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Die Liebe zwischen zwei Menschen lebt von den schönen Augenblicken. Aber sie wächst durch die schwierigen Zeiten, die beide gemeinsam bewältigen. Genieße die Augenblicke, denn sie sind dein Leben. Corinna zieht für ein Jahr aus der Schweiz auf die Nordseeinsel Rømø. Eine Trennung und ein Umzug der bereits Jahre vorher geplant war. Ein Schlaganfall verhinderte das jedoch. Das jahrelange Mobbing eines Nachbarn hat bei ihr nicht nur Albträume ausgelöst, sondern auch ein großes Angstgefühl. Das Klima, die Ruhe und die Natur lassen sie neu aufleben. Dazu kommt, dass sie als Fotografin damit erste kleine Erfolge erzielt. Sie findet dort neue Freunde. Nun wartet sie noch auf ihren Traummann. Ein Freund ihres Bruders, mit dem sie eine Affäre beginnt, ist es nicht, wie sie nach einiger Zeit feststellt.
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Seitenzahl: 342
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Angelika Friedemann
Glück auf Umwegen
Ein Rømø-Roman
Impressum
Copyright: © 2023. ISBN: 9783757809997. Alle Rechte am Werk liegen beim Autor: Angelika Friedemann, Herrengasse 20, Meinisberg,ch, [email protected]
Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder Reproduktion (auch auszugsweise) in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder anderes Verfahren) sowie die Einspeicherung, Verarbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung mithilfe elektronischer Systeme jeglicher Art, gesamt oder auszugsweise, ist ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung untersagt. Alle Übersetzungsrechte vorbehalten.
Picture - Kevin Friedemann + piqs.de
Die Liebe zwischen zwei Menschenlebt von den schönen Augenblicken.Aber sie wächst durch die schwierigen Zeiten,die beide gemeinsam bewältigen.
Genieße den Augenblick, denn der Augenblick ist dein Leben.
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„Hhhmm, passt“, stellte Corinna Reinke fest, nachdem sie den Teig probiert hatte. Kuchen backen war nicht so ihr Metier, aber Fabien, ihr 22-jähriger Sohn, kam am Nachmittag und er aß Kuchen für sein Leben gern.
Während der Kuchen backte, ein süßlich aromatischer Geruch sich ausbreitete, packte sie weiter. In ihrem Zimmer stapelten sich die Umzugskisten. In zehn Tagen würde sie zurück nach Deutschland ziehen und darauf freute sie sich. Na ja, erst einmal zog sie für ein Jahr nach Dänemark. Sie wollte völlig abschalten, ihren neuen Weg unbelastet in Angriff nehmen.
Die neun Jahre Schweiz waren weniger schön gewesen. Besonders die letzten Jahre waren mehr als abscheulich verlaufen. Der Psychoterror, die ständige Angst, setzten ihr reichlich zu, taten ihr zudem gesundheitlich nicht gerade gut. Sie lebte in permanenter Furcht, was dieser kranke Psychopath ihr noch antun würde. Seine letzte Attacke fand vor einer Woche statt, als sein Auto hielt und er sie mit dem Handy knipste.
Ihr waren Fotos seitlich an der Couch heruntergefallen. Sie musste sich knien, um daran zu kommen. Da sie immer noch nicht ohne sich abzustützen aufstehen konnte, bemerkte sie das Fahrzeug nicht, da Sie nicht hinausschaute. Erst als sie stand, gewahrte sie, was da gerade passierte. Sie war sekundenlang wie erstarrt gewesen, bevor sie sich wegdrehte. Der Unhold grinste sie dabei noch frech an. Seitdem verschärften sich ihre gesundheitlichen Probleme erneut. Sie zuckte zusammen, wenn es klingelte, litt unter Schlafstörungen. Wenn sie Donnerstag Wäsche waschen ging, war sie jedes Mal Schweiß gebadet, aus Angst, ihm allein zu begegnen. Im Beisein von Jürgen oder Fabien grüßte er zwar, aber sein Blick war voller Wut. So viel Hass, Abneigung gewahrte sie noch nie. Er bereitete ihr damit zusätzliches Grauen. Wie hieß es: Wenn Blicke töten könnten, dann wäre sie schon seit Jahren tot, wie sie es sich zeitweise sogar wünschte.
Seit ihrem Schlaganfall vor knapp fünf Jahren, bemühte sie sich, so gesund und stressfrei wie möglich zu leben. Nur er machte ihr kontinuierlich einen Strich durch die Rechnung.
Sie spürte, wie ihr Körper reagierte. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Sie zitterte leicht. Jetzt bloß nicht schlappmachen. Dieser Mann hatte ein seelisches Wrack aus ihr gemacht, rollten nun doch die Tränen, während ihr Herz laut und viel zu schnell pochte. Sie begann, wie dann meistens, heftig zu schwitzen, es dröhnte in den Ohren. Sie schaltete das Radio an, versuchte, tief ein- und auszuatmen, an etwas anderes zu denken.
Nein, nein, nein! Corinna, vergiss es. Du regst dich umsonst auf. Denk an deine Gesundheit. In wenigen Tagen fängt dein neues Leben an, ohne die Altlasten, die hierbleiben. Konzentriere dich darauf.
Das Telefon störte und sie hörte erfreut die Stimme ihres Bruders, der gleich fragte, was los sei, da
ihre Stimme so anders klang.
Rasch berichtete sie von dem Kuchen und Lars wollte vorbeikommen.
„Nimmst du den Heli“, scherzte sie.
Nun wollte er wissen, wie weit sie wäre, da bereits Mitte Juni. Sie erzählte ihm, von dem wenigen Kleinkram. Einige Kartons würde ihr Fabien bringen, wenn er sie besuchte. Die brachte sie solange in den Keller. Lars schimpfte sofort, das solle sie gefälligst Jürgen oder Fabien erledigen lassen.
Sie holte den Kuchen heraus, da klingelte es auch schon früher als erwartet. Nun verschwanden alle düsteren Gedanken.
Fabien plapperte wie immer, die ganze Zeit von sich und was geschehen war. Eine Antwort von ihr, interessierte ihn generell nie und er hörte meistens gar nicht zu. Selbst wenn er fragte, war das so. Sie war aber daran gewöhnt.
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Den ganzen Tag war sie mit Räumen, Packen und Aussortieren beschäftigt gewesen. Einen Teil der ollen Sachen warf sie weg, anderes stellte sie beiseite, da Fabien einen Teil benötigte, besonders die Möbel, die sie vor knapp drei Jahren für ihr Zimmer neu kaufte. Sie sortierte mehr als ihr halbes Leben aus. Ja, das alte Leben würde sie hier zurücklassen und erneut völlig neu anfangen.
Besonders der Gang zur Mülltonne kostete sie erhebliche Überwindung, da sie jedes Mal Angst bekam, diesem gemeinen Macho über den Weg zu laufen. Sie prüfte zwar vorher immer, ob sie irgendwo seinen Wagen stehen sah, aber sicher war selbst das nicht.
Am Nachmittag waren ihre wenigen Freunde zum Abschied gekommen.
„Warum ausgerechnet so eine einsame Insel?“
„Reto, Rømø behielt teilweise noch seine Ursprünglichkeit. Schon in den Achtzigerjahren war ich in die Insel verliebt. Idylle - pur. Obwohl sie danach etwas davon einbüßte, da überall Ferienhäuser gebaut wurden, dann Einkaufszentren. Auf der eine Seite, Trubel, Unruhe, die der Tourismus mit sich bringt; andererseits die langen Strände, nur das Meeresrauschen, das Geschrei der Möwen, eine wunderschöne Heidelandschaft mit Hasen, Rehen, die Einsamkeit. Ich war bereits als Kind gern dort. Mein Bruder und ich liebten die Urlaube. Den ganzen Tag draußen am Meer. Wir konnten schwimmen, Burgen bauen, Fußball spielen, Drachen steigen lassen und in den Dünen herumlaufen. Freiheit - pur. Außerdem möchte ich das Inselleben kennenlernen, obwohl es keine Insel im herkömmlichen Sinne ist, da mit einem Damm verbunden. Wenn ihr mich demnächst besuchen kommt, zeige ich euch, was ich meine. Überdies habe ich das Haus nur für ein Jahr gemietet, werde gerade öfter Sylt besuchen. Danach möchte ich schon auf das Festland, nach Deutschland zurück. Mit etwas Mut kann jeder Traum Wirklichkeit werden. Ich werde mir in dem Jahr die Kraft dazu dort holen, um dann in Hamburg mein neues Leben aufzubauen.“
„Ich könnte nie auf einer Insel leben“, stellte Colette, seine Frau fest.
„Ich will es einfach probieren. Es ist auch wegen meiner Fotos. Da ist eine sehr schöne Landschaft und durch den Damm bin ich ja mit dem Festland verbunden.“
„Wie ist das mit der Sprache?“
„Auf der Insel sprechen viele Deutsch. Ich kann noch etwas Dänisch, da ich in der Schule zwei Jahre einen Leistungskurs Dänisch belegte.“ Corinna lachte. „Euch habe ich teilweise all die Jahre nicht verstanden, wenn ihr richtig loslegtet.“
„Wenn es dir nicht mehr gefällt, kommst du eben wieder zu uns“, scherzte Reto.
„Nie!“, sagte sie voller Überzeugung. Allein der Gedanke, und sie geriet fast in Panik.
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Heute putzte und wienerte sie die ganze Wohnung, einschließlich die Fenster. Sie wollte alles sauber und ordentlich ohne Spuren von sich hinterlassen. An sie erinnerte hier nichts mehr, außer ein leeres Zimmer und wenige Kartons und ein paar Blumen, die sie jahrelang pflegte und hegte. Leider war kein Platz in ihrem Auto, das sie diese mitnehmen konnte.
„Willst du es dir nicht noch einmal überlegen?“, fragte Jürgen abends, während er weiter auf den Bildschirm blickte.
„Bestimmt nicht. Es war lange genug Stress. Auch für dich ist es besser. Du musst nicht mehr lügen, mir etwas von ach, ich habe Stefan geholfen, oder Alex, oder was-weiß-ich-wem. Gerade die Geschichte mit dem Dösbaddel unter uns, zeigte mir deutlich, wie wenig ich dir bedeute, wie wenig dich etwas interessiert, was mich betrifft. Ich werde massiv über Jahre gemoppt und du erzählst mir, alle sind sooo lieb und nett. Vergessen zu sagen, die neue Braut von ihm habe ich vor ihm flachgelegt, deswegen bin ich lieber ruhig. Wäre kein Problem gewesen, da ich immer wusste, wann du wieder eine andere Frau hast. Störte mich eh nicht mehr, da es zwischen uns seit Jahren vorbei ist. Ich bin wegen Fabien geblieben, später wegen meines Schlaganfalls. Nur es wurde immer schlimmer. Der Typ mit seiner Frau, Freundin oder wie man solche Personen nennt, zog weg und ich atmete kurz auf. Dann kam er zurück, mietete unten die Büroräume und alles ging so weiter. Selbst seine Bürokraft meckerte mich an. Ich darf nicht mal ans Fenster, nicht auf den Balkon, nichts, weil der Psychopath sofort etwas dagegen hat. Sogar illegale Fotos darf er von mir machen. Du gehst noch hin, trinkst mit ihm, bist nett und freundlich. Anomal! Es ist vorbei und ich kann wieder frei atmen“, in Ruhe ohne Albträume schlafen, ohne Angst das Haus verlassen, mich draußen aufhalten, dachte sie weiter. Das Zittern in ihr wurde mehr. Beruhige dich! Es ist bald vorbei, sagte sie sich selbst, aber das Angstgefühl blieb.
Jürgen verstand sie nicht, sah sie ihm an. Er hielt sie für bekloppt, dass sie übertrieb. Selbst Reto und Colette glaubte er nicht, die das einmal mitbekamen. So schlimm war das ja nu nie. Sie spann sich da etwas zusammen, wie öfter. Sie stritten häufig, da er alles besser wusste, konnte und sie keinen Überblick besaß. Je älter er wurde, umso mehr glich er seinem Vater, der selbstherrisch noch heute über seinen Sohn bestimmte, alles besser wusste. Vor knapp einem Jahr sagte er ihr zum Geburtstag, sie solle nicht nur faul auf der Couch sitzen. Kein Wunder, dass sie noch nicht wieder richtig laufen könne. Sie solle sich mehr bewegen, endlich mal wieder etwas machen.
Egal - es war vorbei.
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Ihr sieben Jahre oller SUV war voll beladen, als sie am Morgen gegen 4.00 Uhr losfuhr. Verabschiedet tat sie bereits am gestrigen Abend.
Sie atmete erleichtert auf, als sie auf der Autobahn rasch von dem Ort wegkam, in dem sie jahrelang so unglücklich war. Der Albtraum war zu Ende. Mit jedem Kilometer, den sie sich weiter entfernte, fühlte sie sich freier, unbeschwerter. Nachdem sie Grenze passierte, kam es ihr vor, als wenn sie einen riesigen Brocken innerlichen Ballast losgeworden wäre. Er war vorbei! Jetzt würde sie niemand mehr bedrohen, mobben, verhöhnen, nur weil sie Ausländerin war. Es kam ihr so vor, als wenn ihr selbst das Atmen leichter fiel.
Erst hinter Köln hielt sie an. Sie bekam Hunger und benötigte einen Kaffee. Danach spazierte sie langsam zu ihrem Wagen. Da die Luft herrlich frisch war, lehnte sie sich einen Moment gegen ihren SUV, aß den Schokoriegel. Für den 22. Juni war es eigentlich zu kühl, auch wenn die Sonne schien. Zum Fahren fand sie es jedoch eher angenehm.
Ihr Blick fiel entfernt auf einen Mann, der mit beiden Füßen auf eine Bank sprang und rückwärts wieder runter, als wenn er Federn unter den Schuhen trug. Das sah so leicht, elegant aus. Der Fremde blickte zu ihr, lächelte. Sie wollte wegschauen, aber irgendwie gelang es ihr nicht. Es war merkwürdig, aber irgendetwas in seinem Blick fesselte sie. Hinterher wusste sie nicht, wie lange sie sich so anguckten.
Eine Familie mit einem Hund unterbrach diesen Moment. Sie schüttelte leicht den Kopf, nickte den Leuten freundlich zu, bevor sie in ihren Wagen stieg. Sie blickte nochmals zu der Stelle, aber der Fremde war verschwunden, sein weißes Auto, sie vermutete das nur, da sonst kein Fahrzeug dort stand, fort. Sie fuhr los, da noch ein weiter Weg vor ihr lag. Der Fremde begleitete sie dabei. Sie sah ihn immer noch vor sich. Das war für sie etwas Besonderes, auch wenn sie sich deswegen als dumm betitelte. Nein, es war wie etwas Verheißungsvolles in eine schönere Zukunft. Der Mann würde sie als dusselig betiteln, wenn er wüsste, wie sie noch Stunden später an ihn dachte, was sie in den kurzen Augenblick hinein interpretierte. Für sie war das ein magischer Moment. Magie!
Am später Nachmittag kam sie in Hamburg an. Eine Nacht würde sie bei ihrem Vater schlafen, den sie seit fast einem Jahr nicht sah. Nach dem Tod der Mutter vor zwei Jahren war er umgezogen. Es war eine Art Altersheim. Er bezog eine 3-Zimmer-Wohnung, wie in einem Mietshaus. Nur unten gab es Mittag- und Abendessen, wenn er wollte, daneben eine Stelle, wo man kleinere Wünsche angeben konnte, wie zum Beispiel einkaufen, Putzen und so. Benötigte er alles noch nicht, da er sehr rüstig war. Wer weiß, was in fünf Jahren ist, pflegte er zu sagen. Ihm gefiel an dem Haus besonders, da es in unmittelbarer Elbnähe stand und er einen Blick über den Schiffsverkehr genoss. Der große Garten, der parkähnlich angelegt war, tat sein Übriges dazu. Er war Schiffsbauingenieur gewesen und alles, was damit zusammenhing, lag ihm sehr am Herzen. Noch heute traf er sich jeden Monat einmal mit den ehemaligen Kollegen zum Snàken. Als Not am Mann war, arbeitete er im Sommer sogar fünf Wochen bei seinem ehemaligen Arbeitgeber.
Heinz Reinke begrüßte seine Tochter mit Tränen in den Augen, wie sie den Vater. Einen Moment schämte sie sich, dass sie ihn in den letzten zwei Jahren nur zweimal jährlich sah. Das würde sie nun ändern. Gerade nach dem Tod der Mutter hätten sie mehr für ihn da sein müssen.
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Morgens fuhr sie nach Dänemark, zur Insel Rømø. Ihr Vater und Lars, ihr Bruder, würden sie in knapp zwei Wochen dort besuchen kommen.
Angekommen holte sie den Schlüssel von der Hausbetreuerin, einer jungen Frau, die sie freundlich mit einer kleinen blühenden Topfpflanze begrüßte.
„Ich bin Mette Ekberg. Mein Mann ist übrigens der Elektriker hier. Claas Ekberg. Heute ist Sankt Hans Aften. Am 23. Juni feiern wir in ganz Dänemark die Sommersonnenwende.“
„Jo, ich weiß, da ich das vor Jahren oben in Skagen mitfeiern durfte. Es war gigantisch, das riesige Feuer zu sehen, die Lieder zu hören. Es wurde ausgelassen getanzt, gefeiert. Den Johannisabend habe ich nie vergessen. Bei uns in Deutschland wird es eher bescheiden auf dem Brocken begangen. Da tanzen die Hexen mit den Besen“, amüsierte sie sich.
„Hört sich lustig an. Wenn du Fragen oder so hast, rufe an oder komme her.“
Die hübsche Dänin mit den saphirgrünen Augen, den mittellangen rotblonden Haaren und den lustigen Sommersprossen rund um die Stupsnase wirkte so quirlig, dass es fast ansteckend war.
Zum ersten Mal sah sie ihr neues Zuhause: ein Ferienhaus. Sie war begeistert. Es gefiel ihr, sah wirklich so aus, wie auf den Fotos. Das Einzige, was ihr missfiel, waren die Ledermöbel im Wohnzimmer. In dem Haus gab es einen sehr großen Raum. Küche, Essecke und Wohnzimmer in einem. Herrlich hell mit Zugang zur Terrasse, auch von der Küche aus. Die war sehr modern eingerichtet. Dann war da ihr Schlafzimmer. Dafür suchte sie bereits in der Schweiz den größten Raum aus.. Doppelbett, Nachttische, Schrank, Tisch und zwei kleine Sessel. Dazu gab es vier Gästezimmer. Drei waren mit Betten, einem Schrank, Nachtischen spartanisch eingerichtet. Das eine Gästezimmer räumte man auf ihren Wunsch aus, da sie dort ihren Fotoraum einrichten würde. Ein Bad vervollständigte diesen Teil des Hauses. Ein kleiner Gang führte dann nach hinten. Hier gab es einen Pool, Sauna, Whirlpool und ein großes Bad.
Der Raum war hell, gerade sonnendurchflutet, da die eine lange Seite vollständig nur aus Glas bestand. Eine Tür führte auf die Terrasse. Die gegenüberliegende Seite zierten im oberen Bereich dazu noch Fenster.
Im Poolraum standen ein Tisch und vier Stühle. An der anderen Seite war der Whirlpool. Es war hier sehr warm und es roch nach Chlor. Ja, hier würde sie sich wohlfühlen, ging sie nun hinaus. Es gab zwei Terrassen. Eine mit einem großen Tisch, Stühlen und an der Seite einem Grill. Auf der anderen Terrasse genau vor dem Pool, standen vier Liegen. Die Kissen waren in einem separaten Raum, schrieb man ihr seinerzeit. Rings um das Grundstück dichte Büsche, Bäume und Blumen. Nichts war angelegt, sondern einfach so gewachsen. Von dem nächsten Haus sah man nur ein Stück Dach. Ein Traum. Sie drehte sich im Kreis. Es war herrlich.
Nun hieß es Auto ausladen. Zuerst kamen die wenigen kleinen Pflanzen, die sie mitnahm an ihren neuen Platz.
Sie liebte Pflanzen, ihre unterschiedlichen Grüntöne. Olivgrün neben Grasgrün; ein leichtes blaustichiges Dunkelgrün neben Limettengrün. Kleinblättrige Pflanzen neben hochgewachsen Halmen und Fächerblättern. Ihre großen Pflanzen musste sie alle zurücklassen, aber sie würde neue kaufen, wenn auch wesentlich kleiner, da billiger.
Nun wickelte sie den Fernseher aus den Decken. Da im Wohnzimmer ein großes Gerät stand, kam der in ihr Schlafzimmer. Es folgten Decken und Kuschelkissen, die sie vorerst auf das Bett in dem Gästezimmer legte. Obwohl die Kartons alle nicht sehr schwer waren, hatte sie bei den letzten Mühe, die Kisten nach innen zu tragen, obwohl hier alles ebenerdig war. Da zeigten sich einmal wieder die Folgen ihres Schlaganfalls. In der Schweiz trug sie das alles aus der 2. Etage zum Auto und es ging, schimpfte sie mit sich selbst.
Geschafft sackte sie auf dem Sofa zusammen, trank hastig Selter direkt aus der Flasche. Auspacken später. Nun erst einmal das Wasser sehen.
Es war wunderschön an dem breiten Strand und sie war glücklich. Ja, sie war zurück. Sie, die das raue Nordseeklima, den Wind, das ewig wogende Meer, den Geruch von Salz in der Luft liebte. Sie genoss das Rauschen der Wellen, das Schreien der Möwen und den Salzgeschmack auf ihren Lippen, als wenn es das erste Mal wäre. Heute störten sie nicht einmal die vielen Menschen, die Autos, welche auf dem Strand parkten.
Sie entfernte sich Richtung Norden von dem Trubel weg und setzte sich am Wasserrand hin. Hier genoss sie die Ruhe, beobachtete einen Kutter weit entfernt, sowie die Vögel. Als sie bemerkte, wie das Wasser immer näherkam, da die Flut einsetzte, schlenderte sie langsam zurück.
Sie bekam Hunger und beschloss, nach Hause zu fahren.
Morgen würde sie ihren Kühlschrank richtig füllen. Jetzt nur eine Kleinigkeit, die sie von dem Vater mitgenommen hatte. Die belegten Brötchen schmeckten herrlich. Danach einen Schokoriegel.
Nun hieß es auspacken, wegräumen, Ordnung schaffen. Ihr Bett nahm sie bereits bezogen mit. Das tauschte sie gegen das Vorhandene, welches sie in einem der Gästezimmer im Schrank verstaute. Ihre Fotosachen ließ sie vorerst in den Pappkartons, da sie noch einen Tisch benötigte und ein Regal. In das Gästezimmer stellte sie die noch nicht ausgepackten Kartons, mit Dingen, die sie hier nicht benötigte; die Lars in seinem Haus unterstellen wollte. Kiste für Kiste leerte sie, faltete die ordentlich zusammen und legte sie in den Außenraum, wo Liegestühle und die Auflagen sich stapelten.
Damit fertig atmete sie erleichtert auf, da das meiste erledigt war. Nun suchte sie einen Möbelladen in Ribe, Tønder oder Skærbæk, da sie unbedingt eine Wohnlandschaft benötigte. Sie hasste Ledersofas. Im Sommer klebte man mit der Haut fest; im Winter fror man, da sie kalt waren.
Sie wurde fündig und beschloss, gleich morgen als Erstes dorthin zu fahren. Eine eingerichtete Küche war hier bereits vorhanden, daher waren ihre Gegenstände alle für ihre spätere Wohnung. Also alles ab ins Gästezimmer. Nur den Kaffeeautomaten tauschte sie gegen die olle Kaffeemaschine aus, die sie im Küchenschrank verstaute. Sie backte die angetaute Tiefkühlpizza, öffnete eine Flasche Weißwein aus dem Piemont. Sie liebte liebliche Weine.
Nach dem Essen zog sie sich aus, nahm ein Buch mit und ging in die Sauna, anschließend schwimmen. Die Innenbeleuchtung des Pools zauberte nicht nur das Wasser in einen Türkiston, sondern auch die Holzdecke schimmerte in einem hellen Ton, als sei sie silbrig blau. Der ganze Raum war in ein warmes Licht dadurch gehüllt. Er strahlte Ruhe, Behaglichkeit und eine sichere Gemütlichkeit aus. Hier konnte ihr nichts passieren.
Das neue Leben begann und es gefiel ihr schon jetzt.
In der Nacht wurde sie wach. Warum - sie wusste es nicht. Es ging so weiter wie in der Schweiz, wo sie grundlos aufgeschreckt war. Sie war jedes Mal schweißgebadet, zitterte und ihr Herz raste.
Verflixt, warum besaß der Kerl so eine Macht über sie? Über tausend Kilometer entfernt war sie doch jetzt. Wie kam sie aus dieser Situation heraus, in der sie sich so hilflos fühlte, wie ein Hase vor der Schlange? Sie tat das, was sie stets tat - sie schaltete den Fernseher, der derzeit auf dem Tisch stand, an, um sich abzulenken.
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Die Wohnlandschaft, zwei Regale, einen Schreibtisch und den Stuhl dazu, sowie eine kleine Kommode waren fix gekauft. Da es ihr ein breiter Rattan-Liegestuhl mit dicker gelber Auflage sehr angetan hatte, kaufte sie auch den, obwohl sündhaft teuer. Sie beschloss, gleich hier in einen Supermarkt zu gehen, da es gewiss billiger als auf der Insel war. Der Supermarkt war riesig und sie kaufte mehr, als sie eigentlich plante, wie sie später schmunzelnd feststellte.
Rasch packte sie alles Daheim aus, nahm eine kleine Flasche Mineralwasser mit und fuhr zu einem anderen Ende des Strandes.
Hinter dem breiten Sandstrand stiegen die Dünen auf, manchmal kleine Sandhügel, woanders steil und hoch, wie ein Fels, der unter den Sonnenstrahlen rotgolden glitzerte. An die Sanddünen schloss sich die Heide an, jetzt im satten Grün leuchtend. Sanfte Hügel, aus denen sich die Vögel erhoben und sich von dem Wind in die Höhe tragen ließen. Ein Paradies für Hasen und allerlei anderem Getier. Oft wurde alles von einem dünnen Sandregen überzogen, je nachdem, wie der Wind stand. Über all dem Land segelten laut schreiende Silbermöwen. Austernfischer drehten fortwährend ihre Bahnen. Es war beruhigend und genau das genoss sie. Sie wollte ihre alte Ruhe, Ausgeglichenheit zurück und auch die letzten Überbleibsel des Schlaganfalls auskurieren.
Sie saß im warmen Sand, schaute in die Ferne, wo sie das Meer glitzern sah. Einige Urlauber ließen Drachen fliegen. Sie trank, ließ den feinen Sand durch ihre Finger rieseln. Ja, ihre Entscheidung war richtig gewesen. Hier würde sie zur Ruhe kommen. Sie trank nochmals, erhob sich, klopfte den Sand ab. Sie musste zurück, da sie die Möbel nachmittags anlieferten.
Am Abend war alles platziert, einige restliche Kisten ausgepackt. Morgen würde man die Ledercouch und ein paar kleine Möbel abholen und anderweitig unterstellen.
Völlig ausgepowert genoss sie die Sauna und den Whirlpool. Ihre müden Knochen erholten sich schnell. Im Bademantel machte sie es sich auf der neuen Wohnlandschaft bequem, schlief beim Lesen ein.
In der Nacht wurde sie wach. Die Dämonen der Dunkelheit waren wieder da. Die verfolgten sie, wollten sie quälen. Sie trank etwas, legte sich ins Bett und schaute Fernsehen. Nur auch das vertrieb nicht ihr Zittern, das unbestimmte Gefühl der Furcht.
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Als am Vormittag all die Möbel weg waren, putze sie alles, räumte noch einige Dinge ein und schaute sich zufrieden um - fertig! Im Anschluss wurde der Fotoraum eingerichtet, die Kartons ausgepackt, alles in dem Regal verstaut. An die Wand kamen vorerst nur vier Fotos, die ihr besonders gelungen waren, wie sie fand, daneben ein Bild von Fabien und ein Bild der ganzen Familie, Vater, Mutter, Lars, sie sowie ihr damaliger Schäferhund, Klaafs.
Nun ab zum Købmand, Brot und Eier kaufen, die sie gestern vergaß.
Zurück schnappte sie ihre Kamera, packte verschiedene Objektive ein und losging es. Sie fuhr Richtung Militärgelände, da sie dort mehr Vögel und andere Tier erwartete.
Hier war es stiller, wesentlich weniger Gewusel. Nur einige Angler standen vor dem Teich, versuchten ihr Glück.
Sie hängte den Rucksack um, spazierte an den Wiesen entlang. Es herrschte Bilderbuch-Wetter: Wärme, wenig Wind, ein strahlend blauer Himmel mit wenigen kleinen Wattebausch-Wölkchen, wie sie diese nannte.
Als sie weit genug von all den Menschen entfernt war, setzte sie sich am Rand der Wiese hin - wartete.
Neben Hasen und Rehwild, Gelbbauchunken und Salamander, sollte es hier bis zu hundert Vogelarten geben, las sie einmal. Dazu gehören verschiedene Möwenarten, Eiderenten, Brandenten, Seeregenpfeifer, Säbelschnäbler, Austernfischer, Brachvögel, Sandläufer, Sanderling.
Erst nach über zwei Stunden Wartezeit regte sich etwas. Jungvögel flogen auf, als sich ein paar Säbelschnäbler näherten. Nun war Corinna in ihrem Element. Es gab nur noch die fliegenden Objekte, auf welche sie gewartet hatte.
Es war komisch. Auf einmal herrschte nicht nur in der Luft ein reges Treiben. In den wenigen Bäumen und auf der Wiese schien alles zu erwachen. Zwei Karnickel oder Hasen sprangen auf, hüpften davon. Vögel aus den Bäumen flogen über ihren Kopf hinweg und von der Meerseite nährten sich laut kreischend Silbermöwen.
Auf der Fahrt nach Hause lief ihr sogar ein Pfau über den Weg, der aufgeregt ein Rad schlug. Leider ging das zu schnell und unerwartet, dass sie ihn nicht im Bild festhalten konnte.
Am späten Nachmittag zogen dunkle Wolken auf. Schnell räumte sie die Gartenmöbel an die Seite.
Am frühen Abend brach das Unwetter über die Insel herein. Es rauschte in dem Reetdach vom Wind und der Regen prasselte laut auf die Erde.
Nach dem Essen saß sie im Poolraum, sah draußen dem Wolkenbruch zu. Hier war es kuschelig warm.
Nun widmete sie sich den heutigen Fotos. Einige konnte sie gleich löschen, da verwackelt, unscharf, schlecht getroffen. Ein Bild übertraf jedoch alle: ein springender Hase darüber drei Jungvögel mit Mama oder Papa. Darunter das saftige Grün mit einigen rosafarbenen Strandnelken und dem toll blühenden Strandflieder mit seinen tiefblauen Blüten. Ein Zufallstreffer! Besser hätte es kein Profi-Fotograf treffen können, fand sie.
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Den Sonnenaufgang über dem Meer wollte sie heute ansehen, war deswegen extra früh aufgestanden. Die letzten zwei Tage nutzte sie, um ihre alten Bilder zu sortieren, katalogisieren und schlechte Aufnahmen zu entsorgen. Das Sortieren war einfacher, da die Fotos in entsprechende Ordner auf dem Laptop oder USB-Stick wanderten, schlechte gelöscht wurden. Es gab keine Kisten mehr, die sie durchwühlen musste, wenn sie etwas suchte. Alles war fixer und platzsparender.
Der nördliche Teil des Sønderstrandes gehörte den Kitebuggys. Diese Dinger wurden mit den Füßen gesteuert und mit den Armen zog der Drachen Buggy und Fahrer. Der südliche Teil des Strandes ist den Strandseglern gewidmet. Das machte früher Lars leidenschaftlich gern. Jetzt jedoch war sie fast allein am Strand.
Sie ließ die Schuhe im Auto. Sie lief langsam Richtung Wasser. Nur wenige Autos parkten bereits dort.
Langsam schob sich am Horizont die Sonne empor. Zunächst sah sie deren Strahlen, bis sie schließlich selbst folgte. Die Strahlen auf dem Wasser waren noch beeindruckender, da sie zu tanzen schienen. Zuerst wirkten sie rötlich; dann folgte erst silbrige Glanz, bevor sie sich in Gold verwandelten.
Nachdem sie viele Bilder knipste, wanderte sie weiter. Da auch vor- und gestern scheußliches Wetter herrschte, es den ganzen Tag regnete und stürmte, hoffte sie, unterschiedliche Tiere und Muscheln zu finden. Gerade nach schweren Stürmen sollte man am Havsand, jede Menge Muschel sichten, las sie.
Ihre Ausbeute war beträchtlich, da sie mehrere lebende Tiere entdeckte, die schnell Richtung Meer wollten. Es war zu niedlich, diese Krebse zu fotografieren. Einige Male verscheuchte sie die schreienden Möwen, bis die kleinen Kerle im Wasser verschwanden. Dieses Mal waren die Lütten gerettet, dachte sie dabei zufrieden.
Nach einem kleinen Imbiss daheim, fuhr sie los, um ein Rad zu mieten. Sie wollte es zumindest probieren.
Das war ihre erste Radtour seit fast zehn Jahren.
Sie radelte noch langsam nach Havneby. Sie las über den Hafen, dass der 1964 eröffnet wurde. Fischerboote ankerte dort. Teilweise schöne alte, aber gepflegte Holzboote. Überwiegend fischte man hier wohl Muscheln und Garnelen. Der Hafen war zudem Anlegestation für die Fähre nach List. Die fuhr regelmäßig mehrmals täglich die Insel Sylt an, außer im Winter..
Sie lief um den Hafen, knipste. Bevor sie zurück radelte, ging sie in den Fischladen.
Von Kabeljau über Thunfisch, Fischkugeln, bis hin zu geräucherten Köstlichkeiten und belegten Fischbrötchen, waren lauter Leckereien vorhanden. Sie entschied sich für Krabben und für morgen Mittag für Garnelen.
Sie verstaute alles in dem Rucksack.
Sie radelte zurück, gab das Fahrrad ab und fuhr nach Hause. Sie spürte zwar ein wenig die Erschöpfung, aber das schadete gewiss nicht. Sie fühlte sich heute nur gut.
Sie genoss die Krabben mit Ei und Baguette. Dazu trank sie ein Glas Weißwein. Lecker!
Im Poolraum bei leiser Musik, geöffneter Tür, sah sie sich die heutigen Aufnahmen an.
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Sie spazierte am Strand entlang. Diese morgendlichen Spaziergänge ließen ihre Müdigkeit schwinden und die letzten Dämonen wurden vertrieben, die trotz allem, Nacht für Nacht sie nicht schlafen ließen, sie verfolgten, quälten und peinigten.
Kleine Steinwälzer und Sandläufer flitzten auf dem feuchten Sand herum. Sie waren beim Frühstück, dachte sie belustigt.
Danach fuhr sie zu dem Fahrradgeschäft, indem sie vor drei Tagen das Fahrrad mietete. Sie wollte ein leichtes Damenrad kaufen. Der Verkäufer wollte ihr unbedingt ein E-Bike andrehen, was sie mehrfach ablehnte. Schließlich ging sie, da ihr das zu blöd war.
Sie fuhr nach Ribe. Dort frühstückte sie, dann betrat sie ein Fahrradgeschäft. Hier bekam sie endlich, was sie suchte. Ein Damenrad, was leicht war. Der Verkäufer stellte ihr gleich den Sattel passend ein. Den Fahrradhelm lehnte sie ab, nahm aber eine kleine Tasche, Reifenspray, einen Ersatzschlauch und ein Schloss mit. Bei dem scherzte sie, das sei ja schwerer als das Rad.
Der junge Mann erklärte ihr, dass die billigen dünnen Dinger nichts taugten, da die jeder mit Leichtigkeit knacken konnte. Gerade neue Räder mit Scheibenbremsen wie ihres seien beliebte Objekte für Diebe. Er schob das Rad noch zum Parkplatz und legte es hinten hinein. Er wünschte ihr viel Spaß mit dem Rad.
Zurück trank sie etwas, packte eine Seltersflasche, zwei Schokoriegel zu der Kamera in den Rucksack, einige Pflaster verschiedener Größe in die Tasche unter dem Sattel. Das Schloss blieb zu Hause und nun radelte sie los.
Die Feuerwache in Kirkeby war früher eine Seerettungsstation, las sie, als sie mehr über die Insel erfahren wollte. Sie wurde 1887 erbaut, wie auf der Mauer zu lesen stand. Die Schifffahrt zählte da noch zu der wichtigsten Erwerbsquelle der Insulaner. Die Rettungsstation wurde südlich von der Kirke, wie hier die Kirche hieß, erbaut. Alles bauten sie im Inneren der Insel, damit die Station bei Sturmfluten sicher war. Gleichzeitig war die Station aber so nahe am Meer, dass das Rettungsboot bei Sturm relativ schnell ins Wasser geschleppt werden konnte. Von dem Turm auf dem Dach aus, konnten die Retter, die Schiffe im Auge behalte, sehen, wann einer Hilfe benötigte. Ende der 60er-Jahre wurde aus der Rettungsstation die Freiwillige Feuerwehr Rømø.
Sie fotografierte alles, trank etwas, bevor sie nun über den Friedhof schlenderte. Da waren sehr alte Gräber von ganzen Familien. Immer wieder las sie, dass die Männer Kommandanten, Kapitäne, Seeleute waren.
Nach einer weiteren Stunde radelte sie retour. Es war nur eine kleine Runde, aber es ging gut. Das würde sie langsam steigern.
Regelmäßig Schwimmen und Radfahren brachten ihr vielleicht die olle Gelenkigkeit zurück, hoffte sie.
Der Purzelbau, schön gerade, wie es ihre Sportlehrerin es immer nannte, klappte schon; ein Handstand noch nicht, wie probierte. Geduld hieß das Zauberwort. Sie war, seit sie hier lebte zuversichtlich, dass sie es eines Tages wieder schaffte. Jeden Tag begrüßte sie ihren Entschluss, für ein Jahr auf die Insel zu ziehen. Diese Bewegungsfreiheit, das Leben ohne Angst, das Schwimmen fast täglich, die langen Spaziergänge, taten ihr mehr als gut.
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Sie wollte die Insel peu á peu mit dem Rad erkunden. Nicht nur, um körperlicher fitter zu werden, sondern auch um ihre Knipserei zu verbessern. Aus den eher schlechteren Bildern lernte sie immer wieder etwas.
In Juvre gab es Weiden, Kühe und Schafe, aber auch viele Wattvögel und natürlich den legendären Walfischzaun. Den besichtigte sie bereits in der Jugendzeit und fand den wenig spektakulär vom Aussehen.
Den ersten Vogel, den sie sah, war ein Turmfalke, falls sie nicht irrte. Sie stieg ab und wartete, bis er in Reichweite flog. Sie knipste zig Bilder von ihm. Als Nächstes bekam sie einen Rotschenkel vor die Linse. Eigentlich erwartete sie mehr Vögel, da es hier angeblich von Wattvögeln nur so wimmeln sollte. Austernfischer, der auf seine Nester aufpasste; Rotschenkel, der seine Küken hütete; Mäusebussarde, die fleißig Ausschau nach leichter Beute hielten. Da nichts passierte, knipsten sie Zottelkühe, wie sie die Hochlandrinder nannte. Rinder und Schafe sorgten dafür, dass die Weiden und die Deiche festgetrampelt waren und dem Wasser standhielten.
Nun also ab zum Wal-Zaun. Besonders gegen Ende des 18. Und 19. Jahrhunderts war ein großer Teil der männlichen Bewohner Rømøs auf Walfang im Nordpolarmeer zwischen Spitzbergen und Ostgrönland unterwegs. Einige von ihnen besetzten führende Positionen auf den Schiffen, als Kapitäne, Steuermänner und Harpunierer. Sie brachten nicht nur Geld auf die Insel, neben Waren aus aller Welt, sondern auch Kieferknochen der gefangenen Wale. Auf den Inseln dienten die Knochen als eine Art Holzersatz. Sie wurden unter anderem für Gartenzäune verwendet. So einen Walzaun gab es bei Juvre. Er ist der einzige erhaltene Zaun dieser Art auf den nordfriesischen Inseln, ist daher einzigartig und ein besonderer Anblick. Corinna fand ihn auch heute nicht besonders ansehnlich, aber er war eben etwas ganz Besonderes, pries man ihn an. Sie sagte sich, das war nun mal ein Wal, ergo etwas Seltenes.
Rømøs alten Kapitänshof, der im Jahr 1746 erbaut wurde, fotografierte sie ebenso, wie die kleine Schule. Die Klinker- oder Backsteinbauten gefielen ihr generell.
Als sie auf der Rücktour beim Købmand einkaufte, merkte sie, was ihr fehlte, ein Fahrradkorb. Marie, die dort arbeitete, wollte ihr einen bestellen, lieh ihr ihren.
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Sie schaute am Freitag immer wieder aus dem Fenster, da sie auf Lars und ihren Vater wartete. Die letzten drei Wochen waren wie im Zeitraffer verflogen.
Den Kuchen backte sie bereits morgens, da die zwei Männer richtige Schleckermäulchen waren. Der Teig für die Æbleskiver war fertig und die Pfanne dafür stand bereit. Sie wusste, die würden den beiden schmecken.
Endlich kamen sie und sie rannte hinaus, konnte nicht mehr warten. Sie fiel ihrem Vater, dann dem Bruder um den Hals. Es tat so gut sie zu sehen, im Arm gehalten zu werden, wieder einmal körperliche Wärme von jemanden zu spüren.
Sie musterte den Bruder, der sehr zufrieden aussah. Er wirkte irgendwie immer ein wenig geheimnisvoll. Vielleicht lag es daran, dass er ungeheuer attraktiv aussah, selbst heute noch. Die tiefbraunen Augen erbte er von ihrer Mutter und dazu die dunkelblonden Haare vom Vater und dessen Adlernase. Er war etwas größer als sie und sehr athletisch gebaut. Das Bekümmerte, was nach seiner Scheidung in seinem Gesicht stand, war verschwunden. Der Vater war inzwischen mit weißen Haaren gesegnet, wie er es nannte. Die waren wirklich noch voll. Seit dem Tod seiner Frau trug er auch einen Bart. Ihre Mutter mochte das nie. Die blauen Augen blickten immer noch so wachsam, wie eh und je. Die Falten sahen weder störend aus, noch machten sie alt, fand sie. Sie gehörten eben zum Leben. Auch er behielt seine schlanke Figur von früher.
Sie luden eine riesengroße Palme für den Poolraum aus dem SUV.
„Verrückt! Wie habt ihr die denn darein gekriegt“, lachte sie.
„Mit vier kräftigen Männern, schieben, biegen und gut zureden“, erklärte Lars lachend. „Raus geht es leichter.“
„Deswegen kriegst du danach auch kein Bier“, scherzte ihr Vater.
„Dad, das ist Schwerstarbeit“, zwinkerte ihr Bruder ihr zu.
Es gab natürlich ein Bier danach für alle.
Nachdem sie mit dem Esser fertig waren, fuhren sie zum Strand. Eine leichte Brise wehte heute und es war dadurch herrlich, da es die Sonne gut mit ihnen meinte. Sie spazierten gemütlich durch den Sand, immer am Rand des Wassers entlang. Lars und sie liefen barfuß. Ab und zu ließen sie die kleinen Wellen über ihre Füße rollen. Es gab ja so viel zu erzählen.
Abends gingen sie bei dem Italiener essen.
Zurück wollten Lars und sie schwimmen. Ihr Vater schaute ihnen zu, lachte zuweilen, da sie, wie die Kinder tobten, feststellte, dass Corinna immer noch besser die Bälle abschlug und fing.
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Am Samstagvormittag schlenderten sie durch die Verkaufspromenade in Lakolk. Sie stöberten in einigen der Geschäfte. Nur ihr war das alles zu teuer. Ihr Vater kaufte für alle drei Winterpullover. Für den Poolraum erstand er drei große Holzvögel, die unter der Palme stehen sollten.
Mittags gab es nur belgische Waffeln und anschließend ein Eis.
Danach sahen sie den Wellenreitern, Windsurfern und Kitern zu. Die steife Brise ließ sie über das Wasser schnellen.
„Du solltest es auch mal wieder probieren“, stellte Lars fest.
„Ich glaube, ich kann das gar nicht mehr.“
„Corinna, das verlernt man nicht. Du traust dich nur nicht.“
„Vielleicht hast du recht.“
Sie nahmen von Havneby frischen Fisch mit; beim Købmand gab es warmes Brot dazu. Sie staunte, dass ihr Fahrradkorb bereits da war, freute sich darüber.
„Du hast ein Rad?“, fragte Lars auf der Rücktour. „Musst du mir mal zeigen.“
Stolz zeigte sie ihm das Rad.
„Wow, da hat mir dir aber was Feines verkauft. Schön leicht ist es auch.“
Als sie ihm den Preis nannte, war er erstaunt.
„Für das Geld hättest du das in Hamburg nicht bekommen. Mein nächstes Rennrad kaufe ich in Ribe. Schwesterchen, aber langsam, dann wird es was“, gab er ihr einen Kuss auf die Wange.
Abends kochten sie zu dritt. Es gab Krabben, Garnelen, Rührei, Kartoffeln mit Creme fraich und Salat. Dazu zauberte Lars eine Flasche Weißwein aus seinem Gepäck.
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Die schrägen gelben Strahlen fielen durch die Bäume, als die Sonne langsam unter die Wolken sank. Sie tauchte die vom Regen gewaschenen Blätter in funkelndes Gold. Es regnete an dem Tag lange. Die nächsten schwarzen Regenwolken kamen bereits vom Meer her auf das Land.
Heute fühlte sie sich elend und allein. Ihr Vater und Lars waren mittags zurückgefahren. Lars musste heute Abend noch Bereitschaftsdienst verrichten. Das Haus war leer und sie allein. Sie versuchte sich mit Aktivitäten, putzen, räumen, Bilder sortieren, lesen, abzulenken - vergeblich. Das Gefühl der erdrückenden Stille, der Leere in ihr blieb.
Sie trank abends drei Gläser Wein, bevor sie ins Bett ging, da sie endlich durchschlafen wollte. Eventuell verschwand dadurch wenigsten ihre Schlappheit, ihre Unlust an allem.
Weit gefehlt. Kaum lag sie im Bett, war kurz eingeschlafen, weckten die Dämonen sie.
Heute tat sie das, was sie stets unterdrückte - sie weinte. Sie war zu ausgelaugt, um es auch dieses Mal zu unterdrücken. Wie ein Sturzbach wollte nun alles raus und sie konnte nicht dagegen angehen. Sie weinte ohne Unterlass, schwitzte dabei, dass selbst das Nachthemd feucht wurde, genauso wie die langen Haare, die am Kopf, an der Stirn, teilweise auf ihren Wangen und dem Hals klebten. Ihr ganzer Körper zitterte und sie besaß nicht die Kraft, das zu unterbinden. Nein, sie versuchte es gar nicht. Die Schleusen waren geöffnet und nun geriet alles in Bewegung. Die Ängste, die Demütigungen, dieses jahrelange Stalking, diese Scheußlichkeiten, aber auch die Schmerzen der letzten Jahre wollten heraus.
Nach unendlicher Zeit, wie es ihr vorkam, ließ sie sich auf das Bett fallen und schlief irgendwann ein.
Am nächsten Morgen schämte sie sich für ihren nächtlichen Gefühlsausbruch. Sie war doch kein Kind mehr.
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Das Hafenfest in Havneby begann. Sie fuhr hin, da sie sich ablenken wollte. Die letzten vier Tage waren so ereignislos verlaufen, wie der Sonntag. Sie war lustlos, träge, schlapp. Nichts machte ihr Spaß; nichts konnte sie ablenken oder begeistern. Sie kam sich wie eine 100-jährige gebrechliche Frau vor. Selbst der Fernseher konnte sie nicht von ihrer Einsamkeit, der Unlust, vielleicht sogar dem Selbstmitleid ablenken.
Bei strahlend schönem Wetter können Besucher drei Tage an Bootsbesichtigungen von Einsatz- und Rettungsfahrzeuge, Touren durch das Wattenmeer sowie einer Fischauktion teilnehmen, über den Flohmarkt schlendern oder sich in Festzelten inklusive Livemusik vergnügen, las sie.
Sie spazierte herum, sah den Seenotrettungskreuzer von außen an, daneben das Polizeiboot. Nett! Die Menschen drängten hier herum und sie schlenderte Richtung Flohmarkt. Auf dem Seenotrettungsschiff tauchte jetzt ein großer Mann auf. Sie taxierte ihn: Markantes, attraktives, gutes Aussehen, stellte sie fest. Ein Adonis! Dann verschwand er aus ihrem Blickfeld und sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Corinna, du spinnst total. Solche Männer gucken nicht nach so alten Frauen, wie du eine bist. Die sehen jüngeren, hübschen Damen nach. Für so etwas wie dich, alt, unattraktiv haben sie keinen Blick übrig. Männer für dich sind zehn Jahre älter, weniger attraktiv. Du siehst es bei Lars. Er würde für dich als Eroberung auch keinen Blick verschwenden.
Auf dem Flohmarkt waren auch reichlich Menschen, sodass man kaum in Ruhe etwas ansehen konnte. Sie bereute bereits ihren Entschluss, hergefahren zu sein.
Sie traf Mette Ekberg. Sie stellte ihr ihren Mann Claas, einen hell-rothaarigen Seebären, ihre Schwägerin Luna, eine nordischblonde zierliche Schönheit und deren Mann Magnus, einen rotblonden Hünen vor. Gemeinsam spazierten sie weiter. Die vier Personen lenkten sie wirklich ab. Man redete, lachte, erzählte von sich. Es kam ihr so vor, als wenn sie die zwei Paare schon ewig kennen würde. Irgendwie stimmte zwischen ihnen einfach die Chemie.
An Ständen probierte sie landestypische Spezialitäten, die sie ihr empfahlen. Andere Menschen gesellten sich zu ihnen. Bald waren sie eine große gemütliche, lustige Runde.
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