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Manche Männer bemühen sich lebenslang, das Wesen einer Frau zu verstehen. Andere befassen sich mit weniger schwierigen Dingen z. B. der Relativitätstheorie. Albert Einstein In Husum wird dank Benachrichtigung einer Touristin auf dem Deich ein Säugling gefunden. Im Rahmen der Suche nach der Mutter entdecken Hauptkommissar Eike Klaasen und Oberkommissar Rolf Kristens Tage darauf durch Zufall den Leichnam einer 16-jährigen Schülerin. Schnell stellt sich heraus, dass sie die Mutter des Findelkindes ist. Da ein Fremdverschulden nicht ausgeschlossen werden kann, suchen Eike und sein neuer Mitarbeiter im Umfeld der jungen Frau nach Hinweisen auf den Vater des Babys und kommen dabei einem perfiden Vorgehen auf die Spur.
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Seitenzahl: 361
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Angelika Friedemann
Das Baby vom Deich
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Eike Klaasen spazierte durch die kleine Fußgängerzone. Er überlegte angestrengt, was er seiner Schwester zum dreißigsten Geburtstag schenkte. Jedes Mal die gleiche Frage. Pullover, andere Klamotten waren noch einfach. Dieses Jahr war es immens schwierig, weil es etwas Besonderes, sehr Persönliches sein sollte. Hübsche Seidendessous? Er schmunzelte, obwohl er das nicht bemerkte. Nein, so´n Tüch, Intimes, verschenkte kein Bruder, oder? Schiet!
Er guckte zu den Schaufenstern, hoffte auf die zündende Idee, aber das sah alles profan, dröge aus, als sich eine Frau schwungvoll herumdrehte, fast gegen ihn prallte. Blaue Augen taxierten ihn für einen Sekundenbruchteil an, da schlenderte sie bereits weiter. Er drehte sich um, schaute ihr nach. Sie trug dreiviertel lange Jeans, ein weißes Shirt, flache weiße Schuhe, eine große weiße Umhängetasche. Die langen braunen Haare glänzten rötlich, wurden von den Sonnenstrahlen beschienen. Sie hatte etwas Faszinierendes an sich, bewegte sich irgendwie geschmeidig. Er wäre am liebsten hinter ihr hergelaufen, aber die Zeit drängte, da er ins Büro musste. Die Arbeit, primär der Oberstaatsanwalt, wartete auf ihn. So gewahrte er nicht, wie sich die Unbekannte nach ihm umdrehte, bevor sie mit wiegenden Hüften weiter spazierte.
Diese Eva spukte den ganzen Tag in seinem Kopf herum. Für ein, zwei Nächte wäre sie genau nach seinem Geschmack, um sich richtig auszutoben. Er bevorzugte da Touristinnen, da er sie danach nicht wiedersah, wiedersehen wollte. Ein paar Nächte und ende.
„Sag, was ist mit dir los?“, erkundigte sich Andrea Michaelsen zum Feierabend bei ihm.
„Ich habe heute ein hübsches Wesen gesehen“, amüsierte er sich über sich selbst. „Vermutlich ist meine Lust nach Frau geweckt worden.“
„Wieso hast du sie nicht festgehalten?“
„Weil ich arbeiten muss. Doktor Hansen wartete auf mich.“
„Was nun?“
„Gehe ich heute Abend Solo ins Bett. Sie sah nach Touristin aus und absolut passend für ein paar Tage.“
Sie rollte mit den Augen und schaute zur Decke. „Casanova! Los, komm, wir kaufen die Ohrringe für Doreen. Beruhigen sich deine Hormone.“
„Meinetwegen. Ist das wenigstens aus der Welt. Hat Holger Dienst?“
„Ja, er kommt erst gegen halb elf. Noch zwei Wochen, dann haben wir für ein Jahr mehr Zeit für uns.“
„Nach dem ganzen Trubel in diesem Jahr benötigst du dringend eine Auszeit, besonders wegen eures Lütten. Nur ob der euch viel Zeit lässt? Er schreit euch nachts aus dem Bett und wünscht eine neue Windel, etwas zu essen.“
Sie lachte. „Wird nicht so schlimm werden. Das dauert doch nur eine kurze Periode. Solltest du auch in Angriff nehmen. So ein Lütter kann Spaß bereiten. An das andere erinnere mich bloß nicht. Ich hatte wirklich damals Angst, dass Knut nachhilft und mich ersäuft.“
Er legte den Arm um sie. „Der Kerl ist ein alter Greis, falls man ihn jemals wieder entlässt. Vermutlich bleibt er für immer hinter Schloss und Riegel. Ich habe eine Idee. Ich lade dich zu einem riesengroßen Eisbecher mit massig Früchten ein. Sommerlich genug ist es und dein Junior bekommt Vitamine.“
„So einen extrem warmen Oktober hatten wir seit Jahren nicht. Der Klimawandel lässt das Wetter verrückt spielen.“
„Mir gefällt es, da ich so wenigstens am Wochenende kiten konnte.“
„Weißt du, was das Schöne in diesem Jahr war?“
„Dass Holger erwachsen geworden ist, denke ich.“
„Genau. Deine Strafpredigt hat geholfen.“
„Eher, dass du ihm seine Klamotten vor die Füße geworfen hast. Da ist ihm scheinbar richtig bewusst geworden, was für einen Schatz er in diesem Augenblick verloren hatte. Gut, dass du ihn einige Wochen hast zappeln lassen, war heilsam für ihn und hat sein Denkvermögen in Gang gesetzt. Er ist ein feiner Kerl, nur höchstwahrscheinlich hast du es ihm stets zu leicht gemacht.“
„Jetzt reden wir mehr und er packt sogar mit an.“
Unterdessen sie Richtung Marktplatz schlenderten, sich unterhielten, schaute er verstohlen die unzähligen Touristen an. Eventuell lief ihm ja die ansprechende Unbekannte über den Weg.
Er lag auf seinem Bett, las in einem Buch und blickte bisweilen in den Fernseher, wo man gerade Nachrichten sendete, als sein Telefon klingelte. Er guckte auf die Uhr, schüttelte den Kopf, meldete sich dennoch. Zuhörend warf er das Buch auf das Bett, sprang auf, griff nach seiner Jeans.
„Das ist Snaksch. Hat sie was getrunken?“ Er klemmte das Handy zwischen Schulter und Kinn, schlüpfte schnell in die Hose.
„Dumm Tüch! Martin, ich komme, schaue mir die Braut an und fahre sie zum Klinikum. Wer latscht dort noch in der Dunkelheit herum?“, äußerte er erbost. „Wo genau?“
„Ist wenigstens nicht weit entfernt. Bis gleich. Um sie zu beruhigen, leuchtet das Gebiet ein bisschen ab, sonst dreht sie noch völlig durch.“
Er griff nach einem Shirt, fluchte dabei. „Wegen einer Spinnerin hat man nicht einmal abends Ruhe.“ Er zog die Turnschuhe an, steckte Kleinigkeiten in die Hosentasche, schnappte seinen Autoschlüssel, den Lederblousons und war wenig später auf dem Weg zum Deich nach Simonsberg.
Eine Frau war abends spazieren gegangen und hatte angeblich Babygeschrei gehört.
Er parkte Minuten darauf neben dem Streifenwagen und einem gelben Beetle mit Hamburger Kennzeichen. Schien ihr Auto zu sein. Gewohnheitsmäßig ließ er den Wagen überprüfen. Der Besitzer ein Martin Helmholz-Schiller. Vermutlich seine Frau.
Er sprang mit einem Satz über den Holzzaun und eilte über die Wiese den Deich hinauf, sah in der Ferne das Leuchten von zwei Taschenlampen. Langsamer schlenderte er zu den kaum erkennbaren drei Personen. Er lauschte, aber außer dem leisen Plätschern der Wellen auf die Steine war nichts zu hören. Keine Möwe schrie, kein Schaf blökte, kein Hund bellte irgendwo. Nichts.
„Moin. Habt ihr mehr gefunden?“, rief er den zwei Polizisten von Weitem zu, da er das Theater nur fix beenden wollte.
„Moin. Nichts. Nichts zu sehen - nichts zu hören.“
„War wohl der Wind“, stellte er leicht gereizt fest. Fast im gleichen Moment blieb er wie angewurzelt stehen, da er die Frau erblickte. Es war die schöne Unbekannte.
„Das ist Hauptkommissar Klaasen - Frau Schiller. Sie hat aus der Richtung das Schreien eines Babys gehört“, erklärte Martin, zog dabei die Stirn kraus, die Mundwinkel nach oben, ein Grinsen vermeidend.
Er räusperte sich. „Moin. Haben Sie jemand gesehen, Frau Schiller?“
„Nein, aber es war da, obwohl mich alle für bescheuert halten. Es war kein Schaf, keine Kuh, keine Möwe, keine Ente, kein schreiender Fisch, noch Wasser oder Wind. Es war ein menschliches Baby.“
„Waren Sie hier schon öfter am Meer?“
„Nein, heute das erste Mal.“ Ihre Stimme tönte melodisch, weich, feminin und passte zu ihr, dachte er. Schade, dass es dunkel war und er ihr Gesicht nicht genauer sehen konnte.
Er strich durch seine dunkelbraunen Haare. Schien eine von der sturen Sorte zu sein. „Wissen Sie, es kommt zuweilen vor, der Wind säuselt seltsam und gaukelt den Menschen Unbestimmtes vor. In alter Zeit nannte man es das Heulen der Kinder, die man angeblich beim Deichbau lebendig vergrub.“
„Gruselig. Es war ein Baby und das klang sehr lebendig!“, beharrte sie ärgerlich und ihre Stimme dröhnte schriller in seinen Ohren. Er hasste keifende Frauen.
„Ich bin am Wasser aufgewachsen, kenne die Töne, wenn es rau und wütend ist, oder sanft plätschert, so wie jetzt. Ich weiß ja, kann verstehen, dass Sie mich für völlig verblödet halten, weil ich auch erst dachte, ich täusche mich. Es … war … ein … Baby.“
So kam er bei ihr nicht weiter. Sie würde die ganze Nacht ausharren und die Stadt in Atem halten, wenn sie nicht suchten.
Er drehte sich weg, griff zum Handy. „Eike, Gunnar kommt bitte zum Simonsberg. Wir suchen ein Baby.“ „Ja, ein Baby.“ „Nein, bin ich nicht.“ „Bringt mir bitte eine Taschenlampe mit.“ „Bis gleich.“
„Martin, teilt euch auf, einer auf der Wasserseite, der andere auf der Landseite. Ich warte so lange mit Frau Schiller hier.“
„Dumm Tüch“, grummelte Olaf leise. „Dat is en Stück ut de Dullkist.“
„Wat mut, dat mut“, erwiderte Eike, wandte sich an die Frau. „Wohnen Sie in Husum?“, erkundigte er sich, als die Männer langsam, die Wiese beleuchtend, davon schritten.
„Nein, ich bin nur für einige Tage in der Stadt.“
„Wo leben Sie sonst?“
„In Hamburg.“
„Warum sind Sie hier noch so spät unterwegs?“
„Ich liebe das Wasser, da ich dort entspannen, nachdenken kann. Ich wollte die Ruhe genießen, mich bewegen und überlegen.“
„Wie lange sind Sie gelaufen, als Sie das Geräusch hörten?“
„Keine Ahnung. Bis etwa fünfzig Meter von hier entfernt? Vielleicht hundert? Ich habe nicht darauf geachtet. Ich saß auf der Wiese, schaute den Schafen und dem Wasser zu, träumte so vor mich hin, als ich das Baby schreien hörte. Erst dachte ich, auf der anderen Seite geht jemand spazieren, aber als das Schreien nicht aufhörte, sich das Geräusch nicht zu bewegen schien, bin ich hochgelaufen, aber da war niemand zu sehen. Ich bin etwa 50 oder 100 Meter in die Richtung gegangen, von wo das Schreien kam. Plötzlich war stille. Ich bin ein Stück weiter gerannt, aber fand nichts. Nach einer Weile habe ich bei der Polizei angerufen, da es bereits dunkel war.“ Sie trat an die Seite und setzte sich. „Glauben Sie mir, ich bin nicht verrückt. Es war ein Baby, das da geschrien hat.“
„Haben Sie Kinder?“
„Nein.“ Plötzlich lachte sie leise. Ein warmes Lachen. „Ich habe kein Kind verloren, noch eine übergroße Sehnsucht nach einem Kind. Ich träume nicht nachts davon, Mutter zu werden, oder Sonstiges in der Richtung. Haben Sie Kinder?“
Er überhörte die Frage. „Seit wann sind Sie vor Ort?“
„Keine Ahnung. 18.00 Uhr schätze ich.“
Eike bemerkte, wie sie sich über die Oberarme rieb. „Ist Ihnen kalt?“
„Ein wenig. So lange wollte ich ursprünglich nicht bleiben.“
Er zog seine Jacke aus, entfernte das Handy, die Pistole und steckte sie hinten in seine Jeans, entnahm den Ausweis. „Ziehen Sie die über, sonst sind Sie morgen erkältet. Die Kollegen werden gleich kommen, dann können Sie fahren.“
„Ich würde gern warten, wenn ich darf.“
Er stöhnte innerlich, da er gehofft hatte, dass man diese Suche bald abbrechen könnte. Diese Frau sah zwar ansprechend aus, war aber anscheinend verwirrt.
„Rauchen Sie Pfeife?“
„Warum?“
„Ihre Jacke riecht danach. Ich liebe diesen Geruch, da mein Vater Pfeife raucht. Merkwürdigerweise im Winter öfter als im Sommer.“
„In der warmen Jahreszeit ist man häufiger draußen beschäftigt, mehr abgelenkt.“
Sie schaute ihn an. „Es ist sehr nett, dass Sie mir Ihre Jacke geben“, säuselte sie, unterbrach seine Gedanken und er fragte sich, was das sollte. „Sie sind ein richtiger Kavalier der alten Schule.“
„Die Polizei versucht stets, nett zu sein. Wie heißt es: die Polizei, dein Freund und Helfer.“
„Sind Sie zu Ihrer Frau auch immer so nett und lieb?“
Er schüttelte den Kopf. Apenkatt! Er schlenderte einige Meter von ihr weg. Diese Fruunslüüd hatte eine Macke. Nun versuchte sie noch, ihn anzubaggern. Er wanderte hin und her, wartend.
Endlich sah er die zwei Kollegen kommen und atmete erleichtert auf. Nun konnte er den Spuk beenden. Er ging ihnen entgegen.
„Eike, das war ein Scherz, oder?“
„Gebt mir bitte eine Lampe. Nein. Eine Frau hat vor über drei Stunden Babygeschrei gehört.“
„Da ruft sie erst jetzt an? Dumm Tüch!“
„Ist sie blau?“
„Den Anschein machte sie nicht, man riecht nichts. Geht in die Richtung. Einer diesseits, der andere jenseits und sucht. Ich möchte nur sichergehen, dass nicht tatsächlich jemand ein Kind ausgesetzt hat.“
„Snaksch, nicht bei uns.“
„Vielleicht hat sie ihr Kind selber abgestellt und nun spielt sie Finderin. Kommt keiner auf sie.“
„Hans, hör auf. Da hätte sie um halb sieben angerufen. Ich vermute, sie spinnt.“
Sein Handy meldete sich und er zog es aus der Hosentasche. „Martin, was gibt es?“ „Wie bitte?“ „Gunnar, einen Krankenwagen, fix! Sie haben einen Säugling gefunden. Es lebt.“ „Martin, einer bringt das Baby her, der andere bleibt dort. Gunnar und Hans kommen hin.“ Er steckte das Handy ein. „Hans, öffne bitte vorne das Gatter, damit sie herfahren können.“
Die Frau stand plötzlich neben ihm.
„Das Baby wurde gefunden und es lebt. Ich muss mich entschuldigen, da ich das für Spinnerei gehalten habe.“
„Ist gut. Hätte ich vermutlich ebenso gedacht. Nur wer machte das? Was passiert mit ihm? Ach, so ein armes Gör.“
„Das werden wir versuchen herauszufinden. Zunächst muss das Kind gerettet werden. Ein Rettungswagen wird gleich vor Ort sein.“
„Ist er denn so schwer krank?“, erkundigte sie sich mit leiser Stimme, schniefte irgendwie merkwürdig und er dachte, eine schlechte Schauspielerin, dazu nervig.
„Krank kann man das wohl eher nicht nennen. Ein Neugeborenes muss regelmäßig versorgt werden, und wenn es hier längere Zeit gelegen hat, benötigt es nicht nur zu trinken, sondern medizinische Betreuung.“
„Was passiert eigentlich mit so einer abartigen Mutter?“
„Zerbrechen Sie sich nicht Ihr Köpfchen darüber. Das können Sie in der Zeitung nachlesen. Die Frau muss deswegen nicht abartig sein. Eine einfältige, vorschnelle Vorverurteilung, oder kennen Sie die Mutter? Sie entschuldigen mich“, wollte er weggehen.
„Ich bin seine Lebensretterin, und da interessiert es mich schon, wie das weitergeht, was mit ihm geschieht, wo er hinkommt und ob er das überlebt“, beharrte sie, und abermals klang ihre Stimme schriller.
Langsam begann sie zu nerven.
„Wie ich sagte, lesen Sie Zeitungen.“
Er sah den Scheinwerferkegel auf und ab hüpfen, erkannte Olaf, der mit dem Kind im Arm angerannt kam. Die Frau drehte sich um, schaute dem Mann entgegen, bewegte sich auf ihn zu. „Lebt er wirklich?“, erkundigte sie sich leise. „Geben Sie ihn mir“, wollte sie sofort zugreifen, aber Eike hielt sie grob am Arm zurück. „Nein, nicht anfassen.“
„Ich will doch nur ….“ Im Licht der Taschenlampe glitzerten einige Tränen und er legte den Arm um ihre Schulter. „Es geht nicht. Ein Arzt ist da und es wird überleben. Das hat es Ihnen zu verdanken“, schmeichelte er, nur um sie zu beruhigen und loszuwerden. Sie roch nach Mandel und Vanille, nahm er wahr. Irgendwie duftete sie nach mehr. Eike nicht jetzt mahnte er sich selbst. Außerdem ist sie eine Frau, die danach lästig fällt. Bekam sie ihren Willen nicht, flippte sie aus. Er kannte einige der Sorte Frauen und er war stets heilfroh gewesen, wenn die ihn zu guter Letzt in Ruhe ließen, ihn nicht mehr belästigten.
Er schaute auf das kleine weiße Bündel, sah nur ein winziges Gesicht mit geschlossenen Augen und ein paar schwarzen Haaren. Bewegen tat es sich nicht. Er hob die Hand, berührte das Gesicht, die Schläfe, da spürte er einen langsamen, aber regelmäßigen Puls. Es lebte definitiv und bedrohlich langsam fühlte sich der Pulsschlag nicht an. Er spürte eine Art Erleichterung. Der Säugling bewegte sich ein wenig, öffnete den Mund und ein ziemlich leiser Schrei ertönte. Eike freute sich darüber, da das ein gutes Zeichen war.
„Sie fassen ihn an und ich darf nicht? Eine Frechheit!“
„Sie nicht, okay.“
„Bitte, nur einmal kurz auf den Arm nehmen“, quengelte sie.
„Frau Schiller, es geht nicht und damit Ende der Diskussion“, erwiderte er bereits erbost. Frauen und ihr Mutterinstinkt.
„Eine Frau weiß wesentlich besser, wie man mit einem Baby umgeht und wie …“
„Haben Sie schon von Vätern gehört? Es sind die Männer, die Kinder haben und zweifelsohne wissen, wie man einen Säugling trägt. Das ist keine Puppe, mit der irgendwer spielt, sondern ein Lebewesen, das sich nicht von jedermann betatschen lassen muss. Sie würden sich dagegen wehren, und da es das Baby nicht kann, sorgen wir dafür. Kein Angrapschen, nichts dergleichen. Da Sie keine Nachkommen haben, hat mein Kollege wesentlich mehr Ahnung davon, wie man ein Neugeborenes behandelt. Ersparen Sie uns dieses bornierte Auftreten und Ihr Gekreische. Gehen Sie endlich.“
„Ich habe ihm schließlich das Leben gerettet und mir steht ...“
„Ich habe keine Zeit für Ihr monotones Gerede. Reichen Sie das schriftlich in 4-facher Form ein.“
Die Männer lachten. „Breesig“, murmelte Martin.
„Nun werden Sie nicht unverschämt!“, keifte sie. „Ich habe Rechte und die kenne ich genau. Als wenn Sie wüssten, wie man mit einem Baby umgeht. Eine Impertinenz!“
„Frau Schiller, gehen Sie endlich. Ich habe weder Zeit noch Lust, mir so ein dümmliches Gequatsche anzuhören. Ihre Rechte umfassen nicht, fremde Säuglinge anzutatschen, noch Polizeiarbeit massiv zu behindern. Ich habe indes das Recht, Sie von einem Tatort wegzuschicken. Leisten Sie meinen Anordnungen nicht Folge, habe ich sogar das Recht, Sie abführen zu lassen, daneben ist es ein Straftatbestand und wird geahndet.“
„Ich will aber …“
Er hörte den Wagen und trat von ihr weg. „Was Sie wollen, interessiert uns nur nicht. Schreien Sie nicht herum, da das Baby sonst taub wird. Aber Ahnungen von Säuglingen haben wollen. Sie können gehen, Frau Schiller. Kommen Sie morgen kurz bei uns vorbei, da wir das protokollieren müssen. Bitte nicht vor zehn. Wissen Sie, wo die Polizei ist?“
„Ja, soweit kenne ich mich aus“, erwiderte sie schnippisch.
Er folgte Olaf zum Krankenwagen, erkannte Holger Michaelsen. Dem Arzt erklärte er rasch, was passiert war. Der packte das schreiende Bündel aus der bunten Wolldecke. „Es lebt, scheint geschwächt zu sein. Mehr kann ich dir noch nicht sagen. Ruf mich in einer Stunde an, dann weiß ich mehr.“
„Wie alt?“
„Maximal zwei Tage. Ich muss es erst ausziehen.“
„Er überlebt aber, oder?“, mischte sich die Frau ein.
„Frau Schiller, gehen Sie bitte, da Sie das nicht betrifft. Es handelt sich um polizeiliche Maßnahmen und die gehen Sie nichts an. Habe ich mich klar und verständlich ausgedrückt?“
„Ich mache mir Sorgen um das Kind. Verstehen Sie das nicht?“
„Gut, bereiten Sie die bitte entfernter. Wir sind Ihnen dankbar, dass Sie angerufen haben, werden es lobend erwähnen. Damit ist ihr Part beendet, ansonsten nennt man es Behinderung der Polizeiarbeit. Es reicht mir allmählich, das ich zig Mal das Gleiche sagen muss, weil Sie es nicht begreifen.“
„Es wird überleben“, meldete sich Holger aus dem Wagen. „Ist es ein Junge, nenne ich ihn Eike. Ein Mädchen nach der Finderin. Wie heißen Sie?“
„Serena.“
„Hübscher Name. Fahren wir. Eike, bis später. Ist etwas, rufe ich an.“
„Herr Doktor, darf ich ihn besuchen?“, säuselte sie nun, taxierte dabei Holger.
Der schaute Eike an, der mit den Augen rollte. „Eventuell übermorgen. Es benötigt Ruhe. Es ist ein Säugling, keine Puppe.“
„Danke, Herr Doktor, Sie sind ja so nett. Komme ich morgen Vormittag kurz bei Ihnen vorbei“, flötete sie.
Eike schüttelte den Kopf. Sie verwandelte sich wie ein Chamäleon, jedoch wirkte es allesamt gekünstelt.
„Nein. Das können Sie sich schenken, da Sie keinerlei Zutritt erhalten werden.“
„Nur um mich bei Ihnen zu erkundigen, wie es ihm geht.“
„Nein. Hören Sie nie zu? Gehen Sie, sonst lasse ich Sie abführen. Schluss jetzt!“ Er verabschiedete sich von der Frau, die langsam davon schlenderte, irgendetwas vor sich hin murmelte.
„Wie ich solche mallen Weiber hasse“, stöhnte er. „Sie weiß, kann alles und begreift nicht das Simpelste. Bornierte Angeberin.“
„Sie will dich anbaggern, spielt sich deswegen in den Vordergrund“, grinste Holger. „Normalerweise sind der Typ Frau doch dein Beuteschema.“
„Sie nicht. Scheint Notstand zu haben. Nur ich bin kein Callboy. Bei so einem blöden Gelaber vergeht mir alles. Kriegt die Tussi nicht mit. Begriffsstutzig oder so eingebildet, dass sie denkt, sie bekommt jeden Mann herum. Einbildung ist auch eine Bildung. Ich muss, bis nachher.“
Er eilte zu den anderen Männern, sagte rasch dem Oberstaatsanwalt Bescheid, den er aus dem Bett klingelte, wie der ihm mürrisch erklärte.
„Ich würde ebenfalls lieber im Bett liegen und schlafen“, stelle er lakonisch fest. Allein.
Nun begann er ebenfalls mit der Suche. Man leuchtete alles ab, erkennen konnte man nur wenig. In der näheren Umgebung fanden sie nichts.
„Lasst uns das abbrechen. Gunnar, hole bitte Band und acht Stangen, damit ihr das weiträumig absperrt. Fahren wir beim ersten Dämmerlicht her. Nein, ihr nicht, habt ja Feierabend. Wem gehört das hier?“
„Friesens.“
„Fahre ich rasch vorbei, damit er seine Schafe von hier fernhält. Er wird sich freuen. Ihr sperrt vom Wasser bis unten über den Weg, Länge, vom Fundort in beide Richtungen je 30 Meter in zwei Reihen das Gebiet ab. Danach könnt ihr euren Dienst fortsetzen. Fahrt bitte nachts kurz kontrollieren, ob noch alles steht.“
Erst als er zum Auto kam, bemerkte er das Fehlen seiner Jacke und fluchte. Da waren unter anderem seine Autoschlüssel drinnen. Er wollte gerade telefonieren, da sah er die an dem Spiegel hängen. Er schmunzelte, zog sie über und fuhr zu dem Bauernhaus. Alles war dunkel und so musste er die Leute wach klingeln.
Der Bauer wurde merkwürdig blass, als er das von dem Säugling hörte.
„Dat is en Stück ut de Dullkist. Nu brauch ich een Kööm. Sie auch?“
Eike nickte.
„Et gah uns wol up unse ole Dage.“
„Wat mut, dat mut“, erwiderte Eike und sie kippen den Klaren hinunter.
Erst danach erzählte er, was er im Grunde wirklich wollte. Der Mann war verständnisvoll, noch von dem Gehörten geschockt.
Gleich weckte er seine Frau, um ihr das zu erzählen, und morgen sie das den Nachbarn.
Nach einem weiteren Klaren fuhr Eike nach Hause. Er sprach kurz mit Holger, aber dem kleinen Eike ging es gut. Er hatte getrunken, lag auf der Intensivstation. Eine genauere Untersuchung erfolgte erst morgen. Jetzt sollte er sich erst einmal erholen, ruhig, gesättigt schlafen.
Daheim fand er in der Jackentasche einen Zettel mit einer Telefonnummer, den er in den Müll warf. Die Braut war dusselig. Frauen, die ihn anbaggerten, waren noch nie sein Fall gewesen. Er wollte derjenige sein, der sie ansprach, sie ins Bett ziehen wollte. Dafür war er zu sehr ein Macho.
Im Bett liegend dachte er nicht an den kleinen Jungen, der diese Prozedur anscheinend gut überstand, sondern an Serena Schiller. Serena, ein Name, der zu ihr passte. Er klang kalt, so wie sie zu sein schien. Ihr Auftritt hatte auf ihn, auf die eine oder andere Weise unecht gewirkt, dazu ihr merkwürdiges Verhalten. Keifend - säuselnd. Diese Fruunslüüd spielte Theater. Nur warum? Der allgemein bekannte Mutterinstinkt? Daran glaubte er bei ihr nicht wirklich, da der nicht zu ihr passte, seine Einschätzung. Sie schien mehr der Typ verwöhntes Püppchen zu sein.
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Sobald es hell wurde, lief er am Simonsberg entlang. Er hatte mit seinem Vater vorhin gesprochen, aber der hatte keine Ahnung, zu wem das Baby gehören könnte. Die schwangeren Frauen, die er kannte, hatten noch nicht entbunden, beziehungsweise drei waren mit ihren Säuglingen bereits zur U2 erschienen. Er wollte sich jedoch umhören.
Jetzt liefen sie in einer Reihe die Wiese ab, die noch feucht war. Die Tautropfen glitzerten in der langsam aufgehenden Sonne. Dass man Sachdienliches fand, war eher unwahrscheinlich. Die Schafe hatten eventuelle Fußspuren bereits am Vortag weggetrampelt. Etwas hinterlassen hatten Mutter oder Vater wohl kaum. Er ging davon aus, dass es einer von ihnen war, der das Kind aussetzte.
Nach zwei Stunden gaben sie auf. Da war nichts. Selbst auf dem Wasser, dass er systematisch mit dem Fernglas absuchte, schwamm nichts.
Er fuhr zum Klinikum und besuchte den Lütten. Der bekam gerade die Flasche und schien putzmunter zu sein. Sie Hände waren in Bewegung und blaue Augen schauten ihn an, jedenfalls kam ihm das so vor.
„Wie geht es ihm?“, erkundigte er sich bei der Schwester.
„Sehr gut. Der Doktor hat ihn heute Morgen genauer untersucht. Er ist kerngesund. Sie absolvieren später noch einige der üblichen Tests. Er schreit laut, da er anscheinend alle drei Stunden Hunger hat. Ein süßes Kerlchen.“
Eike griff nach dem kleinen Händchen, das sich sofort um seinen Finger schloss. Er lachte. „Kraft hast du ja.“
Er war fertig mit trinken und sie reichte ihm den Jungen. „Er muss Bäuerchen machen und schön den Kopf stützen.“
Ungeschickt und zaghaft hielt er den Säugling fest und dachte, hoffentlich spuckt er nicht. Das hatte er einmal bei seinem Neffen erlebt, sehr zur Belustigung seiner Schwester und den Eltern.
„Gut, dass Sie ihn fanden, Herr Klaasen. Es wäre schade gewesen, wenn so ein kleiner Wonneproppen nicht leben dürfte.“
„Das verdanken wir einer Touristin. Freuen tue ich mich dessen ungeachtet darüber. Sagen Sie, kennen Sie eine Frau, die hochschwanger ist?“
„Mehrere. Einige Ehepaare kommen her, wollen sehen, wo und wie die Frau entbinden kann.“
„Wissen Sie da Namen?“
„Fragen Sie bitte vorne nach, da wir diese ungefähren Termine notieren.“
„Jemand im privaten Bereich?“
„Sie müssen ihm auf den Rücken klopfen, dann geht es schneller. Gehen Sie ein paar Schritte. Ja, drei Frauen. Meine Schwägerin, aber das Kind kommt voraussichtlich erst in zwei Wochen und gestern Abend war es noch da. Zwei Nachbarinnen, ach ja, und die Verkäuferin beim Bäcker, aber das war vorhin ebenfalls noch im Bauch.“
„Wer sind die Nachbarinnen?“
„Ich schreibe Ihnen die Namen und Adressen auf, aber von ihnen ist er nicht. Die eine erwartet ein Mädchen nach drei Jungen. Die andere zwar einen Jungen, aber sie freuen sich darauf.“
„Wir müssen es trotzdem überprüfen.“
„Ich tippe mehr auf ein unreifes Ding. Eine, die verschleiert hat, dass sie schwanger war. Diese Frau werden Sie wahrscheinlich in keiner Kartei eines Gynäkologen finden.“
„Vermutete ich dito, weil es sonst zu leicht wäre, die Mutter zu identifizieren.“
Der kleine Eike rülpste leise.
„Das hast du fein gemacht“, lobte er.
„Jetzt darf er schlafen“, nahm sie ihm den Säugling ab, legte ihn in ein Bettchen. Eike verabschiedete sich und suchte den Arzt auf, da er einen Bericht benötigte.
„Der Lütte wurde normal ausgetragen, die Nabelschnur hat hingegen ein Laie stümperhaft durchtrennt. Die Versorgung erfolgte völlig normal: Wickeln, Stillen, Anziehen. Neuwertige Babysachen, ungewaschen, da sie nach Chemie stinken. Er wurde definitiv mehrmals gestillt, vermutlich jedoch am späten Vormittag das letzte Mal. Die Geburt muss schätzungsweise am Mittwochvormittag erfolgt sein. Er ist völlig gesund, Reflexe alle vorhanden.“
„Gestillt? Da sind Sie sicher?“
„Zu hundert Prozent. Man erkennt das am Inhalt der Windel.“
„Wie kann ich erst mein Kind stillen, folgend aussetzen? Da entwickelt man doch Gefühle für so einen Wicht.“ Für einen Moment sah er Iris und Tobias vor sich. Sie hatte damals Tränen der Rührung in den Augen gehabt, als der Neugeborene an ihrer Brust lag.
„Theoretisch ja, aber es muss nicht zwangsläufig der Fall sein. Es herrscht da ein gewisser Automatismus.“
„Für mich unverständlich. Sagen Sie, die Windel, Papier oder Stoff?“
„Pampers, die kleinste Größe.“
„Die bekommt man nur in solchen Riesenpackungen, oder?“
„Sie haben wohl keine Kinder?“
„Nein, ich kenne das nur von meinen Geschwistern, aus der Praxis meiner Eltern.“
„Doktor Andreas Klaasen ist Ihr Vater?“
Er nickte nur.
„Ja, die gibt es nur in diesen großen Paketen.“
„Das heißt, die Frau kaufte eine Packung, benutzte nur vier, fünf Stück. Der Rest flog in den Müll.“
„So ungefähr oder sie hatte wenige bei Bekannten gestohlen.“ Doktor Kühn lehnte sich zurück. „Wissen Sie, es muss nicht zwangsläufig sein, dass sie plante, das Kind auszusetzen.“
„Sie meinen eine Kurzschlusshandlung? Nehme ich meine Schwester, nur als ein Beispiel. Als ihr Sohn unterwegs war, wurde eingekauft, gewienert, gewaschen. Es musste vorher nach strengen Kriterien geputzt und porentief rein sein. Selbst Kuscheltieren kamen in die Waschmaschine. Sie nahm jede Vorsorgeuntersuchung wahr, mein Schwager musste mit. Jeder bekam zehnmal das gleiche Ultraschallbild zu sehen. Diese Mütter, die Kinder aussetzen, tun, soweit ich von anderen Fällen hörte, nichts dergleichen, verdrängen zum Teil ihre Schwangerschaft. Diese Frau hat zumindest einen Strampler, ein Hemdchen, Windeln und diese Wolldecke gekauft. Wollte sie das Kind ursprünglich behalten, warum hat sie in keiner Klinik, unter Mithilfe einer Hebamme entbunden? Es existiert folglich ein eingerichtetes Zimmer oder eine entsprechende Ecke mit Gitterbett, Wickelkommode und all dem Kram. Sie hat diese Untersuchungen wahrgenommen. Nun ist da eine Familie, die fragt, wo ist dein Kind? Wie erklärt man das Fehlen?“
„Eventuell gibt es keine Familie, keinen Vater.“
„Nachbarn, Arbeitskollegen, Bekannte.“
„Lügen. Die Wolldecke ist älter und mehrfach benutzt. Sie riecht nach Moder. Gekauft hat sie Babycreme, da der Po eingecremt war.“
„Die meinetwegen auch. Sie wusste ergo, dass sie ein Kind erwartet. Eine Geburt passiert nicht innerhalb von fünf Minuten, wie ich mitbekommen habe. Es dauert gerade beim ersten Kind ewig. Der Zirkus geht über Stunden, wobei die Väter nerven. Warum ist sie also nicht, als die Wehen kamen, in ein Klinikum gefahren, hat eine Hebamme oder den Krankenwagen gerufen? Da hatte sie doch bereits geplant, ich will dieses Kind nicht. Sehe ich das falsch?“
„Man hört heraus, dass Sie keinen Nachwuchs haben“, amüsierte sich der Mann. „Das ist richtig, wie Sie das analysieren. Sie erforschen das durch den nüchternen Verstand, realistisch, rational, ohne die Emotionen zu berücksichtigen. Dass sie das Kind aussetzte, muss nicht zwangsläufig heißen, dass sie das im Vorfeld, vorige Woche, vorigen Monat, beabsichtigt hat.“
„Sie meinen, diese berühmten Macken der Schwangeren? Damit sind wir zumindest bei einer Wiege, einer Wickelecke und den Arztbesuchen bei einem Gynäkologen.“
„So kann man das sicherlich nennen. Ich meine die Macken. Wahrscheinlich wissen Sie von Ihrem Vater, Ihrem Bruder, welche Formen das zuweilen annehmen kann. Eventuell ist gerade vorgestern etwas Gravierendes passiert, dass sie umdenken ließ. Das müssen Sie dabei in Erwägung ziehen.“
„In etwa, der Erzeuger sagte, ich gehe.“
„Denkbar.“
„Nur warum gebe ich dann ein Neugeborenes nicht ab, als Beispiel? Wenn ich mein Kind nicht möchte, okay, obwohl ich es nicht nachvollziehen vermag. Ich würde zumindest dafür sorgen, dass es ihm gut geht, dass ich weiß, er wird ordentlich versorgt, gefüttert. Es gibt Adoptionen. Egal. Machen wir uns auf die Suche. Fällt Ihnen zufällig jemand ein, der als Mutter infrage kommt?“
„Jede Hochschwangere, da die Austragungszeit nicht frühzeitig unterbunden wurde. Eine entsprechende Liste ist bereits angefertigt, mit dem entsprechenden Gynäkologen dahinter.“
„Danke, Doktor Kühn. Wo sind die Sachen von dem Lütten?“
„Sie liegen vorn bei unserer Sekretärin. Doktor Michaelsen hat so wenig wie möglich berührt, wegen der Spuren. Ausgezogen wurde er generell mit Handschuhen.“
„Nehme ich so mit. Sollte etwas mit meinem Namensvetter sein, rufen Sie mich oder meinen Vater bitte an.“
„Sie wollen ihn nicht zufällig adoptieren?“, blödelte er.
Er blickte den Arzt verdutzt an, lachte, „sicher und ich nehme ihn jeden Tag mit zur Arbeit. Mit zwei Jahren kann er schießen und mit fünf rennt er Einbrechern hinterher.“
„Hätte ja sein können. War ein Scherz.“
„Ich besuche ihn die Tage mal.“
Auf dem Weg zum Büro kaufte er rasch einen großen Teddy, Kleidung, schaffte die Einkäufe zu seiner Mutter, fragte, ob sie das waschen könne.
„Eike, der Teddy ist für Erwachsene. Doppelt so groß wie ein Baby und dreimal so breit. Da ist jedes Gitterbett voll, ohne dass da ein Säugling Platz findet.“
„Mudding, er muss auf den Lütten aufpassen, da er vorerst keine Eltern hat. Er sitzt vor dem Bett oder an der Seite als Wächter. In der Tüte sind ein kleiner Eisbär und ein bunter Lori zum Spielen, dazu ein weicher, bunter Ball, der leise klimpert. Schöne kräftige Farben. Die Klamotten vom Klinikum sehen scheußlich aus, fad und ooll. Sein Leben hat scheußlich begonnen, nun soll er wenigstens nur Schönes sehen und sich darüber freuen.“
„Ein netter Zug von dir“, gab sie ihm einen Kuss.
Er verschwand in das Sprechzimmer seines Vaters.
„Vadding, ich benötige von euch eine Liste von Frauen, die hochschwanger sind. Frage die Damen, ob sie da jemand in dem Zustand kennen. Könnt ihr mir bitte zufaxen.“
„Wie geht es dem Lütten?“
„Gut. Er hat blaue Augen, kann laut rülpsen, hat reichlich Hunger und greift fest zu. Ist wohl kerngesund. Nun suche ich seine Mutter oder Eltern.“
„Die Liste stellen wir dir zusammen.“
„Vielleicht wissen deine Patienten, vielmehr die Mütter von jemand. Eine Schwangere fällt in der Regel auf.“
„Erhältst du. Eventuell meldet sie sich freiwillig, weil es nur eine Kurzschlussreaktion war.“
„Sag, wieso redet man bei Schwangeren und Müttern, die gerade geboren haben, alle Macken schön?“
„Werde Vater, erlebe das mit und du weißt es.“ Andreas blickte hoch. „Entschuldige.“
„Ist gut. Iris war nie so beschränkt. Nein, das erspare ich mir ein weiteres Mal. Meine Schwester und meine Schwägerin nervten in der Zeit genug, aber sie waren ja schwanger.“
Andreas Klaasen schaute seinen Ältesten schmunzelnd an. Sah er Eike, sah er seinen Vater. Er war sein Ebenbild, nur die Nase hatte er von seiner Mutter. „Das ist so. Nun ernsthaft. Im Körper passiert halt eine Menge und das führt zu den merkwürdigsten Vorkommnissen, Gelüsten. Müsstest du gelernt haben.“
„Das ist damals an mir vorbeigegangen.“ Eike winkte ab. „Vertiefen wir das lieber nicht. So, ich muss los.“
„Habt ihr Hinweise gefunden?“, erhob sich Andreas.
„Nichts. Faktisch verfügen wir über null, hatten das so fix allerdings auch nicht erwartet.“
„Hast du daran gedacht, dass diese Finderin des Babys, die Mutter sein könnte? Sie wollte so ihr Kind retten.“
Jetzt war er bestürzt. „Du meinst … Nur ginge es ihr nicht irgendwie schlecht?“
„Deine Schwester ist Stunden später herumgehüpft, als wenn nichts wäre.“
„Das heißt, ich muss sie zur Untersuchung schicken?“
„Schau sie an, achte besonders auf den Busen, ob der vielleicht groß ist.“
„Da gucke ich genauer hin“, grinste er. „Sie sieht nett aus, aber sie ist ein Eisberg. Nein, zu ihr passte eher, dass sie den Jungen ermordet und versteckt hätte.“
„Du bist unverbesserlich. So, raus. Die Lütten warten und werden nur ungeduldig und quengelig.“
„Wohl mehr, weil du sie piesackst.“
„Du benötigst seit Wochen Tetanus.“
„Am Wochenende. Tut das weh, Onkel Doktor?“
Sie schauten sich lachend an. „Raus!“, schubste Andreas seinen Ältesten zur Tür.
Im Büro bemerkte er sofort Andreas fragenden Blick. „Keinerlei Aufregung. Holger wird dir sicher berichtet haben, dass es ihm gut geht.“ Er zauberte hinter seinem Rücken den kleinen Löwen hervor und reichte ihr den. „Der ist mir zugelaufen, weil er zu einem kleinen Jungen möchte, der demnächst auf die Welt kommt.“
„Ach du bist lieb“, stand sie auf und gab ihm einen Kuss.
Er goss Kaffee ein und setzte sich, legte die Papiere auf den Schreibtisch. „Vadding faxt uns eine Liste von weiteren Frauen zu. Das sind die vom Klinikum, dem Personal, was jedem so einfiel. Ich wusste nicht, dass so viele Frauen in Husum gerade Babys bekommen?“
„Ich habe eine Liste, wer den Kollegen, Holger und mir eingefallen ist. Zwei habe ich heute Morgen gesehen und deren dicker Bauch ist noch vorhanden. Sie wurden gestrichen. Wie sieht er aus?“
„Nüddelich. Dicke Bäckchen, blaue Augen, dunkle Haare, kann fest zupacken. Die Schwester sagte, er hätte großen Hunger, schläft jetzt vermutlich. Andrea, er ist puddelgesund. Ergo keinerlei Aufregung.“
„Wie kann man ein Kind aussetzen?“
„Wie? Indem man ihn abstellt“, schmunzelte er, wurde fix ernst, als er ihren Blick gewahrte. „Hei, er ist in Ordnung. Alle wollen mir etwas von Kurzschlussreaktion erzählen, weil Schwangere teilweise eine Macke haben. Die Sachen müssen untersucht werden, eventuell findet man Spurenmaterial. Muss nachher einer hinbringen. Wer ist da?“
„Alle unterwegs.“
„Ruf bitte Jochen an, dass sie das einschieben. Eventuell haben wir großes Glück und sie finden mehr für eine DNA.“
„Doktor Hansen hat angerufen. Er wünscht, dass du für die Medien eine kurze Mitteilung formulierst. Sie nerven wohl schon. Das soll heute Abend gesendet werden und morgen in den Zeitungen stehen.“
„Auch das. Wird wieder ein schönes Wochenende. Vergleiche ich zunächst die Namen, streiche die ich doppelt finde und mache einen Vermerk, von denen, die noch schwanger sind, in den letzten drei Tagen entbunden haben, die Winzlinge bei den Müttern sind. Andrea, du kannst alle Hebammen anrufen. Nimm die Nachbardörfer bitte dazu. Ich kümmere mich um die Gynäkologen. Um zehn kommt diese Frau, die das Geschrei hörte.“
„Fange ich an zu telefonieren.“
„Bleib hier, da können wir das schneller abgleichen.“
Pünktlich erschien Serena Schiller. Er begrüßte sie, stellte Andrea vor, bevor er ihr einen Kaffee hinstellte.
„Frau Schiller, erzählen Sie uns bitte nochmals den gestrigen Ablauf, wenn möglich präzise. Wir nehmen das für ein Protokoll auf.“
Unterdessen sie berichtete, musterte er sie, da er sie heute das erste Mal richtig betrachten konnte. Sie sah wirklich nett aus. Ein ebenmäßiges Gesicht, nur wenig geschminkt. Blaue Augen, eine zu breite Nase, ein gut gezeichneter Mund und strahlendweiße ebenmäßige Zähne. Die Fingernägel nicht übermäßig lang, waren mittelblau lackiert, was er lustig fand. Andrea hatte sogar grünen oder gelben Lack aufgetragen, ihn aufgeklärt, man würde alle Farben als Nagellack bekommen. Serena Schiller trug Shirt und Jeans, ganz schlicht. Das Einzige, was nicht zu ihrem eher normalen Aussehen passte, waren die zwei Ringe. Entweder war es guter Modeschmuck, aber er schätzte sie eher als echt ein und die waren teuer gewesen. Ansonsten war sie schmucklos.
Er konnte keinen Widerspruch zu dem feststellen, was sie gestern Abend erzählt hatte. Sie sah nicht so aus, als wenn sie einen Tag zuvor ein Kind bekommen hätte. Den Busen fand er normal für ihren schmalen Körperbau. Klein, höchstens B.
„Seit wann sind Sie in Husum?“, leitete er die folgenden Fragen ein.
„Seit Montagmittag.“
„Aus privaten oder beruflichen Gründen?“
Sie schaute ihn an, schmunzelte. „Ich lasse mich gern von einem Arzt untersuchen. Ich habe kein Kind auf die Welt gebracht.“
„Wird eventuell notwendig sein“, erwiderte er jovial. „Wo waren Sie vorgestern Vormittag?“
„In einem Modeladen, bummeln, ab halb eins mit zwei Frauen essen. Ich kann Ihnen gern die Namen geben, damit Sie nachfragen können“, gab sie schnippisch zum Besten. „Sie machen sich das zu einfach, Herr Klaasen.“
„Wie man hört, kennen Sie sich in der Polizeiarbeit aus. Ihr Wissen ist erstaunlich oder hatten Sie schon öfter mit der Polizei zu tun? Wir müssen das nachprüfen. Geben Sie uns die Namen der Damen und des Restaurants.“
Sie reichte ihm einen Zettel. „Habe ich bereits notiert.“
„Danke. Wie war Ihr Tagesablauf gestern, sagen wir ab Mittag?“
„Bummeln, einkaufen und so.“
„Kann das wer bezeugen?“
„Sicherlich, da ich nicht unsichtbar oder gar unscheinbar, Mittelmaß bin.“
„Besonders sind Sie nicht zu überhören. Bleiben Sie länger im Ort?“
„Ich fahre morgen Mittag zurück oder wollen Sie noch mit mir sprechen? Ich würde dann selbstverständlich gern bleiben.“ Sie warf ihm einen langen Blick zu, lächelte, ließ die Zungenspitze langsam über die untere Seite der Oberlippe gleiten, worauf er die Augenbrauen hochzog.
„Nein, da ich das zu gern vermeide. Falls Fragen auftreten, Ihr Alibi nicht bestätigt wird, gebe ich es an das LKA Hamburg und die Beamten laden Sie vor, verhören Sie gründlich. Das Land verlassen wollen Sie ja nicht, oder?“
„Nein.“
Sie verabschiedete sich wenig später, und als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, grinste Andrea. „Das war sie wohl, deine Unbekannte von gestern?“
„Zugegeben. Nur das hat sich fix erledigt, da diese Frau ein Eisklotz ist. Da erfrierst du, aber nicht mehr. Etwas anderes. Ist dir aufgefallen, dass sie auffällig teuren Schmuck trägt und ausgewichen ist, was sie de facto drei Tage gemacht hat?“
„Eben Urlaub. Sie ist nicht die Mutter, da bin ich mir sicher.“
„Ich eigentlich auch. Trotzdem stimmt irgendetwas nicht. Lass sie bitte durch die Bank laufen und frage in dem Restaurant nach, von wann bis wann sie dort war. Überprüfe zudem den Halter dieses Wagens. Martin Helmholz-Schiller.“
„Ihr Mann?“
„Keine Ahnung. Ich vergleiche die Namen und mache mich auf die Suche, klappere schwangere Frauen ab. Toller Job.“
Nachmittags kehrte er zurück, ließ sich auf den Stuhl plumpsen. „Das nennt man Strafarbeit“, stöhnte er.
„Warum?“, amüsierte sie sich.
„Ich habe heute hundert Gläser gesunden Saft getrunken, mir hundert Kinderzimmer angesehen, gelernt, worauf man bei Gitterbettchen achten muss, welche Farben Babys mögen, angehört, wie anstrengend Schwangerschaften sind, gelernt, wie die Frauen in der Zeit tausend Wehwehchen gerade so verkraften und wie gut wir Männer es haben, weil wir keine Kinder bekommen können. Sind die Babys da, geht der Stress nur für sie weiter, obwohl sie da noch mit dem Überleben kämpfen müssen. Ich fand Inger damals anstrengend, aber dagegen war sie pflegeleicht. Wieso bist du da anders?“
„Weil ich arbeite, dadurch abgelenkt bin. Man sollte diese kleinen Wehwehchen nicht überbewerten.“
„Sieht das Holger ebenfalls so?“
„Er bezeichnet mich als pflegeleicht. Nur dass ich Schokolade und danach einen Hering essen kann, findet er anomal.“
„Doreen hat es umgekehrt gehandhabt. Erst den Fisch oder eine Gurke und im Anschluss daran Eis mit Schlagsahne, dazu einen Grapefruitsaft. Gruselig. Alle Babys sind in den Bäuchen. Vier Frauen in der Klinik, da heute der Nachwuchs kommt. Ich weiß wie hübsche und hässliche Kinderzimmer aussehen, durfte tausend Strampelanzüge und zweihundert Mobile, Spieluhren und Kuscheltiere bewundert. Selbst zu schreiend rosa Jacke, Hose, Schühchen sagt ich, sieht entzückend aus. Ich würde das Zeug postwendend in die Mülltonne werfen. Das Baby bekommt bei der Farbe einen Schock fürs Leben. In dem einen Kinderzimmer waren die Wände rosa, die Wiege, die Klamotten, sogar ein kleiner Bär. Schaurig. Da tun jedem die Augen weh. Ein anderes Kinderzimmer steril weiß, selbst die Kuscheltiere, die Bettwäsche. Nicht ein winziger anderer Farbklecks. Es roch dort schlimmer wie in Vaddings Praxis, wenn gerade frisch geputzt wurde. Wahrscheinlich desinfiziert sie jeden Tag alles neu. Was gab es hier?“
„Frau Schiller hat das Protokoll unterschrieben. Keine Vorstrafen, keine Einträge“, grinste sie.
„Was noch?“
„Weißt du, wessen Enkelin sie ist?“
„Noch nicht, aber gleich.“
„Spendierst du mir ein Eis?“
„Sag, nennt man das nicht Nötigung?“, versuchte er, ernst auszusehen.
„Ich bin schwanger und darf das.“
„Gehen wir Eis essen. Du hast sowieso Feierabend.“
Er verschloss das Büro und sie schlenderten zum Hafen. „Also wer?“
„Ihr Großvater ist der Inhaber von den Schiller-Läden.“
„Du meinst die Klamotten-Geschäfte?“
„Genau. Sie ist Raumausstatterin und gestaltet die Läden gerade neu, heißt es. Deswegen ist sie hier. Sie kommt übrigens am Montag wieder her. Sie wohnt bei den Großeltern. Sie ist nicht gebunden, da er sich vor einem Jahr von ihr getrennt hat. Sie hat ihn wohl betrogen. Sie ist eine passionierte Reiterin, spielt Golf und leidlich Tennis. Obendrein hat sie in Hamburg eine kleine Jolle liegen. Dort hat sie eine Eigentumswohnung, hat Mami bezahlt, so wie Papi ihren gesamten sehr gehobenen Lebensstil finanziert.“
„Woher weißt du das alles?“
„Geheimnis.“
„Was noch?“
„Sie ist im Laden extrem unbeliebt. Es heißt, sie spioniert für ihren Vater das Personal aus, da der Leute entlassen beabsichtigt.“
„War sie in dem Restaurant?“
„Sicherlich. Sie hat zu Beginn ein Glas aus Versehen heruntergeworfen. Halb eins bis um eins in etwa. Ob sie im Laden war, wusste keiner, aber alle vermuten es.“
„Nur eine halbe Stunde? Gesehen hat sie niemand?“
„Sie schwirrt ständig unproduktiv durch die Gegend, heißt es. Man hört sie mehr Schreien, als man sie ansonsten sieht oder wahrnimmt. Hand irgendwo anlegen - Fehlanzeige.“
„Hört sich nicht freundlich an. Am Mittwoch?“
„Da hat man sie kurz am Nachmittag gesehen, aber exakt kann es niemand mit Bestimmtheit bestätigen. Sie fragt die Mitarbeiter penetrant über Kollegen aus, selbst über deren Familienleben, Liebesleben, die Männer oder Freunde, deren Freizeit im weitesten Sinne. Zu einer Frau ist sie laut und ausfallend geworden, hat die ältere Dame angepöbelt, weil die ihr sagte, sie ließe sich nicht ausfragen. Sie hat postwendend die Kündigung erhalten. Zwei Tage später hieß es plötzlich, die Dame hätte gestohlen. Sagte jemand, was Frau Schiller missfällt, hagelt es Abmahnungen. In den letzten zwei Wochen hat das jede Mitarbeiterin getroffen. Mit einem der Verkäufer aus der Herrenabteilung hat sie in der Woche zuvor Sex im Lager gehabt. Als man sie erwischte, ist sie ausgeflippt, hat der Frau mit Repressalien gedroht, falls sie irgendwelche Lügen verbreiten würde. Es kam trotzdem heraus, da es dort eine Überwachungskamera gibt, die in den Verkaufsraum, über den Kassen, eingesehen werden kann. Hat wohl einige Kunden empört, andere erfreut. Porno, während man bezahlt.“
„Breesig! Sollen sie zum Arbeitsgericht gehen. Wie ich sagte, diese Frau ist ein Eisklotz und scheint Notstand zu haben. Hast du die Adresse der Frau, die man entlassen hat?“
„Schreibe ich auf.“
„Und er?“
„Ein unbeschriebenes Blatt. Er ist der Schwiegersohn des alten Schillers, ihr Vater. Mehr weiß ich noch nicht, da man ihn hier kaum kennt. Ich habe neue Listen bekommen, konnte aber den größten Teil bereits streichen.“
„Wie viele?“
„Ich glaube so vierzig bleiben übrig.“
„Oh nein!“
„Doch. Doktor Hansen hat angerufen und ich soll dich daran erinnern, dass am Montag um acht die zwei Neuen kommen. Blutgruppe A positiv, hat mir Holger gesagt. Ihm geht es weiterhin gut und er wird von allen verwöhnt. Frau Schiller hat ihn heute besuchen wollen, und als man sie nicht zu ihm ließ, hat sie Zirkus veranstaltet, da er nur ihretwegen überhaupt lebt. Sie habe daher das Recht ihn zu sehen, hat sie herumgeschrien. Hat trotzdem nicht geholfen. Man setzte sie vor die Tür. Sie haben mir vorhin die ersten Analysen von dem Lütten durchgegeben. Es wurde nur wenig gefunden. Fremde Faserspuren, fremde Hautpartikel. Muss noch ausgewertet werden. Sie gehen von der Mutter aus. Des Weiteren haben sie Krümel an der Decke entdeckt. Kekse oder dergleichen. Sie vermuten, dass man den Lütten in einer Tasche transportiert hat. Es wurden dunkle kurze Haare und längere hellbraune Haare gefunden. Ende.“
„Erhalten wir eventuell eine DNA der Mutter.“
Sie zuckte nur mit der Schulter. „Handelsüble Wegwerfwindeln, Typ Pampers und irgendwas dahinter. Die Kleidung nichts Besonderes. Billig, handelsüblich, ungewaschen, voller Chemierückstände. Die Wolldecke muss bereits älter sein, wurde häufiger gewaschen, stinkt allerdings vermodert. Ende.“
„Danke. Drinnen oder draußen?“
„Draußen. Das schöne Wetter muss man auskosten.“
Sie berichtete weiter, dass die ersten Meldungen im Radio gesendet wurden und nur wenige angerufen hätten, da sie eine Schwangere kannten. Sie habe die ganzen Listen zu einer zusammengefasst und alphabetisch geordnet, da es so leichter wäre, einen Namen zu finden. Alle, wo die Frauen noch schwanger seien oder es die Babys gebe, habe sie rot markiert. So könnte man das jederzeit variieren, neue Namen einfügen.
„Was soll ich bloß das nächste Jahr ohne dich anfangen?“
„Du bist lieb. Montag kommt meine Vertretung.“
„Abwarten, was sie für eine ist. Zwei Neue, das kann lustig werden. Es gruselt mich schon.“
„Ich bin ja noch ein paar Tage da und nehme dir die Dame ab. Eventuell ist sie ja nett und sogar hübsch, dein Typ.“
„Nie mit Kollegen. Bringt nur Ärger.“
„Frau Schiller?“
„Das könnte ich mir durchaus amüsant vorstellen“, lachte er, während er in seinem Eiskaffee rührte. „Abwarten, wie leicht man sie rumkriegt. Für langes Techtelmechtel fehlt mir augenblicklich die Lust. Allerdings erst, wenn der Fall geklärt ist, falls überhaupt. Ich vermute, eher nein, obwohl ich temperamentvolle Frauen mag.“
„Schaffst du. Sie hat nach dir gefragt, war enttäuscht, dass du nicht da warst. Sie wollte wissen, ob du gebunden bist, wie alt, wo du wohnst, was deine Eltern sind und so weiter.“
„Hake sie als erledigt ab“, erwiderte er lakonisch. Frauen, die so anfingen, lehnte er generell ab, weil die zu sehr klammerten und das wollte er garantiert nicht.
Sie lachte, schüttelte den Kopf, „du bist unmöglich. Heute baggern die Frauen die Männer an und warten nicht mehr, bis der Mann Lust hat.“
„Sie kann überall baggern, nur nicht bei mir. Ich mochte noch nie diesen Typ Klammeraffe. Eine Nacht, nachkommend hundert Anrufe, wo bist du, was machst du, denkst du an mich? Sie gehört wahrscheinlich zu der Sorte, die denkt, du bist danach ihr Eigentum.“
Zurück im Büro hörte er den Anrufbeantworter ab, las die Berichte von Andrea, nahm die Liste, hakte die Frauen ab, die er besucht hatte, und sah seufzend die Namen, die er noch aufsuchen musste.
Er sprach kurz mit dem Oberstaatsanwalt, brachte ihn auf den neusten Stand, suchte bis zum späten Abend weitere schwangere Frauen auf.
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Samstagmorgen frühstückte er in Ruhe, las dabei Zeitung. Die Schlagzeile war natürlich das Findelkind. Frau Schiller hatte sich extrem ausführlich dazu geäußert, sich als Lebensretterin aufgespielt. Die Polizei habe ihr nicht geglaubt. Nur durch sie sei dieses süße Baby gerettet worden. Es folgte, was sie in Zukunft alles für den armen Jungen tun würde. Sie wolle zudem die Polizei tatkräftig bei der Suche nach der verzweifelten Mutter unterstützen, weil sie das dem Jungen schuldig wäre. Nochmals betonte sie, dass sie seine Lebensretterin wäre.
„Blabla. Die Oosche scheint mediengeil zu sein.“ Nun las er die übrigen Meldungen.
Er nahm die Sachen für den kleinen Eike und fuhr ins Klinikum.
Er schaute sich in der Säuglingsstation um, konnte den Lütten jedoch nicht entdecken. So musterte er jeden Säugling nochmals, aber er war nicht dabei.
„Wo ist er?“, wandte er sich um, als er Schritte hörte.
„Oh, Herr Klaasen. Er ist in einem anderen Raum.“
„Ist etwas geschehen?“
„Nein, nein, alles in Ordnung. Wir wollen ihm so nur mehr Ruhe gönnen. Alle wollen den Lütten sehen und das bringt zu viel Unruhe für ihn und die anderen Säuglinge auf die Station. Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihm. Haben Sie Zeit?“
„Warum?“
„Sie dürfen ihm die Flasche geben. Erstaunlich, wie Sie herausgefunden haben, dass er fehlt. Für die meisten Männer sehen Babys alle gleich aus. Der Teddy ist sehr groß, aber hübsch“, amüsierte sie sich.
„Er wird auf ihn aufpassen. Zum Spielen gibt es etwas Kleineres.“
Er folgte ihr, hörte ihn bereits laut schreien. Eine kräftige Stimme hatte er, amüsierte er sich.