen wir doch noch einmal ein Kind groß ziehen.“ Er streichelte dem Schäferhund über den Kopf, worauf der sich wollig reckte, verschlafen gähnte.
„Was meinst du, schaffen wir das noch einmal?“ Klaafs hob seinen Kopf und schaute ihn an. „Ich weiß, mein alter Freund. Wir müssen es schaffen. Die Deern hat ja nur noch uns beide.“
Linkisch zündete er sich seine Pfeife an und bemerkte erst jetzt, wie seine Hände immer noch zitterten.
Warum Robert, warum Eileen, warum? Warum sie und nicht ich? Sie hatten doch noch ihr ganzes Leben vor sich. Erneut rannen ihm die Tränen über das Antlitz und heute fühlte er sich so alt, so verbraucht, so kraftlos. Er war Sechsundsechzig, kam sich aber wie hundert vor. Kein Vater sollte seinen Sohn zu Grabe tragen müssen, das ist nicht richtig, auch nicht die Tochter und deren ungeborenes Kind. Er gab sich seiner Trauer, seiner Verzweiflung, seinem Schmerz hin.
~~~~~~
Genau acht Wochen waren seit jenem schrecklichen Tag vergangen. Die Beerdigung war vorbei, sowie die Wohnung in Hamburg aufgelöst. Carinas Sachen waren in seinem Haus untergebracht, ihr Zimmer eingerichtet. Einige Kisten mit Erinnerungsstücken ihrer Eltern lagen im Keller, gut verpackt, für später einmal.
Jetzt drang ihr Lachen in sein Büro und er sah schmunzelnd seine Sekretärin an. „Helga, ich bin dankbar, dass sie wieder richtig lacht, Kinder sind da anders, sie vergessen schneller. Warum geht das nicht auch bei mir so?“
Sie gab ihm keine Antwort, sie wusste, er erwartete keine. Sie kannte ihren Chef lange genug und besonders in den letzten Wochen, sprach er oft mit sich selbst. Sie wusste, wie sehr ihn das alles getroffen hatte. Er hatte seinen Sohn und seine Schwiegertochter abgöttisch geliebt und den Verlust konnte man nicht so schnell verarbeiten.
Es gab Tage, da begehrte er gegen das Schicksal auf. Er ging an solchen Tagen zum Stall, sattelte Rassoul, ritt im scharfen Trab hinüber bis zum Meer und galoppierte wie ein Sturm den Strand entlang. Verzweiflung und Aufbegehren tief im Herzen. Er stand dann am Wasser, der große, breitschultrige Mann mit seinen schlohweißen Haaren, die im Wind wehten. Seine braunen Augen blitzten dann fast schwarz.
„Wenn ich es doch gewesen wäre“, brüllte er auf das weite Meer hinaus. „Ich! Aber min Jung! Was hatte der Jung´ verbrochen, was Eileen, was das Lütte?“
Doch diese Ausbrüche dauerten nie lange. Er wusste, man musste sich damit abfinden und der raue Wind pustet schnell all die düsteren Gedanken aus seinem Kopf. Das Schicksal konnte man nicht beeinflussen.
Abermals drang Carinas Lachen zu ihnen herein und Pieter sammelte sich. Er nahm die Mappe und unterschrieb die Briefe, die sie ihm vorgelegt hatte. Das Leben musste schließlich weitergehen und hatte er die Verantwortung für ein dreijähriges Mädchen.
Erst als er allein war, sah er sich das Foto seines Sohnes an, der ihn gut gelaunt anlachte.
„Papa, du schaffst alles“, hatte er damals zu ihm gesagt, als er sich weigerte, mit ihm Skilaufen zu lernen, da war Robert dreizehn gewesen.
„Danke, Papa, für alles. Du bist der beste und liebste Vadding den es auf der ganzen Welt gibt.“ Das war an dem Tag gewesen, als er seine Noten bekommen und das Abitur, als der Beste seines Jahrgangs, gemacht hatte.
Er war immer so stolz auf seinen geliebten Sohn gewesen, so stolz. Erneut spürte er Tränen, der Abschied und das endgültige Loslassen taten so weh. Aber er wusste auch, dass er mit der Zeit, der Schmerz weniger würde.
„Du bist doof, du oller Döskopp!“ Carinas wütende Stimme drang zu ihm und er stand auf, trat an das offene Fenster. Dieser kleine Wirbelwind holte gerade aus und trat dem drei Jahre älteren Daniel gegen das Schienbein, worauf der schmerzverzerrt und wütend aufschrie.
„Carina, es ist Schluss“, rief er seiner Enkeltochter zu.
„Opa, der hat an meinen Haaren gezogen“, empörte sich die Kleine.
„Du siehst ja auch wie ´ne Hexe aus, mit den roten Haaren. So ´ne spillerige Kröte, eben“, tönte es von Daniel zurück. „Oder wie ´ne Vogelscheuche, du dumme Deern.“
Carina steckte ihm die Zunge raus und rannte weg. Wenig später stürmte sie aufgebracht in das Büro, ging an der verblüfften Frau Helmer vorbei, direkt in das Zimmer ihres Großvaters und funkelte ihn empört an.
Pieter sah seine Enkeltochter an und musste sich ein Lachen verkneifen. Die kleine Stirn war in Falten gezogen, der Mund trotzig zusammengepresst, die Stupsnase ragte in die Höhe und die rote Lockenmähne kringelte sich um ihr Gesicht. Sie stemmte die kleinen Arme in die Hüfte, wütend. „Opa, der hat angefangen. Der ist so doof und ich habe mich nur gewehrt.“
„Deern, das macht man nicht, nöch? Wenn jemand etwas Dummes sagt, dann hört man weg. Das ist es doch nicht wert, dass man sich deswegen Ärger einhandelt. Deine Haare sind etwas Exquisites, so etwas hat nicht jede Deern. Daniel weiß das eben nicht.“ Pieter versuchte, seine Enkeltochter streng anzusehen. „So, nun reg dich ab. Carina, es heißt nicht der. Sondern er und man tritt oder haut nicht. Alles verstanden?“
„Wenn der doch doof ist.“
Pieter Jensen erhob sich und ging zu ihr, sah auf sie hinunter, bemüht, sie ernst anzusehen. „Auch dann nicht, verstanden! Carina, du bekommst großen Ärger und nochmals, sage nicht der.“
Carina drehte sich um und sekundenspäter knallte die Tür zu. Pieter lächelte jetzt doch. Die Kleine war so ein richtiger Sturmwind und er hatte manchmal seine liebe Not mit ihr, wie er in den letzten Wochen festgestellt hatte. Er setzte sich, widmete sich der Akte, die aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch lag.
„Verdammt, du Blödmann! Kannst du nicht aufpassen?“ Carinas Stimme hallte schon zu ihm und er erhob sich abermals, um zu sehen, was los war. So ging es andauernd, besonders wenn die beiden Jungen zum Spielen da waren.
„Au! Spinnst du?“ Daniel hüpfte auf einem Bein herum, während Carina ihn wütend anfauchte. „Du bist wirklich zu dämlich.“
„Carina, es reicht“, meckerte Pieter dazwischen. „Du kannst in dein Zimmer gehen und allein spielen, wenn nicht gleich Ruhe ist. Dumm Tügs.“
„Opa der ... er hat…“
„Ich hatte gerade etwas gesagt. Schluss jetzt!“
Sie hörte an der Stimme ihres Großvaters, dass er wütend war, und sagte nichts mehr, streckte aber Daniel, bevor sie zu Petra und Katja eilte, noch schnell die Zunge heraus.
Ich muss mit der Lütten ein ernstes Wort reden, nahm sich Pieter vor. Manchmal war es schon schwierig, der Deern die Eltern zu ersetzen, und der Jüngste war er nun auch nicht mehr. Fünfzehn Jahre musste er noch durch halten, dann war sie volljährig und hatte ihr Abitur in der Tasche, so hoffte er. Was danach passierte, würde man sehen. Leise seufzte er, bevor er sich seinen Akten widmete.
~~~~~~
Carina blickte von der Bühne, berauscht, stolz und sehr selbstbewusst, zu ihrem Großvater hinunter, der zu ihr hoch lächelte. Sie wusste, dass er heute sehr stolz auf sie war. Sie hatte mit den besten Abiturnoten die Schule beendet und würde in wenigen Wochen in Hamburg ihr Studium beginnen. Nachdem auch die nächsten zwei ihre Zeugnisse erhalten hatte, ging sie zu ihm und fiel ihm um den Hals.
„Danke, Opa, für alles. Du bist der beste Mensch auf der ganzen Welt und ich habe dich schrecklich lieb.“
Sie spürte, wie gerührt der alte Mann war und sie an sich drückte. „Ist ja schon gut, min Deern. Du hast das allein geschafft und ich bin stolz auf meine tüchtige und nüddeliche Enkeltochter. Komm, fahren wir zum Deichgraf.“
Fast die gleichen Worte hatte damals sein Sohn zu ihm gesagt, ging es ihm durch den Kopf und gleich spürte er die Trauer, die ihn nie losließ.
„Opa, warum soll ich die blöden Hausaufgaben machen, ich weiß doch alles und habe immer die besten Noten“, hatte sie ihm wiederholt gesagt, wenn es zum hundertsten Mal Ärger in der Schule gab. Wie oft in den Jahren war er zu einem Lehrer und dem Direktor bestellt worden? Er wusste es nicht mehr. Diesen Wildfang konnte keiner bändigen, auch er nicht.
Carina hatte sich nie etwas gefallen lassen, und von Diplomatie hielt sie nichts, auch heute noch nicht. Aber die Deern war goldrichtig und ich glaube, ich habe gute Arbeit geleistet, die letzten sechzehn Jahre, auch wenn es bestimmt nicht immer einfach war. Sie hatte ihn immer so sehr an ihren Vater erinnert, das gleiche wilde, aufbrausende Temperament, die Neugierde und der Wissensdrang, dazu aber die Natürlichkeit und Hilfsbereitschaft. Das ausgeprägte Selbstbewusstsein, gepaart mit einer Fröhlichkeit und Freude, die ihn stets erstaunte.
„Opa, komm! Du träumst ja.“
Lächelnd hängte sie sich bei ihm ein, nahm hier und da dankend die Glückwünsche entgegen. Kurze Zeit später fuhren sie beim Deichgraf vor, wo heute, zu ihren Ehren, eine kleine Feier stattfand. Alle Freunde von ihr und ihrem Opa waren anwesend. Thekla, Heiner, Katja, Christian Nielsen, Ole, Lena, Petra Hansen, Rolf und Ulla Tieken mit ihren Familien.
Fünf weitere der Anwesenden hatten ebenfalls heute die Schule mit dem Abitur in der Tasche beendet und so war die Feier entsprechend groß.
Es war im hinteren Teil des Restaurants extra ein Zimmer geschmückt worden, wo auf den Tischen gelbe Rosen veredelt mit Schleierkraut standen. In großen Bodenvasen sah man pompöse Sonnenblumensträuße, garniert mit frischem Grün.
Die Tische glänzten unter dem edlen Porzellan und dem glänzenden Besteck, die Gläser funkelten im Sonnenlicht, welches durch die vielen Fenster in den Saal lugte.
Carina wartete draußen auf ihre Freundinnen Katja und Petra und gemeinsam gingen die drei Mädchen hinein. Man spürte die gelöste, freudige Stimmung aller Anwesenden.
Onkel Hartmut, der Wirt, kam auf die drei Mädchen zu und gratulierte ihnen. Plappernd gingen sie weiter in den hinteren Raum. Die Mädchen oder besser jungen Frauen, sahen sich um. Nur ein Tisch hatte statt der gelben Rosen blaue und Carina wusste, dass das der Tisch war, an dem sie saß.
Schon am Morgen hatte ihr Opa ihr einen großen Strauß blauer Rosen geschenkt, er wusste, dass sie diese Blumen liebte. Dazu hatte er ihr den alten Schmuck ihrer Großmutter gegeben. „Das, min Deern, gehört dir. Trage es in Ehren und in Gedenken an deine Oma und deine Mutter“, hatte er ihr ernst gesagt und sie hatte bemerkt, wie eine vereinzelte Träne sich einen Weg über seine Wange bahnte.
„Danke, Opa! Das werde ich.“ Sie war ihm um den Hals gefallen und er hatte ihr etwas unbeholfen, wie meistens, den Rücken getätschelt.
„Deine Eltern wären heute stolz auf dich, min Kind. Vergiss sie nicht, an deinem großen Tag. Du hast ihr Blut in dir.“
„Und deins! Opa, du warst immer alles für mich, Vater, Mutter, Freund und dafür möchte ich dir danken. Ich habe dich ganz, ganz schrecklich lieb.“
„Ich dich auch, min Deern. So, nu komm man, sonst kommen wir noch zu spät.“
Pieter Jensen betrachtete mit Stolz seine Enkelin, während er mit Heiner Nielsen sprach. Die langen rotbraunen, lockigen Haare waren heute ordentlich mit zwei Spangen an den Seiten etwas gebändigt und fielen ihr weit bis auf den Rücken. Ihre grünen Augen strahlten. In dem smaragdgrünen Kleid sah sie ein wenig fremd aus, aber wunderschön, wie er fand. Sie, die sonst nur in Jeans herumlief.
„Opa, lass mich bloß mit Kleidern zufrieden. Dass Tügs is man so unbequem und dauernd muss man aufpassen, wie man sich hinsetzt. Nee, lass man.“
Ja, dachte er, heute ist meine Arbeit beendet. Sie war nicht so gut ausgefallen wie bei Robert, aber vielleicht kam auch bei ihr die Einsicht noch, nur eben später.
Der Raum hatte sich mit Menschen gefüllt und dann erblickte sie Daniel, der auf sie zukam. „Na, meine Kleine, nun hast du die Schule hinter dir.“
Er gab ihr ungeniert vor allen einen Kuss und sie schmiegte sich leicht an ihn. Fast ein Jahr sind wir nun schon zusammen, ging es ihr durch den Kopf und heute Abend werde ich endlich wissen, wie es wirklich ist. Das war ihre Überraschung für Daniel, der sie bereits seit geraumer Zeit bedrängte.
Langsam legte sich die erste Aufregung etwas, und alle nahmen an den Tischen Platz. Der Raum war mit lachen und Stimmengewirr gefüllt, während die Getränke serviert wurden.
Pieter Jensen nahm das alles eher schweigsam hin. Ihm war heute eine Bürde genommen worden und er atmete erleichtert auf. Mit seinen einundachtzig Jahren war er mehr als froh, dass er nicht mehr für ein junges Ding Sorgen musste. Er wusste, sie würde ihren Weg von jetzt an allein finden und gehen. Sie hatte sich letztendlich für ein Studium entschieden. Seine Gedanken wanderten sechs Jahre zurück:
Sie hatten am Abend gemütlich beisammen gesessen und Carina hatte emsig von sich gegeben, dass sie später einmal Tierärztin werden wollte.
„Alles dumm Tügs“, stellte Thekla entschieden fest und trank noch einen Schluck Tee. „Du wirst einmal heiraten und Kinder kriegen. Das ist das Beste für ´ne Deern und nich so´n Tügs.“
„Nö“, Carina sah die Frau empörend an. „Das bestimmt nicht, Tante Thekla. Das ist mir zu langweilig, das macht doch jede. Ich will etwas anderes machen, etwas Besonderes, etwas, was nicht jede macht.“
Sie nippte schnell an dem Grogglas ihres Großvaters.
„Das lass man stehen, das ist nichts für ´ne lütte Deern, nöch.“
„Nur ein Schluck, Opa, schmeckt gut. Ich werde einmal eine berühmte Rechtsanwältin oder Pferdezüchterin oder Tierärztin.“
„Ich dachte nur Tierärztin.“
Pieter, Thekla und Heiner sahen sich an und lachten schallend auf.
„So min Deern, da du so viel vorhast, geht’s jetzt ab ins Bett. Für ein tolles Leben muss man erst viel schlafen und lernen. Da kannst du nu ja damit anfangen.“
Für einen Mann in seinem Alter waren die letzten Jahre bestimmt nicht immer einfach gewesen, auch wenn ihm die Deern viel Freude gemacht hatte. Trotzdem freute er sich auf etwas mehr Ruhe und Zeit, auch wenn ihm das Haus bestimmt leer vorkommen würde, wenn sie in wenigen Wochen nach Hamburg zog.
~~~~~~
Das erste Jahr hatte sie endlich hinter sich und war froh, dass sie ein wenig Abstand von allem hatte. Es war alles so anders, langweilig, staubtrocken, als sie sich das vorgestellt hatte. Heimlich gestand sie sich ein, ich mag es nicht sonderlich, aber ich muss da wohl durch. Man muss das Tügs lernen, da kam auch sie nicht daran vorbei. Wat mut, dat mut, hatte Tante Thekla immer gesagt.
Petra und sie bummelten durch die Fußgängerzone, auf der Suche nach etwas „Tollem“ zum Anziehen, da ihre Freundin am Abend zu einer Party bei einem Kommilitonen eingeladen war. Er war der heimliche Schwarm von Petra und diese entsprechend aufgeregt, was Carina immer nur mit einem unauffälligen Lächeln quittierte. Sie fand an diesem Mann nun absolut nichts aufregend, außerdem bekam er kaum den Mund auf, aber ihre Freundin war nun einmal begeistert von ihm.
„Entschuldigung, dass ich Sie so anspreche. Mein Name ist Mike Seelfeld, ich bin Modellscout. Hätten Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit für mich?“
Carina sah den Mann, dann Petra, verblüfft an, bevor sie losprustete. „Sie sind ein kleiner Witzbold, aber Ihre Anmache ist einmal etwas Neues. Trotzdem, kein Interesse.“
Sie wollte weiter gehen.
„Warten Sie!“ Er holte eine Karte aus seiner Jackentasche und reichte sie ihr. „Das ist keine Anmache, sondern Realität. Wir sind immer auf der Suche nach neuen interessanten Gesichtern und Ihres ist, was man so auf den ersten Blick sagen kann, anders. Ist die Haarfarbe echt?“
„Klar doch! Aber Sie meinen das nicht ernst, oder?“ Carina musterte den großen Mann genau und sah ihm bei ihrer Frage in die graublauen Augen.
„Doch völlig. Kommen Sie die Tage bei uns vorbei und wir machen ein paar Fotos von Ihnen, dann kann man erst mehr sagen. Das kostet Sie nichts, nur ein bisschen Zeit. Es sind auch keine Nacktaufnahmen, falls Sie das denken sollten. Ganz seriös! In unserer Kartei befinden sich viele, inzwischen berühmte Frauen, die wir auch so, wie Sie, auf der Straße gefunden haben. Mehr würden wir Ihnen aber im Büro dazu sagen, falls Sie sich nach den Aufnahmen als geeignet herausstellen.“
„Na gut, ich werde darüber schlafen, danke.“ Carina sah den Mann immer noch skeptisch an, wenn auch mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie hielt das alles noch für einen Scherz.
Wenig später ging sie mit Petra weiter, die diese Episode mit staunenden Augen und, ausnahmsweise einmal, ohne ein Wort zu sagen, verfolgt hatte.
„Mensch, Carina, das wär’s. Du als Modell! Wow“, platzte sie laut heraus.
„Hör auf zu spinnen“, meckerte sie ihre Freundin kopfschüttelnd an. „Du glaubst diesen Schwachsinn doch wohl nicht?“
„Er hat das bestimmt ernst gemeint und hingehen kannst du ja. Mal sehen, wie es da so ist.“
„Um mich lächerlich zu machen, oder was? Wer weiß, was das für ein Laden ist?“
„Ansehen kostet ja nichts.“
„Komm, ich denke, du brauchst etwas Aufregendes für deinen neuen Lover?“, lenkte sie ihre aufgeregte Freundin entschieden ab.
„Er ist nicht mein Lover. Ich finde Armin gut und nicht mehr. Unterstell mir nichts.“
„Ja, ja, ich verstehe“, Carina lachte Petra an und vergnügt zogen sie weiter, von Geschäft zu Geschäft.
Erst am späten Nachmittag dachte sie an das Gespräch und nahm die Karte zur Hand. Ob dieser Mike das wirklich ernst meinte? Schnell ging sie in ihr Schlafzimmer und stellte sich vor den Spiegel, drehte sich leicht rechts und links herum und zog vor ihrem eigenen Spiegelbild Grimassen, bis sie lachen musste. Alles, Quatsch! Sie kannte genug Mädchen, die wesentlich schöner waren, als sie. Wer weiß, was der Mann wirklich wollte?
Einen Entschluss fassend, rief sie spontan ihre Freundin an. „Petra, ich habe mich entschlossen, dass ich doch mitkomme. Zu Hause ist es auch nur langweilig und Daniel hat heute keine Zeit. Der muss noch lernen und will nicht gestört werden.“
Schnell duschte sie, wusch ihre Haare und machte sich fertig. Ein wenig Rouge, die Wimpern leicht getuscht, Puder, Parfüm, fertig. Sie schlüpfte in Jeans, dazu ein Top, Jacke drüber. Zufrieden sah sie ihr Spiegelbild an. Für diesen n Modekram, wie sie es immer nannte, hatte sie noch nie viel übrig gehabt, da sie am liebsten in Hose und Shirt herumlief. Was ihr ständig von Daniel vorgeworfen wurde. „Kannst du nicht auch wie eine richtige junge Frau aussehen? Einen schicken, kurzen Rock oder ein Kleid, eben was anderes. Etwas, was ein bisschen weiblich und sexy aussieht?“
Schnell verdrängte sie den Gedanken an ihn. Sie hatten in den letzten Wochen genug Streit gehabt und irgendwie war sie froh, dass sie ihn, seit ein paar Tagen nicht gesehen hatte. Er nervte zuweilen, mit seinen dauernden Vorschriften und seiner ewigen Besserwisserei: Mache dies, mache das so, das musst du doch anders machen! Nervig! Unterhalten konnte sie sich schon lange nicht mehr mit ihm vernünftig, weil er ihr entweder von irgendwelchen Träumen erzählte oder anderen Hirngespinsten nachjagte.
Kurze Zeit später klingelte Petra und sie rannte schnell die Treppe hinunter, eilte zu dem wartenden Wagen.
„Natürlich, du in Jeans. Warum kannst du nicht im Kleid herumlaufen, etwas anderes anziehen?“
Petra musterte sie kopfschüttelnd, bevor sie Gas gab und losfuhr. Das Hupen störte sie überhaupt nicht, sie hatte sowieso immer Vorfahrt.
„Weil ich dazu keine Lust habe, überdies bist du auf Männerfang und nicht ich“, lachte sie ihre Freundin an.
„Kein Wunder, dass Daniel da meckert. Welcher Mann möchte seine Frau ständig nur in den gleichen Klamotten sehen?“
„Erstens ist er nicht mein Mann, sondern mein Lover. Zweitens sieht er mich ja heute nicht und drittens kennt er mich ja wohl lange genug, als dass ihn das noch Erstaunen dürfte. Wir sind immerhin fast zwei Jahre zusammen.“
„Trotzdem, ich muss ihm da wirklich recht geben.“
Wie immer musste Petra das letzte Wort haben und Carina ließ sie reden. Sie kannte die Meinung ihrer Freundin zur Genüge.
Sie betraten die Wohnung von Ralf, in der sich schon viele junge Menschen tummelten. Erstaunt sah sich Carina um und dachte: Das ist ja riesig hier. Vom Korridor gingen sieben Zimmertüren ab, von denen drei geöffnet waren. Sie ging geradezu in die Küche, wo Getränke und Essen für die Gäste bereitstanden und blickte sich um, begrüßte hier und da Bekannte von der Uni. Petra hatte sie vorhin gleich stehenlassen, um ihren Traummann zu suchen.
Eigentlich war sie für solche Festlichkeiten überhaupt nicht der Typ und sie ging daher selten zu solchem Hokuspokus, wie sie es nannte. Wenn, dann nur Daniel zu liebe, der das mochte. Deswegen hatte sie sich auch gewundert, dass er heute nicht hierher gehen wollte. Sie schaute sich um und ihr fiel die Kleidung der übrigen Frauen auf. Sie schien wirklich als Einzige in Jeans herumzulaufen und lächelte vor sich hin. Ich bin eben nicht wie alle und werde es nie sein!
Sie sprach gerade mit einer jungen Frau, immer an einer Cola nippend, als ihr Blick auf den Flur fiel. Eine der Zimmertüren hatte sich geöffnet, Daniel kam mit einer blonden Frau im Arm heraus. Das Gesicht der Frau war leicht gerötet, die Haare völlig zerzaust. Diese machte sich von ihm los und ging in einen anderen Raum, während Daniel im Wohnzimmer verschwand. Er hatte sie nicht bemerkt.
Carina ließ die Frau stehen, ging den Korridor entlang zu der Tür, aus der er kurze Zeit vorher getreten war, öffnete diese, sah das zerwühlte Bett. Eine nie gekannte Wut stieg in ihr hoch, kein Entsetzten, keine Trauer oder Enttäuschung, nur Wut. Sie stellte ihr Flasche Cola auf die Kommode im Flur und ging ins Wohnzimmer, wo Daniel mit dem Rücken zu ihr stand und sich mit zwei anderen Männern unterhielt. Sie tippte ihm kurz auf den Rücken, worauf er sich umdrehte, sie erschrocken und mit großen Augen ansah, verstört, wie sie gleich bemerkte.
„Hallo, mein Schatz, ich dachte, du hast so viel zu arbeiten?“ Sie sah ihn dabei nicht an, weil sie wusste, sonst hätte er sie gleich durchschaut.
„Ich… ich hatte… doch keine… Lust, aber… was machst du hier? Du gehst doch sonst nie zu so was“, brachte er leicht stotternd heraus.
„Heute hatte ich eben Lust, aber du scheinst nicht erfreut zu sein, mich zu sehen.“
„Doch, mein Schatz, natürlich. Ich bin nur überrascht.“ Sie hatte die ganze Zeit, mit einem Auge, die Tür beobachtet und sah die Frau auf Daniel zusteuern. Sie ging leicht einen Schritt zurück, immer noch jeden Blickkontakt mit dem vermeidend.
„Liebling, jetzt habe ich Durst“, sprach diese, Daniel an, der verlegen von einer zur anderen schaute. Er sah Carinas grüne Augen funkeln, aber bevor er reagieren konnte, war es schon zu spät. Sie hatte ausgeholt und ihr Knie zwischen seine Beine gestoßen, worauf er laut stöhnte. Sie bemerkte die verdutzten, überraschten Blicke einiger anderer, aber das störte sie nicht.
„Daniel, solltest du mich noch einmal belästigen, stoße ich richtig feste zu. Vergiss das nie! Du bist nur ein verlogenes, widerwärtiges und dummes Subjekt.“ Sehr mit sich zufrieden verließ sie die Wohnung, das Haus und suchte draußen ein Taxi, welches sie nach Hause fuhr. So ein Mistkerl, schwirrte es ihr durch den Kopf. Auch jetzt war sie nur zornig und aufgebracht. Wie konnte der es wagen, sie zu betrügen?
Sonntag hatte sie den Vorfall mit Daniel als erledigt abgehakt, aber das Kärtchen von diesem Mike immer wieder zur Hand genommen.
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Montagvormittag ging sie kurz entschlossen zu der Agentur. Sie schaute sich neugierig, in dem großen, hellen, modern eingerichteten Büro, um. An den Wänden sah sie Aufnahmen von verschiedenen Fotomodells hängen, manche waren ihr bekannt, andere nicht. Eins hatten aber alle gemeinsam, sie waren sehr schön, wenn auch auf unterschiedliche Art. Komisch, geisterte es ihr einen Moment durch den Kopf, was ist eigentlich schön? Sie musste Opa fragen, woran er das ausmachte.
Eine junge Frau kam auf sie zu und musterte sie ungeniert. Carina erklärte kurz, warum sie hier war, und wurde in ein anderes Zimmer geführt. Erneut blickte sie sich neugierig um. Sie sah Sitzgelegenheiten, Kameras auf Stativen, Schirme, Scheinwerfer, Stoffe. Auf einem Ständer hingen Kleider, lagen Tücher.
„Hallo! Du bist ja doch gekommen.“
Sie drehte sich zu der Stimme von Mike Seelfeld um und begrüßte ihn.
„Pure Neugier! Ich wollte wissen, ob an Ihren Aussagen etwas Wahres dran ist oder es doch nur ein Scherz war.“
„Sage ruhig Mike zu mir. Wir duzen uns alle. Wollen wir gleich ein paar Aufnahmen machen?“
„Ich bin Carina! Klar doch, mal sehen, was dabei herauskommt“, feixte sie ihn an.
„Du wirst sehen, das ist nicht so einfach und leicht, wie es sich anhört. Ich hoffe, du hast ein paar Stunden Zeit?“ Jetzt perplex, „Stunden? Ich dachte, so ein paar Fotos knipsen, dauert nur Minuten.“
„Da irrst du dich gewaltig, also, hast du Zeit?“
„Ja, klar. Zurzeit ist ja Semesterpause.“
Er rief kurz nach einem Mann, der wenig später mit zwei weiteren Frauen erschien.
„Was studierst du?“, wandte er sich Carina zu.
„Rechtswissenschaft, öde und langweilig.“
„Das glaube ich gern. Ziehe bitte deine Jacke aus und entferne die Haarspange. Dann stellst du dich dorthin.“
Er deutete auf eine Ecke, die in Weiß gehalten war. Sie machte, was er sagte, und dann folgten vier Stunden, die sie nie vergessen sollte. Es war teilweise langweilig, lustig, aufregend, aber eins auf jeden Fall, ungewöhnlich.
Danach saßen sie bei einem Kaffee zusammen, während die Aufnahmen entwickelt wurden.
„Ganz schön anstrengend. So hätte ich mir das nie vorgestellt, aber es hat Spaß gemacht. Was passiert nu?“
Er sah sie an und lachte, während er sich zurücklehnte und seine langen Beine ausstreckte.
„Wie kann etwas schön anstrengend sein?“
Irritiert blickte sie ihn an. „Sagt man ebenso.“
„Dusselig! Du bist wandlungsfähig und offen. Die Fotos werden entwickelt und dann sehen wir weiter. Nicht jedes ebenmäßige Gesicht sieht auch auf Bildern gut aus.“
„Wenn ich gut aussehe?“
„Du verstehst es nicht. Gut aussehend kann ich dir jede Frau mit Make-up und der richtigen Beleuchtung zaubern. Ein weiterer Punkt, dass man sich darüber streiten kann, was gut aussehend bedeutet. Mir gefallen eher schwarzhaarige Südländerinnen. Ein anderer Mann sagt, bloß nicht, ich bevorzuge Blondinen. Gerade viele nett aussehende Frauen, so wie du, denken, das wäre das Wichtigste im Leben. Ist es nicht, weil es Milliarden Menschen gibt, die sagen: Sie sieht nett aus, aber nicht mehr. So ist das auch in der Branche. Du wirst vielen nicht gefallen, bist zu gewöhnlich für sie. Für dich spricht eigentlich nur deine Haarfarbe. Nur die anderen Mängel, die nicht dem Schönheitsideal entsprechen, kann man kaschieren oder du wirst eben nur der Haare wegen gebucht. Du entsprichst keineswegs der klassischen Schönheit, wie wirklich große Mannequins. Zum Ablauf. Wir haben eine Kartei, wo alle unsere Mannequins verzeichnet sind, mit Bildern, Größe, Masse, Gewicht und so weiter. Sollte eine Werbeagentur, ein Modedesigner oder so, Interesse an einem bestimmten Typ Frau haben, geben sie uns diese Angaben und wir schicken die Fotos, danach entscheiden diese sich, ob eine Person infrage kommt oder nicht. Das ist es in Kurzform.“
„Was müsste ich tun?“
„Warten! Warten ob dich jemand buchen will oder nicht. Am Anfang ist das etwas schwieriger, bis sich ein Gesicht herumgesprochen hat. Danach ist es wesentlich einfacher, falls es ankommt. Bei dir wäre es von großem Vorteil, dass du eine echte Rothaarige bist. Deine Haare haben eine ungewöhnlich, schöne, warme Farbe. Doch, warten wir ab.“
„Wie lange dauert das? Ich bekomme nämlich allmählich Hunger.“
„Komm, gehen wir etwas Essen. Ich lade dich ein, aber auch daran müsstest du dich gewöhnen. Manchmal werden an einsamen Stränden stundenlang Aufnahmen geknipst, ohne dass jemand an das Essen denkt.“
„Na toll, da muss ich mir eben etwas mitnehmen“, grinste sie ihn an, worauf er laut loslachte.
Er führte sie in eine kleine Pizzeria direkt um die Ecke und während des Essens erzählte sie von sich, während er aufmerksam zuhörte und nur gelegentlich eine Frage stellte.
Als sie in seinem Büro waren, kam kurze Zeit später eine Frau herein und legte die Fotos vor ihn hin. Er nahm den Stapel und schaute sie erst schnell, dann noch einmal langsam, ohne Kommentar, an.
Carina versuchte, irgendetwas zu erkennen, oder aus seiner Miene zu lesen, aber nichts. Ein leichtes Kribbeln erfasste ihren Körper, eine Art freudige Erregung. Nach endloser Zeit, wie es ihr vorkam, legte er die Fotos auf den Tisch und blickte sie an.
„Sie sind gut. Deine Natürlichkeit kommt darin zur Geltung. Du wirkst temperamentvoll. Nun musst du entscheiden, was du machen möchtest.“
„Darf ich sie sehen?“
Er nickte und sie sah die Bilder an, teilweise lächelnd, teilweise erstaunt. Immer wirkte sie anders, mal ernst, mal lachend fröhlich, mal wütend, mal verspielt, dann leicht sinnlich mit aufgeworfenen Lippen. Sie sah Mike erstaunt an. „Faszinierend! Ich wusste nicht, dass ich so verschieden bin?“
„Das wissen die wenigsten Menschen, weil sie ja nicht ständig einen Spiegel vor Augen haben und selbst dann, sieht man sich darin anders, als wie auf Bildern. Ich würde dich bei uns aufnehmen, da du gute Chancen hast, trotz deines Alters.“
„Meines Alters?“ Sie blickte ihn überrascht an. „Ich bin gerade zwanzig geworden!“
„Das ist schon alt, viele fangen mit sechzehn, siebzehn an. Willst du es dir noch überlegen, oder hast du dich bereits entschieden?“
„Wenn ich einen Vertrag mit dir mache, wie lange bin ich dann daran gebunden?“
Es folgten langwierige Erklärungen, Hinweise, aber auch Ratschläge und Tipps. Er schilderte ihr in den nächsten Stunden nachdrücklich Vor- und Nachteile.
Nach kurzem Überlegen unterschrieb sie, daraufhin wurde sie noch genau vermessen, Größe, Masse, Gewicht.
„Als Modell für die großen Designer kommst du nie infrage“, bemerkte er, nachdem er diese Angaben las. „Deren Kleidungen werden alle noch Norm gefertigt und da weichst du ab. Du bist zu dick, zu üppig. Einsdreiundsiebzig ist ein wenig zu klein.“
„Schlimm?“, erwiderte sie sein Lachen.
„Man wird sehen, aber ich glaube, das hält sich in Grenzen. Du wirst eben nie Mode präsentieren können, bist mehr so ein Gesicht für Kosmetika, Haushalt, Kataloge. Jetzt kommt die gute Nachricht. Eine italienische Modedesignerin sucht ein rothaariges Modell für ein neues Parfüm. Wir werden deine Unterlagen dahin senden und wenn du großes Glück hast, bekommst du bald deinen ersten Auftrag. Bist du ein Glückskind?“
„Was? Ich weiß nicht.“
Auf einmal kam etwas wie Bangigkeit in ihr hoch. Ihr war der Tag wie eine Art Spiel vorgekommen und jetzt das? Erst allmählich drang ihr ins Bewusstsein, was sie heute so spontan entschieden hatte.
Er rief seine Mitarbeiterin, die wenig später mit zwei Gläsern Champagner hereinkam.
„Ich begrüße dich in einer neuen Welt, Carina. Hoffen wir, auf deinen Erfolg.“
„Ich bin, glaube ich, völlig durcheinander. Als ich heute Morgen hierher kam, hielt ich das alles noch für einen Scherz und nu das. Ich brauche Ruhe, um das alles zu verdauen.“
„Ist doch nichts passiert. Du hast weder einen Auftrag noch sonst etwas. Wenn du Probleme oder noch Fragen hast, melde dich. Wir stehen auch immer mit Rat und Tat zur Seite, nur dann funktioniert das System wirklich. Du wirst sehen, wie es auch dein Leben verändert, und es gibt manche, die besonders am Anfang, Schwierigkeiten damit haben, also noch einmal, wenn etwas ist, rede mit mir. Du kommst in eine Welt des Glamours, der Multi-Kulti-
Gesellschaft, wo nicht alles Gold ist, was glänzt. Nur wenn du dich zufrieden und gut betreut fühlst, kommt das auch gut rüber. Carina, halte die stets vor Augen, wie unwichtig du bei allem bist, dass da nur die Ware zählt. Bilde dir nichts ein, weil du nun ein sogenanntes Modell bist. Du wirst es nie über die dritte Riege hinaus schaffen, egal was du anstellst, weil dir dazu alles fehlt. Du bist zu dick, zu klein, zu tapsig, zu ungelenkig, zu wenig feminin. Du besitzt keine natürliche Schönheit, sondern es sind nur die Haare an dir interessant. Alles andere wurde hingeschminkt. Große Mannequins sehen auch ohne all das gut aus, du nicht. Gehe sparsam mit dem Verdienst um, falls Aufträge kommen. Du weißt nie, wann man dich nochmals benötigt.“
Kurze Zeit später verabschiedete sie sich und bemerkte, dass die Dämmerung schon heraufgezogen war. Zu Hause kochte sie Kaffee und ließ sich auf die Couch fallen. Was habe ich da heute eigentlich gemacht? Jetzt ließ sie sich die Tragweite der Ereignisse durch den Kopf gehen. Sie musste mit jemanden darüber reden - mit Opa.
Die ganze Nacht konnte sie nicht richtig schlafen, da ihr die Geschehnisse permanent durch den Kopf spukten. Sie wollte doch Rechtsanwältin werden, so wie ihr Großvater und Vater. Besonders Letzterer war ausschlaggebend für diese Entscheidung gewesen. Opa hatte sich so darüber gefreut und was hatte sie gemacht? Aber vielleicht konnte sie ja das Studium trotzdem weiter machen? Sie wusste im Augenblick nichts und in ihrem Kopf herrschte das absolute Chaos.
Morgens fuhr sie abermals zu der Agentur, wo man stundenlang Fotos von ihr machte, an den Haaren herum zupfte, sie schminkte.
Während der Autozug über den Damm fuhr, blickte sie hinaus. Es war Flut, wie sie bemerkte und ablandiger Wind. Sie sah das grau, silbrig schimmernde Wasser, was nur in kleinen Wellen an der Seite auflief. Weiter hinten konnte sie den langen Deich sehen, auf dem die Schafe friedlich ihr Gras fraßen. Das machen sie nun Tag für Tag, Jahr für Jahr, spintisierte sie. Trotzdem, das wusste sie, war es für die Deichstabilität überaus wichtig, genauso wie der Deich selbst.
In der Ferne tauchte langsam die Insel auf, das Land kam schnell näher, wurde breiter, grüner. Rechts sah man entfernt noch das Wattenmeer und dort war ihre Heimat. Sie freute sich auf die paar Tage hier, wenn man von dem anderen einmal absah. Es war schon Wochen her, dass sie das letzte Mal ihren Opa besucht hatte. Mit ihm sprechen, reiten und wenn sie großes Glück hatte, auch noch schwimmen, in der schönen Kühle der Nordsee, danach hatte sie Sehnsucht. Die Bahn fuhr an den ersten Häusern, an Weiden mit grasenden Pferden, Rindern und Schafen vorbei.
Keitum! Es war für sie der schönste, grünste Ort der Welt. Hier schien die Sonne heller, wärmer als anderswo auf der Insel. Die alten Friesenhäuser lagen versteckt in einem Meer von Grün: Bäume, Büsche, Sträucher, Blumen. Hier wehte der raue Wind nicht mehr so stark wie an der westlichen Küste. Nur der kalte Ostwind vom Watt blies manchmal harsch durch die dichten Baumkronen. Hier fehlte der Trubel von Westerland oder vom Strand, von der Westseite der Insel. Nur wenige Besucher kamen, um sich den kleinen verträumten Ort anzusehen, und das ist auch gut so, war ihre Meinung. Für die Fremden glichen die Straßen einem Labyrinth und nicht selten kam es vor, dass diese im Kreis liefen und dann nach dem Weg fragten. Früher hatten sie sich oft einen Spaß daraus gemacht, sie in die falsche Richtung zu schicken. Fast zwischen jedem Haus lief ein Weg und kreuzte wenig später den nächsten, bog um Kurven und kreuzte wieder einen anderen. Wie oft waren sie als Kinder über die Steinwälle gestiegen, nur um den Weg abzukürzen. Sie kannte jeden Baum, jeden Strauch, die Menschen. Es war ihre Heimat, ihr Zuhause. Hier wohnte ihr Herz, was jetzt voller Freude schneller schlug. Ach, Opa, gleich bin ich bei dir!
Einige Zeit später fuhr sie an dem großen Haus ihres Großvaters vorbei. Sie erblickte das weiß getünchte, lang-gestreckte Gebäude mit dem überstehenden Reetdach, den blau gestrichenen Fensterläden. Die Häuser stehen nahezu alle in Ost-West-Richtung, um dem vorherrschenden Westwind eine möglichst geringe Angriffsfläche zu bieten, hatte ihr Opa schon vor Jahren erzählt. In dem Wetter zugewandten Westteil der Häuser befanden sich früher die Ställe, sodass der Wohnbereich auf der geschützteren Ostseite lag. Die Dachgeschosse der alten Häuser wurden in der Regel nicht zum Wohnen genutzt, sondern dienten als Heu- und Vorratslager.
Ein weiteres Merkmal dieser utlandfriesischen Häuser war die Klöntür. Diese Tür ist horizontal zweigeteilt: Die obere Hälfte konnte geöffnet werden, die geschlossene untere Hälfte verhinderte, dass Kleintiere, die oft rund ums Haus gehalten wurden, in die Stube gelangen konnten. Durch die somit halb geöffnete Tür ließ sich vortrefflich mit den Nachbarn Klönen. Daher kam auch der Name dieser Türart.
Das Haus ihres Großvaters war schon seit vielen Jahrzehnten nur noch ein reines Wohnhaus, aber das alte Bild von außen war Erhalten geblieben. Das große Grundstück wurde an drei Seiten von einer Steinmauer umschlossen. Vom Garten aus verdeckten Sträucher und Büsche die Steine. Als Kind war sie zu gern auf dem Steinwall herumgelaufen.
„Deern, pass man auf, dass du nicht hinunter fällst, dann weinst du, weil deine Knie auf sind“, hatte er dann neckend zu ihr gesagt.
„Opa, ich heule nie, das weißt du doch“, hatte sie damals empört geäußert. Sie lächelte vor sich hin.
Man hatte von der Mauer aus einen herrlichen Blick über das östliche Meer, das an schönen Tagen silbrig schimmerte und leuchtete. Das Meer war ruhiger, ohne Brandung, wie glattgebügelt, so drückte Großvater sich immer aus. An schönen Tagen konnte man vom grünen Kliff aus bis nach List schauen. Das Wattenmeer lag dann vor ihren Füßen, mit seinem grandiosen Ökosystem, mit extremen Bedingungen für Pflanzen und Tiere. Dazu zählen der pendelnde Wasserstand, der hohe und wechselnde Salzgehalt oder die großen Temperaturschwankungen, wie sie wusste.
Früher waren sie immer bei Ebbe darin herumgelaufen, auf der Suche nach Muscheln, Schnecken, Würmern und Krebsen. Alles hatte sie begeistert zu Opa geschleppt, der ihre kleinen Schätze immer aufmerksam begutachtete. „Na, Deern, das hast du ja man fein gemacht, nöch.“
Sie fuhr weiter die alte Dorfstraße entlang zu den nahe gelegenen Stallungen. Sie wusste, um diese Uhrzeit war er immer dort. Besonders, da er ja schon lange nicht mehr seine Kanzlei besaß. Sie war damals knapp sechs gewesen, als er diese aufgelöst hatte. Es war kurz vor ihrer Einschulung gewesen. Seitdem hatte er sich nur noch verstärkt um die Pferdezucht gekümmert und natürlich um sie.
Das war bestimmt nicht immer einfach, ging es ihr durch den Sinn, während sie leicht vor sich hin lächelte.
Auf dem großen, gepflasterten Hof sah sie seinen Jeep stehen. Schnell sprang sie aus dem Auto und rannte vorsichtig an den Fenstern vorbei, zu seinem Büro. Leise öffnete sie die Tür und da saß er. Sie sah seinen erstaunten, dann freudigen Blick, während er sich langsam erhob, aber da lag sie schon in seinen Armen. „Min Deern, wo kommst du denn her?“, fragte er sie nach einer Weile. „Du wolltest doch erst am Wochenende kommen.“
„Ach, Opa, ich hatte Sehnsucht nach dir, nach allem, außerdem muss ich dir so viel erzählen.“
„Wieder etwas ausgefressen?“
„Quatsch! Nun doch nicht mehr. Du weißt doch, ich bin deine liebe Enkelin und mache nur ab und zu ein bisschen dumm Tügs, nöch“, feixte sie ihn an.
„Komm, Deern, lass uns zu den Pferden gehen. Ich muss noch kurz mit Jan reden, dann können wir nach Hause.“ Sie hakte sich bei ihm unter und gemeinsam gingen sie zu den Boxen. Fast alle Pferde waren aber draußen, nur einige von den Tieren, die für die Vermietung bereitstanden, warteten im Stall.
Sie machte sich los und ging von Tier zu Tier, während Jan und Pieter sich unterhielten. Sie sprach leise mit den Pferden, während sie von Box zu Box ging.
Am Abend, den sie beide gemütlich mit einem Glas Wein in dem vertrauten Wohnzimmer verbrachten, Pieter wie immer an seiner obligatorischen Pfeife ziehend, im Schaukelstuhl sitzend, berichtete sie ihm alles, was sich an diesem Samstag und am Montag zugetragen hatte. Wie immer hörte er auch zu, ohne sie zu unterbrechen. Nur bei der Geschichte mit Daniel lachte er laut, kopfschüttelnd, auf. Erst als sie fertig war, äußerte er sich.
„Deern, dat man nicht tritt, brauche ich dir ja wohl nicht mehr zu sagen, obwohl der Junge dat vielleicht verdient hat. Was mich allerdings an der Sache wundert, dat dich das alles eigentlich überhaupt nicht weiter berührt.“
„Warum soll ich mir wegen eines Mannes Gedanken machen? Er ist mich doch nicht wert. Er hatte mich belogen, das ist es, was mich gestört hat, der blöde Kerl.“
„Du bist schon eine erstaunliche Deern, aber weither kann es da mit der Liebe ja nun auch bei dir nicht gewesen sein, oder?“
„Keine Ahnung, das ist ja auch unwichtig. Daniel habe ich schon abgehakt und vergessen und ich hoffe für ihn, dass er mir nie mehr über den Weg läuft. Das habe ich dir auch nur so erzählt, damit du Bescheid weißt.“
„Das hoffe ich für den jungen Hansen auch“, lachte er.
Sie ist wirklich ein Wirbelwind, trotz ihrer zwanzig Jahre. So war sie aber schon immer, sich bloß nichts gefallen lassen und die anderen hatten immer den Kürzeren gezogen.
„Deern, du musst unbedingt lernen, deine Gefühle zu zügeln, sonst wird dat eines Tages zu Kummer führen. Temperament ist ja schön, aber manchmal kann es, mit zu viel davon, daneben gehen. Du musst zuhören lernen, nix zusammenreimen. Auch du machst Fehler so wie jeder Mensch. Du wirkst dadurch überheblich, arrogant, dumm, wenig liebenswert. Auch du bist ein Mensch mit vielen Fehlern. Du musst lernen, die zu erkennen, zu beheben.“
Sie ahnte nicht, wie wahr sich dieser Satz erweisen sollte.
„Ja, mache ich ja, wenigstens manchmal, aber Opa, nun sage, was hältst du von der Sache?“
„Kind, das ist dein Leben und wenn du das machen möchtest, ist das doch in Ordnung. Dieser Mike scheint ja ein netter Mann zu sein und seriös hört sich das Ganze auch an. Nur, was ist, wenn es nicht klappt? Was willst du dann machen?“
„Opa, ich werde weiter studieren und dann, falls da wirklich etwas passieren sollte, kann man ja immer noch sehen.“
„Was willst du aber in zehn Jahren machen, wenn du für diesen anderen Beruf zu alt bist?“
„Dann komm ich zu dir und wir kümmern uns um die Pferde, ich suche mir einen netten Mann und dann kommen deine Urenkel. Schwupp, hast du wieder das Haus voller Kinder. Schön, nöch!“ Sie nahm Pieters Hand und drückte sie leicht.
„Kind, bis dahin werde ich wohl schon nicht mehr da sein. Ich gehe langsam auf die neunzig zu und irgendwann läuft auch meine Uhr ab. Ferner dachte ich immer, dass du nie heiraten und auch keine Kinder willst.“
„Quatsch Opa, du wirst mindestens hundert. Ich brauche dich doch. Du bist der beste, liebste, klügste Mensch auf der ganzen Welt.“ Sie fiel ihrem Großvater um den Hals, allein der Gedanke, dass er eines Tages nicht mehr da sein würde, ließ ihr Herz aufschreien. Sie konnte sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Zu Pieter war sie immer mit all den Kümmernissen seelischer Art, Ärger in der Schule, der manchmal durch ihr jäh aufflackerndes Temperament verursacht wurde, gekommen. Mit ihm konnte sie über alles sprechen. Schnell verdrängte sie die düsteren Gedanken.
Sie setzte sich auf den Boden und lehnte ihren Kopf an seine Knie.
„Is ja man gut, Deern, dat werden wir alles sehen. Dat kömmt, wie et kömmt, nöch. Dat können wir sowieso nicht bestimmen, dass macht man jemand anders für uns. Wir können nur versuchen, dat Beste aus dem Leben zu machen, immer in dem Bewusstsein, dat es manchmal schneller zu Ende sein kann, als wir das erwarten.“
Es herrschte einige Zeit Schweigen.
„Opa, was ist eigentlich schön?“
„Schön kann ein Sonnenaufgang sein, eine Vase, ein Kleid. Das liegt generell im Auge des Betrachters. Deine Mutter haben viele Menschen als sehr schön betitelt, weil sie ein ebenmäßiges Gesicht hatte, sie viel Weiblichkeit ausstrahlte. Petra ist schön, sagt man. Sie hat sehr schöne Augen, eine gewisse Symmetrie im Gesicht, die auch bei Daniel vorherrscht. Deswegen ist er vielleicht ein Frauentyp. Bei den meisten Menschen ist es nur etwas, was an ihnen auffällt. Bei dir die Haare, bei deinem Vater die Augen, bei Krischan, der Mund, der immer zu Lächeln scheint. Nimm Björn. Er sieht in Gummistiefeln mit Latzhose genau so attraktiv aus, wie in einem Anzug. Es ist seine gesamte Ausstrahlung. Frage doch diesen Mike. Er wird dir das eher erklären können.“
„Petra ist nicht schön, sondern nur gewöhnlich. Eine dumme Pute, die sich mit jedem Kerl einlässt. Opa, ich habe dir den Vertrag mitgebracht, guckst du den Morgen einmal an?“
„Seit wann bist du so gehässig, boshaft? Überlege, was du sagst“, wurde sie streng ermahnt. „Nu wirst du ja man ´ne richtig berühmte Frau, so wie du es immer wolltest.“
„Mal sehen, ob mich überhaupt jemand will. Vielleicht sagen die alle, nee die nicht, die ist uns zu hässlich.“
„Das sagt bestimmt keiner. Du warst schon immer ´ne Hübsche und du wirst sehen, das geht schnell und dann bist du eine bekannte Deern. Du warst schon immer stark, eine die vor nichts Angst hatte und gewisse Grenzen überschritt. Ich denke man, dass das zu dir passt.“
„Opa, dat wird man dann sehen. Wat kömmt, dat kömmt, nöch?“
Bevor sie schlafen ging, stand sie noch am Fenster und blickte zu dem Sternenhimmel hinauf. „Vadding, meinst du, dass ich das Richtige gemacht habe? Würdest du mir abraten?“ Wie immer, hörte sie auch heute die Antwort und zufrieden schlief sie ein.
~~~~~~
Es sollte nur fünf Wochen dauern, bis sie zu ihrem ersten Auftrag nach Mailand fliegen musste. Sie konnte es kaum glauben, als Mike ihr davon erzählte. Jetzt verließ sie schrecklich aufgeregt und ein wenig nervös das Gate und wenig später sprach sie ein großer, dunkelhaariger Mann an.
„Carina Jensen?“ Sie nickte nur.
Er stellte sich kurz vor, Rafael, mehr nicht, dass er der Fotograf war, erfuhr sie erst später. Er betrachtete sie lange prüfend, sehr genau von oben bis unten. „Ja, das könnte gehen“, war sein einziger Kommentar.
„Sie betrachten mich wie eine Ware“, empörte sie sich.
„Das, il mio catnip, bist du auch. Ein Objekt, was eine Ware repräsentieren soll. Nicht mehr und nicht weniger. Da wirst du dich dran gewöhnen müssen. Das ist dein erster Auftrag, wie ich weiß, und du wirst noch eine Menge mehr lernen. Also, reg dich nicht auf.“ Er sah lasziv an ihr rauf und runter.
„Erstens bin ich nicht deine Schöne; zweitens kein Objekt, sondern ein Mensch, kapiere du das.“ Carina kochte vor Wut.
Er nahm ihr wortlos die Reisetasche ab und sie gingen zu seinem Sportwagen, wo er die Tasche achtlos auf den Rücksitz warf.
„Wir werden morgen mit den Aufnahmen beginnen, dann sehen wir weiter“, erklärte er nur. Vor einem Hotel setzte er sie ab.