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Oftmals nimmt das Abartige im Leben der Menschen einen deutlich größeren Raum ein, als man auf den ersten Blick meint.
Verschleiert hinter ihren Masken tragen sie vielerlei Dinge in sich, die wir nicht für möglich halten. Einige dieser Dinge halten sie selbst nicht für möglich. Es bedarf äußerster Vorsicht, hinter diese Masken zu sehen, damit die Menschen keinen Schaden nehmen.
Markus Lawo hat eine Reihe bekannter Autor*innen gefunden, um diese Abgründe zu ergründen.
Simona Turini
Ich habe Angst im Dunkeln
Thomas Williams
Cannibal Playground
Dagny S. Dombois
Monsterzeit
Moe Teratos
Franky
A. M. Arimont
Das Gleichgewicht des Wahnsinns
Ky van Rae
Hörst du sie schreien?
Emely Meiou
Leviathan
Markus Lawo
Nachtwache
Faye Hell
Dirty Strays
Von Menschenfressern und Blutsaugern
Elli Wintersun
Ver-rückt
Markus Kastenholz
Darkham: Purpur
Colja Nowak
Sanitarium
Julia Meyer
Leidenschaft in Rot
Jutta Wölk
The Butcher
Dante Nekro
Am Ende die Wahrheit
A. C. Hurts
Der ewige Albtraum des Max W.
Bernar LeSton
Ein inneres Bedürfnis
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ABARTIGE GESCHICHTEN
ASYLUM
Herausgegeben von
Markus Lawo
IMPRESSUM
Vollständige Taschenbuchausgabe 2019
Copyright © Hammer Boox, Bad Krozingen
Lektorat & Korrektorat:
Hammer Boox, Bad Krozingen
(Fehler sind völlig beabsichtigt und dürfen ohne Aufpreis
behalten werden)
Titelbild: Markus Lawo
Satz und Layout: Hammer Boox
Oftmals nimmt das Abartige im Leben der Menschen einen deutlich größeren Raum ein, als man auf den ersten Blick meint.
Verschleiert hinter ihren Masken tragen sie vielerlei Dinge in sich, die wir nicht für möglich halten. Einige dieser Dinge halten sie selbst nicht für möglich. Es bedarf äußerster Vorsicht, hinter diese Masken zu sehen, damit die Menschen keinen Schaden nehmen.
Markus Lawo hat eine Reihe namhafter und noch nicht namhafter Autor*innen gefunden, um diese Abgründe zu ergründen.
Vorwort
Das Abartige nimmt oftmals im Leben unserer Mitmenschen einen größeren Raum ein, als wir auf den ersten Blick bei ihnen annehmen würden. Verschleiert hinter Masken tragen sie vielerlei Dinge mit sich herum, die wir, bevor sie diese freiwillig oder unter irgendeinem gearteten Zwang offenbaren, nicht im Entferntesten bei ihnen für möglich gehalten hätten. Aber gerade das Überraschende daran ist es, mit dem uns derlei Enthüllungen schockieren, ebenso die Unschuld, die wir diesen unbescholtenen Personen bis dato zugestanden hatten, die sich dann doch als wahre Bestien in Menschengestalt entpuppten. Diesen Wölfen im Schafspelz, denen Wahn und Wehe näher stehen als jegliche Vernunft oder wenigstens eine gesunde Portion Menschenverstand.
Sie, lieber Leser, werden nun Zeuge all jener Geschichten werden, die von einer Vielzahl großartiger Kolleginnen und Kollegen der schreibenden Zunft in deren stillen Kämmerchen erschaffen wurden und die der Herausgeber, Markus Lawo, hier mit seinem untrüglichen Gespür für Vielfalt zusammengetragen hat. Zudem sei Markus Kastenholz – selbst ein Großmeister des abartigen Faches, wie Sie alsbald lesend feststellen werden – dafür wahrhaft gepriesen, sie in seinem neuen Verlag - eben in dieser Anthologie - zu veröffentlichen.
Mir bleibt also nur, Ihnen – der geneigten Leserschaft – das Allerbeste zu Wünschen. Haben Sie anfänglich so viel Freude wie möglich an diesem Buch, und wollen wir hoffen, dass Sie uns auch erfreut bis zum bitteren Ende treu bleiben.
Ihr ergebenster Diener
P.S.: Ich sollte nicht unerwähnt lassen, dass Sie, solange Sie hier in dieser Nervenheilanstalt wandeln, brav auf die Beschriftungen der einzelnen Stationen achten und sich nicht gar verlaufen sollten. Eventuell treffen Sie nämlich jemanden, dem Sie nicht unbedingt über den Weg laufen sollten, weil er Sie dann schlicht und ergreifend für einen weiteren Insassen halten könnte: Lester B. Sol. Doktor seines Zeichens und einer der aufstrebendsten Jungärzte des Oakwood Asylums, den Sie sonst zu einem seiner Patienten begleiten dürfen. Vergnügt, ja fast schon beschwingt, folgt er dem langen Gang, der ihn seinem Tagwerk näherbringt. In edle Hölzer gefasst und von zahlreichen Türen beiderseits gesäumt, die bereits mit den Namensschildern ihrer baldigen Insassen versehen sind, läuft er auf ein hölzernes Treppchen zu. Deren knarrende Stiegen führen in die tieferen Regionen dieser Anstalt, in der in wenigen Tagen, bei der Neueröffnung des prunkvollen Baus, die schweren Fälle untergebracht sein werden.
Zielgerichtet steuert er dort eine bestimmte Zelle an, in der er einen seiner alten Patienten weiß, der – so Gott will – bereits sehnsüchtig auf die Behandlung durch Dr. Sol wartet.
Was dem guten Doktor auf dem Weg zu seinem Schützling durch den Kopf gehen mag, weiß sicherlich niemand so genau vorherzusagen, aber eventuell wagen wir ja einen klitzekleinen Blick. Doch lassen Sie uns dabei leise und vor allem behutsam zu Werke gehen. Nicht, dass uns der junge Mann am Ende vielleicht noch zu Schaden kommt...
INHALT
Simona Turini
Ich habe Angst im Dunkeln
Thomas Williams
Cannibal Playground
Andreas Laufhütte
Das Interview
Dagny S. Dombois
Monsterzeit
Moe Teratos
Franky
A. M. Arimont
Das Gleichgewicht des Wahnsinns
Ky van Rae
Hörst du sie schreien?
Emely Meiou
Leviathan
Markus Lawo
Nachtwache
Faye Hell
Dirty Strays
Von Menschenfressern und Blutsaugern
Elli Wintersun
Ver-rückt
Markus Kastenholz
Darkham: Purpur
Colja Nowak
Sanitarium
Julia Meyer
Leidenschaft in Rot
Jutta Wölk
The Butcher
Dante Nekro
Am Ende die Wahrheit
A. C. Hurts
Der ewige Albtraum des Max W.
Bernar LeSton
Ein inneres Bedürfnis
Simona Turini
Ich habe Angst im Dunkeln
2018
Schon als sie mich herbrachten, hatte ich ein komisches Gefühl.
Wenn man aber eigentlich ständig ein komisches Gefühl hat, dann misst man dem nicht mehr allzu viel Bedeutung bei. Die Ärzte erst recht nicht.
Klingt das zu kryptisch? Ja, das ist eines meiner Probleme.
Es lässt sich nur schwer in Worte fassen, was mich an diesen Punkt gebracht hat, an diesen Ort, den ich liebend gern wieder verlassen würde. Nach Hause gehen ist aber nicht drin, dafür bin ich zu verrückt. Das sagen die Ärzte natürlich nicht, denn das ist ein böses Wort. Niemand will verrückt sein. Und schon gar nicht wollen die Leute so genannt werden. Abgesehen vielleicht von ein paar dummen Menschen mittleren Alters, die sich selbst als »ein bisschen verrückt« bezeichnen, weil sie sich die Haare blondieren lassen und »freche« Strähnchen färben, bis sie völlig abartig aussehen, und die in Clubs gehen und zu schlechter Musik tanzen, die schon in den 80ern zu seicht fürs Radio war, und die mit einem blöden Kichern davon salbadern, dass sie »ausgeflippt« und eben »ein bisschen verrückt« seien, um der Welt und sich selbst einzureden, dass ihre lahmen Jobs und ihre 08/15-Familien der Gipfel des guten Lebens sind. Immerhin gehen sie ja trotz allem noch »aus«. Diese Leute sind nichts als langweilig und diese Leute haben nichts mit dem zu tun, was man an Orten wie diesem mit Fug und Recht als »verrückt« bezeichnen könnte, wenn man es denn dürfte.
Aber ich schweife ab.
Nun, ich bin tatsächlich verrückt. Ohne freche Strähnchen im Haar, dafür mit Diagnose. Ich habe Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Denkstörungen und eine ausgewachsene Paranoia, kurz: eine Psychose.
Und Angst im Dunkeln.
Zurück zu meinem merkwürdigen Gefühl. Es begann damit, dass mir die Flure hier zu finster erschienen. Irgendwie finsterer, als sie sein sollten mit all ihren Fenstern und Oberlichtern und Lampen. Zu viele Schatten, in denen Dinge lauern können. Schatten sind mir nichts. Die sind gefährlich. Sie sind kleine Ableger von Dunkelheit, und in der Dunkelheit lauert das Böse.
Das war mir schon lange vor der Psychose klar. Das sollte im Grunde jeder wissen. Keine Ahnung, wie ein normaler Mensch es wagen kann, mitten in der Nacht das sichere Bett zu verlassen, um, sagen wir, aufs Klo zu gehen oder sich ein Glas Milch zu holen, und dabei das Licht nicht einzuschalten. Was da alles passieren kann! Monster, Geister, Ghoule, Ratten, Zombies, Wertiere, lebendige Gemälde, plötzlich ausbrechende Feuersbrünste, plötzlich auftauchende Wasserpfützen am Boden, Eindringlinge jedweder Art. Ich würde das nicht riskieren. Ist schließlich nicht schwer, mal kurz das Licht anzumachen.
In einem Gebäude wie diesem, mit so vielen Schatten, kann vieles lauern. Erst recht, wenn in dem Gebäude derart viele Menschen leben, die etwas mitgebracht haben. Schon nach wenigen Schritten in diesem düsteren Flur war mir klar, dass es hier vollkommen überfüllt ist.
Aber vielleicht sollte ich Ihnen endlich erzählen, wer ich bin und was ich hier verloren habe. Und vor allem: Warum ich definitiv nicht so bald zurück nach Hause darf.
1918
Nachts hörte sie immer das Weinen. Die Schreie und das Stöhnen aus den Nachbarkammern konnte sie ausblenden, aber dieses leise Weinen zehrte an ihr. Die andere Frau, die, die nichts sah, sie weinte nachts. Jede Nacht.
Auf ihrer schäbigen Matratze in die viel zu dünne Decke gewickelt, überlegte Teresa, wie sie dieses Weinen beenden könnte. Nicht aus Mitleid – die andere war ihr gleichgültig – sondern, um Ruhe zu haben, endlich wieder Ruhe.
»Wie ist das?«, fragte sie auf gut Glück ins Dunkel.
Das Schluchzen brach ab, die Frage hing im Raum.
»Wie ist was?«, kam es schließlich von der anderen Zimmerseite zurück.
Die Stimme der Anderen klang näselnd, irgendwie feucht. Das kam vom Weinen, von der verstopften Nase, die die Andere jetzt leise hochzog.
»Wenn man so ist wie du«, sagte Teresa. »Blind.«
Kurz herrschte Stille, nur unterbrochen vom Schnüffeln der Anderen. Dann erklang wieder deren dünnes, nasses Stimmchen: »Dunkel ist’s. Ganz duster. Bin nicht blind, weißt. Bin nur halb blind. Kann Lichter sehen und Umrisse.«
Teresas Frage hatte offenbar Wirkung gezeigt. Das Schnüffeln aus Richtung der zweiten Pritsche in ihrer gemeinsamen Kammer nahm ab. Die Andere schien zu warten.
Erwartungen konnte Teresa nicht leiden. Die legten sich auf ihr Gemüt wie eine dicke, stinkende Decke, und dann wurde es um sie herum auch immer dunkel und die Wut stieg auf. Düster und stickig wurde ihr dann. Sie hasste das. Wann immer sie zur Therapie musste, geschah ihr das. Immer diese Erwartungen von den Ärzten, dass sie auf einmal anders sein möge, normal. Sie musste noch eine Frage stellen, damit die Erwartung der Anderen erfüllt wurde, und dann würde Teresa hoffentlich endlich schlafen können.
»Siehst auch Umrisse von Menschen?«, flüsterte sie.
Die Andere überlegte wieder und Teresa schloss die Augen. Je länger das Schweigen dauerte, desto mehr erlaubte sie ihrem Körper Entspannung. Sie driftete gen Schlaf, still und schwer und wunderbar erleichternd.
»Menschen, Sachen, ist doch dasselbe. Ich seh‘ Umrisse von allem, was mir in den Weg kommt. Wenn’s hell ist nur. Im Dunkeln seh‘ ich nichts. Da bin ich richtig blind.«
Die Stimme der Anderen schnitt fast schmerzhaft in Teresas Ohr, riss sie aus der Tiefe des Einschlafens wieder ein Stück nach oben. Neuer Ärger vertrieb die Entspannung.
Erwartungen waren dafür keine mehr da, sie musste nicht reagieren.
»Weißt, das Dunkel ist das Schlimmste. Das tut mir weh. Dann kann ich nicht gehen oder was machen, dann kann ich nur stocksteif liegen. Dann wein‘ ich. Und dann, dann kommt der Erwin, weißt. Liegt er nicht auch bei dir? Ich erkenn‘ ihn am Geruch, den Erwin. Der riecht wie ein Galgen. Und der schmeckt auch so, nach Holz und Tod. Und wenn der kommt, wenn’s duster ist, dann kann ich mich gar nicht wehren, nicht mal rufen kann ich dann. Nur weinen. Hörst das nicht? Und der Erwin, der tut auch viel mehr weh als das Dustere. Immer, immer ...«
Die Andere brabbelte weiter vor sich hin vom Erwin und was der so alles tat, wenn es dunkel war und sie auf ihren Pritschen lagen, manchmal sogar festgeschnallt.
Teresa war es gleich, was der Erwin machte oder nicht machte, ob mit ihr oder der Anderen. Teresa hatte Medizin, die sie vergessen ließ. Sie hatte wohl davon gehört, wie er die Frauen auf der Station beguckte und anfasste und noch schlimmer, aber sie war sicher: Ihr blieb das erspart. Hässlich war sie, ohne Haare am ganzen Körper und blass und fett. Da wollte sicher nicht mal der Erwin ran, obwohl sie doch immer so fest schlief.
Wenn Teresa schlief, war das wie tot sein. Dann war sie weg, ganz weit weg, und merkte nichts. Das wünschte sie sich jetzt: die Ruhe ihres kleinen Todes. Also blendete sie das Geplapper der Anderen aus wie die Schreie und das Stöhnen auf dem Flur. Das fiel ihr leichter, als wenn die weinte. Langsam kehrte die Schwere in ihre Glieder zurück. Sie überließ sich dem Schlaf.
»Und weißt«, klang es noch von drüben, »jetzt hat er mir eins gepflanzt, der Erwin. Ich bin ganz sicher. Ganz sicher bin ich, dass ...«
2018
Immer, wenn es dunkel ist – sei es nachts zuhause oder auf der Straße oder auch tagsüber in einem besonders dichten Wald oder einem Tunnel oder so – sehe ich Dinge.
Sie brauchen Beispiele, oder? Gut, die sollen Sie haben. Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt!
Also, einmal war ich nachts mit dem Auto unterwegs, eine Straße im Wald, eng, gerade mal zweispurig. Da bemerkte ich etwas am Straßenrand, knapp neben dem Lichtkegel des Scheinwerfers. Erst dachte ich an ein Reh oder einen Fuchs, irgendein Waldtier eben, aber dafür war es viel zu groß. Und dann war ich auch schon dran vorbei. Ich grübelte noch kurz, ob da vielleicht ein Mensch gestanden hatte, die Form würde hinkommen. Wie ein großer, dünner Mann in einem Mantel mit einem Hut mit Krempe hatte das ausgesehen. Dann grübelte ich kurz, ob ich vielleicht wenden und nachsehen sollte, ob der Kerl Hilfe bräuchte.
Als ich gerade zu dem Schluss kam, dass er dann ja wohl gewunken oder sonst wie auf sich aufmerksam gemacht hätte, sah ich dasselbe noch mal. Dieselbe Situation, wie ein Déjà-vu, mehr noch, wie in der »Twilight Zone«: Knapp außerhalb des Lichts, das mein Wagen auf die Straße und das Dickicht daneben warf, stand eine Gestalt.
Ein paar Meter weiter wieder, aber näher, besser zu erkennen. Und wieder. Und wieder.
Es war wirklich ein Mann in Hut und Mantel, groß und dünn. Bis ich aus dem vermaledeiten Wald raus war, hatte ich diesen Kerl siebzehneinhalbmal gesehen – das halbe Mal deswegen, weil ich irgendwann mit den Nerven so fertig war, dass ich ziemlich angestrengt nur noch auf den schwachen Mittelstreifen stierte, um nur ja den Kerl nicht wieder sehen zu müssen. Aus den Augenwinkeln sah ihn dann aber eben doch, halt nicht so richtig.
Merken Sie was? Es gibt kein Entkommen.
Und dann war da das Mal auf dem Balkon, nachts, als ich noch eine rauchen wollte. Derselbe Kerl, aber im Garten der Nachbarn, neben der Bank, die beim Apfelbaum steht. Ich bin sicher, er starrte zu mir hoch. Da hab ich das Rauchen aufgegeben.
Und dann war da mal diese mysteriöse Pfütze in meiner Küche.
Und dann war da mal der Geist einer Ratte im Waschkeller, kurz bevor die Glühbirne durchbrannte und ich schreiend wegrannte.
Und dann waren da die Geräusche in der Nacht.
Und dann sind da immer diese Lichtblitze im Zwielicht, bei denen ich nie sicher sein kann, ob ich wirklich etwas sehe, ganz außen in den Augenwinkeln, oder ob das eingebildet ist oder ob vielleicht mit meinen Augen etwas nicht stimmt.
Reicht das? Verstehen Sie jetzt, warum meine Probleme so schwer zu erklären sind und warum ich definitiv nicht durch dunkle Gänge oder Zimmer oder Tunnel laufen will?
Eben.
1968
Es trieb ihn fast in den Wahnsinn, dieses Geheule. Ständig hörte er eine Frau weinen, wo immer er hinging, was immer er machte, in seinen Ohren klang das Weinen und Schluchzen einer jungen Frau. Es hatte angefangen, als er in seiner ersten Nacht in dieser Anstalt nicht hatte schlafen können. Und jetzt war das Weinen ständig da. Nicht mal sein Essen konnte er noch genießen. Als wäre das nicht ohnehin schwer genug bei den kargen, geschmacklosen Mahlzeiten aus der Klinikküche.
Sein Arzt führte das auf seine Krankheit zurück und schrieb ihm großzügig Medikamente auf, aber die wollte er nicht nehmen. Das war doch auch dumm, die angebliche Krankheit war doch in Wahrheit er, sein Wesen, sein ureigenes Sein. Er wollte sich nicht chemisch verändern lassen, um so zu werden, wie die Gesellschaft ihn haben wollte. Wenn sein Körper den Schlaf wirklich brauchte, würde er schon einschlafen. Das tat er doch immer wieder, alle paar Stunden nickte er weg, bis ihn das Weinen wieder hochfahren ließ.
Die Schwestern und Ärzte ließen ihn nicht in Ruhe, wollten ihm immer mehr von ihrem Medikamentendreck einflößen. Aber er verweigerte standhaft die Einnahme. Er kannte die Tricks, kannte alle Verstecke für die Pillen, wenn man sie nicht schlucken, wohl aber so tun wollte, als schluckte man. Diese Anstalt war wahrlich keine von den Guten – es schien niemanden zu kümmern, ob er sich an die Behandlung hielt oder nicht. Es kümmerte auch niemanden, ob er sich an die wenigen Regeln hielt oder nicht. Hauptsache, er machte keinen Ärger. Hauptsache, seine Mutter zahlte.
Von wegen Schafmangel führe zu Halluzinationen und Organschäden und was nicht alles. Er lebte noch, nach all den Jahren, und auch wenn seine Mutter das anders sah und verlangt hatte, dass er in diese Klinik ging und sich behandeln ließ, wusste er doch, dass er im Recht war. Sein Leben war ein Gutes. Anders als das der anderen Menschen, das war ihm klar, und vielleicht auch ein bisschen einsamer, weil die meisten Frauen rasch überfordert waren, wenn er nächtelang nicht schlief und dafür tagsüber immer wieder ausgeknockt wurde.
Gut, auch seine Tiefs waren schwer erträglich, für ihn selbst und für sein Umfeld. Aber das ließ sich aussitzen, und auf jedes Tief folgte eines der wundervollen Hochs, eine Zeit voller Freude und überbordender Kreativität. »Bipolar« nannten sie das hier und wollten ihn mit den Pillen »ausbalancieren«. Im Grunde hieß das, dass sie ihn lau halten wollten, in einem öden Stupor medikamenteninduzierter Gleichgültigkeit. Wenn er die Pillen nahm, war er langweilig und ihm war langweilig, immer. Nichts begeisterte ihn, nichts berührte ihn. Lau eben. Wie das graue Leben der anderen Menschen.
Darauf hatte er keine Lust, er wollte er sein.
Wenn nur dieses Weinen nicht wäre, das ihn noch weniger zur Ruhe kommen ließ, als sowieso schon. Vielleicht sollte er versuchen, mehr darüber herauszufinden? Aus ihm selbst stammte es nicht, auch wenn die Ärzte ihm das einreden wollten, denn er hatte nie zuvor Weinen gehört. Stimmen, ja. Ideen und Gedanken eben, wie sie doch jeder hatte. Manchmal auch Musik, was großartig war, verdiente er so doch sein bisschen Geld. Nicht umsonst war er der beste Jazzmusiker der Stadt gewesen, ehe seine Mutter die Nase voll gehabt und ihn eingewiesen hatte. Sie war es leid gewesen, dass er in ihrem Keller hauste und ständig von irgendwo abgeholt oder hingebracht werden musste. So viel zur Liebe einer Mutter – er war auch dieser Frau zu viel geworden.
Wenn die Nachtschwester heute ihren letzten Rundgang gemacht hatte, würde er sich auf die Suche begeben. Er würde die Quelle dieses Weinens finden, die mysteriöse Frau trösten und dann wieder schlafen können.
Guter Plan. Der gefiel ihm.
2018
Jetzt wissen Sie Bescheid über mich und meine lustige Psychose. Das macht nicht gerade besonders viel Spaß, aber immerhin kann niemand behaupten, mein Leben wäre langweilig. Ha, Ha.
Sorry. Musste sein. Ein bisschen Galgenhumor und so. Immerhin sind wir jetzt so weit, dass Sie erfahren können, warum ich hier niemals wieder herauskommen werde: Gefahr der Selbstverletzung aufgrund panikartiger Reaktionen auf Angstbilder.
Ich kann es gerade nicht wirklich gut finden, dass ich voraussichtlich den Rest meines Lebens hier verbringen muss, denn was in diesem Haus geschieht, was hier wohnt, hilft mir nicht unbedingt bei der Genesung. Dabei gebe ich mir wirklich Mühe: Ich höre zu in der Gruppentherapie, erzähle auch ganz offen und ehrlich von mir und meinem Werdegang (obwohl das meinen Mitpatienten eine Heidenangst einjagt), höre auf die Pfleger und Ärzte, nehme meine Pillen und Tropfen, mache den Sport mit und esse gesund und ausreichend, verzichte auf Alkohol und schlafe, wenn man mich schlafen lässt.
Das Problem an meinem Aufenthalt hier, das, was mich so sicher macht, dass ich hier nicht wieder gesund werden kann, ist das Haus.
Ja, Sie haben richtig gehört: Das Gebäude an sich macht mir zu schaffen. Die Geschichten, die es mir erzählt, wenn ich in meinem Bett liege und schlafen soll. Im Dunkeln. Die Geschichten, die es in meine Träume pflanzt. Geschichten von Männern und Frauen, die genau wie ich hierher geschickt wurden, um ihren Familien nicht mehr auf der Tasche zu liegen, oder um weiter ihr Krankengeld zu kriegen, oder – im Idealfall – um wieder gesund und als funktionierendes Mitglied der Gesellschaft zurück in den Schoß eben dieser Gesellschaft entlassen zu werden.
Ein Traum!
Klappt nie.
Das weiß ich.
Das Haus erlaubt es nicht.
Glauben Sie nicht?
1918
Teresa wollte nicht in den Keller, aber die Andere – Marion, so hieß sie – hatte darauf bestanden. »Wir sind doch Freundinnen!«, hatte sie gesagt, ein bisschen atemlos von der Aufregung. »Du redest doch immer mit mir. Das machen nur Leut‘, die einen gernhaben. Das hat meine Oma immer gesagt. Freundin!«
Dabei hatte sie gelächelt und Teresa hatte auf einmal doch so was wie Mitleid verspürt, denn die Andere war so erbärmlich. So schwach. Sie fand keinen Trost im Schlaf, in der Nacht, hatte nicht den kleinen Tod, der Teresa so gut half.
Also stand sie jetzt hier, eine Lampe in der Hand, und blickte die Kellertreppe hinab. Langsam schlichen die beiden Frauen in die Tiefe. Marion ging hinter Teresa und klammerte sich an deren Arm. Sicher, sie konnte nichts sehen. Teresa war ein wenig erstaunt – die Andere vermochte sich doch sonst nicht zu bewegen vor lauter Angst, wenn die Dunkelheit sie umschloss. Das kleine Lämpchen spendete doch unmöglich genug Licht, dass Marion etwas erkennen konnte. So sehr wollte sie in den Keller, so sehr wollte sie einen Weg finden, ihr Kind zu retten, das Kind vom Erwin. Teresa verstand das nicht. Der Erwin war böse, da konnte doch aus seiner stinkenden Saat kein guter Mensch entstehen.
Die alte Fabia hatte ihnen erzählt, dass sie auch mal ein Kind gehabt hatte, ein perfektes, reines Wesen, das eines Tages einfach so aus ihrer Scham geschlüpft war und das die Fabia so geliebt hatte, dass es fast wehtat. Aber plötzlich war das kleine Ding weg gewesen, und die Fabia war festgeschnallt worden und musste in ihrer Kammer bleiben und kam nur immer mal wieder in das schlimme Zimmer, wo man den Frauen die Lederriemen umlegte und ihnen dann wehtat mit der Maschine, die immer so surrte. Fast hätte sie sich dabei die Zunge abgebissen, hatte die Fabia erzählt und sie wie zum Beweis weit rausgestreckt, ein kleiner rosa Lappen in einem kleinen schwarzen Mund.
Teresa hatte nur genickt und gehofft, bald hier wegzukönnen, aber die Marion hatte immer weiter gefragt. In jener schicksalhaften Nacht, als Teresa ihre erste Frage an Marion gerichtet hatte, um nur einfach ein wenig Ruhe zu kriegen, hatte sie ein Loch gerissen in das Schweigen der Anderen. Jetzt redete die wie ein Buch, und am meisten mit der Teresa.
Und weil die nie zuhörte, gar nicht wissen wollte, was die Marion bewegte, nickte sie immer nur, und deshalb stand sie jetzt im Keller, mit einer blinden Frau, die kicherte wie ein Kind, das etwas Verbotenes tut. Und das war es ja auch: verboten. Sie würden sie erwischen und in das schlimme Zimmer bringen, und das gefiel der Teresa nicht. Aber zurückgehen, das ging jetzt auch nicht mehr. Wenn sie schon bestraft wurde, wollte sie zumindest wissen, was sie hier im Keller suchte.
Sie schlich einen langen Gang entlang, der von ein paar Lichtern hoch oben an den Wänden schwach erleuchtet wurde.
»Links«, flüsterte Marion. »Links soll eine Tür sein, aus Holz und Eisen. Das hat die Fabia gesagt, und die weiß das bestimmt. Da sind die Kinder, sagt sie. Da müssen wir hin, die Kinder holen. Dann kann ich meins bestimmt behalten, wenn die oben sehen, wie gut wir mit unseren Kindern sind!«
Teresa erinnerte sich. Ständig redete Marion von dem Baby, das sie angeblich im Leib hatte, dem Baby vom Erwin, und dass sie es haben wolle, dass sie das bei sich haben wolle, damit sie nicht immer so viel Angst haben müsse. Teresa verstand das nicht recht. So ein Kind, das weinte doch ständig. Wenn die Marion ein Kind bei sich hätte, bei ihnen in der engen Kammer mit den zwei harten Pritschen, dann war sicher keine Ruhe mehr. Lieber sollte die Marion das lassen.
»Willst du das wirklich haben, so ein Kind?«, fragte sie leise, hoffend, die Andere würde verneinen und sie könnten wieder hinauf in den Saal schleichen und vielleicht ein wenig aus dem Fenster schauen.
»Aber ja. Das ist doch mein Kind. Das ist doch meins. Dann bin ich nicht mehr allein und alles wird wieder gut.«
»Aber du wärst doch immer noch hier und immer noch blind.«
»Aber ich könnt fühlen«, flüsterte die Andere und klang bekümmert.
Teresa schlich also weiter, bis sie zur Linken wirklich eine Tür fand, die aus Holz war und dicke Eisenbeschläge hatte. Sie wusste nicht recht, was sie nun tun sollte. Der Saal war sonst immer abgesperrt, damit die Frauen nicht wegkonnten, und die Schwestern guckten immer wieder nach ihnen, aber irgendwie hatte die Fabia es geschafft, dass der Saal heute offen geblieben war. Die Kellertür, die war auch offen gewesen. Aber wenn in jener Kammer Kinder wohnten, dann war diese Türe doch sicherlich versperrt, damit die nicht raus konnten.
»Was stehst?«, fragte Marion.
»Da ist die Tür von der Fabia«, sagte Teresa.
»Mach auf! Was wartest du?«
Vorsichtig drückte Teresa die Klinke nieder, und zu ihrer Überraschung schwang die Türe leise und leicht nach innen. Sie trat ein, immer dicht gefolgt von der Marion, die sich aufgeregt an ihren Arm klammerte.
Drinnen war es stockdunkel. Teresa hob ihre Lampe. Keine Kinder, dafür war es viel zu leise. Sie hörte nur ein Tropfen aus einer der Ecken und roch die Feuchtigkeit dieses Raums. Als sich ihre Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten, sah sie Regale um Regale, die die Wände säumten.
Marions Griff verstärkte sich noch, baute eine Erwartung auf, die Teresa sofort rasend machte. Sie schüttelte unwirsch den Arm und ließ die Andere einfach stehen. Weg von ihr, bloß rasch weg, nachsehen, was das hier war, dann wieder gehen und diese dumme Geschichte vergessen. Kinder! Wo sollten denn hier Kinder sein? Das Haus ließ keine Kinder zu, das wusste Teresa.
Sie näherte sich einem der Regale, die Lampe vor sich ausgestreckt. Ihre Hand zitterte, ob vor Wut oder Angst, vermochte sie nicht zu sagen.
»Verlass mich nicht!«, schluchzte hinter ihr die Marion, die, nun wieder blind und schutzlos, stocksteif an der Tür stand.
Teresa ignorierte sie.
Das Regal war voller Gläser, Schraubgläser, wie zum Einkochen, in unterschiedlichen Größen. Sie leuchtete die an, die ihr am nächsten waren, und schrak zurück. Da waren sie ja, die Kinder. In den kleinen Gläsern kaum zu erkennen, winzige Molche und Fischlein, ungeformt und blass. In den großen Gläsern Püppchen mit kahlen Schädeln und starrenden schwarzen Äuglein. Sie wirkten erstaunt, dass sie so beguckt wurden, und Teresa wollte sich auch am liebsten abwenden, schritt dann aber wie eine Marionette die Reihen der Regale ab.
Da waren kleine Babys, fertig und sicherlich mal lebendig, jetzt aber tot und mit Haut, die sich in feinen Fetzen löste und in der trüben Brühe schwamm, die sie in den Gläsern konservierte. Große Köpfe, kleine Körper, Fingerchen und Zehen. Da waren auch welche, die noch nicht fertig waren, noch keine Fingerchen hatten, sondern nur die Schwimmflossen der frühen Entwicklung.
Teresa kannte den Anblick der unfertigen Wesen von dem, was man bei ihr zuhause immer mit den Frauen gemacht hatte, die auch das Schreien und Fordern der Kinder nicht mehr ertragen hatten und kein Geld, um noch mehr von ihnen zu füttern und zu versorgen. Ihre Mutter war bezahlt worden, den Frauen die Last ihrer Schwangerschaften zu nehmen, und ihr war es egal gewesen, wie rund die Bäuche schon waren.
»Was siehst?«, kam es unter Tränen von der Marion. »Siehst die Kinder? Warum sagen die denn nichts?«
Teresa wusste nicht recht, wie sie reagieren sollte. Der Anblick war ihr vertraut und die Kinder egal, doch sie hatte gelernt, dass manch einer anders dachte als sie und ihre Mutter. Dass manch einer die kleinen Kreaturen mochte oder gar liebte und sie nicht missen wollte, wenn sie erst einmal auf der Welt waren. Und Marion hatte ja nun so eine in ihrem Leib.
»Da ist nichts«, sagte sie also und beschloss, der Marion auch nichts weiter zu erzählen, dass nicht das nächtliche Weinen wieder anfing.
»Das kann aber doch nicht sein, die Fabia hat’s doch gesagt!«, wandte die Andere ein. »Das ist gewiss die falsche Tür. Lass uns die richtige suchen und die Kinder nach oben holen.«
Teresas Wut kehrte zurück. »Hier gibt’s keine anderen Türen. Hier gibt’s auch keine Kinder, versteh das doch! Wegen dir kommen wir ins schlimme Zimmer, du blöde Kuh. Lass es gut sein!«
Schockiertes Schweigen war die Antwort, wischte die giftige Erwartung aus der feuchten Kammer. Teresa wurde wieder ruhig. Sie ging zurück zu der Anderen und legte deren Hand auf ihren Arm. Dann führte sie sie zurück nach oben, hoffend, keiner der Schwestern zu begegnen, bis sie wieder im großen Saal waren.
1968
Endlich war es soweit. Endlich konnte er sich auf die Suche machen. Er vibrierte regelrecht vor Aufregung, sein Kopf war ein Gewirr und Gesumme, voller Ideen und Pläne. Das Weinen hörte niemals auf, es war ein stetes Hintergrundgeräusch, übertönte manches Mal sogar seine Musik. Heute würde er das nutzen, würde dem Störgeräusch folgen und dessen Quelle entdecken, würde herausfinden, warum es da war und dann, ja, dann würde er es abstellen.
Er schlich zu seiner Zimmertür, lauschte kurz am plastikfurnierten Holz, drückte dann so langsam und leise wie möglich die schwere Klinke und zog die Tür ein Stück auf. Wie ein Agent in einem Spionage-Thriller spähte er durch den Spalt, erkannte aber auf dem nur mit einigen Notlichtern beleuchteten Flur nichts. Vermutlich agierte er weniger wie ein Geheimagent in einem erstklassigen Thriller und vielmehr wie eine verängstigte Jungfrau in einem billigen Filmchen. Er zog die Tür ganz auf, schlüpfte hindurch und wartete, bis der Türschließer sie fast ins Schloss gezogen hatte. Dann stoppte er sie mit der Hand und machte sie vorsichtig zu. Innerlich jubilierte er: Er hatte das erste Hindernis überwunden und war nicht an einer laut ins Schloss fallenden Zimmertür gescheitert. Das war ein gutes Omen für sein Vorhaben!
Wieder lauschte er. Aus den Fluren drang kein Laut. Die anderen Patienten schliefen sicher selig, die Medikamentenausgabe machte es möglich. Dummerweise wies auch das Weinen nicht auf eine bestimmte Quelle im Haus hin. Verwirrt legte er den Kopf schief. Ein seltener Moment der Klarheit tat sich auf. War das Geräusch etwa doch nur Einbildung?
Keine Chance, das war unmöglich. Es. Hatte. Erst. Hier. Angefangen.
Er. Hatte. Es. Vorher. Noch nie. Gehört.
Dann zuckte ein Wort durch seinen Geist: Keller. Natürlich! Mysteriöse Geräusche in einer Irrenanstalt? War doch klar, dass er im Keller nach dem Ursprung suchen musste. In solchen Geschichten lag das Grauen doch immer im Keller. Und dass er Grauenhaftes finden würde, war ihm vollkommen klar. Das Weinen klang danach.
Im Erdgeschoss angelangt wartete er, bis der Nachtportier oder Nachtpfleger oder wie auch immer der Typ hieß, der hier saß und wartete, mit seiner Zeitung in Richtung Klo verschwand und suchte den Zugang zum Keller. Er fand eine unbeschriftete Tür und stellte enttäuscht fest, dass sie abgeschlossen war. So ein Mist aber auch. So endete also sein Abenteuer. Er stand ratlos vor der Tür. Einer unerklärlichen Eingebung folgend, klopfte er dann vorsichtig an. Das Weinen verstummte kurz und die Tür schwang auf.
Verdutzt starrte er auf eine Treppe, die in das Dunkel führte. So finster hatte er es sich nicht vorgestellt. Er holte tief Luft und trat vorsichtig auf die erste Stufe. Dann zog er sich wieder zurück. Das Erdgeschoss war besser beleuchtet als die Flure mit den Patientenzimmern. Gegen das Licht hier wirkte der Gang vor ihm wie ein düsterer Schlund, mysteriös und gefährlich. Er überlegte, was er tun sollte. Das Weinen hatte wieder angefangen und klang jetzt lauter als zuvor. Das hieß doch, dass er eindeutig auf der richtigen Spur war.
Um seiner zukünftigen Ruhe willen nahm er all seinen Mut zusammen und ging die Treppe hinab. Vollständige Dunkelheit umfing ihn, als die Kellertür sacht hinter ihm ins Schloss glitt.
Dann bemerkte er, dass die Dunkelheit gar nicht so vollständig war. Ein bläuliches Glühen strömte ihm vom Fuß der Treppe entgegen. Das Weinen wurde lauter, je näher er dem Glühen kam, und auch seine Furcht nahm zu. Das war wohl doch keine so gute Idee gewesen. Sollte er umkehren, zurück auf sein Zimmer gehen und das Weinen ignorieren? Vielleicht half die Medizin ja doch dagegen, wenn er sie nur einnahm. Vielleicht half sie, ohne ihn zu verändern ... Aber er konnte nicht umkehren. Er hasste es, etwas anzufangen und es dann nicht zu Ende zu bringen.
Also ging er weiter, ging zu dem Glühen, das vor seinen Augen langsam die Form änderte, sich ausbreitete. Zu der Silhouette einer Frau wurde. Sie stand gebeugt vor ihm, die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte. Sie war es, sie war die Quelle seines Störgeräuschs. Und sie wirkte ganz harmlos.
Sein nächster Schritt war klar: Er würde ihr helfen.
»Hallo«, sagte er sanft und streckte seine Arme nach ihr aus.
Sie ließ die Hände sinken und hob den Kopf. Plötzlich wirkte sie gar nicht mehr so harmlos. Ihr Gesicht war merkwürdig verzerrt und ihre ganze Gestalt schien zu flimmern, wandelte sich von der schlanken Weinenden zu einer fetten Matrone mit geballten Fäusten und zurück. Und ihre Augen, oh Gott, diese riesigen Augen. Größer, als menschliche Augen sein sollten, starrten sie ihn böse an.
Instinktiv zog er seine Arme zurück und wich ein paar Schritte nach hinten, da öffnete sie auch schon den schiefen Mund zu einem verzogenen Loch und raste auf ihn zu. Er konnte es nicht beschreiben, sie lief nicht, ging nicht, schwebte nicht, war einfach nur plötzlich da, wie in einem Film, wenn sich ein Geist auf einmal viel zu schnell bewegt. Im einen Moment sah er sie den Kopf heben, im nächsten blickte er in die viel zu großen Augen, die viel zu nah vor seinem Gesicht schwebten, und wieder im nächsten war sie weg.
Wenn sie diese Richtung beibehalten hatte, so ahnte er, dann war sie nicht einfach verschwunden. Dann war sie durch ihn hindurch verschwunden. Ihm wurde übel.
2018
Das Haus erzählt Geschichten, und die Geschichten sind noch viel düsterer als die elenden Gänge, die langen, finsteren Gänge, so finster wie die Gesichter derer, die hier arbeiten. So finster wie die Stimmen derer, die mich heimsuchen und erzählen, erzählen, erzählen...
Ich würde ja mit meinem Arzt über meine Probleme mit dem Gebäude sprechen, aber ganz ehrlich: Als ich zuletzt einem Therapeuten erzählt habe, was mich belastet, was mit mir los ist, bin ich hier gelandet.
Was soll es also bringen?
Vermutlich sollte ich fliehen.
1918
Natürlich waren sie erwischt worden, als sie nach ihrem Besuch im Keller zurück in den großen Saal geschlichen waren. Geschimpft hatte die Schwester, laut und lang, und dann den Erwin gerufen, dass er Teresa in das schlimme Zimmer bringen möge und die Marion an ihrer Pritsche anbinden. Das hatte der Erwin nur zu gerne gemacht. Die Teresa hatte bang auf den Doktor gewartet, mit Lederriemen an die Liege im schlimmen Zimmer gefesselt, und hatte die weißen Wände angestarrt und überlegt, was sie nun machen sollte mit der Marion.
Das Balg in deren Leib würde in dem Raum im Keller enden, das wusste Teresa sicher. Was dann mit der Marion geschah, war dagegen ungewiss. Das Weinen würde wieder anfangen und sicherlich nicht durch ein paar gleichgültig hingeworfene Fragen abzustellen sein. Überhaupt hatten sie diese dummen Fragen doch erst hierhergebracht.
Dann war der Doktor gekommen und hatte sie an die metallene Maschine angeschlossen und dann hatte es wehgetan und dann wusste Teresa nichts mehr.
Jetzt lag sie erschöpft auf der Pritsche und lauschte dem Weinen Marions. Die Erschöpfung saß so tief, dass sie das Weinen nicht mal wütend machte.
»Sie haben’s kaputtgemacht, ich weiß es«, sagte Marion irgendwann.
Teresa ignorierte sie.
»Hörst? Es ist kaputt.«
Die Erwartung einer Reaktion bedrückte Teresas geschundenen Körper, ihre müde Seele. Also gab sie Antwort: »Was meinst? Das Kind?«
»Ja. Warst lang im schlimmen Zimmer, und der Erwin lag bei mir und es hat so wehgetan, und dann kamst wieder und lagst schlafend, ganz lang, und ich musst ins schlimme Zimmer, und jetzt ist’s kaputt, mein Kind.«
»Dann ist’s eben so«, sagte Teresa müde. »Wenn’s uns hier so schlimm ergeht, dann kann doch so ein Kind auch nicht glücklich werden.«
Das Weinen verstummte, erholsame Stille hing kurz in der Kammer. Doch dann fing Marion schon wieder an, wollte einfach keine Ruhe geben. »Aber es ist doch noch in mir drin. Es wächst doch noch. Es ist nur kaputt. Ich will’s nicht mehr, Teresa, ich will’s nicht.«
»Vielleicht geht’s ja von selbst weg. Weißt doch, wie das geht.«
»Nein, das wird’s nicht. Das weiß ich sicher. Teresa, du musst mir helfen!«
Wieder drückte die Erwartung Teresa nieder und die Wut tobte in ihr. Sie hob die Stimme: »Was soll ich denn tun? Da kann man nichts tun! Da musst jetzt durch!«
Ruhe. Endlich Ruhe. Teresa spürte das willkommene Abdriften in den Schlaf. Bis die dünne Stimme der Anderen sie erneut aufstörte:
»Ich bitt dich, sei ein Christenmensch und hilf einer Freundin«, flüsterte Marion leise, ganz leise.
Teresa wollte ihren Schlaf. Oft schon hatte sie erfahren, dass man sich überwinden muss, die Schwere der Glieder verdrängen und etwas tun, auf dass danach die Ruhe zurückkehren kann. Sie bewegte sich vorsichtig, stellte fest, dass sie nicht angebunden war, und richtete sich langsam auf. Schwindel übermannte sie, doch als der verging, fühlte sie sich besser, stärker, und so erhob sie sich und ging zu Marion.
Sie berührte sie an der Schulter. Marion war an die Pritsche gefesselt. Das war gut, so konnte sie nicht runterfallen, wenn Teresa tat, was von ihr verlangt wurde, denn es war ja niemand da, der die Andere festhalten konnte.
»Ich brauch aber doch Werkzeug«, erklärte sie.
»Schau unters Kissen. Die Fabia hat eine Rassel gemacht für mein Kind, als Dank, dass ich ihr ihr Kind wiederbring.«
Marion hob den Kopf, soweit das Band um ihre Stirn das zuließ, und Teresa tastete unters Kissen. Sie fühlte etwas Längliches mit rundem Kopf, fest und kühl. Als sie die Hand hervorzog, hielt sie tatsächlich eine Rassel, aus Holz und Besteck gefertigt, die auch wirklich rasselte. Teresa wollte nicht wissen, was die alte Fabia in den Kopf des Spielzeugs gefüllt hatte, um das Geräusch zu kriegen.
»Das mag gehen«, sagte sie. »Doch die Rassel ist klein, sehr klein. Ich weiß nicht, ob ich bis zu deinem Kind komm damit.«
»Tu, was du musst. Ich will’s nicht mehr haben. Mach’s weg, ich fleh dich an.«
Teresa ging ans Fußende der Pritsche und schob Marion den Kittel hoch. Die Andere trug kein Höschen, aber das hatte Teresa auch nicht erwartet – wenn der Erwin bei ihr gelegen hatte, hatte er ja irgendwie drankommen müssen. Sie spreizte vorsichtig Marions Beine. Der Gestank war erstickend. Wie fauliger Fisch. Das musste der Saft vom Erwin sein und der Saft von der Marion und das Ungewaschene von Tagen. Teresa spürte ihren eigenen Schweiß und konnte plötzlich auch sich selbst riechen, selber zu lange nicht gewaschen und feucht und dreckig von der Behandlung im schlimmen Zimmer. Ihr wurde übel, also atmete sie durch den Mund.
»Halt still und schrei nicht zu laut«, warnte sie die Andere und griff beherzt zwischen die Beine ihrer Zimmergenossin.
Geschickt zog sie die Scham auseinander. Der Saft vom Erwin verklebte alles, doch das musste sie ignorieren. Sie schob die kleine Rassel mit dem Griff voran in das Loch und drückte sie so weit hinein, wie das möglich war. Marion wand sich ein wenig und stöhnte leise, doch Teresa wusste, der wirklich üble Teil, der würde erst kommen.
Mit dem Kinderspielzeug würde sie nichts ausrichten können. Sie zog es sachte wieder heraus und dachte nach. Es half nichts, wenn man kein Werkzeug hatte, dann musste man selbst das Werkzeug werden. Das hatte der Großvater ihr erklärt, als sie noch klein gewesen war. Also wurde Teresa selbst das Werkzeug.
Sie kniete sich zwischen Marions Beine und spreizte wieder deren Scham. Dann führte sie die Hand in das Loch, langsam zunächst, und nutzte dabei den Saft vom Erwin, der gut schmierte. Als die Hand drinnen war, tastete sie umher, um den Einlass zur Gebärmutter zu finden. Tiefer und tiefer schob sie ihre Finger, glaubte schon, dass ihr Unterfangen unmöglich sein mochte, aber die Marion wand sich und stöhnte und jammerte, und als sie schrie, wusste Teresa, dass sie nun so tief im Leib der Anderen war, dass sie das Kind doch noch erreichen konnte.
»Ruhig!«, zischte sie und tastete weiter.
Warum sie erwartet hatte, ein Füßlein zu fühlen oder ein Ärmchen, das wusste sie nicht, und es geschah auch nichts dergleichen. Sie spürte nur Widerstände, weiche, warme Widerstände, und stieß einfach ihre Finger immer tiefer in Marions Bauch. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, also griff sie irgendwann irgendetwas von dem Weichen, Warmen und zog daran.
Marions Schreie schwollen zu einem Kreischen. Teresa bekam Angst. Was tat sie hier, das ging doch so nicht, das hatte ihre Mutter ihr doch anders beigebracht.
Mit einer schnellen Bewegung zog sie ihre Hand aus der Scham der Anderen und riss mit, was ihre Finger umfasst hatten, was immer das sein mochte. Blut kam mit, viel Blut, und Marion schrie, als steckte sie am Spieß, warf sich hin und her, soweit die Fesseln es zuließen.
Teresa erblickte eine feuchte rote, unförmige Masse in ihrer Hand. Das war nicht das Kind. Doch was es war, wer wusste das schon?
Das war kein Werk gewesen, wie ihre Mutter es ihr gezeigt hatte, das war nur die Sehnsucht nach Ruhe gewesen und ein Versuch, diese Ruhe zu erlangen. Gescheitert wie die Abtreibung, denn jetzt schrie und weinte Marion und ließ sich nicht beruhigen, und das Blut wurde immer mehr und durchnässte die Matratze und Teresa und tropfte auf den Boden.
»Still, so sei doch still, sonst kommen sie!«, befahl sie verzweifelt, ließ die rote Masse zu Boden fallen und drückte Marions Decke auf deren Scham. »Nimm die Beine zusammen, dann hört’s gewiss gleich auf. Dass es wehtut, kann ich nicht ändern. Drück!«
Marion kreischte, nahm aber die Schenkel eng zusammen und presste so selbst die Decke an sich.
Teresas Ohren klingelten, so laut war die Andere. Bald würde eine Schwester kommen, und dann war alles vorbei, dann mussten sie wieder in das schlimme Zimmer und Teresa wollte doch nur schlafen. Verzweifelt blickte sie sich in der Kammer um.
Das Kissen! Rasch sprang sie auf und nahm das Kissen von ihrer Pritsche, das nicht viel mehr war als ein Lappen aus Leinen, in den man ein paar Fetzen Stoff gestopft hatte. Sie drückte der Marion das Kissen in den Mund, erstickte so die Schreie.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte die Andere zu Teresa hoch. Sie starrte zurück. Marions Nasenflügel blähten sich, als sie ängstlich nach Luft rang. Sicher, sie hatte geweint, die Nase war verstopft und atmen musste eine Qual sein.
»Eine größere Qual ist doch das schlimme Zimmer!«, rief Teresa. Sie wollte Marion beruhigen. »Hol‘ deine Luft langsam und ganz ruhig, dann geht das schon. Du darfst eben nicht so laut sein!«
Marion brummte etwas durch das Leinen, doch Teresa verstand nicht und wollte auch nicht riskieren, nochmals diese Schreie hören zu müssen.
»Bleib einfach ruhig, das geht schon vorbei. Schlaf doch einfach, schlaf die Schmerzen weg. Morgen ist alles wieder gut!«
Mit diesen Worten ging sie zu ihrer Pritsche und legte sich hin. Endlich Ruhe. Die erstickten Rufe der Anderen vermischten sich mit den fern klingenden Schreien der übrigen Insassen, die natürlich in den Chor eingefallen waren, den Marion eröffnet hatte. Aber Teresa kümmerte das nicht mehr, sie hatte ihr Soll erfüllt, hatte geholfen, wo Hilfe vonnöten gewesen war, und durfte nun endlich ausruhen.
1968
Es war ein Fehler gewesen, die Quelle des Weinens zu suchen, das wusste er jetzt.
Ja, das Weinen war weg. Ihr Weinen zumindest. Dafür saß er nun auf dem Bett und weinte selbst.
Er wusste, dass er das nicht lange aushalten würde. Es war nicht seine übliche Trauer, die Zeit eines Tiefs zwischen herrlichen Hochs, durch die er sich immer hatte retten können, indem er sich seine Kunst ansah, anhörte oder neue schrieb. Er hatte »Hochkunst«, die entstand, wenn er glücklich war – »manisch« nannten die Ärzte das – und »Tiefkunst«, die er in Zeiten wie diesen kreierte. »Depression«. Depression am Arsch, diese Trauer war nicht wie sonst – es war nicht seine Trauer.
Es war die Trauer der weinenden Frau. Die konnte man nicht behandeln.
Die weinende Frau war gar nicht verschwunden, sie war in ihm. Und sie war nicht allein gekommen, sie hatte eine zweite Frau dabei, die nicht weinte, aber auf grauenhafte Art leer war, frei von jeglichem Gefühl, bis auf das eine: Sie war genervt, wenn die Andere heulte. Und sie hatten ein Baby dabei, das ebenfalls jammerte und damit ebenfalls die Leere Frau nervte.
Mit Trauer konnte er umgehen, das hatte er in den Jahren seiner angeblichen Krankheit gelernt. Aber mit der schrecklichen Gefühlskälte dieser Fremden und mit dem emotionalen Wirrwarr aus Angst, Hunger, Müdigkeit und Unwissen dieses Babys kam er nicht klar. Es fraß ihn auf. Es laugte ihn aus.
Er wusste nicht genau, wie viel Zeit vergangen war, seit er im Keller der Frau begegnet war, aber es mussten mehrere Tage sein. Wie sich Tag und Nacht abwechselten, wie die Schwestern ihm Essen hinstellten, das er nicht aß und Medikamente eingaben, die er verschwinden ließ, das bekam er mit. Wie die Ärzte ihn aus dem Zimmer holen wollten und die Pfleger ihn manches Mal mit Gewalt in den Aufenthaltsraum oder den Garten schleppten. Diese Ausflüge dauerten nie lange, er konnte nicht aufhören zu weinen und regte damit die anderen Patienten zu sehr auf, also wurde er immer rasch zurück in sein Zimmer gebracht.
In einer der langen Nächte fasste er einen Entschluss, den er eigentlich schon vor langer Zeit für obsolet erklärt hatte. Ihm war endgültig die Kraft ausgegangen. Er mochte zwar mit seinen eigenen Stimmungen leben können, mit denen seiner neuen Seelen jedoch konnte er es nicht. Das Wimmern unterdrückend, das die weinende Frau und ihr Baby ihm aufzwangen, schlich er in bewährter Manier aus seinem Zimmer. Er wurde trotz seiner akuten Krise nicht gesondert überwacht oder eingeschlossen oder sonst was. Das hier war wirklich ein Saftladen. Gut für ihn.
Auf dem Dach steckte er sich eine letzte Zigarette an, die er vor lauter Schluchzen und Weinen kaum rauchen konnte. Dann ließ er sich über den Rand fallen und fiel und fiel – und fiel nicht weiter. Schmerz fuhr durch seinen Körper, den ganzen Körper, alles tat ihm gleichzeitig weh. Kurz fand er diese neue Empfindung interessant, dann wich die Faszination der Agonie.
Vor seine Augen legte sich ein roter Schleier. Ohnmacht nahte. Hoffentlich Tod. Plötzlich ein Geräusch, ein Knarren und Schlurfen, ein Klicken, der schwache Geruch von Zigarettenrauch.
»Was machst’n du jetzt hier? Kommst doch sonst nicht rüber.«
Er erkannte die Stimme als die des Mannes, der das Zimmer neben seinem bewohnte. Ein Stuhl knarzte, als der Mann sich offenbar hinsetzte, um in Ruhe seine verbotene Zigarette zu rauchen. Das konnte doch wohl nicht wahr sein: Statt sieben Stockwerke in den sicheren Tod zu stürzen, musste er im vierten Stock auf einem der Balkone aufgekommen sein, die sich dort über die ganze Länge des Hauses zogen. Einzelzimmer-Luxus hatte seine Mutter das genannt, als sie ihn hergebracht hatte.
Die Erkenntnis war schnell gekommen und versank, wie auch seine Frustration, in dem Schmerz, der nun in Wellen durch ihn pulsierte. Reichte die Fallhöhe für einen schnellen Tod? Offensichtlich nicht, er hatte das Gefühl, schon ewig hier zu liegen. Er wappnete sich gegen den Schmerz und versuchte, seine Hand zu bewegen, seine Fußzehen, irgendwas. Nichts. Vielleicht konnte er den Raucher um Hilfe bitten? Wieder misslang sein Versuch – er konnte nicht mehr sprechen.
Die Trauer der Fremden, die Angst des Babys, die Gefühlskälte der Leeren Frau – alles wurde vom physischen Schmerz überlagert, rückte in den Hintergrund. Zumindest das hatte sein Sprung gebracht, zumindest das.
Als sein Nachbar aufgeraucht hatte und wieder in sein Zimmer schlurfte, lag er immer noch da. Als die Nacht langsam der Dämmerung wich, lag er da. Doch schließlich wurden sie endlich vollends von ihm gehoben, diese fremden Emotionen, die er nicht wollte und nicht ertrug. Und da erfüllte ihn endlich wieder Freude.
2018
Meine Flucht ist missglückt. War ja klar. Jetzt bin ich endgültig hier gefangen, Zwangseinweisung. Das heißt: Noch mehr Pillen. Tropfen. Spritzen jetzt auch.
Ich bin schwach und ich bin müde.
Und dieses Haus, es hört nicht auf, mir Geschichten zu erzählen. Geschichten von Elektroschockbehandlungen, wie man sie schon lange nicht mehr durchführt, in einem weiß gekachelten Zimmer irgendwo in einem der langen, langen, viel zu schattigen Flure. Das tut weh, behauptet das Haus.
Und Geschichten von Sex, den keiner wirklich will, und Kindern, die auch keiner will, die aufgereiht im Keller stehen, und Rasseln, die jemand gebastelt hat, der sehr wohl will, aber nicht darf. Und Geschichten von Blut, ganz viel Blut, das aus Frauen fließt, die schreien und sich wehren wollen aber nicht können und die irgendeine Entscheidung bereuen, und auf einmal wird mir die Kehle eng, weil das alles so traurig ist, und ich fühle mich, als bekäme ich keine Luft.
So. Traurig.
Dabei war die Psychose mal lustig. Ha, ha.
Galgenhumor? Kann ich! Ha, ha.
Galgen. Da war mal einer, der roch nach Galgen, das hat mir das Haus auch erzählt, und der hat hier Frauen schlimme Dinge angetan und sie dann einfach ihrem Schicksal überlassen. Aber die eine, die musste er begraben, denn die ist verblutet, oder erstickt oder beides und ihre Zimmergenossin, die hatte ganz blutige Hände und da hat der Mann, der nach Galgen roch, die Zimmergenossin zur Elektroschock-Therapie gebracht und das mal selbst versucht.