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Demeter-Produkte, Weleda-Medizin und Waldorfschulen kennt jeder. Dahinter steht die Anthroposophie Rudolf Steiners. Der Autor entfaltet die Hauptlehren der Anthroposophie anhand eines gründlichen Quellenstudiums und bietet dem Leser eine sachliche Analyse und Beurteilung aus bibeltreuer theologischer Sicht. Behandelt werden z.B. folgende Themenbereiche: Anthroposophische Gesellschaft, Bibelverständnis, Christengemeinschaft, Erkenntnisweg, Gottesbild, Medizin, Landwirtschaft, Pädagogik, Philosophie, Religion, Soziales Engagement
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Seitenzahl: 477
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Antrophosophie-Lexikon
Lothar Gassmann
© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe
Autor: Lothar Gassmann
Cover: Caspar Kaufmann
ISBN: 978-3-95893-102-2
Verlags-Seite: www.folgenverlag.de
Kontakt: [email protected]
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Akasha-Chronik
Anthroposophie
Anthroposophische Gesellschaft
Bibelverständnis
Biologisch-dynamischer Anbau (Demeter)
Bock, Emil (1895-1959)
Christengemeinschaft
Christosophie
Dreigliederung
Erkenntnisse höherer Welten
Esoterische Schule
Eurythmie
Evolutionismus (Darwin, Hegel, Haeckel)
Freiheitsphilosophie
Freimaurer-Impuls
Frieling, Rudolf (1901-1986)
Goetheanismus
Gottesbild
Hartmann-Impuls
Johannesevangelium
Kant-Impuls
Koguzki, Felix (1833-1909)
Krishnamurti, Jiddu (1895-1986)
Lessing-Impuls
Lucifer-Gnosis
Nietzsche-Impuls
Paulus
Reinkarnation
Rittelmeyer, Friedrich (1872-1938)
Schiller-Impuls
Spirituelle Interpretation
Steiner, Rudolf (1861-1925)
Steiner-Kult
Theosophie
Übersinnliches bei Rudolf Steiner
Waldorfpädagogik
Weleda-Medizin
Literaturverzeichnis
Hellseherisch wahrgenommenes „Weltengedächtnis“, begegnet v.a. in Theosophie und Anthroposophie.
„Aus dem Atman kam der Raum (akasa), aus dem Raum der Wind, aus dem Wind das Feuer, aus dem Feuer das Wasser, aus dem Wasser die Erde, aus der Erde die Pflanzen, aus den Pflanzen Nahrung (anna), aus der Nahrung Samen, aus dem Samen der Mensch (purusa)“ (Taittiriya Upanishad). „Es ist das A., aus welchem alle Kreaturen hervorgingen und wohin sie zurückkehrten: das A. ist älter als sie alle, das A. ist das allerletzte Ende“ (Khand. Upanishad).
Die abendländisch-esoterische Tradition des 19. Jahrhunderts erweitert diese Bedeutung von „A.“ als „Raumelement“ um die Dimension der Zeit. Bei H. P. Blavatsky (1831-1891) und ihrer Theosophie wird A. zur „A.-Chronik“, zu einem „raumätherischen Weltgedächtnis“ (auch als „Gedächtnis Gottes“ bezeichnet), in dem alle Ereignisse aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gespeichert sind. Durch Hellsehen kann man angeblich Einblick in diese „Weltenchronik“ bekommen. Was Blavatsky „A.-Chronik“ nennt, hatte der französische Kabbalist und Okkultist Eliphas Lévi (Pseudonym des Abbé Alphonse Louis Constant; 1810-1875) schon vor ihr „entdeckt“ und als „Astrallicht“ bezeichnet. Nach Lévis Ansicht „kann der Magier im Astrallicht auch die Gestalten derer hervorbringen, die unsere physische Welt bereits verlassen haben … Wir rufen die Erinnerungen wach, die sie [die Geister der Verstorbenen; d. Verf.] im Astrallicht hinterlassen haben, welches das gemeinsame Sammelbecken der universalen magnetischen Kraftäußerungen ist“ (R.-H. Laars, Eliphas Lévi, o.J., 115.127). Vor Lévi wiederum hatte Paracelsus (1493-1541) vom „siderischen Licht“ gesprochen: „Das A[strallicht] entspricht dem 'siderischen Licht' von Paracelsus.“ Gemeint ist „die unsichtbare Region, welche unseren Kosmos umgibt“ und „die nur dem hellsichtigen Auge sichtbar ist“. In ihm sind „alle Ereignisse der Vergangenheit, Gegenwart und möglicherweise der Zukunft aufgezeichnet“ (H.-E. Miers, Lexikon des Geheimwissens, 1986, 49.14). Eine ähnliche Vorstellung begegnet im 16. Jahrhundert in den kabbalistischen Schriften des M. A. Fano. Dieser spricht von einem „okkulten Äther … der das Medium sei, durch das die Werke des Menschen bis zum Jüngsten Gericht aufbewahrt werden … Das vom Talmud erwähnte 'Buch des Gedächtnisses', das vor Gott aufgeschlagen liegt, ist also in gewisser Weise eine solche 'Akascha-Chronik´“ (G. Scholem, Von der mystischen Gestalt der Gottheit, 1986, 313). Ein Hinweis auf ein solches „Buch der Taten eines Menschen“ findet sich tatsächlich an einigen biblischen Stellen (Jes 65,6; Mal 3,16: Dan 7,10; Apg 20,12), aber nie ist davon die Rede, dass ein Mensch hellseherisch in einem solchen Buch lesen könnte. Die Leistung von Blavatsky bestand in der Namensgebung und Ausschmückung des von Levi Übernommenen. Wie J.W. Hauer darstellt, fand „man“ (d. h. die Theosophie) in Indien „den Namen für die Weltenchronik – die nebenbei bemerkt keine indische Idee ist – indem man sie mit dem indischen Namen des Weltäthers akasa verband. A.-Chronik hatte einen guten Klang“ (J.-W. Hauer, Werden und Wesen der Anthroposophie, 1922, 91).
R. Steiner übernahm die Definition der A.-Chronik, die Blavatsky ihr beigelegt hatte. Er sagt:
„Alles, was in der sinnlich-physischen Welt geschieht, das hat ja sein Gegenbild in der geistigen Welt … Nehmen wir an, es lässt der Geistesforscher den Blick zurückschweifen bis zu Karl dem Grossen oder bis in die römische Zeit oder in das griechische Altertum. Alles, was da geschehen ist, ist seinen geistigen Urbildern nach durch Spuren erhalten geblieben in der geistigen Welt und kann dort geschaut werden. Dieses Schauen … nennt man das `Lesen in der A.-Chronik'„ (Steiner-GA 112,28).
Über den Vorgang des „Schauens“ bzw. „Lesens in der A.-Chronik führt F. Rittelmeyer folgendes aus:
„Eine Schlacht Cäsars wird also nicht wie von einem körperlichen Zuschauer von außen mit angeschaut, sondern von der Seele Cäsars aus miterlebt und von da in ihrem äußeren Verlauf rekonstruiert. Darum hat Rudolf Steiner, wenn er in eine geschichtliche Zeit eindringen wollte, seinen Ausgang meist genommen von irgendeinem Ereignis, das starke seelische Erlebnisse mit sich brachte. In Bezug auf die christlichen Urgeschehnisse ging er zum Beispiel aus von dem Pfingsterlebnis und suchte von da aus in der Erinnerung der Jünger sich allmählich zurückzutasten, wobei er manchmal an Punkte kam, an denen er dann nicht oder lange nicht weiterkam“ (Theologie und Anthroposophie, 1930, 115).
Von dieser Vorgehensweise aus ergibt sich die Grundhaltung Steiners gegenüber der Bibel und anderen „Urkunden“:
„Und wenn der Geistesforscher ihnen die Ereignisse von Palästina oder die Beobachtungen des Zarathustra beschreibt, so beschreibt er nicht das, was in der Bibel, was in den Gathas steht, sondern er beschreibt, was er selbst in der A.-Chronik zu lesen versteht. Und dann wird eben nachgeforscht, ob das, was in der A.-Chronik entziffert worden ist, sich auch in den Urkunden, in unserm Falle in den Evangelien, findet“ (112,28).
Es ist also „gegenüber den Urkunden ein völlig freier Standpunkt, den die Geistesforschung einnimmt“. Gerade darum aber wird die A.-Chronik nach Meinung Steiners „die eigentliche Richterin sein über das, was in den Urkunden vorkommt“. Wenn dem Geistesforscher „in den Urkunden das gleiche entgegentritt“, was er „in der A.-Chronik selbst zu verfolgen in der Lage“ ist, dann ergibt sich für ihn, „dass diese Urkunden wahr sind, und ferner, dass sie jemand geschrieben haben muss, der auch in die A.-Chronik zu schauen vermag“. „Viele der religiösen und anderen Urkunden des Menschengeschlechtes“ will die Anthroposophie auf diese Weise wiedererobern (112,29f). So gelangt Steiner sogar zu der Aussage:
„Wären durch irgendeine Katastrophe alle Evangelien verlorengegangen, so könnte trotzdem alles gesagt werden, was in der Geisteswissenschaft über den Christus gesagt wird“ (117,106f).
Der Religionswissenschaftler J. W. Hauer wies zu Lebzeiten Steiners (im Jahr 1922) auf folgende Beweismöglichkeit für die Richtigkeit der Schauungen aus der A.-Chronik hin:
„Steiner soll sich irgend ein noch unaufgehelltes Gebiet der Geschichte wählen und dieses aus der Akaschachronik erforschen. Nur muss es ein solches sein, das auf der irdischen Ebene noch so viel Spuren hinterlassen hat, dass eine zweifelsfreie Nachprüfung auf dem Wege des gewöhnlichen Wahrnehmens und Denkens möglich ist. Eine Kommission von ihm selbst genannter Männer, die auf dem betreffenden Gebiete anerkannte Autoritäten sind, aber keine Anthroposophen sein dürfen, soll die Entscheidung fällen, ob seine Angaben stimmen oder nicht“ (Werden und Wesen der Anthroposophie, 1922, 94).
Steiner hat diese Beweismöglichkeit für seine Schauungen nicht ergriffen. Seine Weigerung versucht er folgendermaßen zu erklären:
„Nun könnte jemand, der in solchen Dingen nicht bewandert ist, sagen: Wenn ihr uns erzählt von vergangenen Zeiten, so glauben wir, dass das alles nur Träumerei ist. Denn ihr kennt aus der Geschichte, was der Cäsar getan hat und glaubt dann durch eure mächtige Einbildung irgendwelche unsichtbaren A.-Bilder zu sehen. – Wer aber in diesen Dingen bewandert ist, der weiß, dass es umso leichter ist, in der A.-Chronik zu lesen, je weniger man dieselben Dinge aus der äußeren Geschichte kennt. Denn die äußere Geschichte und ihre Kenntnis ist geradezu eine Störung für den Seher“ (112,29f.).
Daher sei es dem, „der in diesen Sachen bewandert ist“, am allerliebsten, wenn er „von längst vergangenen Entwickelungsstadien unserer Erde sprechen“ könne. Darüber nämlich gebe es „keine Urkunden“. Da berichtet die A.-Chronik „am allertreuesten, weil man am wenigsten dabei durch die äußere Geschichte gestört“ werde (112,31). Als eigentliches Forschungsgebiet der A.-Chronik nennt Steiner also weit in der Vergangenheit (oder in der Zukunft) liegende Ereignisse, von denen keine Urkunden vorhanden sind. Damit zieht er sich auf ein entlegenes Territorium zurück, das durch äußere Daten weder widerlegt noch bewiesen werden kann. Doch selbst von diesen „Epochen“, die als bevorzugtes Forschungsgebiet der A.-Chronik gelten, kann Steiner nur „Einzelbilder“ vermitteln und eine „Schilderung in weniger scharfen Begriffen“ geben (601,160). Seine Beobachtung der „Mondenentwickelung“ etwa liefert „gar nicht etwas in so scharfen und bestimmten Umrissen, wie sie die Erdenwahrnehmungen zeigen“. „Man hat es bei der Mondenepoche gar sehr mit wandelbaren, wechselnden Eindrücken, mit ,schwankenden, beweglichen Bildern zu tun und mit deren Übergängen“ (ebd). Spricht Steiner bei weit entfernten Zeiträumen von „schwankenden, beweglichen Bildern“, so wird er, je näher es an die auch „äußerlich“ erfassbare – und überprüfbare! – Geschichte herangeht, um so zurückhaltender. Hier erwägt er sogar die Möglichkeit von „Störungen „ – und damit von Irrtümern beim Schauen. Die Schuld dafür schreibt er der Ablenkung durch die Kenntnis der „äußeren Geschichte“ zu, die somit geradezu in Konkurrenz zum Lesen der A.-Chronik tritt. Der Zunahme äußerer Daten entspricht die Abnahme der Möglichkeit zur hellseherischen Schau. Eine wissenschaftliche Nachprüfung der Mitteilungen aus der A.-Chronik ist somit nicht nur unmöglich, sondern widerspricht auch Steiners eigener Argumentation. Sie scheidet – ebenso wie eine systemimmanente Beurteilung aus. Was bleibt, ist die Möglichkeit, die Schauungen derer, die den Steinerschen – oder einen ihm entsprechenden – Erkenntnisweg gegangen sind, zu überprüfen – nicht anhand von äußeren Daten, sondern indem wir sie untereinander vergleichen.
Wie Steiner schreibt, will er in dieselbe „Geisterwelt“ eindringen, die schon „der Mystiker, der Gnostiker, der Theosoph“ gekannt haben (600,13). Er will an alte Einweihungswege anknüpfen. Steiner behauptet, dass die „Mitteilungen, die aus solchen geistigen Quellen stammen, nicht immer völlig“, aber doch „im wesentlichen“ übereinstimmen: „Die Eingeweihten schildern zu allen Zeiten und allen Orten im wesentlichen das Gleiche“ (616,17f). Trifft diese Aussage zu? Wir beschränken uns auf einen Vergleich zwischen theosophischer und anthroposophischer Schau. Beide Strömungen erheben den Anspruch, aus der A.-Chronik zu lesen, und doch finden sich zwischen ihren Schauungen auffallende Widersprüche – gerade im Wesentlichen, nämlich im Verständnis des Christus. Der Anthroposoph J. Hemleben drückt es so aus:
„Die entscheidende Differenz, die in den Jahren 1912/13 zum endgültigen Bruch mit der indisch-angelsächsischen Theosophie führte, lag in Steiners Stellung zum Christentum. Bei aller, zeitweise radikalen Ablehnung der historischen Formen und Dogmen der Kirchen, hat er Zeit seines Lebens … in Jesus Christus und dem `Ereignis von Golgatha' das zentrale Geschehen der Erd- und Menschheitsgeschichte gesehen. Diese Sicht war den Theosophen wie Helena Petrowna Blavatsky, Annie Besant und H. S. Olcott fremd“ (J. Hemleben, Rudolf Steiner, 1983, 80).
Die Theosophen sahen in einer „allgemeinen Synthese aller Religionen und ihrer gleichberechtigten Wahrheiten“ ein „hohes Ideal“. Für die „Einmaligkeit“, die in der „Erscheinung des Gottessohnes Christus im Menschen Jesus von Nazareth auf Erden“ gelegen ist, bestand bei ihnen „kein Verstehen und keine Anerkennung“. Statt dessen proklamierte Annie Besant den Hinduknaben Krishnamurti als die „Reinkarnation Christi“ (ebd.). Hätten die „Eingeweihten“ „zu allen Zeiten und allen Orten“ wirklich „im wesentlichen das Gleiche“ in der A.-Chronik lesen können, so hätte es zu einem solchen gravierenden Widerspruch – und damit zur Trennung Steiners von der Theosophischen Gesellschaft – nie kommen dürfen. Hier bleibt nur die Alternative, entweder der theosophischen oder der anthroposophischen Schau zu vertrauen. Nur eine Richtung – wenn überhaupt – kann recht haben (oder keine von beiden!). Wo aber ein solcher Glaube an die Schauenden gefordert wird, ist das Gebiet der wissenschaftlichen Nachprüfbarkeit verlassen.
Wie kommt es nun zu solchen Widersprüchen zwischen den verschiedenen Schauenden? Hemleben gibt folgende Erklärung:
„In diesem Zusammenhange muss gesehen werden, dass die Theosophische Bewegung ihr Hauptquartier in Adyar bei Madras (Indien) hatte und primär aus orientalischen Quellen schöpfte. Rudolf Steiner ehrte den Osten, aber eine Lösung der Probleme des Westens erwartete er nicht von ihm.“ Zu deren Lösung „wird eine Kraft benötigt die aus diesem Geiste des Abendlandes selbst gewonnen ist“ (ebd., 80ff.).
Die Widersprüche rühren also von den unterschiedlichen Traditionen her, in denen die Schauenden stehen: die Theosophie mehr in der orientalischen (hinduistischen und buddhistischen), Steiner mehr in der abendländischen (jüdisch-christlichen) Tradition. Aus dieser Feststellung ergibt sich als weitere Konsequenz: Die jeweilige Tradition – das heißt: der kulturelle und historische Hintergrund – des Schauenden beeinflusst maßgeblich die Inhalte seiner Schauungen. So erweist sich Steiners Behauptung, der Hellseher würde von der „vergänglichen Geschichte“ zur „unvergänglichen“ bzw. zum „Ewigen“ vordringen (616,16f.), als falsch. Es ist sehr wohl die vergängliche Geschichte, an die er anknüpft und die ihm Art und Inhalt seiner Schauungen diktiert, nämlich seine eigene Zeit und Umwelt und auch die bereits vorhandene esoterisch-okkulte Literatur der jeweiligen Tradition. In seinen Schilderungen mit dem Titel „Aus der A.-Chronik“ nennt Steiner gleich im Vorwort selbst seine Quelle, von der er ausgeht und zu der er „Ergänzungen“ bringt:
„Dass der Meeresboden des Atlantischen Ozeans einstmals Festland war, dass er durch etwa eine Million von Jahren der Schauplatz einer Kultur war, die allerdings von unserer heutigen sehr verschieden gewesen ist: dies, sowie die Tatsache, dass die letzten Reste dieses Festlandes im zehnten Jahrtausend v. Chr. untergegangen sind, kann der Leser in dem Büchlein 'Atlantis, nach okkulten Quellen, von W. Scott-Elliot' nachlesen. Hier sollen Mitteilungen gegeben werden über diese uralte Kultur, welche Ergänzungen bilden zu dem in jenem Buch Gesagten“ (616,18).
Während bei Scott-Elliot „mehr die Außenseite, die äußeren Vorgänge bei diesen unseren atlantischen Vorfahren geschildert werden“, soll bei Steiner „einiges verzeichnet werden über ihren seelischen Charakter und über die innere Natur der Verhältnisse, unter denen sie lebten“ (ebd.). Wer war W. Scott-Elliot? Im „Lexikon des Geheimwissens“ von H.E. Miers (1986, 366) findet sich folgende Charakterisierung:
„Scott-Elliot. W, neben Jules Verne einer der ersten Science-Fiction-Schriftsteller; von ihm stammen die Vorlagen, aus denen Annie Besant, Leadbeater und R. Steiner die Einzelheiten über Rassen, Atlantis und Lemuria geschöpft haben.“
In seinem erstmals im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erschienenen Buch „Atlantis nach okkulten Quellen“ hatte Scott-Elliot z.B. die Fähigkeit der „atlantischen Luftfahrzeuge“ folgendermaßen beschrieben: „Die Flughöhe belief sich nur auf einige 100 Fuß, so dass, wenn hohe Berge in der Fluglinie lagen, die Richtung gewechselt und der Berg umfahren werden musste.“ Steiner kennzeichnet in seinem 1904 verfassten Aufsatz mit dem Titel „Unsere atlantischen Vorfahren“ die Fähigkeit der atlantischen Luftfahrzeuge so: „Diese Fahrzeuge fuhren in einer Höhe, die geringer war als die Höhe der Gebirge der atlantischen Zeit, und sie hatten Steuervorrichtungen, durch die sie sich über diese Gebirge erheben konnten“ (616,22f). Während Scott-Elliots Atlantier die Berge umfahren mussten, können sie sich bei Steiner über sie erheben. Dieser Widerspruch ist im Rahmen der A.-Forschung unerklärlich; er löst sich aber auf, wenn wir den Blick weg vom Geschilderten und hin auf die Verfasser richten. Zur Zeit von Scott-Elliot gab es lediglich Heißluftballons, die relativ unbeweglich waren und deren Insassen befürchten mussten, an plötzlich auftauchenden hohen Bergen zu zerschellen. Ein Jahr, bevor Steiner seinen Aufsatz schrieb, hatten hingegen die Gebrüder Wright mit ihrem Doppeldecker „Flyer“ die ersten Motorflüge durchgeführt, bei denen Steuervorrichtungen jede gewünschte Richtungsänderung – sowohl horizontal als auch vertikal – rasch ermöglichten. Die Schau des Hellsehers ist somit- wie auch J. W. Hauer (ebd., 92) schreibt – „in der Richtung fortgeschritten … in der die technische Entwicklung seiner eigenen Zeit fortgeschritten ist. Einen schlagenderen Beweis für die Beeinflussung des Hellsehers durch seine Umgebung kann es kaum geben“. Diese Tatsache aber ist für Hauer wie für uns „der stärkste Anlass zum Zweifel an der Wirklichkeit der Akaschachronik, oder doch wenigstens an der Fähigkeit der theosophischen und anthroposophischen Hellseher, diese Weltenchronik zu lesen“. Wie Hauer sind wir „geneigt, anzunehmen, dass es sich – wenn überhaupt Erlebnisse der Art vorliegen – um Suggestionserlebnisse hellseherischer Naturen handelt, die zu ihren Erleuchtungen durch die … Hingabe an die `Offenbarungen' des Elliotschen Buches (und anderer Schriften; d. Verf.) gekommen sind“.
Hierzu betrachten wir noch etwas näher, wie das „Lesen in der A.-Chronik“ abläuft. Wir erinnern uns an Rittelmeyers Beschreibung: Um Ereignisse der Vergangenheit zu erforschen, versetze sich der Hellseher in die „Seele“ der damals Beteiligten und taste sich – ausgehend von Ereignissen, die „starke seelische Erlebnisse“ mit sich brachten – immer weiter in deren „Erinnerung“ zurück. „Eine Schlacht Cäsars wird … von der Seele Cäsars aus miterlebt“, und das Leben Jesu vom „Pfingsterlebnis“ der Jünger her. Steiner selber beschreibt letzteren Vorgang folgendermaßen:
„Heute will ich von dem sprechen, was man das Pfingstereignis nennt. Es war für mich selber der Ausgangspunkt des Fünften Evangeliums. Den Blick wendete ich zuerst in die Seelen der Apostel und Jünger, die nicht nur nach der Tradition, sondern wirklich versammelt waren zu dem Zeitpunkt des Pfingstfestes … Es gibt einen ungeheuren, tiefgehenden Eindruck, wenn man so zuerst sieht, wie am Pfingstfeste die Seelen der Apostel zurückschauend hinblicken auf das Ereignis von Golgatha. Und ich gestehe, dass ich zuerst den Eindruck hatte, nicht direkt hinblickend auf das Mysterium von Golgatha, sondern schauend in den Seelen der Apostel, wie sie es gesehen hatten, vom Pfingstfeste hin schauend“ (148,208f).
Was geschieht hier? Steiner beansprucht, Mitteilungen von Menschen zu bekommen, die zum Zeitpunkt seiner Schau längst verstorben sind. Auch wenn er diese Tatsache zu verdecken sucht, indem er behauptet, im Geiste zu den damals lebenden Personen zurückzureisen, so handelt es sich faktisch doch um ein Befragen von Totengeistern, d.h. um eine sublime Art von Spiritismus. Durch sein Schauen in die A.-Chronik bzw. in die Seelen von Verstorbenen erweist sich Steiner als ein spiritistisches Medium. Wenn Steiner sich immer wieder gegen den gewöhnlichen Spiritismus, den Bereich „des Aberglaubens, des visionären Träumens, des Mediumismus“ abgrenzt (z. B. in: 600,153 ff), so geschieht das nur insofern, als er diesen Wegen die Befähigung abspricht, in unserer Zeit wirklich zur Erkenntnis höherer Welten zu gelangen: „Was aber durch solche Offenbarungen (sc. des gewöhnlichen Spiritismus und Mediumismus) zutage tritt, ist keine übersinnliche, es ist eine untersinnliche Welt“ (600,155). Rittelmeyer schreibt: „Rudolf Steiner stand … wohl direkt über den medialen Hellsehern der Vergangenheit und Gegenwart, aber eben um eine ganze Spiralwindung höher“ (Theologie und Anthroposophie, 1930, 115). Der Unterschied zwischen Steiner und den medialen Hellsehern des gewöhnlichen Spiritismus ist somit kein prinzipieller, sondern nur ein gradueller. Beide beanspruchen, in Kontakt mit den Geistern Verstorbener zu treten, wenn auch auf verschiedenen Wegen. Beide betreiben somit Spiritismus und unterliegen der gleichen Beurteilung. Nach dem Zeugnis des Alten und Neuen Testaments hat Gott jede solche Betätigung grundsätzlich verboten. Befragung von Totengeistern und Hellseherei gehören zu den heidnischen Praktiken, durch welche der Mensch die Souveränität Gottes und die Alleingültigkeit seiner Offenbarung in Frage stellen und selbst wie Gott sein will. Sie sind Gott ein „Gräuel“ und – als Verstoß gegen das erste Gebot – Sünde (vgl. Ex 20,2f; Lev 19,31; 20,6.27; Dtn 18,10ff; Jes 8,19). Das frühe Christentum hat die schroffe Ablehnung derartiger Praktiken uneingeschränkt übernommen. Die Totenbefragung gehört zu den Praktiken der pharmakoi und magoi, die Gott verwirft (Act 13,6.8; Gal 5,20; Apg 21,8; 22,15). Die A.-Chronik kann somit nicht Richterin der Bibel und anderer Quellen sein, da sie keine unfehlbare Instanz ist, die sich über diese stellen könnte. Weil das angebliche „Lesen“ in ihr durch verhüllt-spiritistische Praktiken zustande kommt, widerspricht es dem Zeugnis der alt- und neutestamentlichen Schriften, die solche Praktiken als Übertretung des ersten Gebots und Sünde verwerfen.
„Schon aus dieser Definition geht hervor, dass A. kein Dogma ist und keine Wissenschaft im gewöhnlichen Sinn, sondern eine solche, für deren Zustandekommen tieferliegende Erkenntniskräfte des Menschen in Anspruch genommen werden müssen“ (C. Unger, die Grundlehren der Anthroposophie, 1968, 73f.).
Der Steiner-Schüler und -Weggefährte Unger grenzt damit die A. sowohl gegen vorgegebene, geoffenbarte Wahrheiten – etwa in christlichen Dogmen – als auch gegen die gewöhnliche (natur)-wissenschaftliche Erkenntnis ab. Anthroposophie will, wie ihr Vertreter O. J. Hartmann formuliert, „Erkenntnis-Weg“ sein und „kein System von Lehrsätzen, das dogmatisch hinzunehmen wäre“ (Anthroposophie, 1950, 12). Steiner selber hat gesagt: „Eine Dogmatik auf irgendeinem Gebiet soll von der Anthroposophischen Gesellschaft ausgeschlossen sein“ (260,47). Freilich führt der Steinersche Erkenntnisweg aber auch zu Erkenntnissen: „A. vermittelt Erkenntnisse, die auf geistige Art gewonnen werden“ (26,14). Diese Erkenntnisse verdichten sich faktisch dann doch zu einem Dogmen- und Lehrsystem, nämlich zur anthroposophischen Weltanschauung, die ihrerseits die Grundlage für den Erkenntnisweg darstellt (s. Erkenntnisse höherer Welten).
Woher bezog Steiner den Begriff „A.“? Neben seinem Studium an der Wiener Technischen Hochschule besuchte er zeitweise auch Vorlesungen an der Universität, etwa bei dem katholischen Theologen und Aristoteles-Forscher Franz Brentano und bei dem Philosophen Robert Zimmermann. Zimmermann war Anhänger der Schule Johann Friedrich Herbarts, der die Philosophie eng mit psychologischen und pädagogischen Kategorien verknüpfte. Herbart und Zimmermann beanspruchten, die psychischen Vorgänge nach streng kausalen Gesetzen analog zur Naturwissenschaft zu erforschen und zu systematisieren – eine Analogie, die später bei Steiner in der behaupteten Entsprechung von übersinnlichen und naturwissenschaftlichen Vorgängen in formal ähnlicher Weise begegnen sollte. In Zimmermanns Vorlesung über „Praktische Philosophie“ hörte Steiner zum ersten Mal den Begriff „A.“. In seinem Werk „A. im Umriss“, das 1882 erschien, definierte Zimmermann diesen Begriff folgendermaßen: A. ist „eine Philosophie, welche (…) anthropozentrisch, d.i. von menschlicher Erfahrung ausgehend und doch Philosophie, d.i. an der Hand des logischen Denkens über dieselbe hinausgehend sein will“ (zit. nach G. Wehr, Rudolf Steiner, 1993, 47). Wie bei Zimmermann wurde im 19. Jahrhundert auch bei L. P. V. Troxler und Immanuel Hermann Fichte, dem Sohn Johann Gottlieb Fichtes, der Begriff „A.“ philosophisch und psychologisch, aber noch nicht esoterisch (wie später bei Steiner) definiert. Adolf Baumann betont zu Recht, dass „die Übereinstimmung von Steiners A. mit diesen früheren Begriffen weitgehend verbaler Art (ist). Die A. beruht zwar auf einem streng bestimmten philosophischen Fundament, ist aber mehr als eine denkerische Konstruktion, nämlich auch Erkenntnisweg und Lebenspraxis“ (ABC der Anthroposophie, 1986, 9).
Die älteste Erwähnung von „A.“ allerdings findet sich im Werk „Anthroposophia Theomagica“, das 1650 erschien. Sein Autor war Thomas Vaughan (Pseudonym: Eugenius Philatheles). Im „Lexikon des Geheimwissens“ wird er beschrieben als Alchemist, Okkultist und „Feuerphilosoph“ sowie als Übersetzer wichtiger Schriften des Geheimbundes der Rosenkreuzer („Fama Fraternitatis“ und „Confessio Fratrum Rosae-Crucis“). Bei ihm ist der Begriff „A.“ sehr stark esoterisch gefüllt (vgl. Miers, Lexikon des Geheimwissens, 1986, 31.317). Obwohl Steiner selber nicht unmittelbar darauf hinweist, ist doch anzunehmen, dass er dieses Werk bei seiner späteren intensiven Beschäftigung mit dem Rosenkreuzer-Schrifttum kennen gelernt hat.
Steiner untergliedert den gegenwärtigen Menschen – unter Aufnahme und Variation von Lehren aus verschiedenen esoterischen Systemen – in vier Leiber: a) physischer Leib (stofflicher Leib); b) Ätherleib (übersinnlicher Form- oder Lebensleib); c) Astralleib (übersinnlicher Bewusstseinsleib, der beim Schlaf sowie zwischen Tod und neuer Geburt im Weltall weilt); d) Ich (Erinnerungsleib). In Zukunft wird sich der Mensch in einem Prozess von Wiederverkörperung (Reinkarnation) und Schicksalsgesetz (Karma) über die Stufen „Geistselbst“ und „Lebensgeist“ zum „Geistesmenschen „ weiterentwickeln. Die sieben Entwicklungsstufen erfolgen in sieben Weltzeitaltern, die mehrheitlich nach verschiedenen Himmelskörpern benannt sind: Saturn-, Sonnen-, Monden-, Erden-, Jupiter-, Venus- und Vulkan-Zeitalter. Gegenwärtig befinden wir uns im vierten, im Erden-Zeitalter, das die Ausbildung des menschlichen Ich-Leibes zum Ziel hat. „Saturn“, „Sonne“ und „Mond“ sind nicht einfach (im räumlichen Sinn) mit den gleichlautenden Planeten unseres Sonnensystems gleichzusetzen, sondern sie sollen (in einem zeitlichen Sinn) „Namen für vergangene Entwickelungsformen sein, welche die Erde durchgemacht hat“ (601,111). Ebenso sind „Jupiter“, „Venus“ und „Vulkan“ Entwicklungsstufen, die die Erde durchmachen wird. Die Geschichte ist ein Wechselspiel von Evolution (Fortentwicklung der Materie) und Involution (Eingießen des geistigen Prinzips aus unsichtbaren Welten). Dabei kommt es zu einer Höherentwicklung in Form aufsteigender Kreise (das Bild der Spirale als Verbindung östlich-zyklischen und westlich-teleologischen Geschichtsdenkens). Dieses Geschichtssystem Steiners ist deutlich von Blavatskys „Geheimlehre“ beeinflusst (Theosophie). Zudem kommt in der Grundanschauung vom Fall in die Materie und Wiederaufstieg zum Geist, die hinter den folgenden Auffassungen steht, grundlegendes gnostisches Gedankengut zur Geltung (Gnosis).
Die Aufwärtsentwicklung des Menschen wurde laut Steiner gestört, weil er zu früh – nämlich vor Ausbildung des Ich – nach Freiheit und Gottähnlichkeit strebte. Schon vorher war es – und hier treten in der A. „höhere Geisteswelten“ auf den Plan – zu einem Aufstand der in der Entwicklung zurückgebliebenen Mondenwesen gegen die guten, lebensspendenden Sonnenwesen gekommen – und wegen des Streits dieser Geister auch zur Trennung der Himmelskörper. Die aufrührerischen Mondenwesen gossen dem Menschen (der erst aus Astralleib, Ätherleib und einem unsichtbaren physischen Leib bestand!) Leidenschaften, Triebe und Begierden in seinen astralischen Leib. Dieser Vorgang wird von Steiner als „Luzifer-Ereignis“ bezeichnet und mit der Schilderung in 1. Mose 3 gleichgesetzt. „Ihr werdet sein wie Gott“ (Gen 3,5) – wäre dieser Satz später – an das Ich gerichtet – gehört und befolgt worden, dann hätte er in ruhiger Weise die Entwicklung des Menschen zum Geistesmenschen fortgesetzt. So aber, an den astralischen Leib gerichtet, geriet die gesamte Entwicklung durcheinander. Der Mensch wurde tiefer als geplant in die Materie verstrickt, und Ahriman als polarer Gegensatz zum übergeistigen Luzifer redet ihm jetzt ein, es gäbe nichts als Materie. Der physische Leib wurde sichtbar. Egoismus, Krankheit, Lüge und die Möglichkeit zum Bösen traten in die Welt.
„Der Christus“ – Steiner gebraucht fast immer diese Bezeichnung mit Artikel – soll die Verstrickung in die Materie wieder aufheben und die Wiedervergeistigung des Menschen und des Kosmos einleiten. Wer ist „der Christus“ nach anthroposophischem Verständnis? Er ist der „Logos“, die „Summe der sechs Elohim [Mehrzahl; d. Verf.], die mit der Sonne vereinigt sind, die also die Erde mit ihren Gaben geistig beschenken“ (103,130). Von ihnen hat sich Jahwe als siebter Elohim, als Beherrscher der Mondengeister, die als verhärtende, entwicklungshemmende Prinzipien tätig sind, abgespalten. Auch hier finden wir bei Steiner deutliche Anklänge an gnostische Anschauungen, etwa bei dem frühen Gnostiker Satornil (Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr.):
„Satontil lehrt, gleich wie Menander, einen allen unbekannten Vater, der Engel, Erzengel, Kräfte und Gewalten gemacht hätte. Von sieben Engeln sei die Welt und alles in ihr entstanden, auch der Mensch sei ein Engelgebilde … Und der Gott der Juden, sagt er, sei einer der Engel, und weil den Vater alle `Mächte' vernichten wollten, sei Christus zur Vernichtung des Gottes der Juden erschienen und zur Rettung derer, die ihm glauben, das seien die, die den Lebensfunken in sich hätten“ (Irenaeus, adv. haer. I 24,1-2).
Solche gnostischen „Parallelen“ ließen sich leicht vermehren. Aufs Ganze gesehen vertritt die A. eine historisch gedehnte und in ihrer universalen Weite moderne Form des Synkretismus. Denn jene hohe Sonnenwesenheit, die sich als „der Christus“ in „Jesus“ verkörpert, hat vorher schon andere Figuren der Religionsgeschichte als Hüllen benutzt, um ihre lichtvollen Impulse in die Menschheitsgeschichte hineinzugeben, z.B. Vishva-Karman bei den Indern, Ahura-Mazdao bei den Persern, „Ich bin“ (Jahwe) und die Elemente (etwa Wolken- und Feuersäule) bei den Hebräern, Mysterieneingeweihte bei den Ägyptern sowie – in zunehmender Dekadenz – bei den Griechen und Römern. Mit „Indern“ und „Persern“ meint Steiner zunächst nicht die uns bekannten Kulturen aus historisch erforschbaren Zeiträumen, sondern vorhistorische Formen, deren Erforschung nur dem Hellseher möglich ist und die die Vorstufen der uns bekannten „Inder“ und „Perser“ bilden (vgl. 601,205ff).
Die Verkörperung des Christus in Jesus nun ist Höhepunkt und Abschluss aller anderen Verkörperungen, weil hierdurch der entscheidende Impuls zur Wiedervergeistigung und Emporentwicklung in die Menschheit einfließt. Der Ertrag aller bisherigen Verkörperungen strömt hier zusammen. Weil eine Individualität diese Fülle nicht fassen kann (sie würde die physische Leiblichkeit sprengen), sind zunächst zwei Jesusknaben zur Ausbildung der einzelnen Leiber notwendig, und zwar einer, der die indische Buddha-, und einer, der die persische Zarathustra-Strömung verkörpert. Mit zwölf Jahren ist die notwendige Reife erlangt. Beide Knaben fließen in eine Individualität zusammen, wobei der physische Leib des einen stirbt. Die Lehre von den „zwei Jesusknaben“ ist eine Steinersche Sonderlehre, die – ebenso wie die weiteren Spezifika der nachfolgend geschilderten Christosophie – in der Theosophie kein Vorbild hat und zur Trennung Steiners von der Theosophischen Gesellschaft beitrug. Bei der Jordantaufe verlässt das Zarathustra-Ich laut Steiner den Jesusleib, und das Christus-Ich, der Christus-Sonnengeist tritt – symbolisiert durch die Taube – in ihn ein. Dieser Christus wird nun zum Verkünder des „Ich“, das auch als „Kyrios“ („Herr“) bezeichnet wird. Der Mensch soll den „Gott in sich“ finden und dadurch zum wahren Ich-Menschentum, zur Freiheit des Geisteslebens und zur Selbstbestimmung aufsteigen. Durch die Predigt des Christus erfolgt die Bewusstmachung des Ich, durch seine Heilungen die Auferweckung des Ich im Menschen. In diesen modern anmutenden Gedanken ist der Einfluss von Fichtes Ich-Philosophie unübersehbar.
Nach anthroposophischem Verständnis liefert der Christus selbst den Impuls zur Selbstvergottung, Selbststeigerung, Wiedervergeistigung und Weiterentwicklung des Menschen und des Kosmos – und zwar durch das „Mysterium von Golgatha“. Hier gibt es nun für Steiner ein Ereignis von zentraler Bedeutung, das die biblischen Autoren allerdings so nicht berichten: Das Blut des am Kreuz Hängenden sei in die Erde getropft und habe dadurch den entscheidenden Impuls zur Vergeistigung der Erde gegeben. Denn im Blut des am Kreuz Hängenden wohnte „Sonnenkraft“, die die Erdenaura verwandelte und die Wiedervereinigung der getrennten Himmelskörper Sonne, Mond und Erde in die Wege leitete. Christus, der „Sonnengeist“, ist zum „Geist der Erde“ geworden (103,132). Das Fließen des Blutes beim Kreuzestod Jesu wird somit als entscheidender Impuls für das Weitergehen der Evolution betrachtet, als geradezu naturgesetzlicher Prozess. Wie hier bedient sich Steiner oft naturalistischer Begriffe in seiner Auslegung geistlicher Tatsachen. Hier schwingen offensichtlich alchemistische Vorstellungen der mittelalterlichen Esoterik und des Rosenkreuzertums mit. Die Wirkung des Blutes wird mit einer chemischen Reaktion gleichgesetzt, so wie wenn sich zwei Elemente (hier: Sonnen- und Erdenkräfte) verbinden. Das soll auch erklären, warum im Blut noch die Christuskraft wohnte, obwohl laut Steiner der Christus bei der Kreuzigung gar nicht mehr im Jesusleib war: Die zeitweilige Verschmelzung des Christus mit dem Jesus halte das Blut umgewandelt. Bereits im Garten Gethsemane hatte sich hingegen das Christus-Ich selber mehr und mehr aus dem Jesusleib zurückgezogen, was nach Meinung Steiners z.B. durch das Blutschwitzen Jesu, vollends aber durch den fliehenden nackten Jüngling (Mk 14,51f), der dem Christus entsprechen solle, angedeutet wird. Dieses Christusverständnis weist deutliche Parallelen auf zum doketischen System des Gnostikers Kerinth, eines Zeitgenossen Satornils und angeblichen Gegners des Evangelisten Johannes. Gemäß Kerinth ist auf Jesus nach der Taufe „von der obersten Macht, die über allem ist, Christus in der Gestalt einer Taube herabgestiegen, und darauf habe er den unbekannten Vater verkündigt und Machttaten vollbracht. Am Ende aber habe sich Christus wieder von Jesus getrennt, Jesus sei gekreuzigt worden und auferstanden. Christus aber sei leidensunfähig geblieben, da er pneumatisch gewesen sei“ (Irenaeus, adv. haer. I 26,1).
Es wäre falsch, einfach zu sagen, dass Steiner die „Selbsterlösung“ lehre, dass bei ihm „alles nur aus eigener menschlicher Kraft“ gehe, wie manche Kritiker der A. behaupten. „Der Christus“ hat durchaus etwas getan: Er hat die „Erbsünde“ (für Steiner: den „Sündenfall“, den er mit den antiken Gnostikern im Anschluss an den Platonismus als ein Gebundenwerden des Geistigen durch die Materie verstand) überwunden und den Impuls zur Wiedervergeistigung gegeben. Diese „Erlösung“ macht die Selbsterlösung (den karmischen Ausgleich der einzelnen Aktualsünden) möglich, indem der Christus uns zeigt, wie die Kräfte zur Besiegung der Materie in uns selber (!) gefunden werden. Freilich läuft diese Erlösungsvorstellung letztlich für den einzelnen Menschen doch auf eine Selbsterlösung hinaus, aber sie ist komplizierter, als gemeinhin angenommen wird.
Die Auferstehung, d.h. die Rückkehr des Christusgeistes in den verdichteten Ätherleib des Jesus, ist Bestätigung für die begonnene Wiedervergeistigung der Erde. Und der Christus als der herabgestiegene „Sonnengeist“, der zum „Erdgeist“ geworden ist, wird durch „Äthersehen“, eine besondere Art des Hellsehens, erkannt. Deshalb sind nach dem Verständnis Steiners Himmelfahrt, Pfingsten, das Damaskus-Erlebnis des Paulus und die Wiederkunft des Christus weniger objektive Ereignisse außerhalb des Menschen als vielmehr unterschiedliche Wahrnehmungsstufen im Menschen. Bei der Himmelfahrt geht die Gabe, den Christus hellseherisch wahrzunehmen, vorübergehend verloren. An Pfingsten und vor Damaskus (Paulus) wird sie in einzelnen Jüngern wiedererweckt. Und „Wiederkunft“ bedeutet, dass nach dem Zuendegehen des „Finsteren Zeitalters“ („Kali Yuga“) im Jahre 1895 nach und nach immer mehr Menschen den Christus und sein längst begonnenes Werk der Vergeistigung der Erde hellseherisch wahrnehmen können, indem sie die Gabe des Äthersehens erlangen. Auf diese Gabe, die im Laufe der evolutionären Entwicklung zum Geistesmenschen jeder bekommen wird, kann man heute schon durch anthroposophische Schulung gezielt hinarbeiten.
Nach dem Zeugnis der biblischen Offenbarung ist Jesus Christus der Sohn des lebendigen, persönlichen Gottes. Jesus Christus ist der einzige und wahre Weg zum Vater (Joh. 14,6), der durch seinen stellvertretenden Kreuzestod auf Golgatha die vollständige Erlösung und Befreiung von unseren Sünden erwirkt hat und der kraft seiner Auferstehung jedem Menschen ewiges Leben anbietet, der an ihn glaubt. Bei Steiner hingegen, der Jesus und Christus trennt und aus „Christus“ (in der Bibel ein Würdetitel) ein „Prinzip“ macht, erfolgt durch den Blut-Erde-Kontakt ein kosmischer Impuls zum Weitertreiben der Evolution. Das sind zwei völlig verschiedene Welten. Der biblischen Offenbarung tritt die menschlich-okkulte Spekulation gegenüber, die nicht nur unbiblisch, sondern darüber hinaus noch geschmacklos und gotteslästerlich ist. Der Steinersche Christus schenkt keine Erlösung, sondern gibt einen – wenn auch „wichtigen“ – Impuls zur Selbsterlösung, zum Weiterschreiten im evolutiven Prozess durch die Verkörperungen hindurch und zum Anhäufen guter Taten. Die heidnische Reinkarnations- und Karmalehre wird an die Bibel herangetragen (Reinkarnation), der alte, längst überwunden geglaubte Weg der Werkgerechtigkeit wieder beschritten – etwa gemäss dem Goetheschen Motto: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“ (Faust II, Chor der Engel). Damit aber wird das Evangelium, die Frohbotschaft von der Erlösung des Sünders, verraten. Unsere Antwort auf die anthroposophischen Lehren lässt sich kurz und konzentriert anhand der biblisch-reformatorischen Hauptartikel zusammenfassen:
a. Allein Jesus Christus ist der lebendige Sohn Gottes, ist wahrer Gott und wahrer Mensch, ist Erlöser und Herr. Wer andere Mächte über oder neben Jesus Christus stellt oder einen anderen Christus verkündigt, als die Bibel es tut, der verkündigt einen Anti-Christus (Mt 24,24).
b. Allein die Heilige Schrift, die Bibel, ist die vollgültige, ausreichende und heilsnotwendige Offenbarung Gottes an uns. Wir brauchen keine „Erkenntnisse höherer Welten“ und keine „Akasha-Chronik“. Wer „geistliche Wahrheiten“ verkündigen will, die über die Schrift hinausgehen oder gar in Widerspruch zu ihrem Gesamtkontext und Wortsinn treten, wie es bei der A. der Fall ist – der verkündigt ein anderes, ein Anti-Evangelium (Gal 1,6).
c. Allein die Gnade ist der Ausweg aus der real existierenden und knechtenden Macht der Sünde – und nicht ein spekulativer Evolutionsimpuls eines verfälschten Christus, der den Menschen zur Selbsterlösung anspornen soll – und ihn damit in die Verzweiflung führt (Röm 3,23f.).
d. Allein der Glaube als die kindliche, vertrauensvolle Annahme des Erlösungsopfers Jesu Christi am Kreuz lässt die Gnade im Leben des Christen wirksam werden und schafft Erlösung – und nicht eine Spekulations- und Erkenntnissucht nach gnostischem Vorbild, die der menschlichen Selbststeigerung dient und Gott verdrängen will (Röm 3,28).
Unser Ergebnis lautet somit: Anthroposophische Weltanschauung und christlicher Glaube sind unvereinbar.
Zur Vorgeschichte siehe v.a. die Artikel: Steiner, Rudolf; Theosophie.
Im Januar 1923 steht Rudolf Steiner vor drei Trümmerhaufen: vor den Trümmern des ersten Goetheanums, vor den Trümmern des Berliner Philosophisch-Anthroposophischen Verlages und vor den Trümmern der Anthroposophischen Gesellschaft. Und er beschließt, so weit es geht die Schäden zu beheben.
So entwirft er das Modell für ein zweites, weniger leicht zerstörbares Goetheanum, einen eher eckigen Stahlbetonbau. Er veranlasst noch im gleichen Jahr seine Errichtung, wird aber die Vollendung dieses Bauwerks im Jahre 1929 nicht mehr erleben. Die Vorträge und Aufführungen in Dornach werden vorerst in der Schreinerei neben der Ruine des Goetheanums fortgesetzt.
Der Philosophisch-Anthroposophische Verlag wird aus dem unsicheren und von Inflation geschüttelten Deutschland in die Schweiz nach Dornach geholt und unter der Leitung seiner Frau Marie Steiner weitergeführt.
Am schwersten zu beheben ist aber der „Trümmerhaufen“ in der Mitgliedschaft der Anthroposophischen Gesellschaft. Wie dieser zu Beginn des Jahres 1923 aussieht, beschreibt der Steiner-Biograph Gerhard Wehr folgendermaßen:
„In den führenden Kreisen, und zwar bis in den Vorstand der Gesellschaft hinein, fehlte es an dem nötigen Bewusstsein, wie eine aus dem Spirituellen heraus wirkende, sich an die Kulturwelt wendende Anthroposophische Gesellschaft zu führen sei … Das Gros in Leitung und Mitgliedschaft war den hohen spirituellen wie moralisch-sachlichen Anforderungen, die Steiner stellen musste, letztlich nicht gewachsen.“
Im sogenannten Stuttgarter Kreis der „Dreißig“ hört man „von endlosen Verhandlungen, von ermüdenden Nachtsitzungen, die an Steiners Kräften offensichtlich stärker zehrten als die eigentliche produktive Tätigkeit, denn für Konfliktstoffe, die bis zu menschlich-allzumenschlichen Rivalitäten und Eifersüchteleien unter den Mitgliedern dieses 'Aktiv`-Kreises reichten, war ständig gesorgt“. Hinzu kommt die „sich noch verstärkende Spannung zwischen junger und älterer Generation“. Die Lage spitzt sich schließlich so weit zu, dass Steiner ernstlich daran denkt, „sich zusammen mit Marie Steiner von dieser Anthroposophischen Gesellschaft zu trennen, um gegebenenfalls in einem ordensähnlichen Zusammenhang die ihm verbleibenden Kräfte für die Pflege der anthroposophischen Esoterik einzusetzen“ (Wehr 1993, 337ff.).
Doch das geschieht nicht. Vielmehr kommt es zu einer Neustrukturierung der anthroposophischen Bewegung, die sich in der Gründung der „Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft“ an Weihnachten 1923 in der Dornacher Schreinerei manifestiert. Rudolf Steiner, der in der bisherigen Anthroposophischen Gesellschaft nur als Berater und spiritueller Lehrer fungiert hatte, übernimmt nun selbst den Vorsitz und verbindet somit seine Person ganz mit dieser Organisation. Die Gründungsversammlung, die nun tatsächlich einen freimaurerisch-ordensähnlichen Charakter trägt (Freimaurer-Impuls), hat Wehr wie folgt dokumentiert:
„Pünktlich um 10 Uhr werden auf Steiners Veranlassung hin die Türen zur Schreinerei abgeschlossen. Die Handlung soll durch später Hinzukommende nicht gestört werden. Erwartungsvolle Stille herrscht, als Rudolf Steiner den Saal betritt, zum Rednerpult geht und mit drei symbolischen Hammerschlägen seine Grundsteinansprache eröffnet. Damit ist zumindest den alten Mitgliedern, die einst dem inneren Kreis der Esoterischen Schule bzw. der Mystica Aeterna angehört haben, klar, dass Steiner bis in den rituellen Vollzug hinein gewillt ist, die einst hergestellte Kontinuität mit älteren esoterischen Traditionen fortzusetzen.
In eben diesem Zusammenhang ist auch die Begründung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft zu sehen, die eben nicht als bloßes Gegenstück oder als Abklatsch herkömmlicher akademischer Bildungsstätten angesehen werden will … Ihr Spezifikum besteht gerade darin, dass in ihrem Rahmen die Bildung von drei Klassen vorgesehen ist, analog zu den drei Graden etwa in freimaurerischen oder Mysterien-Zusammenhängen … Dass er (sc. Steiner) … gewillt war, die früher genannte Mysterienströmung von John Yarker, d.h. der Hochgradlogen des östlichen Templerordens (Ordo Templi Orientis, O.T.O.) fortzuführen, geht aus mancherlei Hinweisen hervor, die gesprächsweise überliefert sind“ (Wehr 1993, 351f.).
Analog zur Grundsteinlegung für den Bau des ersten Goetheanums im Jahre 1913 erfolgt nun eine „geistige Grundsteinlegung“ durch einen an die rosenkreuzerische Esoterik anknüpfenden Spruch:
„Dieser sprachliche 'Grundstein` (auch 'Grundsteinspruch` genannt) ist eine der tiefsten und dichtesten Spruchdichtungen Steiners. Indem er durch das mantrische Gedicht das delphische 'Erkenne dich selbst!` von der äußeren Tempelfront gleichsam in die Seele hereinholte, legte er den Grund für eine neue, von innen kommende Mysterienkultur in der zeitgemäßen Form trinitarischen Wissens des Menschen von sich selbst. Der 'nach Geist, Seele und Leib` … gegliederte Mensch … wird zu der göttlichen Trinität und den drei Hierarchien in Beziehung gesetzt. Diese neue Mysterienkultur hat ihren Hauptsitz am Goetheanum. Wie die Flammen beim Brand des Artemistempels in Ephesus den Zerfall des alten Mysterienwesens anzeigten, beleuchteten die Flammen des brennenden ersten Goetheanums den neuen christlichen Mysterienweg, der gewissermaßen durch das zweite Goetheanum in die Zukunft führt“ (Baumann 1986, 112f.).
Es ist ein weiteres Indiz für den – trotz christlicher Terminologie – zutiefst heidnischen Charakter der Anthroposophie, dass Baumann in Anknüpfung an Steiner den Brand des Goetheanums mit dem brennenden Artemistempel in Ephesus vergleicht. Die griechische Artemis war eine Fruchtbarkeitsgöttin. Im späteren griechisch-römischen Synkretismus (interpretatio latina) wurde sie mit Diana, der Göttin der Jagd, identifiziert. Mit dem Artemis-Diana-Kult war viel Magie und Zauberei verbunden. Die Apostel Jesu Christi haben gegen dieses Heidentum gekämpft und wurden dafür verfolgt (Apg 19). Die Anthroposophie aber möchte an das alte Mysterienwesen positiv anknüpfen. Welcher Gegensatz! Der von Steiner für die Konstituierung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft formulierte Grundsteinspruch beginnt mit den Worten:
„Menschenseele!/ Du lebest in den Gliedern,/ Die dich durch die Raumeswelt/ Im Geistesmeereswesen tragen:/ Übe Geist-Erinnern,/ In Seelentiefen,/ Wo in waltendem/ Weltenschöpfer-Sein/ Das eigne Ich/ Im Gottes-Ich/ Erweset;/ Und du wirst wahrhaft leben/ Im Menschen-Welten-Wesen“ (zit. nach Baumann 1986, 114).
Hier ist reinster Pantheismus ausgesprochen.
Für die Grundsteinlegung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft bei der Weihnachtstagung 1923 hat Steiner selber feste Statuten formuliert, die ich auszugsweise – zum Teil mit kurzen Kommentaren versehen – wiedergebe (sie finden sich z.B. in: 260, 43ff.):
1. „Die Anthroposophische Gesellschaft soll eine Vereinigung von Menschen sein, die das seelische Leben im einzelnen Menschen und in der menschlichen Gesellschaft auf der Grundlage einer wahren Erkenntnis der geistigen Welt pflegen wollen.“ (Diese „wahre Erkenntnis der geistigen Welt“ ermöglicht angeblich der Steinersche Erkenntnisweg; Erkenntnisse höherer Welten).
2. „Den Grundstock dieser Gesellschaft bilden die in der Weihnachtstagung 1923 am Goetheanum in Dornach versammelten Persönlichkeiten, sowohl die einzelnen, wie auch die Gruppen, die sie vertreten ließen …“ (Ungefähr 800 Besucher sind bei der Weihnachtstagung zugegen.)
3. Diese „erkennen zustimmend die Anschauung der Goetheanum-Leitung in Bezug auf das Folgende an: 'Die im Goetheanum gepflegte Anthroposophie führt zu Ergebnissen, die jedem Menschen ohne Unterschied der Nation, des Standes, der Religion als Anregung für das geistige Leben dienen können` … Ihre Forschung und die sachgemäße Beurteilung ihrer Forschungsergebnisse unterliegt aber der geisteswissenschaftlichen Schulung, die stufenweise zu erlangen ist. Diese Ergebnisse sind auf ihre Art so exakt wie die Ergebnisse der wahren Naturwissenschaft.“ (Mit der Behauptung der wissenschaftlichen Exaktheit setze ich mich in den Artikeln Akasha-Chronik und Erkenntnisse höherer Welten kritisch auseinander. Auffällig ist der interreligiöse Anspruch Steiners, der stark den Statuten der Theosophischen Gesellschaft Blavatskys ähnelt; Theosophie)
4. „Die Anthroposophische Gesellschaft ist keine Geheimgesellschaft, sondern eine durchaus öffentliche … Die Gesellschaft lehnt jedes sektiererische Bestreben ab. Die Politik betrachtet sie nicht als in ihren Aufgaben liegend.“ (Den Sektencharakter will Steiner etwa im Gegenüber zur Theosophischen Gesellschaft, deren Denken zum Teil auch in die erste Anthroposophische Gesellschaft hinübergewandert ist, vermeiden. Sein Spezifikum im Unterschied zu anderen Esoterikern ist zudem die „Mysterienveröffentlichung“. Insofern ist Steiner kein „Esoteriker“ im wörtlichen Sinn mehr.)
5. „Die Anthroposophische Gesellschaft sieht ein Zentrum ihres Wirkens in der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach. Diese wird in drei Klassen bestehen …“ (Damit erklärt Steiner das – wieder zu erbauende – Goetheanum mit seiner Hochschule zum Mittelpunkt der anthroposophischen Bewegung.)
6. „Jedes Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft hat das Recht, an allen von ihr veranstalteten Vorträgen, sonstigen Darbietungen und Versammlungen unter dem vom Vorstande bekanntzugebenden Bedingungen teilzunehmen.“ (Man beachte, welche zentrale Rolle der Vorstand unter der Leitung Steiners nun spielt! Siehe auch Punkt 7.)
7. „Die Einrichtung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft obliegt zunächst Rudolf Steiner, der seine Mitarbeiter und seinen eventuellen Nachfolger zu ernennen hat.“
8. „Alle Publikationen der Gesellschaft werden öffentlich in der Art wie diejenigen anderer öffentlicher Gesellschaften sein. Von dieser Öffentlichkeit werden auch die Publikationen der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft keine Ausnahme machen, doch nimmt die Leitung der Schule für sich in Anspruch, dass sie von vorneherein jedem Urteil über diese Schriften die Berechtigung bestreitet, das nicht auf die Schulung gestützt ist, aus der sie hervorgegangen sind … Es wird niemand für diese Schriften ein kompetentes Urteil zugestanden, der nicht die von dieser Schule geltend gemachte Vor-Erkenntnis durch sie oder auf eine andere von ihr selbst als gleichbedeutend erkannte Weise erworben hat. Andere Beurteilungen werden insofern abgelehnt, als die Verfasser der entsprechenden Schriften sich in keine Diskussionen über dieselben einlassen.“ (Da die Veröffentlichung der für Außenstehende besonders anstößigen internen Vorträge nicht mehr zu verhindern ist, werden sie nun freigegeben und im seit 1923 in Dornach befindlichen Philosophisch-Anthroposophischen Verlag unter Leitung Marie Steiners veröffentlicht. Obige Regelung soll zumindest einen „moralischen Schutz“ gegen Kritiker bieten, wenn der „physische Schutz“ nicht mehr zu gewährleisten ist. Die Ablehnung der Diskussion mit Außenstehenden spricht aber jedem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit Hohn.)
9. „Das Ziel der Anthroposophischen Gesellschaft wird die Förderung der Forschung auf geistigem Gebiete, das der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft diese Forschung selbst sein. Eine Dogmatik auf irgendeinem Gebiete soll von der Anthroposophischen Gesellschaft ausgeschlossen sein.“ (Wird dieser Punkt nicht durch den vorausgegangenen äußerst unglaubwürdig?)
Die weiteren Statuten befassen sich mit organisatorischen Fragen. Der neu gewählte Vorstand, in dem Steiner als Vorsitzender fungiert, setzt sich aus folgenden Personen zusammen, denen jeweils noch die Leitung einer Sektion an der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft anvertraut ist: Albert Steffen (stellvertretender Vorsitzender, Sektion für schöne Wissenschaften); Marie Steiner (Sektion für redende und musikalische Künste); Ita Wegman (medizinische Sektion); Elisabeth Vreede (mathematisch-astronomische Sektion); Guenther Wachsmuth (Sekretär und Schatzmeister; naturwissenschaftliche Sektion). Nach Steiners Tod wird Albert Steffen erster Vorsitzender werden. Zwischen einzelnen Vorstandsmitgliedern – vor allem zwischen Marie Steiner und Ita Wegman – wird es zu schweren Konflikten kommen. Doch zunächst scheint die anthroposophische Bewegung gerettet. Die Besucher der Weihnachtstagung sind von einer Aufbruchstimmung erfüllt, die Rudolf Steiner in seinem Eröffnungsvortrag mit geradezu beschwörenden Worten gefordert hat:
„Und wir werden die rechte Stimmung finden, meine lieben Freunde, für diese Weihnachtstagung, wenn wir regsam machen können in unserem Herzen die Empfindung, dass der Trümmerhaufen, vor dem wir stehen, Maja, Illusion ist, dass vieles von dem, was uns unmittelbar hier umgibt, Maja, Illusion ist.“
Und dazu gehört ganz konkret die schlecht isolierte Holzbaracke, in der die Teilnehmer eine Woche lang frierend ausharren müssen. „Aber auch diesen Frost … wollen wir hinzurechnen zu dem, was Maja, was Illusion ist“ (260, 28f.), meint Steiner.
Doch die scheinbare Illusion weicht nur zu bald der bitteren Wirklichkeit. Bereits am 1. Januar des neuen Jahres, am letzten Tag der Weihnachtstagung, geschieht etwas, das die letzte Wegstrecke Steiners ankündigt, worüber es aber die unterschiedlichsten Interpretationen gibt: Er wird ganz plötzlich krank. Und auch über diese Krankheit wird von seinen Anhängern, wie über so vieles in seinem Leben, der Schleier des Geheimnisses gelegt, so dass man bis heute nicht sicher weiß, um was für eine Krankheit es sich gehandelt hat. Marie Steiner z.B. spricht von einer Vergiftung, während Guenther Wachsmuth dies energisch bestreitet. Betrachten wir die unterschiedlichen Versionen. Nach Lidia Gentilli-Barattos Aufzeichnungen habe sich Marie Steiner ihr gegenüber so geäußert:
„Ja, Rudolf Steiner wurde vergiftet, am letzten Tag der Weihnachtstagung, bei dem Rout, der in der Schreinerei stattfand … Ich war in ein Gespräch mit Dr. Wachsmuth vertieft, als der Doktor plötzlich hereinkam, grün wie dieses Blatt. Er lehnte sich an den Türpfosten, schaute uns verzweifelt an und sagte: 'Wir sind vergiftet!` Ich war vom Schrecken wie gelähmt. Er fragte uns sofort, ob wir etwas getrunken hätten, und als ich verneinte und er bemerkte, dass Dr. Wachsmuth nichts widerfahren war, atmete er erleichtert auf … Dr. Wachsmuth wollte sofort eilen und einen Arzt rufen, aber Dr. Steiner verbot es ihm mit allem Nachdruck. Dr. Wachsmuth entfernte sich mit dem Versprechen, dass kein Mensch davon erfahren dürfte, dass kein Arzt gerufen werden dürfte. Der Doktor ließ sich dann alle Milch geben, die im Raume vorhanden war, und unternahm damit selber eine Magenspülung … Er war seitdem dem Tode geweiht“ (zit. nach Wehr 1993, 356f.).
Der in diesem Bericht vorkommende Dr. Guenther Wachsmuth gibt die gegenteilige Version ab:
„Obwohl Rudolf Steiner die hie und da während seiner Krankheit auftauchenden Irrtümer selbst richtigstellte, sind doch damals und auch später falsche Vermutungen verbreitet worden. So ist sogar die Legende aufgetaucht, seine Krankheit sei durch Vergiftung verursacht worden, die Krankheit habe Ende des Jahres 1923 begonnen und andere unreale Vermutungen mehr. Für diejenigen, welche in den letzten Lebensjahren in Rudolf Steiners nächster Umgebung waren und ihn auf seinen Reisen begleiteten, waren die ersten Symptome der Krankheit jedoch schon vorher mit Sorge zu erleben. Es sei aus obigen Gründen hier auch ausgesprochen, dass beim Tode Rudolf Steiners eine ärztliche Untersuchung, bei der drei Ärzte, Dr. I. Wegman, Dr. L. Noll, Dr. H. Walter und ich anwesend waren, die bisherige Diagnose bestätigte, so dass die mancherorts geäußerte Vermutung einer Vergiftung in keiner Weise zutreffend ist“ (Wachsmuth 1951, 619).
Wachsmuth führt Erkrankung und Tod Rudolf Steiners auf die Arbeitsüberlastung und die schweren Schicksalsschläge in den letzten Lebensjahren zurück. Er spricht von einer „Erkrankung des Stoffwechselsystems“, die ihm zunehmende Schmerzen bereitet habe (a.a.O., 605). Weitere Symptome wie Appetitlosigkeit und die Abmagerung bis zum „Skelett“ (Wehr 1993, 381ff.) könnten Hinweis darauf sein, dass das Zentrum der Krankheit im Magen liegt. Dies wiederum würde sich zwar mit einer Vergiftung erklären lassen, doch bleibt dann die ungeheure Arbeitsleistung, die Steiner in den neun Monaten zwischen dieser „Vergiftung“ und seinem Krankenlager vollbringt, schwer verständlich. Oder verlief die Vergiftung so langsam und chronisch, dass sie erst neun Monate später den Körper ihres Opfers niederstreckte? Wir wissen es nicht. – Eine andere Vermutung, die in der Literatur verschiedentlich geäußert wird und die meines Erachtens größere Wahrscheinlichkeit für sich hat, ist der Verdacht auf Magenkrebs. Etwas Sicheres lässt sich aber auch hier nicht sagen.
Trotz seiner angeschlagenen Gesundheit führt Steiner seine Tätigkeit im Jahre 1924 weiter, ja er intensiviert sie sogar in fast übermenschlicher – und im Blick auf seinen Gesundheitszustand unverantwortlicher – Weise bis zu seinem Krankenlager, das am 26. September eintritt und von dem er sich nur noch einmal kurz zu einer Ansprache am 28. September erhebt. So hat er in der Zeit vom 1. Januar bis zum 25. September 1924, also in 272 Tagen, 338 Vorträge und 68 Ansprachen gehalten. Hinzu kommt eine Vielzahl von Einzelgesprächen, die ihn die letzte Kraft kosten.
„Er selbst hat uns wiederholt gesagt, dass das was ihn aufs Lager niederstreckte, die vielen Privatbesprechungen waren … Vierhundert Besucher zählte der Torwächter in der Zeit, wo er täglich vier Vorträge gab“, berichtet Wachsmuth (1951, 611f.).
Unter den Letzen Aktivitäten findet sich der „Landwirtschaftliche Kurs“ auf dem Schlossgut Koberwitz des Grafen Keyserling bei Breslau vom 7.-16. Juni (Biologisch-dynamischer Anbau). Im September 1924 tritt – wie schon erwähnt – das Unvermeidliche ein: Die Kräfte des erst 63-jährigen Steiner versiegen. Er muss am 26. September zum ersten Mal seine Vorträge absagen. Nur eine kurze Ansprache zwei Tage darauf ist ihm noch möglich, dann hält ihn das Krankenlager, das in der Schreinerei neben dem Goetheanum eingerichtet wird, fest. Von den Ärzten Ita Wegman und Ludwig Noll wird er in seinen letzten Lebensmonaten betreut – bis in den März 1925 hinein an seinem „Lebensgang“ und dem Buch „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“ arbeitend. Am 30.3.1925 stirbt Rudolf Steiner. Im Krematorium von Basel wird sein Leichnam eingeäschert. Die junge Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft hat ihren geistigen Führer verloren. Das führt zu manchen Konflikten und Spaltungen der anthroposophischen Bewegung in der Folgezeit. Wehr notiert:
„Spätestens mit Steiners Tod nahmen die zwischenmenschlichen Probleme katastrophale Züge an. Wenn es einmal möglich werden sollte, die jahrzehntelang anhaltende Krise innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung von einem relativ neutralen Standort aus zu betrachten, wird man sehen, dass den hohen geistig-moralischen Ansprüchen ihrer mit der Leitung betrauten Persönlichkeiten deren tatsächliches Verhalten nicht im entferntesten entsprach“ (Wehr 1993, 404).
Nur ein besonders charakteristisches Beispiel sei hier wiedergegeben. Bereits am Tag der Einäscherung Steiners ereignet sich eine wüste Szene:
„Es war bereits eine Unstimmigkeit eingetreten, da Frau Dr. Steiner das Atelier zum Sortieren des Nachlasses benutzen wollte, Frau Dr. Wegman aber dasselbe unberührt für die Mitgliedschaft erhalten möchte. Auf der Nachhausefahrt von der Kremation kam es zu einem offenen Streit über die Urne mit Dr. Steiners Asche, vor dem Personal der Villa Hansi … Hier fielen u.a. die Worte: 'Ihre bürgerliche Ehe mit Dr. Steiner ist jetzt zu Ende, Dr. Steiner gehört uns allen, der ganzen Gesellschaft und nicht nur Ihnen!` Herr Steffen bekam einen Herzkrampf, Frau Dr. Steiner wollte mit der Urne direkt ins Haus Hansi fahren, während die übrigen Vorstandsmitglieder dachten, sie würde ins Atelier gebracht werden … Marie Steiner, die sich aus dem Vorstand zurückzieht, schreibt am 4. April 1925 an Eugen Kolisko: 'Ich habe klar erkannt, dass unser Vorstand, so wie er jetzt ist, verwaist ist in seiner Kindheitsstufe, ein Nichts ist.` Unabhängig davon brach ein über Jahrzehnte sich hinziehender Streit um den literarischen Nachlass Rudolf Steiners aus“ (Wehr 1993, 429).
Bis heute haben Streitigkeiten und Spaltungen die Anthroposophische Gesellschaft heimgesucht. Dennoch konnten solche „menschlich-allzumenschlichen“ Seiten den Kult nicht verhindern, der bis heute von vielen seiner Anhänger um Steiner getrieben wird (Steiner-Kult).
Anthroposophische Bibelausleger betrachten die Bibel als einheitliche und ganzheitliche Größe. So wendet Steiner z.B. kritisch gegen die alttestamentliche Quellenscheidung ein, sie verliere den „einheitlichen Geist in der Bibel“. Demgegenüber solle man das Alte Testament doch „als Ganzes auf sich wirken lassen“, man solle „geistig“ seinen „spirituell-künstlerischen Sinn“ erkennen und nicht mehr glauben, es sei „ein Stück in der Mitte von dorther, ein anderes Stück von woanders herrührend“ (139,31f). In ähnlicher Weise spricht E. Bock im Blick auf die Evangelien im Neuen Testament von „Kunstwerken“ und ihrer Komposition durch übersinnliche Welten:
„Die Evangelien sind Kunstwerke; aber sie sind zugleich unendlich viel mehr: sie sind Kunstwerke Gottes. Wer ihre höhere Figur erkennt, schaut in ein Symbolum hinein, das in seiner Ordnung und Komposition die heiligen Ordnungen und Gesetze einer höheren, göttlichen Welt offenbart, die wesenhaft in und über der Sinneswelt den großen Leib Gottes bildet“ (Ev,45).
Treten solche Ausführungen in Gegensatz zur historisch-kritischen Exegese – insbesondere zur formgeschichtlichen Forschung – in der Theologie? G. Wehr verneint dies und versucht, eine „Synthese“ herbeizuführen, die freilich in Wirklichkeit eine Abgrenzung der jeweiligen „Zuständigkeitsbereiche“ darstellt. Er schreibt:
„Zweifellos hat jede historisch-kritische Arbeit ihre Berechtigung, solange die aus ihren Ergebnissen zu ziehenden Schlüsse keine Metabasis, keine Grenzüberschreitungen in einen anderen Zuständigkeitsbereich hinein bedeuten. Die Frage nach dem Geistursprung eines Textes, sowohl seines Sinngehaltes nach [sic] wie im Hinblick auf die `spirituell-künstlerische' Seite seiner Gestaltung, bleibt noch unbeantwortet, wenn der Literarhistoriker sein Votum über eine Perikope abgegeben hat“ (Wehr 1968, 59f).
Der exoterisch arbeitende Theologe – dieser Gedanke steckt dahinter – sei nämlich nicht in der Lage, hinter die literarische Gestalt und schon gar nicht hinter die mündliche Tradition zurückzufragen, was der Esoteriker hingegen aufgrund seiner übersinnlichen Erkenntnis ohne weiteres könne. So schreibt Wehr weiter:
„Die literarische Gestalt, selbst – sofern erschließbar – die Form der mündlichen Tradition, ist bereits ein Fertiges, Abgeschlossenes. Der schöpferische Impuls, die wortschöpferische Inspiration, das `bibelstiftende Bewusstsein' muss zuvor am Werk gewesen sein … Die eigentliche Autorschaft liegt gar nicht beim Aufschreibenden, sondern kommt durch Wirkungen aus einer anderen Sphäre zustande … So kann sich die formgeschichtliche Forschung … von einer.spirituellen Betrachtung befruchten lassen, die über die literarische und mündliche Überlieferung der Evangelien hinaus zu dem ewigen Evangelium des Christus vorstoßen will“ (ebd., 60).
Zwei wichtige Begriffe sind hier angeklungen: „Inspiration“ und „ewiges Evangelium“. Wir betrachten zunächst den zweiten Begriff.
Die anthroposophische Bibelauslegung geht davon aus, dass hinter den geschriebenen „Evangelien“ ein einheitliches, nicht schriftlich fixiertes, nur in den höheren Welten existierendes Ur-Evangelium, das „ewige Evangelium“ steht, aus dem die einzelnen Evangelisten und Verfasser heiliger Schriften hellseherisch geschöpft haben. Hier wird der in Offb (Apg) 14,6 vorkommende Begriff „ewiges Evangelium“ („euangelion aionion“) inhaltlich mit der Steinerschen Akasha-Chronik identifiziert. Anknüpfend an die platonische Ideenlehre, führt beispielsweise Bock folgendes aus:
„Da werden wir an das Wort der Offenbarung des Johannes erinnert von dem ewigen Evangelium, dem `Evangelium aeternum'. Wir haben uns vorzustellen, dass es in der übersinnlichen Welt das große Evangelium gibt, von dem es auf der Erde immer nur abgeschattete Widerspiegelungen geben kann. So ist das Neue Testament eine bereits heller gewordene Offenbarung dessen, was im Alten Testament noch stark von Schatten durchzogen ist. Und der alttestamentliche Tempeldienst ist der noch dunkle vorausgeworfene Schatten dessen, was sich nachher lichtvoll im christlichen Sakrament offenbart und was im Gange der Zeiten immer neue und durchsichtigere Formen der Offenbarung finden wird“ (Ev,1007).
Deutlich spricht hier Bock von einer mehrstufigen, immer heller werdenden Offenbarung – Vorstellungen, die uns in einer ähnlichen Form im 12. Jahrhundert bei Joachim von Fiore und im 13. Jahrhundert beim radikalen Flügel der sabbatianischen Kabbala in Gestalt einer variierten Tora de `aziluth begegnen (vgl. Scholem 1989, 113). Anthroposophische Bibelausleger greifen offensichtlich auf diese Vorstellungen zurück.
J. v. Fiore (ca. 1135-1202) unterschied drei „Weltzeiten“ (status) in Anlehnung an die göttliche Trinität. Sie besitzen v. a. folgende Kennzeichen:
Weltzeit des Vaters: Gesetz und Furcht, sklavische Knechtschaft, Züchtigung, Wasser, Verheiratete, Wissen, Zeit des Alten Testaments
Weltzeit des Sohnes: Gnade und Glaube, kindlicher Dienst, Tätigkeiten, Wein, Kleriker, Teilhabe an der Weisheit, die Zeit seit Usia und vollends seit Christus, Petruskirche
Weltzeit des Geistes: Liebe, Freiheit, Kontemplation, Öl, Mönche, Vollkommenheit der Erkenntnis, die Zeit seit Benedikt, vollends seit dem Jahr 1260, Johanneskirche
Wenn die Weltzeit des Geistes da ist, wird der Geist ein „ewiges Evangelium“ offenbaren. Dieses wird durch die vollkommene, „geistbestimmte Erkenntnis“ (intelligentia spiritualis) erfasst. In Apg 14,6 ist von dem Engel die Rede, der ein ewiges Evangelium bringt. „Ein geschriebenes Evangelium ist dann unnötig … Doch ist zu beachten, dass es sich [sc. beim `ewigen Evangelium'] wesentlich nicht um ein anderes, sondern um ein tiefer verstandenes Evangelium gegenüber der Zeit des Sohnes handelt“ (Maier 1981, 174).
Wir entdecken bei J. v. Fiore mehrere Kennzeichen einer spirituellen Interpretation, die uns sowohl in der späteren Kirchengeschichte als auch in der anthroposophischen Bibelauslegung immer wieder begegnen:
a) Es gibt ein unsichtbares „ewiges Evangelium“ als Urbild der geschriebenen Evangelien.