Das Leben ist ein Licht im Wiind - Angelika Friedemann - E-Book

Das Leben ist ein Licht im Wiind E-Book

Angelika Friedemann

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Beschreibung

Die Vergangenheit ist klar wie ein Spiegel, die Zukunft dunkel wie Lack. Tadle nicht den Fluss, wenn du ins Wasser fällst! Eine Mordserie erschüttert die Stadt Marseille. Die Art der Tötungen weisen auf einen im Kampfsport gut ausgebildeten Mann. Die junge Kommissarin Shina de Sanciere gerät in eine völlig fremde Welt, in eine Zeitepoche, die nach ihren Vorstellungen heute so nicht mehr existiert. Tödliche Intrigen, gepaart mit alten Traditionen des Fernen Ostens, eiskalte Todes¬verachtung, erschütternde menschliche Studien einer hemmungslosen Unbeugsam¬keit und erbarmungslose Diktatur treffen aufeinander. Jahrhunderte alte Gepflogenheiten haben selbst heute noch Einfluss auf einen Teil der Menschen. Fernöstliche Mentalitäten konkurrieren mit europäischem Denken und Lebensweisen. In diesem Thriller treffen europäisches Denken und fernöstliche Mentalität, prallen zwei Kulturen aufeinander; moderne Lebensformen kulminieren in jahrtausendalten Traditionen. Dieser Roman ist eine Mischung von Abenteuer, Liebe und Intrigen vor dem Hintergrund der geheimnisvollen Welt des Fernen Ostens. Er führt von dem beschaulichen Frankreich in die trügerische Metropole Tokio und schildert den Kampf einer Frau gegen namenlose Gegner, den eigenen Mann, dazu der Vergangenheit.

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Impressum

Angelika Friedemann

Shina

Leben ist ein Licht im Wind

Die Vergangenheit ist klar wie ein Spiegel,

die Zukunft dunkel wie Lack.

Tadle nicht den Fluss, wenn du ins Wasser fällst!

Prolog

Der Mann fuhr durch die hell beleuchteten Straßen der japanischen Hauptstadt. Neonreklamen blinkten zwischen den tiefen Häuserschluchten. Der Verkehr schien nie zu ruhen, selbst hier, auf der dreispurigen Fahrbahn drängelte Autos Stoßstange an Stoßstange, obwohl es fast Mitternacht war. Dicht an dicht die noch zahlreichen Menschen, die zu Fuß unterwegs waren. Manche eilten, viele schlenderten. Es herrschte ein ständiger Lärm, der jedoch nicht zu ihm hereindrang, genauso wenig wie die Gerüche. Draußen stank es nach Abgasen, selbst an den geringen Tagen, wenn man den klaren Himmel erblicken konnte. Daneben die vielen Duftnoten von Gebratenem, Gekochten, von den Ausdünstungen der Menschenmassen. An einigen Tagen lag über den Häusern dieser Gestank wie eine Glocke.

Nur langsam rollte er durch den Bezirk Shibuya-ku, das kommerzielle Zentrum der Metropole mit einer Unzahl von Kaufhäusern, Boutiquen und Büros. Die Schaufenster in der Tamagawa-dôri glänzten hell erleuchtet. Zuweilen konnte man vergessen, dass es bereits tiefste Nacht war. Die an der Westseite des Bahnhofs gelegene Kreuzung von Bahnhofstrasse und Centergai galt als ein Schmelztiegel von Menschen, der zu abendlichen Spitzenzeiten pro Ampelphase von bis zu zwölftausend Passanten überquert wurde, selbst jetzt noch strömten Fußgänger durch die Straßen.

Wiederholt fluchte er vor sich hin, wenn er schaltete und das Getriebe laut knarrte. Er war es nicht gewohnt, die große Limousine selbst zu steuern, aber heute Nacht brauchte er keine Zeugen für das, was er vorhatte. Vorbei ging es am Akasaka-Palast und dem Kokuritsu-Yoyogi-Kyôgijô, dem Stadion. Jetzt war er in Shinjuku. Das Herz Tôkyôs durchquerte er schneller, ohne nach rechts oder links zu blicken. Überall ragten gläserne Wolkenkratzer, die hell erstrahlten, und von denen blinkende und in schreienden Farben Neonlichter Reflexe auf die Straße warfen. Nebenbei die unzähligen Straßenlaternen. Hier ragten die größten Hotels der Stadt gen Himmel. Da befand sich der Sitz von Mitsui und die Präfektur Tôkyôs in den Doppeltürmen. Baustellen und Kräne zeugten von neuen Bauten. Hochhäuser, weitere Glaspaläste wurden hingestellt. Mehrere riesige Warenhäuser und der Kaiserliche Park Shinjuku-Gyoen waren vertreten.

Weiter fuhr er durch den riesigen Rotlichtbezirk und an dem Amüsierviertel für Schwule vorbei. Er hasste diese Gegend und verachtete die Leute, die hier arbeiteten, oder die ihre Befriedigung suchten. In seinen Augen alle Versager auf beiden Seiten. Daneben die zahlreichen Etablissements, in denen die Spieler ihren Leidenschaften frönten. Glücksspiel war zwar in Japan verboten, aber in den riesigen Patchino-Hallen saßen die Menschen zu Hunderten, stundenlang, eng aufgereiht, wie in einem Hühnerstall. Es herrschte dort ein ohrenbetäubender Lärm, wenn die silbernen Kugeln aus den Automaten rollten. Danach tauschte man den Gewinn, je nach Anzahl, gegen billiges Parfum, Süßigkeiten oder sonstigen Plunder ein. Trotzdem wurde überall gespielt, besonders beliebt war dieses Go. Endlos saßen sie über dem Brett, als wenn es nichts Sinnvolleres gäbe, dachte er verächtlich.

Er fädelte sich auf die linke Spur ein, hörte das Hupen hinter sich nicht und wenn, wäre es ihm egal gewesen. Er hatte hier und überall, in jeder Hinsicht Vorfahrt, war seine Devise und so lebte er auch: rücksichtslos, hartherzig, fast emotionslos, dazu karrierebesessen und den Luxus liebend, dem Ehrgeiz und der Immoralität zugewandt.

Es war eine laute, lärmende, grelle Stadt und er war froh, dass er in wenigen Wochen der Metropole den Rücken kehren konnte. Er verabscheute die Weltstadt inzwischen, ihre Bewohner verachtete er. Ständig verbeugten sie sich, machten Kotau, dazu diese Unterwürfigkeit. Diese Menschen konnten keinen richtig anschauen, wirkten irgendwie verschlagen. Man musste auf der Hut sein, da man ihnen keine Gefühle ansah, aber vielleicht hatten sie so etwas ja nicht. Sie hatten kein Selbstbewusstsein, keine Disziplin, dafür aber ständig Ausreden parat, die sie noch langatmig, mit blumigen Worten umschrieben. Elf Jahre waren mehr als genug in diesem Land, unter diesen Menschen, war seine Meinung, die er jedoch nie öffentlich äußerte.

In der Mejiro-dôri wurde es etwas ruhiger, als er den Außenbezirk Toshima-ku ansteuerte. Neue Wohnblocks wurden gerade gebaut. Kleine enge Wohnungen für das ständige, fast explosionsartige Wachstum der Stadt. Dreißig Millionen Menschen mussten in der Metropole Unterkunft finden.

Seine Finger, inzwischen feucht vom Schweiß, umklammerten krampfhaft das Lenkrad. Er konnte nicht sagen, ob das vom ungewohnten Fahren herrührte oder ob es die Vorfreude war. Er wischte die Hand erneut an der Hose ab. Es war eine Geste, die nicht seiner Art entsprach, da er viel zu sehr auf eine korrekte Kleidung achtete. Jetzt allerdings verschwendete er keinen Gedanken daran.

Er bog in die Kawagoe-kaidô ein. Graduell wurde es dunkler, die Straßen enger, die Häuser niedriger, der Verkehr weniger. Die schrillen Lichtreklamen waren ganz verschwunden. Endlich erschien der Jôhoku-Chuô-kôen. Abermals wischte er die Handflächen an der Hose ab.

Kurz darauf hielt das Fahrzeug am Straßenrand. Hier gab es beinahe keine Bauten mehr, nur Bäume und Sträucher. Vom Sitz nahm er einen dicken Umschlag, den er in die Seitentasche seines Maßanzuges steckte. Er stieg aus und schaute sich um, bevor er den Wagen abschloss.

Mit weit ausholenden Schritten eilte er in den unbeleuchteten Park und verfluchte sich, dass er diesem Treffpunkt zugestimmt hatte, aber war ihm eine andere Wahl geblieben?

Er lief eine geraume Zeit, bedächtiger, auf den Weg und jedes Geräusch achtend. Nur der Mond, der bereits wieder ein Stück seiner fast runden Scheibe verloren hatte, spendete ein wenig Licht. Der schwarze Himmel hatte sich in ein Sternenmeer verwandelt, nur darauf achtete er nicht, hätte sowieso keinen Blick für das Funkeln übrig gehabt, selbst wenn er nicht so unter Anspannung gestanden hätte. Der Schweiß rann seinen Rücken hinunter, obwohl es kühl war, und er holte ein säuberlich gefaltetes Taschentuch hervor, wischte damit über die Stirn. Rechts hörte er ein leises Knacken und blieb abrupt stehen, schaute sich um, jetzt eine Winzigkeit ängstlich. Überall schien es zu rascheln und zu wispern. Wer sagte ihm, dass der Mann nicht nur das Geld wollte, ohne die Gegenleistung zu liefern? Er wusste, dass der andere ein Verbrecher, Mörder und Dieb war: Ein Krimineller, der für Geld alles tat.

„Bleiben Sie stehen“, hörte er eine Männerstimme gedämpft zischen. Er drehte sich herum und sah sich dem Unbekannten vis-à-vis, mit dem er verabredet war. „Haben Sie das Geld?“

Er kannte sein Gegenüber nicht persönlich, hatte ihn nie wirklich gesehen, aber die Stimme erkannte er: etwas rau, kehlig. Selbst jetzt erblickte er nicht mehr als die Silhouette des Fremden, der so stand, dass er von der Dunkelheit verborgen blieb. Man hätte an dem Mann vorbeigehen können, ohne dass man ihn bemerkte, so sehr war dieser mit der Nacht verschmolzen, dachte er kurz. Er nickte, ehe er antwortete. „Et, ich habe es dabei, aber erst möchte ich die Ware sehen. Warum ist der Preis gestiegen?“, forschte er mit kalter Förmlichkeit nach. Er bemühte sich, seinem Tonfall Festigkeit zu verleihen, um seine eigene Unbehaglichkeit, seine Furcht zu verbergen. Erneut traten Schweißperlen auf seine Stirn.

„Es gab Komplikationen. Ich musste den Mann töten und die Familie muss ernährt werden. Keine weiteren Fragen. Geben Sie mir das Geld.“

Der Fremde blickte ihn unverwandt an, was er zwar in der Dunkelheit nicht ausmachen konnte, aber spürte. So fragte er lieber nicht mehr, wenngleich er gern noch diverse Antworten erhalten hätte. Er griff in seine Jackentasche und reichte das dicke Kuvert weiter. Der Unbekannte drehte sich um, schaltete eine Taschenlampe an, leuchtete in den Umschlag. Nach einiger Zeit löschte er das Licht, trat wenige Meter an die Seite und erschien mit einem länglichen Paket, das er achtlos ablegte.

Er wollte herrisch auffahren, den Mann zurechtweisen, dass er sorgfältiger mit dem Schatz umgehen sollte, unterdrückte aber im letzten Augenblick seine despotische Art. Noch war er nicht aus der Gefahrenzone, obwohl er sich inzwischen ziemlich sicher fühlte.

„Nehmen Sie es und verschwinden Sie. Sie haben mich nie gesehen, verstanden? Denken Sie an Ihre Familie.“ Die Worte klangen drohend, dann war der Unbekannte lautlos in der Finsternis verschwunden.

Schnell bückte er sich, nahm das Bündel hoch und eilte zu seinem Auto und legte es in den Kofferraum, ungeachtet das es ihm schwerfiel, seine Neugierde, seine Ungeduld zu bezähmen. Eine gewisse Erregung breitete sich in seinem Körper aus, wenn er an den Inhalt dachte.

Er verschwendete keinen Gedanken an das, was ihm der andere sagte. Ein Einheimischer mehr oder weniger, das störte und interessierte ihn nicht. Es waren nur irgendwelche unbedeutende Eingeborene, die sowieso nur dahinvegetierten. Menschen zweiter Klasse, die er übersah. Irrelevant.

Er fuhr zurück, jetzt noch nervöser als vorher, konnte kaum noch seiner Ruhelosigkeit bezwingen. Den Wagen ließ er dort stehen, wo sein Chauffeur ihn ansonsten abstellte. Niemand sollte wissen, dass er die Limousine benutzte. Bevor er die Klappe des Kofferraumes öffnete, sah er sich um, aber alles lag im Dunkel. Die Anwohner schliefen. Er holte das lange Bündel heraus und betrat durch einen Seiteneingang das Haus. In seinem sogenannten Hobbyraum legte er das große braune Paket auf einen Tisch, schloss die Tür ab und lehnte sich dagegen, aufatmend. Rasch zog er sein Jackett aus, band die Krawatte ab und genoss, einige Sekunden lang die Vorfreude, bis er nicht mehr warten konnte. Behutsam entfernte er das Papier und sah wenig später das vor sich, was er erwartete.

Das Katana, ein Langschwert und das Wakizashi, das Kurzschwert. Er spürte die Ekstase in seinem Körper, die sich jetzt verstärkte, als er das Daishô-Paar erblickte, dazu das Tantô, ein Kampfmesser.

„Die Seele des Samurai“, flüsterte er ergriffen vor sich hin. Er konnte seiner Erregung kaum noch Herr werden, als er die Kappe öffnete und das Katana am Griff, langsam aus der Scheide, zog.

Die braunen Augen glänzten, die Lippen waren spröde und er leckte mit der Zungenspitze daran. Vorsichtig ließ er seine Fingerspitzen über die blank polierte Klinge gleiten, die sich seidenweich und warm anfühlte. Tief sog er die Luft ein, legte das Schwert vorsichtig, behutsam, ja fast zärtlich auf den Tisch zurück und griff zum Telefon. „Sie soll kommen“, war alles, was er sagte. Nochmals blickte er auf die drei Kostbarkeiten.

Langsam, voller Vorfreude, trat er in den angrenzenden, sehr spärlich eingerichteten Raum, in dem ein großes Bett stand, daneben zwei kleine Tische, ein Sessel und eine Stehlampe. Ansonsten war der Raum leer. Schnell zog er sich aus, wartete, bis sich die Tür öffnete und eine junge Japanerin den Raum betrat. Sie war jung, sehr jung, gerade mal zwölf Jahre alt und eine Schönheit. Das lange, blauschwarze Haar glänzte in dem diffusen Licht, dazu hohe Wangenknochen und schräg stehende, schwarze Augen, die ihn angstvoll ansahen, bevor sie die Lider mit den langen schwarzen Wimpern senkte.

„Konbanwa“, sie verneigte sich tief, den Blick auf seinen nackten Körper vermeidend.

Er zog sie auf das Bett, öffnete den Obi, riss ihr grob, ungeduldig, den Kimono und das Unterkleid vom Leib und war in ihr, kurz den Widerstand spürend. Er bewegte sich heftig, stieß wieder, wieder und wieder hart in sie hinein, ohne auf ihr Schreien und Wimmern zu achten, und dann war alles vorbei. Er ließ seinen schweren Körper zur Seite rollen, heftig nach Luft ringend, während das Mädchen neben ihm leise weinte.

„Halt deinen Mund“, herrschte er sie barsch an. „Ich habe deiner Mutter viel Geld für dich bezahlt und das wirst du gleich abarbeiten. Das war erst der Anfang, kleine Kirschblüte.“

Ein hässliches Grinsen zog über sein ansonsten nicht gerade unattraktives Gesicht, während er langsam wieder zu Atem kam. Er mäßigte seinen Tonfall. „Weißt du, beim ersten Mal ist es ein wenig unangenehm und tut weh, aber nachher werde ich dir zeigen, wie schön es ist“, sprach er in perfektem Japanisch weiter.

Er richtete sich auf, betrachtete den zierlichen, bräunlichen Körper neben sich, die kleinen, festen Brüste, die gerade erst im Begriff waren, weiblich zu werden. Seine Hand strich darüber, berührte ihren zitternden Körper, die samtweiche Haut, bevor er ihre Beine spreizte und seinen Finger in das Mädchen hineinstieß.

„Kleine Kirschblüte, ist das nicht schön?“, fragte er sie, befingerte sich mit der anderen Hand selbst. „Wir werden noch viel Freude haben“, dann ließ er abrupt von ihr ab. „Komm, verdien dein Geld und mach es richtig. Du hast doch einen schönen, wohl geformten Mund.“

Das Mädchen schaute ihn an, verstand ihn offensichtlich nicht. Er zog sie über sich und erklärte ihr, was sie zu tun hatte.

Während er ihre Berührung genoss, rhythmisch ihren Kopf noch tiefer drückte, waren seine Gedanken bei dem Daishô-Paar, sah er die lange, wenig gebogene, glänzende Klinge des Katana vor sich.

Später fiel er noch zweimal über sie her. Sie blickte ihn nicht an, als er sich erhob, zog nur die Decke über ihren nackten Körper.

„Kleine Kirschblüte, du bist jeden Yen wert gewesen, und wenn deine Mutter noch mehr Geld benötigt, kannst du wiederkommen. Du kannst gehen. Man wird dich nach Hause fahren und dir noch tausend Yen extra geben“, lächelte er das Mädchen an, ging duschen. Er war stolz auf seine Leistung in dieser Nacht. Das hatte er lange nicht mehr geschafft und das mit fast fünfundfünfzig Jahren. Er lächelte vor sich hin, glücklich, befriedigt, in Gedanken bei den Kostbarkeiten im Nebenzimmer.

Wieder zurück war er verblüfft, dass sie noch im Bett lag, die Seidendecke lag nun auf dem Boden.

„Verschwinde“, schnauzte er sie grob an, wiederholte es in Japanisch.

Als auch jetzt keine Reaktion kam, trat er zum Bett und schüttelte sie leicht. Der kleine Kopf flog hin und her, sonst erfolgte keine Reaktion. Erst langsam dämmerte ihm, dass etwas nicht stimmte. Dem Blut auf dem Seidenlaken widmete er keinen weiteren Blick.

„Merde“, fluchte er laut, warf sie wie eine Puppe auf das Bett zurück und griff zum Telefon. „Es gibt ein Problem. Komm sofort herunter“, befahl er.

Ein Mann betrat wenig später den Raum und sah auf das Kind.

„Schaff sie weg. Keine Ahnung, was die kleine Hure hat. Bring sie ihrer Mutter zurück. Lass das Zimmer in Ordnung bringen.“

Er verließ den Raum, sah nicht den hasserfüllten Blick des alten Mannes, der ihm folgte.

Der Vorfall war sofort vergessen, als er die Schwerter, das Messer erblickte und jetzt widmete er sich den Stücken ausgiebig. Erneut streichelte er mit Zärtlichkeit über die glänzende Klinge des Katana. Mit einer Lupe untersuchte er das Schwert philiströs.

„Et, es sind wirklich die Arbeiten von Tenta Mitsuyo“, murmelte er.

Ein abwesendes Lächeln glitt über sein Gesicht und die Augen glänzten wie in einem Fieberwahn. Äußerst liebevoll ließ er seine Finger wieder und wieder über die Klingen gleiten. Nochmals nahm er die Lupe zur Hand und untersuchte das Katana haargenau, Millimeter für Millimeter wurde analysiert. Kein Kratzer war zu sehen.

„Et, sie ist es: die Dritte, O Tenta. Einfach ein Meisterstück.“

Weiter erforschte er die knapp siebzig Zentimeter lange Klinge, welche mit einer Ikubi-Spitze und im Shinogi-zukuri-Stil gearbeitet war. Abermals sprach er zu sich selbst: „Sie gehörte einst der Shôgunfamilie Ashikaga. Von dort gelangte sie über die Familie Toyotomi zum Fürsten Maeda Toshiie und jetzt gehört sie mir.“

Er setzte sich hin, zog Reispapier, sogenanntes nuguigami, aus einem Schubfach, knetete es eine Weile und reinigte die Klinge von oberflächlichem Schmutz. Nun trug er spezielles Kamelienöl auf. Der hauchdünne Ölfilm schützte die Klinge vor Flugrost und Luftfeuchtigkeit.

Erst als er mit dem Katana fertig war, widmete er sich den beiden anderen Kostbarkeiten und wiederholte das Prozedere mit der gleichen Hingabe und Zärtlichkeit. Er war so in seine Arbeit vertieft, dass er nicht bemerkte, dass es bereits taghell im Raum war. Das Telefon klingelte, riss ihn von seiner Arbeit und aus seinen Träumen. Eine Weile hörte er zu, bevor er auflegte. Eminent sorgfältig wickelte er jedes einzelne Stück in einen Seidenstoff, den er bereits vor Tagen bereitgelegt hatte, folgend verpackte er die drei Gegenstände in dem braunen Papier, klebte alles sehr sorgfältig zu und nahm es mit nach oben, wo er es einem Mann übergab.

„Leg das in die große Kiste, die nachher abgeholt wird“, befahl er dem Diener, jetzt ganz Autoritätsperson und Arbeitgeber.

Fünfzehn Jahre später

忍者

Shina rannte die Treppe hinauf, da sie wieder einmal zu spät war. Innerlich verfluchte sie ihre Freundin, die sie zu diesem Treffen in dem Fitnessstudio überredet hatte. Als wenn sie nicht genug Bewegung hatte? Sie passte nicht auf und prallte gegen einen Mann, blickte kurz auf, während sie sich hastig entschuldigte, bevor sie weiterlief. Etwas außer Atem öffnete sie die Tür und sah Gisellé bereits umgezogen warten.

„Entschuldige, aber ich bin nicht aus dem Büro weggekommen und maman hat auch noch angerufen.“ Sie gab ihrer Freundin rechts und links einen Kuss auf die Wange.

„Macht nichts, kenne ich ja schon. Ziehe dich um und dann geht es los. Magst du einen Saft?“

Sie nickte, schaute sich um, wo die Umkleideräume waren, folgte dem Wegweiser und wenig später trat sie wieder in den großen Raum, jetzt in einem blauen, zweiteiligen Gymnastikanzug, der ein Stück ihres flachen Bauches und der eminent schmalen Taille freiließ und besonders die langen, schlanken Beine betonte. Erst jetzt blickte sie sich neugierig um, während sie das Glas mit dem frisch gepressten Saft aus mehreren Früchten dankend entgegennahm.

„Na, ja, so etwas Besonderes ist das nun nicht“, stellte sie fest. Ein Fitnessstudio wie viele andere. Auffallend waren nur die üppigen Pflanzen, die sogar echt zu sein schienen, die Raumteiler, die wie größere Bambustrennwände mit Symbolen und Blumen verziert waren. Sie sah die Zeichen näher an und las die japanischen Bedeutungen. Das Übliche: Glück, Harmonie zwischen Körper und Geist, langes Leben, Freundschaft. Schöne Arbeiten dachte sie.

„Dafür gibt es bestimmt atemberaubende Männer“, lachte Gisellé.

Shina schüttelte den Kopf über ihre Freundin, musste aber mitlachen.

Die beiden Frauen waren ein sehr netter Anblick, was sofort einigen Männern in dem Studio auffiel.

Gisellé war etwas kleiner als Shina, die neben der Freundin jedoch wesentlich schlanker, femininer, zierlicher wirkte. Die dunkelblonden Haare gelockt, sehr zu Gisellés Leidwesen, kringelten sich bis etwas über Schulterlänge um den kleinen Kopf. Blaue Augen schauten aufmerksam in die Gegend, die sehr vollen Lippen umspielte meistens ein kleines Lächeln und wurden von zwei Grübchen umrahmt. Ihre Figur war sehr gut proportioniert, ohne füllig zu sein. Ein besonderer Anziehungspunkt waren aber neben dem ovalen Gesicht, die großen Brüste, die sie gern zeigte, allerdings nicht mit übertriebenen Ausschnitten.

Shina füllte schnell den Bogen aus, den ihr eine Frau reichte, dabei an dem Saft nippend, der so erfrischend und köstlich schmeckte. Eine junge Frau schlenderte graziös auf sie zu und stellte sich als Nana vor.

„Ihr wollt also etwas für eure Kondition tun? Gut, fangen wir an. Kommt ihr bitte mit.“

Sie folgten der schlanken, fast knabenhaften, blonden Frau, die sich mit einer gewissen Leichtigkeit bewegte. Wie eine Balletttänzerin, überlegte Shina, während sie hinter der Frau herliefen, die jetzt vor den Laufbändern stehen blieb.

„Beginnen wir damit, als Test sozusagen.“ Sie holte zwei kleine Geräte und band jeder eines davon um das Handgelenk. „Damit wird der Pulsschlag gemessen. Jetzt müssen wir nur noch eure Daten eingeben.“

Sie wandte sich an Gisellé. „Wie groß, wie alt, wie schwer? Hast du irgendwelche Krankheiten oder nimmst du Medikamente?“

Gisellé antwortete und Nana bediente das Gerät, wandte sich an Shina: „Ich bin fünfundzwanzig, 1,70 Meter und wiege 54 Kilo, keine Krankheiten oder Medikamente.“

„Sehr schön, nur solltest du dir deine Haare zusammenbinden oder hochstecken, damit da nichts passiert.“

Shina drehte sich nach der tiefen, männlichen Stimme um und blickte in ein Paar schwarze Augen.

„Das ist Akira. Ihm gehört das Studio“, klärte Nana die Situation.

„Ich hatte eben auf der Treppe das Vergnügen mit der jungen Dame zusammenzuprallen“, gab er belustigt zurück.

„Ach, Sie waren das?“

„Wir sagen alle du“, wieder Nana.

„Na gut, das ist Gisellé und ich bin Shina.“

Wieder sah sie zu dem Mann auf, jetzt etwas philiströser. Ebenmäßige Gesichtszüge, wie aus Bronze gemeißelt, dachte sie. Schräg geformte Augen, hohe Wangenknochen, dazu schwarzes dichtes Haar, das bis auf die Schultern fiel. Shina hatte mit einem Blick alles registriert, die irgendwie aristokratische Haltung, die schmalen Hüften, die langen, wohlgeformten, schlanken Schenkel, die von der eng sitzenden Jeans betont wurden. Er war eine Offenbarung. Allein sein Anblick ließ ihr Herz höherschlagen, wobei dies eine pure Untertreibung war, denn ihr Herz vollführte wahre Purzelbäume. Was für ein Mann, welche Dynamik und welch ungeheurer Sex-Appeal. Er hatte eine fantastische Ausstrahlung. Wow!!!

Ihre Blicke trafen sich und sie bemerkte, dass er ihre Musterung aufmerksam verfolgt hatte und sich anscheinend köstlich darüber amüsierte. Er lächelte und sie konnte seine makellos weißen Zähne sehen, einen gut gezeichneten Mund. Röte stieg ihr in das Gesicht, verlegen senkte sie den Blick. Ein heißes Prickeln durchströmte ihren Körper und sie hatte das Gefühl, als wäre sie elektrisiert.

„Viel Spaß und vergiss die Haare nicht.“ Dann war er weg. Nana gab ihr ein Gummi, folgend begann ihr Pensum und sie rannten auf dem Laufband. Shina blickte sich um, aber er war nirgends zu sehen und sie verdrängte alle weiteren Gedanken an ihn. Solche Männer waren sowieso nichts für sie.

Zwei Stunden später und völlig ausgepumpt verließen die zwei Frauen das Studio.

„Gehen wir noch etwas trinken?“

„Heute nicht. Sei nicht böse, Gisellé. Ich bin total erledigt, da man mich früh aus dem Bett holte.“

„Was war denn wieder los?“

„Ein alter Mann, wahrscheinlich natürlicher Tod.“

„Ich werde nie verstehen, was du an dem Job so toll findest. Dauernd Tote, dauernd Dienst, nie richtig Freizeit.“ Sie schüttelte den Kopf, aber Shina sagte nichts dazu. Zu oft hatte sie mit ihr über das Thema gesprochen. So verabschiedeten sie sich und fuhr nach Hause.

In der Wohnung angekommen, schleuderte Shina die Schuhe achtlos von den Füßen, warf die Tasche an die Seite, die Handtasche auf den Tisch und ließ sich erschöpft und müde auf die Couch fallen, war wenig später eingeschlafen.

殺人

Die ersten Strahlen der Morgensonne weckten sie. Etwas verdutzt setzte sie sich hoch und sah sich um. Amüsiert schüttelte sie den Kopf. Auf dem Weg in die Küche, um Kaffee zu kochen, zog sie ihr Shirt aus und warf es auf einen der Sitzhocker, die an dem hohen Tresen standen, der Küche von Wohnzimmer trennte. Die Kaffeemaschine blubberte kurze Zeit später vor sich hin, sie duschte, putzte Zähne, zog sich an, nahm eine Tasse Kaffee mit in das Bad, wo sie die Haare kämmte und wenig schminkte. Sie hatte noch Zeit, so goss sie schnell die Blumen und begab sich auf den Weg zu ihrer Dienststelle.

Der kleine Raum, spartanisch eingerichtet, empfing sie mit total muffiger Luft und sie riss das Fenster auf, um einmal mehr den Krach von der Straße zu hören. Sie setzte sich hin, nachdem sie einen Kaffee geholt hatte, und las die Notiz, die auf ihrem Platz lag. Schnell wählte sie die Nummer der pathologischen Abteilung des Gerichtsmedizinischen Institutes und ließ sich mit Doktor. Orimoto verbinden.

„Na, mein Kind, hast du Zeit? Komm zu mir herüber. Ich habe etwas Interessantes für dich.“

„Was ist es und um welchen Toten handelt es sich, Doktor Orimoto? Das Mädchen?“

„Komm her und du erfährst alles.“

„In einer halben Stunde bin ich da.“

Sie verließ ihr Büro und sagte Raimund Verier, Bescheid; der nur den Kopf schüttelte. Sie lächelte zufrieden, den Mist konnte jemand anderes tippen.

Die wenigen Schritte von ihrem Büro in der Rue de la Justice bis zum Institut in die Rue Benedit lief sie zu Fuß. Um diese Uhrzeit herrschte Hochbetrieb auf der Straße, wo Hupen, Quietschen der Reifen und das Brummen der Motoren zu hören war. Menschen hasteten an ihr vorbei, alle auf dem Weg zu ihrer Arbeitsstelle.

Sie liebte Marseille, diese schillernde Metropole. Einerseits der ohrenbetäubende Verkehrslärm, die stinkenden Abgase - andererseits verfügte sie über sehenswerte Prachtstraßen, wunderschöne alte Gebäude, dazu sprudelte die Stadt vor Leben. Das alles liebte sie, aber besonders die fehlenden Hochhäuser, die hier kaum zu sehen waren. Sie liebte die Märkte, wo sie sich oftmals mittags Baguette und Käse kaufte, um es folgend in der Sonne sitzend zu genießen. Das Besondere dieser Stadt war für sie das multikulturelle Flair. Sie liebten diese Menschenvielfalt, da gerade für viele Afrikaner das die City war, wo sie das erste Mal Europa betraten.

An dem großen, alten Gebäude angekommen, zückte sie eine Karte und wenig später öffnete sich die Tür automatisch. Grabesstille empfing sie und sehr kühle Luft. Jeder Schritt hallte wider, als sie zu der Treppe lief.

Unten im Keller traf sie auf Dr. Orimoto, der gerade aus einem der Autopsiesäle trat. Er trug wie immer einen grünen Kittel, der hinten geknöpft war. Sie konnte nicht verstehen, warum die Knöpfe eigentlich auf dem Rücken waren. So was von umständlich, dachte sie auch heute amüsiert. Jedes Mal benötigt man jemanden, der beim An- und Ausziehen hilft. Eine junge Frau trat jetzt auf den Gerichtsmediziner zu und knöpfte ihm den Kittel auf, den er achtlos in einen Korb warf.

Shina zuckte zusammen, als eine Stahltür weiter hinten zuschlug. Er ergriff sie am Oberarm und führte sie durch die nächste Stahltür, einen kleinen Korridor hinunter, bis zu seinem Büro.

„Bring uns Kaffee“, sagte er barsch zu einem jungen Mann, der im Vorzimmer Akten ordnete, ihn jetzt verwundert ansah, bevor er aufsprang. Danach grinste Orimoto seine Sekretärin an, die das erwiderte, bevor sie Shina zunickte. „Er muss die armen Kerle andauernd erschrecken. Die Unterlagen sind noch nicht fertig. Wir schicken die Ihnen ins Büro.“

Doktor Kanaye Orimoto brummte: „Nur damit sie nicht einschlafen. Sie ist als Ermittlerin hier, da sie Rai anscheinend anderweitig überzeugte.“

Shina schmunzelte die Frau an, trat an ihm vorbei in das große helle Büro. Obwohl sein Büro sich im Keller befand, hatte man eine wunderschöne Aussicht, da das Gebäude nach hinten heraus auf einer Schräge erbaut war.

„Weißt du, diese Studenten taugen zu nichts, nur zum Kaffeeholen. Setz dich.“

Er schloss die Tür, wusch die Hände und reichte ihr einen Stapel Fotos und eine Lupe. „Sieh sie dir ausführlich an.“

„Das ist ja der alte Mann von gestern Morgen. Ich dachte, das wäre ein normaler Sterbefall?“

„Das sollte wohl so aussehen, ist es aber nicht. Schau die Bilder an.“

Mit der Lupe suchte sie Bild für Bild ab, konnte jedoch nichts feststellen und legte alles auf den Schreibtisch zurück. Der junge Mann brachte Kaffee und verließ wortlos den Raum.

„Und?“ Der Pathologe und Leiter der Rechtsmedizin blickte sie fragend an.

„Nichts, nur ein paar Kratzer.“

Er schlürfte seinen Kaffee, verzog sein Gesicht und sie schaute ihn aufmerksam an. Seine schwarzen Augen waren jetzt geschlossen. Ein Zeichen, das er überlegte. Seine grauen Haare waren Streichholz kurz und standen beharrlich ein wenig ab. Er war klein, schmächtig, drahtig, voller Energie und Elan. Sie verglich ihn mit einem Wiesel. Er war Japaner, wie sie wusste, aber in Paris aufgewachsen. Durch seine Heirat mit einer Französin hatte es ihn nach Marseille verschlagen. Er hatte zwei Söhne, die bereits erwachsen waren. Sie schätzte ihn so um die fünfzig, obwohl sie sein Alter schwer bestimmen konnte. Sie mochte ihn und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Er behandelte sie wie eine Tochter, die er nicht hatte. Er unterstützte sie und erklärte ihr stets alles, ohne dabei belehrend zu wirken. Für einen Moment sah sie diesen aufregenden Beau vom Vorabend vor sich, aber als jetzt der Mediziner sprach, war der vergessen.

„Exakt, ein paar Kratzer. Drei davon sind tatsächliche Kratzer, älterer Natur, unwichtig. Einer ist neu und kein Kratzer, obwohl es auf den ersten Blick so aussieht. Der Mann wurde vergiftet, und zwar durch ein ganz seltenes Gift und auf eine noch merkwürdigere Art.“

„Erzählen Sie bitte.“ Ihre Neugier war jetzt geweckt. Sie trank den Kaffee, stellte mit verzogenem Gesicht die Tasse ab. Das Zeug schmeckte ekelig bitter.

„Nicht mal Kaffee kochen können sie. Das Gift, Zagarashi jaku, wird aus grünen Pflaumen hergestellt und es ist für seine schnelle tödliche Wirkung bekannt.“

„Davon habe ich noch nie etwas gehört.“

„Das glaube ich dir gern, aber lass mich weiter erzählen, dann verstehst du mehr. Die Waffe war eine sogenannte Wurfklinge, wird Hira shuriken genannt und hat die Form von Sternen.“

„Von was reden Sie? Es hört sich Japanisch an. Ich verstehe nur Bahnhof.“

„Ich rede von Ninjutsu. Er wurde von einem Mann getötet, der die Kunst des Ninjutsu beherrscht.“

Es dauerte einen Moment, während sie ihn konsterniert anschaute und überlegte, ob sie lachen sollte, aber als sie seinen Gesichtsausdruck wahrnahm, wie ernst er sie anblickte, riss sie sich zusammen. „Ein Ninja? Sie scherzen. Die gibt es nur noch in Büchern oder im Fernsehen. Die sind seit Jahrhunderten ausgestorben, gleichermaßen wie die Samurai, Rônin, Shôgune.“

Er sah sie an und rieb sich mit den Fingern seine Augen, so als wäre er müde. „Non, das gibt es in der Wirklichkeit, und zwar vor zwei Tagen in Marseille.“

„Also, gut, was soll ein Ninja“, als sie das Wort aussprach, musste sie sich nochmals das Lachen verkneifen. „Warum soll ein Ninja einen 85-jährigen Mann töten? Dieser Pierre Rocher hatte eine kleine Wohnung, weder besonders eingerichtet, noch sonst ein Hinweis auf Geld oder Wertgegenstände, soviel ich weiß und gesehen habe.“

„Ich habe die ganze Nacht durchgearbeitet, weil ich es ebenfalls nicht glauben wollte, aber es korrekt. Wir haben alle Tests wiederholt, mehrfach. In der Wunde wurden nicht nur Rückstände des Giftes festgestellt, sondern dazu feine Metallpartikel. Wir haben alles penibel analysiert. Weißt du, es ist unsere Pflicht, den verstummten Opfern das Geheimnis ihres Todes zu entlocken. Jenen Toten, die Tag für Tag zu uns gebracht werden, um nachher für immer zu verschwinden. Es wird der Abschluss ihres Lebens untersucht, teilweise ihr Leben selbst. Es werden nicht Menschen seziert, es wird Teil für Teil ein Kriminalfall aufgebaut, damit der Gerechtigkeit Genüge getan wird und der Täter seine Strafe bekommt. Dem Toten ist damit nicht mehr gedient, aber der allgemeinen Sicherheit, dem Recht.“

Er schien müde zu sein, sonst würde er nicht so mutlos, fast deprimiert klingen, sinnierte sie.

„Wieso kann das nicht ein normaler Einbrecher benutzt haben?“

„Weil es eine alte japanische Art ist, Menschen zu ermorden, ohne dass man den Verdacht erregt, dass er umgebracht wurde. Ich bin nur durch eine Zufälligkeit darauf gestoßen. Wir sind ursprünglich von einem simplen Herzversagen ausgegangen. Naheliegend bei dem Alter, so wie er gefunden wurde. Der Mann wurde regulär behandelt, ausgezogen, gewaschen und wir haben seinen Leichnam vorgezogen, um es schnell zwischendurch zu erledigen. Sein Hemd lag an der Seite und mir ist durch Zufall, einem Lichteinfall, ein kleines Loch aufgefallen. Ich habe das Hemd auf den Körper gelegt und die Stelle deckte sich mit einem der Kratzer. Alles andere war reine Routine, obwohl das eine Weile gedauert hat, bis wir wussten, was es eindeutig für ein Gift war. Egal, damit will ich dich nicht langweilen.“

„Wieso Ninja und Ninjutsu?“ Sie ergriff eine Strähne ihres langen Haares und drehte diese. Eine Geste, die sie nur ausführte, wenn sie sehr stark konzentriert war oder bei großer Nervosität.

„Weil nur diese Männer darin ausgebildet sind. Das ist ...“

Das Telefon klingelte und er tappte danach, ohne hinzusehen, lauschte eine Weile und bejahte. Nachdem er aufgelegt hatte, stand er auf. „Ich muss an die Arbeit. Es gibt Probleme. Hier“, er reichte ihr eine Kladde, „ist mein Bericht. Wenn du dich informieren willst, gehe zum Asiatischen Institut, da gibt es einen Mann namens Hideyoshi D´Leciere. Sage ihm, dass ich dich schicke, und stelle ihm deine Fragen. Er kann dir das alles beantworten. So, ich muss.“

„Warten Sie, was ist mit dem Fall von dem jungen Mädchen?“

„Darüber sitzen sie noch, spätestens nachmittags hast du den Bericht.“

Sie verließ mit ihm den Raum und schlenderte nachdenklich, aber total verwirrt zurück in ihr Büro. An ihrem Schreibtisch sitzend las sie den Bericht, einmal, zweimal. Erst nachfolgend ging sie zu ihrem Chef, Raimund Verier, legte ihm die Akte auf den Tisch und erzählte ihm, was sie von Dr. Orimoto erfuhr. Nur das mit dem Ninja ließ sie vorsichtshalber weg, da sie nicht daran glaubte und sich nicht der Lächerlichkeit preisgeben wollte. Ninja im 21. Jahrhundert war wirklich zu albern.

„Das scheint keine allzu große Sache zu sein. Übernimm du das. Schau die Wohnung an, sprich mit Nachbarn und so weiter. Das Übliche eben und halte mich auf dem Laufenden. Vielleicht hat der Mann sich selbst vergiftet. Nimm dir den jungen Marcel mit, damit der nicht nur den ganzen Tag herumsitzt und die Leute mit seinen stupiden Fragen nervt.“

Sie stöhnte innerlich. „Muss das sein? Ich kann doch allein los.“

„Mademoiselle de Sanciere, Sie wissen doch, dass alles nur zu zweit ermittelt wird.“

Sie wusste, wenn er sie so förmlich ansprach, erübrigte sich jedes weitere Wort. „Ist ja gut.“ Mit der Akte in der Hand verließ sie den Raum und rief nach Marcel.

Gelangweilt und langsam schlurfte der junge Mann näher, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Wie ständig in einer alten zerfransten Jeans, einem Shirt, heute mit dem Aufdruck „Shit“ und den obligatorischen Turnschuhen. Seine hellbraunen Haare waren hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden. Aus seinen blauen Augen jedoch sprach Aufmerksamkeit, was im krassen Gegensatz zu seiner lasziven Körpersprache stand.

„Los komm. Wir fahren zu der Wohnung von diesem Pierre Rocher.“

„Na gut, ab ins Seniorenheim.“

Shina zog die Stirn kraus und schüttelte ein wenig den Kopf, äußerte nichts weiter. Es hätte sowieso keinen Sinn. Unterwegs, sie mussten fast quer durch Marseille fahren, erzählte sie ihm, was man bei der Autopsie fand.

„Wer sollte denn so einen alten Knacker umbringen? Hatte er Knete? War er schwul?“

„Geld wohl nicht, so wie die Wohnung aussieht und das andere …“ Sie zuckte die Schulter.

Über eine Stunde später zerschnitt sie das Siegel an der Wohnungstür, wo man den Toten gefunden hatte, begutachtete das Türschloss, bevor sie in die Wohnung trat. Scheinbar hatte er seinen Mörder hereingelassen, dachte Shina, da das Schloss unversehrt war, soweit sie das erkennen konnte. Eine kleine Zweizimmerwohnung, sehr ordentlich aufgeräumt, sauber, erwartete sie.

„Mann, das sieht ja gruselig aus. Alles düster. Scheußlich.“

„Et, aber ihm hat es anscheinend gefallen. Hier scheint nie die Sonne richtig hinein.“

„Hier wird man ja depressiv.“

Erst sahen sie sich nur oberflächlich um, bevor sie sich im Wohnzimmer an die Arbeit machten. Schubladen und Schränke wurden durchgesehen, aber nichts Außergewöhnliches festgestellt, ebenso wenig wie im Schlafzimmer.

„Marcel, geh bitte zu den Nachbarn und befrage sie. Wir treffen uns unten.“

Die Wohnung schien nicht durchwühlt worden zu sein. Sein Portemonnaie lag auf dem Küchentisch und das Geld war noch enthalten, ebenso eine Bankkarte. Sie fand Bankauszüge, aber da wurden nur die monatlichen Belastungen abgebucht und kleine Beträge waren regelmäßig abgehoben worden. Einnahme war nur die Rente. Ergo, nichts Abnormes. Es gab keinen Schmuck, außer einer Armbanduhr und eine alte Taschenuhr, die anscheinend zerstört war. Warum also war dieser Mann ermordet worden?

Sie setzte sich auf einen Sessel und grübelte, während sie sich in dem Zimmer umsah. Das Wohnzimmer war mit alten Möbeln eingerichtet. Eine Schrankwand, eine Kommode, eine Couch, zwei Sessel und ein ovaler Tisch. Einige Bücher, ein altes Fernsehgerät und ein Kofferradio. Auf der Kommode standen einige Flugzeuge, die er anscheinend selbst zusammengebaut hatte sowie zwei Hubschrauber. Im Schlafzimmer ebenfalls nichts Ungewöhnliches: alte Möbel und ein paar Modellflugzeuge. Wahrscheinlich sein Hobby. Was hatte dieser Mann besessen, dass einen Mord wert war?

Sie erhob sich und sah sich im Bad um, aber nichts von Bedeutung. Einige wenige Medikamente gegen Husten, Grippe und Kopfschmerzen, daneben das übliche: Rasierwasser, Zahnpasta, Duschgel, Seife. Im Flur stand eine niedrige Kommode mit dem Telefon, danebenlag ein kleines Telefonbuch. Sie steckte es in eine Plastikhülle, weil sie es mitnehmen wollte. Es klingelte und zwei Mitarbeiter der Spurensicherung erschienen. Sie sprach kurz mit den beiden, stieg hinunter, um auf ihren Kollegen zu warten. Marcel war anscheinend noch bei den Nachbarn, fragte sie über diesen Monsieur Rocher aus.

Draußen ließ sie ihren Blick über das triste Haus, über die lange, trostlose Straße schweifen. Selbst die sah alt und langweilig aus. Alles grau in grau. Die einzigen Farbkontraste waren einige Autos und der blaue Himmel. Schräg gegenüber entdeckte sie einen Bäcker und eilte zu dem Laden. Sie kaufte zwei Croissants und fragte nach dem Mann. Die ältere Frau erzählte munter drauflos. „Pierre war so ein ruhiger Mensch. Er erschien jeden Morgen, holte erst an der Ecke seine Zeitung und bei uns seine Croissants. Man konnte die Uhr nach ihm stellen. Es war pünktlich zehn nach acht. Mittwochs kaufte er ein Brot und samstags ein Kümmelbrot und Kuchen. Er sprach stets wenig, nur das Notwendigste eben. Wir müssen alle einmal sterben. Er hatte einen ruhigen Tod und das Alter hatte er ja erreicht.“

„Wissen Sie, was er früher beruflich machte?“

„Er war Ingenieur oder wie das heißt, hat im Ausland gelebt. Das ist lange her. Genau weiß ich das nicht mehr.“

„War er verheiratet?“

„Non, Madame. Früher hat seine Mutter in der Wohnung gewohnt und als die gestorben ist, hat er die Wohnung behalten, aber das muss so an die zwanzig Jahre her sein. Vorher war er ja nur zu vereinzelten Besuchen hier.“

Sie blickte aus dem Fenster und sah Marcel aus dem Haus kommen.

„Ist Ihnen in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Fremde Leute, ein Auto oder so?“

Sie sah den erstaunten Blick der Frau, dann verneinte diese. „Madame, warum fragen Sie das alles?“

„Reine Routine.“ Bevor sie den Laden verließ, gab sie der Frau ihre Karte, falls ihr doch noch etwas einfallen sollte, obwohl sie da wenig Hoffnung hegte.

Sie fuhren zum Büro zurück und während der Fahrt berichtete Marcel, dass die Befragung bei den Nachbarn nichts weiter ergeben hätte. Pierre Rocher war ein ruhiger, unauffälliger Mann gewesen, ohne Besonderheiten, ohne Freunde, Besucher. Höflich, freundlich, zurückhaltend.

An ihrem Schreibtisch, ein Croissant essend und Kaffee trinkend, blätterte sie in dem Telefonbuch. Die Nummer des Zahnarztes, eines anderen Arztes, der Bank und der Post. Daneben drei Namen und Nummern, die jedoch durchgestrichen waren. Sie schnappte den Hörer, wählte zuerst diese Zahlen. Zweimal gab es keinen Anschluss und bei der Dritten meldete sich eine Frau, die ihr erzählte, dass sie seit über zehn Jahren in der Wohnung wohne, da der Vorbesitzer damals verstorben sei. Den Namen wusste sie jedoch nicht mehr und einen Pierre Rocher kannte sie nicht. Vorsichtshalber notierte sie die Adresse der Frau, bevor sie dankend auflegte.

Der nächste Gesprächspartner war der Arzt, der ihr jedoch am Telefon keine Auskunft geben würde und sie vereinbarte einen Termin. Das Gleiche bei der Bank, die anderen beiden ersparte sie sich, jedenfalls vorerst.

Die Namen der drei Personen aus dem Telefonbuch führten sie nicht weiter, da alle seit Jahren bereits verstorben waren, wie ihr der Computer wenig später meldete.

Erneut überlegte sie und kam zu keinem Ergebnis. Sie blätterte nochmals den Bericht der Pathologie durch, las die Darlegung, blickte die Fotos lange und mit einer Lupe ausführlich an, auch die, welche vorher in dem Raum vorsorglich geknipst wurden, als man die Leiche fand. Einer Nachbarin war die nur angelehnte Tür am frühen Morgen aufgefallen, überdies hatte ihr Hund gebellt und so war sie in die Wohnung getreten. Dort hatte sie den Mann auf der Couch entdeckt. Zuerst hatte sie noch gedacht, er würde nur schlafen, aber sie war näher getreten und hatte bemerkt, dass er tot war. Sie hatte einen Arzt angerufen und der wiederum die Polizei. Alle waren jedoch von einem natürlichen Tod ausgegangen. Eine Untersuchung an dem Leichnam wurde durchgeführt, wenn ein Mensch plötzlich zu Hause verstarb. Das war obligatorisch.

Nun suchte sie die Nummer des Asiatischen Institutes heraus und ließ sich mit diesem Monsieur Hideyoshi D´Leciere verbinden, während sie nebenbei den Computer bediente. Dessen Stimme kam ihr irgendwie bekannt vor, konnte ihm jedoch kein Gesicht zuordnen. Sie vereinbarte mit ihm einen Termin am frühen Abend in einem Restaurant in der Alles de I’oulle, da er vorher noch Seminare habe. Schnell tippte sie den Bericht fertig, grapschte nach der Tasche, verabschiedete sich und fuhr zur Bank. Sie erfuhr da keine Neuigkeiten, da es nur dieses eine Bankkonto gab, kein Schließfach, keine Depots. Folgend war der Arzt an der Reihe, und da hörte sie nichts Außergewöhnliches. Der Mann hatte außer den üblichen kleinen Wehwehchen, nichts. „Er war in einer erstaunlich guten Kondition“, äußerte der Arzt zum Schluss. Keiner wusste mehr von dem Mann, alle kannten ihn nur flüchtig.

Sie hatte noch Zeit, daher fuhr sie nach Hause, duschte, wusch die Haare und setzte sich auf die Couch. Sie löffelte einen Joghurt, während ihre Gedanken bei diesem anscheinend unscheinbaren Mann weilten. Trotzdem musste es etwas geben, nur was? Münzsammlung, Geld unter der Matratze, wertvoller Schmuck? Ein Schwuler, der ausgeflippt war? Non, das Geld im Portemonnaie war noch da. Das hätte so einer mitgenommen. Man wusste noch zu wenig von dem Opfer. Sie benötigte unbedingt den Telefonnachweis von seinem Anschluss.

Sie zog ein beigefarbenes Etuikleid an, steckte ihre langen dunkelbraunen Haare hoch, was sie ein wenig älter aussehen ließ, schminkte sich ein wenig und sah noch einmal prüfend in den Spiegel, bevor sie in ihre hohen Pumps schlüpfte. Wer weiß, was das für ein verknöcherter Typ war, mit dem sie sich treffen musste, und da wollte sie wenigstens nicht wie eine zu junge Kriminalbeamtin aussehen.

Sie traf etwas früher ein und suchte einen Tisch, von dem man einen Blick über das Wasser hatte. Nachdem sie ein Glas Rosé bestellt hatte, musterte sie die anderen Gäste, was sie sehr gern tat. Sie fragte sich, was die oder der wohl beruflich machte, ob ein Paar verheiratet war, und malte sich bisweilen kleine Geschichten aus. Eine Angewohnheit aus Kindertagen. Sie erblickte einige Männer, die zu ihr hinstarrten, und war versucht, ihnen die Zunge herauszustrecken. Sie behielt dabei den Eingang im Auge und erstarrte jetzt, als sie den Mann hereinkommen sah. Sie wusste sofort, dass das Monsieur Hideyoshi D´Leciere war, da ihr augenblicklich einfiel, wieso ihr die Stimme so bekannt vorgekommen war.

Er schritt auf ihren Tisch zu und so hatte sie einen Moment Zeit, ihn zu mustern. Heute trug er einen grauen Anzug, der exzellent passte, darunter ein weißes Shirt. Selbst auf diese Entfernung strahlte er eine ungezwungene Eleganz, pure Erotik aus. Er war groß, seine Bewegungen voller Geschmeidigkeit und Energie. Ein Feuerwerk der Gefühle barst in ihrem Körper, als er jetzt langsam auf sie zu trat, sie lächelnd fixierte. Erotische Fantasien tauchten in ihr auf. Sie erkannte sich selbst nicht wieder, denn üblicherweise war sie bestimmt nicht Libido gesteuert.

Bewundernde und sehnsuchtsvolle Blicke folgten ihm, aber er schien es nicht zu bemerken. Er schaute nur sie an. Sein Lächeln war die pure Sünde und er schritt näher und näher.

„Madame de Sanciere?“, fragte er und sie nickte, worauf er sich ihr gegenüber niederließ. „So schnell sieht man sich wieder“, grinste er. Diese Stimme. Shina war hin und weg. Er lächelte irgendwie … geheimnisvoll.

„Ich bin ein wenig überrascht, Sie zu sehen.“

„Wieso, waren wir nicht verabredet?“ Sein Tonfall spöttisch.

„Das schon, nur ich wusste nicht ... ich meine ... Ach, ist ja egal.“ Es war ihr peinlich, dass sie ausgerechnet jetzt und bei ihm stammelte, keinen klaren Satz herausbrachte. Die Kellnerin legte Speisekarten hin und er bestellte ein Mineralwasser.

„Darf ich Sie zum Essen einladen, Madame de Sanciere oder darf ich weiter Shina sagen?“

„Da wir gestern bereits bei Shina waren, können Sie das sagen, Monsieur Hideyoshi D´Leciere“, gab sie zur Antwort und schaute in die Karte, um sich innerlich zu beruhigen.

Nachdem sie bestellt hatten, blickte er sie an und fragte direkt: „Warum schickt dich Kanaye zu mir?“

Sofort registrierte sie, dass er Doktor Orimoto beim Vornamen nannte, woraus sie folgerte, dass die beiden sich gut kannten. Sie holte aus ihrer Umhängetasche den Bericht des Pathologen und reichte ihm diesen. „Deswegen.“

Er griff nach den Seiten und begann zu lesen. Wiederum hatte sie Zeit, und ausreichend Gelegenheit, ihn zu taxieren. Mit seinen langen, dichten schwarzen Haaren, der gebräunten Haut und einem Gesicht, das etwas Verwegenes, aber dennoch sehr Edles ausstrahlte, wirkte er fast überirdisch schön. Die Haare, in der Kopfmitte durch einen Scheitel geteilt, glänzten im Licht etwas bläulich und fielen jetzt ein wenig nach vorn, da er den Kopf gesenkt hielt. Seine schmalen, langen Finger an kräftigen Händen lagen auf dem Tisch und trommelten etwas nervös, wie sie fand, auf die Tischdecke. Am linken Handgelenk sah sie einen breiten silbernen Armreif, auf dem irgendwelche Zeichen oder Bilder eingraviert waren, ansonsten war er schmucklos. Jetzt glitt ihr Blick über seinen Anzug und sie erkannte erst jetzt den Modedesigner, was sie doch etwas erstaunte. Auch ihr Vater trug solche Anzüge, nur zu dem passte es irgendwie. Gleich verdrängte sie jedoch diesen Rückblick, da sie jetzt nicht an ihn denken wollte. Fassen wir zusammen: Er besitzt ein Fitnessstudio, arbeitet im Asiatischen Institut, trägt Armani-Anzüge, ist anscheinend Eurasier und sieht verdammt gut aus. Sie schätzte ihn auf Ende zwanzig, Anfang dreißig. Er hatte einen gut durchtrainierten Körper, wie sie gestern gesehen hatte, war schätzungsweise knapp zwei Meter groß. Fehlte nur noch ein Sportwagen, dann war das Klischee aus Liebesfilmen fertig.

Sie blickte aus dem Fenster und erst jetzt wurde ihr die Komik ihrer Gedanken bewusst. Sie analysierte ihn, wie einen Tatort.

„Was amüsiert dich so?“

Sie drehte den Kopf und blickte in seine Augen, schwarz und schimmernd, er strahlte Ruhe aus, eine Aura von Stärke.

„Nichts weiter, ich war in Gedanken“, redete sie sich heraus. Sie sah aus den Augenwinkeln, dass ihr Essen serviert wurde, und fragte daher nicht, was er von dem Bericht hielt, den er ihr jetzt reichte.

Während des Essens erkundigte er sich, warum sie Kriminalbeamtin geworden sei und sie erzählte: „Eigentlich haben mich als junges Mädchen Kriminalromane interessiert. Die Bücher habe ich verschlungen. Nach dem Abitur steckte mich mein Vater in ein Büro, da ich in seinen Augen ursprünglich etwas anderes lernen sollte. Es war stinklangweilig und dann habe ich mich auf gut Glück bei der Polizei beworben und wurde angenommen. Mir gefällt mein Beruf, obwohl er an manchen Tagen mehr als langweilig ist. Als ich zum ersten Tatort durfte, war ich schrecklich aufgeregt und habe nur Fehler fabriziert. Mein Chef hat zu mir gesagt, du bist eine Schande für die ganze Polizei. Setz dich ins Auto und fass bloß nichts an.“ Sie musste lachen, als sie an diese Situation dachte und wie Raimund Verier sie wütend auf der Fahrt zum Büro angesehen hatte. Das war jetzt fünf Jahre her.

„Das beantwortet meine Frage nicht.“ Abermals so ein Blick aus diesen Augen. Schnell widmete sie sich dem Essen.

„Ich finde es gut, dem Verbrechen entgegenzuwirken, jedenfalls ein ganz klein wenig.“

Er legte sein Besteck auf den Teller, tupfte mit der Serviette den Mund, legte diese, ordentlich gefaltet, beiseite und schob seinen Teller ein wenig weg, bevor er das Wasser trank.

„Jetzt gibt es anscheinend ein Problem. Was weißt du von dem Toten?“

„Ein Mann, unscheinbar, unauffällig, fünfundachtzig, ohne Freunde oder Bekannte. Laut Hausarzt sehr gesund und rüstig, hatte nie irgendwelche Krankheiten. Er hatte ein wenig Geld, aber ansonsten keine Wertgegenstände, wie wir bisher wissen. Er lebte allein, bescheiden, zurückgezogen in einer kleinen Wohnung, sehr ordentlich und pünktlich. Ein geregeltes, eintöniges Leben.“

Sie erkannte, wie er angestrengt überlegte, und wartete daher einige Zeit, bevor sie fragte: „Was hat das mit diesem Ninja auf sich, von dem Doktor Orimoto sprach?“

Er blickte sie eine Weile schweigend an, bevor er antwortete.

„Laut Obduktionsbericht deutet alles darauf hin, dass der Mann nach alter japanischer Art umgebracht wurde, was auf so einen Mann hindeutet.“

Seine Augen blickten verführerisch und irgendwie hypnotisierend. Wie bei einer Schlange.

„Kannst du mir die Wohnung des Mannes zeigen?“ Seine Stimme ließ sie aufschrecken. Merde, Shina, konzentriere dich. Das ist kein Mann für dich, sondern für schöne Frauen. Also hör auf zu träumen.

„Hallo, bist du noch da?“

„Ich habe darüber nachgedacht“, redete sie sich schnell heraus und verfluchte die Röte, die ihr in das Gesicht schoss. Sie überlegte einige Sekunden bis sie nickte.

Sie sieht entzückend aus, schwirrte es ihm durch den Sinn, als er sie so beobachtete. „Gut, lass uns gehen.“

Er zahlte, trotz ihres Protestes und sie fuhren mit seinem Wagen, wirklich ein Sportwagen, zu der Wohnung von Pierre Rocher. Sie schaute seitlich zum Fenster hinaus, noch leicht verwirrt. Dieser Mann brachte sie völlig durcheinander.

Abermals brach sie das Siegel. Er begutachtete die Tür eine Weile, bevor er in die Wohnung trat. Im Wohnzimmer blickte sie sich um und beobachtete ihn. Er durchstöberte die Räume, schaute sich um, ohne etwas zu berühren, prüfte alle Fenster gewissenhaft, öffnete, spähte auf die Straße hinunter.

„Waren alle Fenster geschlossen, als man den Mann fand?“

„Non, laut Bericht waren das Schlafzimmerfenster und das Küchenfenster offen.“ Sie schüttelte den Kopf und lächelte süffisant vor sich hin. „Dort kann der Täter wohl kaum hereingekommen sein. Die Wohnung liegt in der dritten Etage und es gibt keine Feuerleiter oder dergleichen.“

Er erwiderte nichts darauf, guckte sie nur kurz an, bevor er in die Küche und als Nächstes in das Schlafzimmer ging, die Fenster öffnete und abermals hinaussah. Unterhalb des Fensters bückte er sich und strich über den Holzboden, wischte mit der Hand darüber. Dasselbe tat er auf der anderen Seite des Raumes und nickte kurz. Sie beobachtete sein Tun mit gerunzelter Stirn und fand das alles sonderbar. Noch einmal sah er sich um.

„Hast du einen unbenutzten Plastikbeutel oder so etwas?“

Sie holte aus ihrer Handtasche einen Beutel. „Für was?“

Er nahm den Beutel, drehte ihn vorsichtig, ihn nur am Rand anfassend und glitt damit über den Boden, um den Beutel wieder zu wenden.

„Gib das Kanaye zur Untersuchung.“

„Warum?“ Sie ergriff den Beutel und steckte ihn in ihre Tasche.

„Warten wir das Ergebnis ab, obwohl ich mir sicher bin. Komm, lass uns gehen.“

Wieder draußen sah er an dem Haus hinauf und strich mit der Hand an dem Mauerwerk entlang, bis er unter dem Schlafzimmerfenster stand.

„Hier ist er hoch. Siehst du die schmalen Kratzer an der Mauer?“

Sie trat neben ihn, bemerkte hellere Stellen, aber roch auch sein Aftershave. Er duftete so, wie er aussah, maskulin. Merde, schimpfte sie unhörbar.

„Das ist albern. Die Kratzer können von allem Möglichen sein. Dort kommt kein Mensch hoch, außer mit einer großen Leiter.“ Sie sah ihn aufgebracht an, da sie das alles für ein Hirngespinst hielt.

„Der Ninja schon, und zwar mit Leichtigkeit. Hast du noch einen Beutel?“

Sie reichte ihm einen und er kratzte mit einem Schlüssel etwas von dem Putz ab, gab ihr den Beutel zurück. „Das ist die Vergleichsprobe dazu.“

„Sie glauben, dass es so einen Mann gibt?“

„Et, es gibt ihn und er hat den Mann umgebracht. Lass uns fahren.“

Sie fuhren eine Weile, bis sie ihn fragte, wohin.

„Zu mir.“

Sie erwiderte nichts, da sie bemerkte, wie sehr er in Gedanken war, überdies würde er nicht antworten, wenn er das nicht wollte. Ihre Fragen hatte er vorher schon ignoriert. Peu á peu stiegen erste Zweifel in ihr empor. War an dem Ganzen doch etwas Wahres? Ein Ninja? Warum sollte ein Ninja, ein Shinobi, ein Kämpfer diesen alten Herrn töten?

Wenig später hielten sie außerhalb der Stadt vor einem Haus und er stellte den Wagen ab, stieg aus, ging auf die Tür zu. „Komm herein“, wandte er sich an sie.

Sie traten in ein Wohnzimmer, das eine lange Fensterfront hatte und den Blick auf einen großzügig angelegten, gepflegten Garten freigab, der von zwei in den Boden eingelassenen Halogenstrahlern beleuchtet wurde.

„Setz dich.“

Er verließ den Raum und sie guckte sich neugierig um. Alles dominierend war eine große fast runde weiße Polstercouch, auf der zahlreiche pastellfarbene, kleine Kissen lagen. Davor ein weißer Lacktisch in der gleichen Form wie die Sofaecke. Muss eine Sonderanfertigung sein, schwirrte es ihr durch den Sinn. Zwei Wände waren von Regalen zugestellt, in denen sie Hunderte von Büchern vorfand, dazwischen eine Stereoanlage, ein Plasmafernseher und stapelweise CDs. Überall standen Pflanzen in Töpfen und in einer Ecke gab es sogar einen kleinen Springbrunnen. Sie überflog die Rücken der Bücher, viele japanisch, einige chinesisch, wie sie vermutete, einige auf Englisch. Keine Fotos, nichts Persönliches, was auf ein Hobby oder dergleichen schließen ließ. Sie las die Titel der Bücher.

„Alles begutachtet? Was sagt die Beamtin über den Menschen, der hier wohnt?“ Abermals dieser spöttische Tonfall.

Erschrocken drehte sie sich um, als er sie ansprach, fasste sich aber schnell. „Sehr wissbegierig, sprachbegabt, ordentlich oder er hat eine sehr reinliche Frau, liebt die Natur.“

„Stimmt nur zum Teil. Setz dich. Ich hoffe, du magst grünen Tee, da ich sonst nur andere Teesorten und Mineralwasser habe.“

„Et, gern. Wir haben viel Tee zu Hause getrunken.“ Warum habe ich das gesagt? Shina, reiß dich zusammen.

Er setzte sich hin, fasste nach der Tasse und schaute sie an, aber irgendwie war sein Blick ausdruckslos, leer, als wenn er sie nicht wirklich wahrnahm. Seltsam.

Ihr fiel auf, dass er sein Jackett ausgezogen hatte und barfuß war. Sie warf einen Blick auf den hellen, smaragdgrünen, dicken Veloursteppich. „Muss man bei Ihnen die Schuhe ausziehen?“

„Non, das ist bei mir reine Gewohnheit. Ich liebe es, mit nackten Füßen zu laufen, verschiedene Materialien unter den Sohlen zu spüren. Es ist bei mir ...“ Abrupt brach er ab, als wenn er zu viel von sich preisgegeben hätte.

Einige Sekunden – Stille.

„Was in Gottes Namen sucht ein Ninja bei dem alten Herrn? Warum tötete er ihn?“

„Eine gute Frage, aber ich weiß es nicht. Fange ich am Anfang an. Was weißt du über die Ninja? Deswegen hat dich doch Kanaye zu mir geschickt.“

„Fast nichts. Die auf dem Mikkyô aufbauende, geheime Lehre der Ninja war eine über tausend Jahre alte, geheime Kampfkunst der Samurai im alten Japan. Sie durften wesentlich umfangreicher agieren, all das tun, was dem Samurai, Hatamoto verwehrt war. Sie waren nicht einem Kriegsherrn angeschlossen, sondern dienten dem, der am meisten zahlte. Sie wurden nur in bestimmten ryû unterrichtet, haben dort zahlreiche Kampftechniken gelehrt bekommen. Taijutsu, also alle waffenlosen Techniken innerhalb der Kampfkunst wie etwa Fallschule, Knochenbrechertechniken, Würgetechniken, Befreiungstechniken, Würfe und Hebeltechniken, dann Tantôjutsu, Kampfkunst mit dem Messer, ich glaube, Kenjutsu ist das mit den Schwertern, na ja und so weiter, daneben mussten sie nach ziemlich strengen Regeln, eher asketisch leben.“

Er lächelte amüsiert, ein wenig herablassend, wie sie fand.

„Das ist die Aussage, die in Filmen und Romane gemacht werden. Ein berühmter Ninjameister hat einmal geschrieben: Ninjutsu ist nicht für die Befriedigung persönlicher Wünsche gedacht. Der Shinobi beschäftigte sich mit seiner Kunst, weil er gezwungen war, sein Land, seine Führungspersonen oder seine Familie zu beschützen. Wenn du Ninjutsu nur für die Erfüllung persönlicher Wünsche betreibst, werden dir deine Techniken nichts nützen. Leider stimmt auch das nicht so ganz, sollte aber an dem sein. Es gibt heute noch ryû, in denen die Kampftechniken gelernt werden, aber deswegen wird aus einem guten Kämpfer kein Shinobi, sondern dazu gehören sehr, sehr strenge Regeln und Verhaltensmuster. Manche benutzten diese Kunst jedoch, um als gedungene Mörder ihr Geld zu verdienen. Das hat jedoch nichts mit dem Ursprünglichen zu tun. Fangen wir am Anfang an.“

Wie er mich die ganze Zeit ansieht, als wenn er denken würde, das kapiert die sowieso nicht, dachte sie. Wahrscheinlich ist er wütend, dass er sich den Abend mit mir herumschlagen muss. Sie spürte einmal mehr die aufkommende Traurigkeit. Wieder einer, der sie ablehnte, aber gerade bei ihm schmerzte es sie irgendwie.

„Es gibt bei den Shinobi gewisse Regeln, die in Kurzform besagen: Vergiss deine Trauer, deine Wut, deinen Hass. Lass sie vorbeiziehen wie Rauch in einem Atemzug. Gib dich solchen Gefühlen nicht hin. Weiche nicht vom Pfad der Rechtschaffenheit ab. Du solltest ein Leben führen, das eines Menschen würdig ist. Halte nicht an Luxus, Besessenheit oder deinem Ego fest. Du solltest Leiden, Trauer oder Feindseligkeit so wie sie sind akzeptieren und sie als Chance des Allmächtigen für eine Prüfung ansehen. Das lernt man als Erstes und sollte der Grundstock sein. Es folgen Ausdauer, Beharrlichkeit und im weiteren Sinne, Kontrolle über den eigenen Körper, die Seele und die Empfindungen darüber, was richtig und was falsch ist. Die Shinobi lernen Schleich-, Lauf- und Spezialtechniken, lautloses Bewegen. Um die Kondition, Beweglichkeit und Geschwindigkeit zu verbessern, trainieren sie verschiedene Körperübungen. Daneben lernen sie, je nach Ausbildung und ryû zahlreiche Körperwaffen, was bedeutet, die Muskeln, Sehnen oder Knochen des Feindes anzugreifen. Dazu können Finger, Fäuste, Handkanten, Füße oder andere Teile des Körpers eingesetzt werden. Dann gibt es weitere Ausbildungen mit Waffen, unter anderem eben jenen Wurfklingen. Jede Waffe erfordert ihre eigene Wurftechnik. Wurfklingen können vergiftet und im Nahkampf eingesetzt werden. Der Semban shaken ist der typische Wurfstern des Togakure ryû. Er hat vier Spitzen, in der Mitte befindet sich ein Loch, die Seiten sind sehr scharf geschliffen. Der Wurfstern ist dünn und wiegt wenig, sodass er in der Innentasche getragen werden kann. Der Hira…“

Er unterbrach sich, da ihr Handy summte. Etwas erstaunt hörte sie die Stimme von Dr. Orimoto und lauschte dem, was er sagte. Nachdenklich steckte sie das Telefon in ihre Tasche. Sie konnte das alles nicht glauben.

„Monsieur Hideyoshi D´Leciere, es tut mir leid, aber ich muss los. Ich bedanke mich, dass Sie mir Ihre Zeit opferten.“

„Du bist ja ganz blass. Ist etwas passiert?“ Auch er erhob sich. „Es gibt ihn. In Marseille läuft ein Ninja herum und tötet Menschen. Ich kann es nicht glauben.“ Sie sprach wie zu sich selbst, und erst als sie seine Hand an ihrem Arm fühlte, erwachte sie, sah auf seine Hand, die er nun wegzog.

„Bleiben Sie sitzen. Ich rufe mir ein Taxi.“

„Was ist vorgefallen?“

„Er hat eine junge Frau getötet. Der Ninja hat eine weitere Person getötet.“

„Warte, ich komme mit.“

Kurze Zeit später waren sie auf dem Weg zum Gerichtsmedizinischen Institut, Abteilung Pathologie. Draußen herrschte trotz der späten Abendstunde noch lebhafter Verkehr und er fuhr schweigend. Shina war in Gedanken versunken. Das alles war für sie unfassbar und sie fragte sich, was die beiden Menschen miteinander verbunden hatte. Ein alter Mann und eine Prostituierte. Sex?

Sie gingen in den Keller hinunter und in das Büro von Dr. Kanaye Orimoto, der von seiner Schreibarbeit aufsah und etwas erstaunt den Halbjapaner anblickte. Dann erhob er sich und begrüßte beide.

„Akira-san, ich habe dich lange nicht gesehen. Was macht die Arbeit?“

„Immer das Gleiche, Kanaye-san.“

„Deinem geehrten Vater geht es gut?“

„Hai, er genießt seine Freizeit, studiert alte Schriften, bis er nach Lyon muss, um den neuen Auftrag zu beginnen. Diesmal ist es der Letzte.“

„Der Dame Nyoko geht es ebenfalls gut?“

Jetzt lachte er laut. „Ebenfalls wie immer, voller Tatendrang und Ideen.“

„Sehr schön, nun wenden wir uns jetzt der Dame Pia Sourlane zu. Achtzehn Jahre, schlank, gut gebaut, keine Krankheiten, Prostituierte seit einem Jahr. Sie wurde vor zwei Tagen tot in einem Bett des Stundenhotels gefunden. Kurz vor ihrem Tod hatte sie Oralsex und ungeschützten Vaginalverkehr. Soweit nichts Besonderes, aber jetzt kommt’s. Todesursache: Der Tod hat durch Fingerenden eingesetzt, kurz danach, oder während der Tod eintrat, wurde sie vergewaltigt, und zwar auf brutale Art.“

„Was heißt durch Fingerenden?“

„Das ist Shitanken, eine Kampftechnik“, mischte sich Akira ein. „Die Finger werden als Haken eingesetzt, um die empfindlichen Zonen des Feindes zu zerreißen, zu greifen oder zu zerdrücken. Die Fingerspitzen unterstützen dabei den Druck und die Fingernägel erhöhen den Schmerz. Diese Waffe kann gut gegen den Hals, die Hand, Augen und Mund eingesetzt werden.“

„Hier war es der Hals. Sie hat sich vorher heftig gewehrt, da Fingernägel abgebrochen waren und darunter Hautpartikel gefunden wurden. Er muss etwas abbekommen haben. Wird alles gerade untersucht, ebenfalls wie die zahlreichen Spermaspuren. Ich denke, es war ein und derselbe Mann.“

„Gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Personen?“

„Bisher haben wir da noch nicht nachgeforscht, da es anscheinend zwei verschiedene Tötungsdelikte waren.“

Shina griff nach dem Bericht, las alles durch und wurde blass.

„Dieser Mensch muss total pervers veranlagt sein. Wer tut so etwas? Wie kann man so mit einer Frau umgehen?“ Angewidert warf sie die Kladde auf den Schreibtisch, wo sie Akira wegnahm und ebenfalls las.

„Das gibt es permanent, mein Kind. Männer, die nur in Verbindung mit Gewalt einen hochkriegen. Das ist aber nicht das ursächliche Problem, sondern der Mann an sich. Bei der Frau kann man davon ausgehen, dass er sie auf dem Straßenstrich aufgabelte. Eventuell ist die Sache im Rausch eskaliert. Vielleicht wollte sie schreien, hatte genug von ihm, aber was ist mit dem alten Mann?“

„Noch sehe ich da keinen Zusammenhang, Doktor Orimoto, aber das werde ich morgen, ach, Non heute, überprüfen. Kann man aus der Genanalyse nicht ersehen, ob er Asiat ist? Haben wir DNA-fähiges Material?“

„Et, das können wir feststellen, aber dessen bin ich mir sicher. Er ist Japaner.“ Das klang so überzeugend aus seinem Mund, dass sie ihm das glaubte, selbst ohne entsprechenden Bericht.

„Wir lassen ihn durch den Computer laufen, eventuell finden wir ihn. Sonst müssen wir uns auf die Suche nach allen Japanern in der Stadt begeben und sie zur DNA auffordern.“