Alabasterleib und schwarze Tränen - Bruno H. Weder - E-Book

Alabasterleib und schwarze Tränen E-Book

Bruno H. Weder

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Beschreibung

Peter Altenberg steht im Mittelpunkt dieses Romanprojekts. Er, der als Richard Engländer vom Judentum zum Christentum konvertierte und sich nach einem kleinen Dorf bei Wien umbenannt hat, ist eine zwiespältige Figur in Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Er pflegt merkwürdige Beziehungen zu jungen Mädchen, läßt sich durch zahlreiche Freunde sein Leben finanzieren, ist stark vom Alkohol abhängig, hat seinen Lebensmittelpunkt im Café Central und wird ab und an von Depressionen befallen, so daß er in psychiatrische Anstalten eingeliefert werden muß. Dieser Freundeskreis, um den sich alles dreht, hat es in sich: So illustre Namen wie Karl Kraus, Arnold Schönberg, Alban Berg, Gustav Mahler (und seine unvergeßliche Alma), Sigmund Freud, Arthur Schnitzler, Gustav Klimt, Egon Schiele, Otto Wagner, Adolf Loos (und seine Frauen) kurz alles, was Rang und Namen hat, gehört dazu. Und natürlich auch alle Geschichten, Episoden und Skandale, die sich um sie ranken.

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Pro Daninku

Du hast Sorgen, sei es diese, sei es jene - - - ins Kaffeehaus!

Peter Altenberg

Inhaltsverzeichnis

Präludium

Überflug 1 Was der Tag mir zuträgt

Am Anfang stand der Tod

Überflug 2 Wie ich es sehe

Schaup oder Der Flitzer im Stadtpark

Überflug 3 Die Fackel

Des Spazierstocks neuer Kopf

Überflug 4 Lina Loos

Dr.A.S.

Überflug 5 Arthur Schnitzler

Der Spülwasser-Ausguß

Überflug 6 Die Neutöner

Verklärte Nacht

Überflug 7 Pròdrŏmŏs

Das Wort

Überflug 8 H.N.

Hygieia

Überflug 9 Splitter: Smaragda

Adolf Loos kauft Peter einen neuen Anzug

Überflug 10 Mahler vs. Mahler

Lou

Überflug 11 Egon Schiele Der reiche Onkel dreht des Geldhahn zu

Überflug 12 Albine Ruprich und Paula Schweitzer

Café Central

Überflug 13 Dolomiten

Ostara

Überflug 14 Fechsung und Nachfechsung

Am Steinhof

Überflug 15 Alma

Watschenkonzert

Überflug 16 Wally Neuzil Die Orange auf der Pritsche

Am Lido

Überflug 17 Mein Lebensabend Grabenhotel

Knabbern am Kriegszwieback

Überflug 18 Vita ipsa Grabenkiosk

Procházka

Überflug 19 Die Internierten

Spanische Grippe

Überflug 20 Der Tod

Postludium Grabrede und Nachruf

Biographie Peter Altenberg

Anmerkungen

Danksagung

Quellenverzeichnis

**********

Präludium

Ich erwartete das Glück vergeblich Jahre und Jahre lang. (Peter Altenberg: Fackel Nr.372-373, 28)

Ganz sanft erklang in lauer Sommernacht ein süßer Streicherklang. Er schien fast überirdisch, Engelsstimmen gleich. Peter Altenberg hielt inne und lauschte. Er wollte eruieren, woher der Klang kam, und hielt sich am Laternenpfahl am Josefsplatz fest, um nicht durch sein leichtes Schwanken die Himmelsbotschaft zu unterbrechen. Jetzt wurde der satte Bratschenton durch ein Pizzicato abgelöst. Peter war hin- und hergerissen. Sollte er die Quelle suchen gehen? Aber da würde er nur stören. Die Leute in ihren eleganten Roben hätten kaum Verständnis, wenn ein Mann mit Mondgesicht und Seehundschnauz, dazu mit bloßen Füßen in Sandalen, das härene Hemd vorne und seitlich links über den Knickerbockers hängend, plötzlich in einem Spiegelsaal auftauchen würde.

Und erst die Musiker! Oder war es gar die holde Weiblichkeit, die die immer rasender werdenden Konfigurationen und Koloraturen den Streichinstrumenten zu entlocken vermochte? Vielleicht sogar seine Natalie? Dann wäre auch Gustav Mahler wohl in ihrer Nähe und würde diesen vorzüglichen Enharmonien lauschen.

Die Klänge stammten eindeutig aus dem Palais Pallavicini. Er wagte sich ans offene Fenster rechts vom Karyatidenportal. Er hatte sich nicht getäuscht; alles schien sich wie ein offenes Rennen zu entwickeln. Die Streicher umgarnten sich, verhedderten sich in einen Knäuel und lösten sich doch wieder gradlinig auf, wenn die Primvioline ungeahnte Höhen erklomm. Sein Seehundschnauz begann zu vibrieren, ein Zeichen höchster Erregung, und in seine Augen mischten sich etliche Tränen, die ihm über die Backen kullerten. Er stützte sich mit beiden Händen auf den Sims und drückte sein Gesicht gegen die Scheiben, um mehr wahrzunehmen; doch die Scheiben waren blind. Die Läufe trieben jetzt wahre Pirouetten, aufwärts und abwärts. Welche Könner waren an den Instrumenten tätig!

Er überwand die innere Scheu und beschloß, nach innen zu gehen, um die illustre Gesellschaft zu beobachten. Jetzt redete er sich ein, die würden wohl nichts dagegen haben, wenn er von weitem ein wenig zuschaute und zuhörte. Er ging leise zum Portal, um die Türe, die lediglich angelehnt war, zu öffnen. Schnell schlüpfte er durch den Spalt und schloß das Tor lautlos, indem er sich etwas unsicher gegen den Schließmechanismus stemmte. Er war fasziniert vom lichtstahlblauen Stiegengeländer und dem in Carrara Marmor gehaltenen Boden. Was er allerdings noch nie gesehen hatte, waren die japanischen Vasen, die ein weißes Licht verbreiteten, das das ganze Treppenhaus in eine märchenhafte Atmosphäre verwandelte, was zu den jetzt lauter werdenden Klängen aus dem Obergeschoß nicht so recht passen wollte. Er setzte sich auf die Treppenstufen und ließ sich zu einer Notiz inspirieren. Er zerrte deshalb ein kleines Büchlein aus der Gesäßtasche und kribbelte etwas in seiner Bastardschrift hinein.

Noch richtiger aber ist es, daß alle diese überirdischen, rätselvollen, undurchdringlichen, genialen Spielereien eines einzelnen besonders Begnadeten unsere an Tag und Stunde und das ewig unenträtselte Leben gebundene Gehirne und Seelen schwächen, ja in unnötige Melancholien und vergebliches Nachdenken über uns selbst und unsere armselige undurchdringliche Bestimmung, von Geist und Seele aus (mit dem Leib kann man sich noch eine Zeitlang wenigstens mit den richtigen Erkenntnissen der Hygiene und Diätetik gegen die tägliche, stündliche Vergiftung unserer Lebens-Elastizitäten wehren) schwächen, stören, ja, zerstören!

Jäh wurde Altenberg aufgeschreckt. Aus dem oberen Stockwerk drang jetzt verhaltener Applaus. Er hatte gar nicht bemerkt, daß das aufgeregte Stück zu Ende war. Er wollte sich erheben, war aber zu unsicher, so daß er wieder auf die Stufe zurückglitt. Oben schien eine Türe aufgegangen zu sein; denn ein Stimmengewirr drang an sein Ohr. Er nestelte sein Notizbuch schnell wieder zurück, dann versuchte er erneut aufzustehen, was ihm aber mißlang. Bereits kamen die ersten Besucher, die ihn aber nicht kannten, die Treppe herunter, ihn scheel ansehend.

Und dann folgte der ganze Club: Arthur Schnitzler, sein Freund, Arzt und selbst Schriftsteller; Sigmund Freud, der Seelenarzt; Karl Kraus, sein Freund, Förderer, Autor von Die letzten Tage der Menschheit und Herausgeber der Fackel; Gustav Mahler, Operndirektor und Komponist, noch ohne seine Alma; Adolf Loos, der kompromißlose Architekt, Freund und Förderer mit Lina; Gustav Klimt, der vielgepriesene Kunstmaler, Gründer der Sezession und Förderer von Egon Schiele; Otto Wagner, der geniale Architekt und Schöpfer der Stadtbahn; und, mitten drin, Arnold Schönberg mit seiner Frau Mathilde, der Komponist der Neuen Wiener Schule und des eben gehörten Stücks, von allen begeistert umschwärmt. Etwas betreten blieben alle auf dem oberen Treppenabsatz stehen, als sie des ungebetenen Gasts, dem das ungeplante Treffen sichtlich peinlich war, gewahr wurden.

Schnitzler hatte sich als erster gefaßt. Er löste sich aus dem Arm seiner charmanten Begleiterin, der Schauspielerin Olga Gußmann, und ging die zwei Stufen zu Altenberg hinunter. Er bemühte sich, seinem Freund auf die Beine zu helfen. Dieser wehrte sich vehement dagegen und sträubte sich aufzustehen. Nachdem Arthur auf seine Frage, was er hier denn mache, keine Antwort bekommen hatte, zog er ihn fast gewaltsam hoch, ungeachtet dessen Gegenwehr.

Nun bewegte sich auch der übrige Clan, noch berauscht von den Klängen jener Sommernacht; jeder einzelne klopfte Peter freundschaftlich auf die Schultern, und alle waren bemüht, freundlich zu sein und sich nichts anmerken zu lassen. Sie begannen, genüßlich ablenkend, auf Schönberg einzureden, voll des Lobes über dessen Komposition, während der stützende Arzt auf den besäuselten Poeten einwirkte, sich von ihm nach Hause (das war im Moment ein kleines Zimmerchen im Hotel London) bringen zu lassen. Der Komponist, dessen im Dezember 1899 vollendetes Werk Verklärte Nacht über ein Gedicht von Richard Dehmel erstmals in dieser geschlossenen Gesellschaft aufgeführt worden war, fühlte sich dabei unwohl; denn er war es nicht gewohnt, von Seiten dieser Clique in seinem musikalischen Bemühen derart bestätigt zu werden, zumal das Werk vorerst vom Musikverein abgelehnt worden war. Vielmehr faßte er es so auf, daß es sich dabei um Abwehrmanöver handelte, um von der peinlichen Situation mit dem Eindringling abzulenken, was nicht ganz von der Hand zu weisen war. Karl Kraus, dies schon eher gewohnt, Gustav Mahler, bereits die Opernprobe im Kopf, und Gustav Klimt, ohne Mili (gleich Emilie Flöge von der Wiener Werkstätte), waren zu dieser Zeit bereits verschwunden, Otto Wagner murmelte etwas von Arbeit im Steinhof, und Sigmund Freud zündete umständlich seine Zigarre an, begleitet von einem bösen Blick von Seiten Linas, die deswegen ihren Gatten zu überreden versuchte, Schnitzlers Bemühungen zu unterstützen. So hatten alle offenbar ihre Aufgaben gefunden, nur der gefeierte Komponist blieb etwas betreten auf der Palais - Treppe zurück. Einzelne nachrückende Gäste vermochten ihn auch mit Komplimenten nicht auf den Boden der Realität zurückzubringen, so daß er, als die Gästeschar verrauscht war, in die Dunkelheit der lauen Sommernacht entschwand.

**********

Überflug 1 Was der Tag mir zuträgt

Hübscher, schlanker Mann, mit gewöhnlichem Kopfe, gewöhnlichen Augen, gewöhnlicher Stirn, gewöhnlichen Manieren. Daß er seinen starken Schnurrbart melancholisch herunterhängen läßt, stets in einer schottischen Reisemütze herumstolziert und ohne langen Überzieher nicht mehr gedacht werden kann, das liegt vielleicht in der literarischen Richtung, die er repräsentiert. Das ist das einzige Auffallende an seinem Äußern. Dem Menschen thut man häufig unrecht, wenn man ihn nicht gesprochen hat. Wer nämlich Altenberg gelesen hat und mit ihm dann spricht, der glaubt, daß der Dichter seine Werke von anderen schreiben läßt. (Extrapost, Wien, 27. November 1899, S.1)

Auf die Frage Wo? Steht in Wien das Kaffeehaus. Wo spreche ich Dich? – Im Kaffeehause! – Wo werden wir heut nach Tische sein? – Im Kaffeehause! – Wo hole ich Sie mit dem Fiaker ab? - Im Kaffeehause! (Adolf Glaßbrenner; Bilder und Träume aus Wien).

Peter Altenberg stand erst gegen Mittag auf am andern Tag (wie es bei ihm üblich war) und ging zielstrebig ins Café Museum. Er hoffte, dort Adolf Loos oder Karl Kraus zu treffen, und war erstaunt, Arnold Schönberg vorzufinden, in eine seiner Partituren vertieft. Also machte er kehrt, ohne vom Komponisten der zwölf Töne gesehen zu werden, was den exzentrischen Telegrammstil-Literaten erleichterte. Er ging deshalb, eine Wagnermelodie summend, ins Café Casa Piccola, das am äußeren Rand des Glacis lag.

Dort saß Egon Friedmann (später, 1916, ließ er seinen jüdisch klingenden Namen offiziell ändern in Friedell; denn er konvertierte bereits als Schüler zum evangelischen Glauben), der sich lebhaft mit dem Cafetier Carl Obertimpfler unterhielt, der hinter dem Tresen hantierte.

«So früh schon auf?» wunderte sich der sitzende Gast.

«So früh schon im Café? Keine Vorlesung an der Alma Mater?» entgegnete Altenberg.

«Man soll nie eine Frage mit einer Gegenfrage beantworten.»

«Und wieso soll man net a Gegenfrage stellen dürfen?»

Alle drei lachten lauthals, und Friedmann erklärte, daß er einen Vortrag für ein Seminar vorbereite, was ihm bei einem Verlängerten halt leichter falle.

**********

Am Anfang stand der Tod

»Nein, die Frauenseele ist doch nicht so, wie ich sie sehe! « (Peter Altenberg: Fackel Nr.372-373, 29)

Lange starrte er auf die Photographie, und immer deutlicher wurden die Konturen: Unten rechts stand zu lesen: †Alicen’s Kasten. Dies hatte er selbst vor wenigen Minuten auf die Karte gekritzelt. Und darüber war der Kasten mit den geöffneten gestemmten Türen. Nicht so sehr der Inhalt des Kastens war der Grund der Betrübnis, sondern die Tatsache, daß er, Peter Altenberg, diese Photo von der Familie Popper erhalten hatte, die er gleich mit dem Schriftzug mit dem sächsischen Genitiv versehen hatte. Als ob der Kasten gestorben wäre. Er rutschte unruhig auf der Bettkante hin und her, ließ das Kinn in die linke Hand gleiten und grochste leicht.

Die Erinnerungen kamen hoch: Frau Dr. P. hatte ihn im Café abgeholt, und eine Stunde lang durfte er mit den beiden Mädchen, Alice und Gusti, Hand in Hand spazieren gehen. Wann war dies gewesen? Er wußte es nicht mehr. Aber es kam ihm in den Sinn, daß er einen Brief geschrieben hatte, einen Liebesbrief an Ännie Holitscher, worin er die Schwärmerei für kleine Mädchen thematisierte (am 7. November 1893 hieß es Hand in Hand mit den beiden lieben Mäderln). Aber noch am 11. Oktober hatte er seinem Bruder Georg Engländer geschrieben, daß er Ännie vielleicht hätte heiraten sollen. Dabei hatte er sich, wie so oft, nur lustig gemacht, hatte ihr noch vom Hotel Kammer am Attersee aus einen Brief geschrieben, worin er von ihr zu träumen gedachte.

Ich übernachte jetzt in Kammer im Hôtel Kammer und wenn ich diesem Brief d. Unterschrift u. dem Couvert die Überschrift gegeben haben werde, wird keine Viertelstunde vergangen sein, daß ich von meinem lieben süßen Mädchen träumen werde.

Doch schon am andern Tag hatte er dies widerrufen, hatte sich darüber lustig gemacht.

Mein liebes Aennchen: Ich habe nicht von Ihnen geträumt; ich träume nur von Dingen, an die ich lange nicht gedacht habe; Nachts, um 12 Uhr, war aber ein Erdbeben und mein Hemdkragen fiel auf den Boden herab; da ich den Untergang der Welt erwartete, nahm ich mir nicht die Mühe, ihn wieder aufzuheben.

Er erniedrigte sie, wußte nicht, daß sein Freund Arthur Schnitzler sie ebenfalls verehrte, hatte dieser doch in seinen Tagebüchern vermerkt: Anny (…) die sich im Laufe des vergangnen Faschings, wie ich auf Bällen zu beobachten Gelegenheit hatte, für diesen Richard auffallend interessirt hatte. Heuer sah man ihn nirgends; dagegen wandte Anny H. ein auffallendes Interesse mir zu, und auch ich fand an dem liebenswürdigen Geschöpf ein ausnehmendes Gefallen. (Arthur Schnitzler im Tagebuch am 13. April 1886)

Und idealisierte gleichzeitig Alice mehr denn je, wie er über der Photo brütete. Wie kam er nur dazu, Ännie von Alice zu schreiben? War dies seine Art, eine erwachsene Frau zu lieben, indem er sie demütigte? Möglicherweise konnte sein labiles Gemüt auf diese Weise eine Form von Macht ausüben, eine Macht, die er sonst nur gegenüber minderjährigen Geschöpfen anzuwenden wußte.

Altenberg schwitzte, obwohl es ihn fröstelte. Er stand auf, holte eine angebrochene Flasche Slibowitz aus dem Kasten und füllte ein Becherglas damit. Erst nippte er nur daran, fuhr mit seinen fahrigen Fingern wieder und wieder über die Photo, indem er sich erneut auf die Bettkante setzte.

Das war doch Unsinn, was er seinem Bruder Georg geschrieben hatte wegen der Ehe. Niemals hätte die Familie Holitscher eine solche zugelassen. Zum einen ließ es seine berufliche Situation nicht zu; denn er verfügte über kein regelmäßiges Einkommen, ließ sogar die Wäscherechnung durch die eigene Mutter bezahlen; zum andern bestand auch eine Art Parallel-Beziehung von Charlotte Holitscher, Ännies Mutter, zum jungen Mann.

Er schaute tiefer ins Glas, stand wieder auf, nahm die Photo und pinnte sie an die Wand zu andern Karten und Scherenschnitten. Unruhig ging er auf der kleinen Fläche hin und her, überlegte, was er tun sollte, setzte sich wieder auf die Bettkante, erhob sich aber unmittelbar wieder und riß das Fenster auf. Der Lärm der Gasse drang herauf. Ohne Freude und ohne Gier trank er den Becher leer.

Mit dem höheren Alkoholpegel sank langsam die wiederholte Angst vor einer Nervenkrankheit; denn diese begleitete ihn bereits seit einiger Zeit. Er hatte dabei festgestellt, daß der Alkohol ein hervorragendes Anxiolyticum darstellte, wenn auch sein Freund Arthur Schnitzler ihn davor gewarnt hatte; denn alles ließe sich damit nicht lösen, vor allem nicht die veritablen Existenzängste, die ihn in solch depressiven Phasen immer wieder krampfartig überfielen. Essentieller Tremor.

Sein Blick fiel erneut auf die gepinnte Karte, und er fragte sich, was Alice wohl in all den Schachteln gehortet hatte. Der Blick aber wurde abgelenkt auf eine Karte nebenan, eingerahmt und von ihm eigenhändig beschriftet: 1899 †; gestorben im 33. Lebensjahr. Beide Angaben sind falsch; denn die Tochter eines bekannten Wiener Restaurateurs war zu ihrem effektiven Todeszeitpunkt am 4. November 1897 35 Jahre und einen Tag alt. Und darunter, leicht nach links ein Herz, gezeichnet und an der Herzspitze versehen mit der Jahreszahl 1883. Rechts unten in der Ecke der Profil-Portrait-Photo diagonal die eigenhändige Unterschrift der angebeteten Dame vom Hotel Thalhof: Olga Waissnix. Der Gatte soll, so vermerkte der spätere (wohl sehr eifersüchtige) Arthur Schnitzler in seinen Tagebuchnotizen Jugend in Wien, geäußert haben, er werde den jungen Mann erschießen, wenn er sich noch einmal im Thalhof blicken lasse. Umgesetzt hatte der Wirt die Tat dann doch nicht; denn Peter Altenberg kehrte wieder, zuletzt etwa 1915.

Dann schenkte sie mir noch ein Strähnchen ihrer Haare

Und Samstag lag sie auf der Totenbahre

So lautet das Ende des lyrischen Texts Die Jugendzeit, worin Altenberg die Erinnerung an den Ort Reichenau, wo der Thalhof liegt, festhielt.

Es drängte ihn hinaus, er hielt es nicht mehr aus mit diesem Totenkult, den er sich selber kredenzt hatte. Hinaus, auf die Straße! Jetzt wird gelebt! Doch vorher noch zwei Schlucke aus der Flasche. Und dann hinunter, die steile Stiege wurde ihm beinah zum Verhängnis (wie so oft), aber er konnte sich noch am Geländer festhalten, schlitterte weiter in seinen Sandalen, hinaus in die finstere Nacht, in die Gassen, die noch belebt waren, vor allem von Graben-Nymphen, hin zum Kohlmarkt.

Ich muß den Weg zu den Herzen finden! redete er sich insgeheim ein. Ich verstehe die Verachteten. Wo seid ihr nur, ihr Grabennymphen? Ihr gequälten Pferde? Ihr mißhandelten Kinder? Alice, meine Alice ---?

Ungeachtet der Kälte hechelte er weiter, begann wie wild mit den Armen zu fuchteln, stürzte fast, fing sich wieder auf und kam atemlos im Paternostergäßchen an, ohne Paternosterschnur zwar, aber aufgestellt, bereit zum Freistiltanzen.

Zeig uns einen Flugversuch, du schräger Vogel! Flieg, Vogel, flieg! tönte es bereits von allen Seiten auf ihn ein; denn um ihn herum war plötzlich alles voller Publikum.

Er ließ sich nicht zweimal bitten, da war er schon im Element, breitete seine Arme aus, atmete erst schnell, dann langsam, immer tiefer; die Lunge füllte sich, der Brustkorb dehnte sich. Die Arme schrieben Kreise in die Luft, kreisten immer schneller, schneller. Und sein spindeldürrer Körper schien zu schweben, schwerelos, getragen nur von zarten Beinchen.

Schneller! Schneller! tönte es aus wirren Kehlen. Aber plötzlich war es aus, er fiel in sich zusammen. Aus der Traum. Verhaltener Applaus.

**********

Überflug 2 Wie ich es sehe

Das heurige Jahr hat mich enormes Geld gekostet, sodaß der Ertrag (…) längst in Vorschüssen aufgegangen ist. (Peter Altenberg an seinen Bruder Georg Engländer, Brief vom 11. Oktober 1900 aus Wien)

Altenbergs Bücher verkauften sich für damalige Verhältnisse gut, bis zu seinem Tod wurden 58'000 Stück verkauft; dennoch hat er davon nicht leben können, auch wenn er behauptet, 25% als Honorar erhalten zu haben (Mein Testament! 5. September 1912). Immerhin hatte er in Samuel Fischer einen Verleger gefunden, mit dem er freundschaftlich verbunden war (z.B. Besuch in Venedig 1913, s. Kapitel Am Lido) und der ihm einen dauernden Vertrag garantiert hatte. Ich habe meine Vorschüsse von S.F. seit Wochen aufgezehrt, kann nichts mehr verlangen --- (Brief an Adolf Loos vom 15. Februar 1902). Texte von ihm erschienen auch in französischen, englischen und italienischen Zeitungen. 1919 erschien sogar eine jiddische Übertragung von Wie ich es sehe.

**********

Schaup oder Der Flitzer im Stadtpark

Der Märzwind klagt durch die wintererfrorenen rostroten Gebüsche. (Peter Altenberg: Fackel Nr.372-373, 29)

Als Kinder saßen wir Abend für Abend mit unsern geliebten Eltern im Stadtpark, im Kursalon. Wir bekamen Eis und Hohlhippen und hatten keinerlei Sorgen. So schrieb Altenberg in der Miszelle Im Stadtpark und sehnte sich dabei nach seiner Kindheit (ob sich daraus auch seine pädophile Sehnsucht nach mädchenhaften Wesen erklären läßt, bleibe dahingestellt). Dies veranlaßte ihn, immer wieder an diese Stelle, an denselben Tisch, zurückzukehren und immer wieder Schokoladenhimbeereis und krachende Hippen zu bestellen und zu essen. Hatte er vielleicht eine seltsame Szene beobachtet?

Denn der Autor von Die Welt von gestern schreibt wie so oft: Ich traf ihn (gemeint ist hier allerdings Theodor Herzl) im Stadtpark. Aber was hier von Belang ist, sind nicht die Begegnungen mit erlauchten Herren der Geschichte, sondern ganz andere Geschöpfe, wie nachher zu berichten ist.

Altenberg erinnerte sich ebenfalls fast schmerzhaft an die Zeit, als er als junger Mann unsterblich in die kleine Alice und deren Schwester Gusti Popper verliebt gewesen war. Wie idyllisch mutete es damals an, als er, die beiden Mädchen an beiden Händen spazieren führend (s. Kapitel Am Anfang war der Tod), dieses Erlebnis in Poesie verwandelte und schrieb: Beide weiße süße Kinderseelen waren ihm zugeflogen. Alice Popper war allerdings 1901 verstorben...

Der Abend war noch jung, um nicht zu sagen jungfräulich, als sich ein junger Mann anschickte, einen Spaziergang im Stadtpark zu machen. Schaup hatte er in sein Tagebuch gekritzelt. Schauprangertum hieß dies im Klartext. Deshalb streifte er seine den Umständen entsprechend bequemste Kleidung über; das will heißen: keine Unterwäsche zu den Schlabberhosen. Dazu wegen der etwas kühleren Jahreszeit einen Mantel, der sich an den Rockschößen leicht öffnen ließ. Denn damit hatte es eine besondere Bewandtnis: Durch das Öffnen konnte das einmal gewählte Gegenüber, ob es nun wollte oder nicht, das aufgestellte Gemächt bestaunen. So wenigstens die Absicht. Kurz nachdem es eingedunkelt hatte, machte sich der junge Mann auf den Weg zum Stadtpark. Damit sein Äußeres nicht so stark auffiel, nahm er nicht den Eingang bei der Stadtbahn an der Johannesgasse, sondern den etwas unauffälligeren, gegenüber liegenden beim Abfluß aus dem Teich beim Ferstel-Bau k.k. Österreichischen Museum für Kunst und Industrie. Er schlich am Denkmal von Papa Zelinka vorbei, der sich nicht um den klandestinen Flitzer zu kümmern schien, sondern in die Ferne schaute, seinen städtebaulichen Visionen nachsinnend. Andere Visionen hatte unser Held Stefan. Deutlich sah er das Bild vor sich, wie es seine nachmalige Frau Friderike «Fritzi» Zweig fast schon literarisch in einem ihrer Romane umschrieb: Ihre Brüstlein sind jungen Tauben gleich, die rosige Schnäbelchen aus dem Gefieder spreizten, wenn der Flügelschlag der Liebe ihrem Durste naht.

Ihr nachmaliger Mann war gerade diesen Abend besonders motiviert, sein Schauprangertum zu zelebrieren; denn er hatte seiner Fritzi einen besonderen Cocktail gemixt, der sie, wie er hoffte, tief und gut schlafen ließ, so daß er nicht befürchten mußte, daß sie auf ihn wartete. Der Gedanke daran ließ ihn lächeln. Er fiel in einen leichten Trab. Kurz bevor er zum kürzlich eingebetteten Wien-Fluß (die Regulierung wurde 1904 abgeschlossen) kam, sah er einen schemenhaften Schatten, den er für eine Beute hielt, weshalb er sich in die nahen Büsche schlug. Da er wegen des leichten Trabs ziemlich außer Atem war, hielt er seine Armbeuge vor den Mund. Mit seiner rechten Hand versuchte er, die Rockschöße zurecht zu zupfen. Er versuchte, das Schemen etwas konkreter werden zu lassen, indem er angestrengt aus den Büschen äugte.

Er meinte, von rechts komme eine junge Spaziergängerin, die einen kleinen Hund mit sich führte. Er überlegte kurz, ob diese Dame für ihn in Frage käme, und beschloß, sie vorbeigehen zu lassen. Wieder atmete er in seinen angewinkelten Ellenbogen, damit sie nicht erschräke. Der Hund kam gefährlich nahe, um zu schnuppern, aber er fand kein Brieflein vor, so daß er sofort gehorchte, als sie an der Leine zog und ihn barsch aufforderte, ihr zu folgen. Als sie zu seiner Linken schemenhaft verschwand, wie sie gekommen war, kam er aus dem Gebüsch und ging rasch in die Gegenrichtung. Er empfand es an diesem Abend eher kühl, wollte sich keinen Schnupfen holen und dachte bei sich, daß der Termin wohl gelaufen sei. Aber da sah er unten am überwölbten Wien-Fluß zwei Schatten, die nach jüngeren Mädchen aussahen. Dabei kamen ihm die folgenden Verse, die er jüngst verfasst hatte, in den Sinn: Wohin ich sah, wohin ich griff, / Da bleckte Mund, da schrillte Pfiff, / Und jeder Blick, der blinkernd kam, / Der zwinkerte auf meine Scham. Er spürte deutlich die Erektion, die sich seiner bemannte, während er sein Blätterversteck verließ. Er folgte auf dem oberen Pfad parallel den beiden Schatten und näherte sich dem Geisterpaar. Er wollte erst sicher sein, daß es sich um zwei Mädchen handelte und nicht etwa um ein Liebespaar, das er mit seiner Aktion verschonen wollte. Tatsächlich hörte er die beiden schäkern, was ihn erneut animierte (Zwei Animiermädchen