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Die Zeugen Jehovas erleben weltweit eine starke Zunahme. Ihre Zeitschrift Der Wachtturm gilt als auflagenstärkste religiöse Zeitschrift der Erde. In Deutschland erlangte die Wachtturm-Gesellschaft die Anerkennung als „Körperschaft des öffentlichen Rechts“. In dieser Situation und angesichts dessen, dass fast jeder schon einmal mit Zeugen Jehovas zu tun gehabt hat, ist eine umfassende Darstellung und Beurteilung ihrer Geschichte und Lehre eine dringende Notwendigkeit. Wie ist die Wachtturm-Gesellschaft entstanden? Wie ist ihre Entwicklung verlaufen? Welche grundlegenden Lehren vertritt sie? Stehen diese in Einklang mit der Bibel? Wie missionieren die Zeugen Jehovas – und wie können überzeugte Christen ihnen missionarisch begegnen? Auf solche Fragen möchte dieses Buch in einer wissenschaftlich fundierten und doch verständlichen Weise antworten.
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Seitenzahl: 483
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Die Lehren der Zeugen Jehovas
Punkt für Punkt biblisch widerlegt
Dr. Lothar Gassmann
© 1. Auflage 2021 ceBooks.de im Folgen Verlag, Langerwehe
Autor: Dr. Lothar Gassmann
Cover: Caspar Kaufmann
ISBN: 978-3-95893-275-3
Verlags-Seite und Shop: www.ceBooks.de
Kontakt: [email protected]
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Titelblatt
Impressum
Dank
Newsletter
Einleitung
Namen
Geschichte
Quellen
1870-1916: Die Ära von Charles Taze Russell
1916-1942: Die Ära von Joseph Franklin Rutherford
1942-1977: Die Ära von Nathan Homer Knorr
1977-1992: Die Ära von Frederick William Franz
1992-2000: Die Ära von Milton G. Henschel
Weitere Präsidenten der Wachtturm-Gesellschaft
Abspaltungen
Bibel
Entstehung und Auslegung
Neue-Welt-Übersetzung
Gott
Der Name Jehova
Dreieinigkeit – ja oder nein?
Mensch
Engel und Dämonen
Der vollkommene Mensch
Seele und Ganztod
Die Hölle – ein Ort der Ruhe?
Heil
Überblick
„Sünde – eine Disharmonie“
„Christus –der Erzengel Michael“
„Das Loskaufopfer“ – Hilfe zur Selbsthilfe?
Kreuz oder Marterpfahl?
Auferstehung oder Neuerschaffung?
Gemeinde
„Jehovas Reich auf Erden“
„Wahre Religion“ contra „Babylon“
Das Zwei-Klassen-System
Leben und Dienst der Zeugen Jehovas
Taufe und Gedächtnismahl
Gemeinschaftsentzug
Blutgenuss und Bluttransfusion
Letzte Dinge
Chronologie und Endzeitdaten
Der Ablauf der Endzeit-Ereignisse
Mission
A. Mission von Seiten der Zeugen Jehovas
B. Mission an Zeugen Jehovas
C. »Austritt«
Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
A. Wachtturm-Literatur
B. Weitere Literatur
Letzte Seite
Die Zeugen Jehovas erlebten in den letzten Jahrzehnten – trotz einiger Rückschläge – weltweit ein starkes Wachstum. Zählten sie 1945 141.606 aktive Verkündiger, so waren es 1975 ca. 2 Millionen, 1985 ca. 3 Millionen und 1995 bereits mehr als 4 Millionen. 2018 zählte man rund 8,5 Millionen aktive Zeugen Jehovas weltweit.
Ihre Zeitschrift „Wachtturm“ wurde 1995 in 120 Sprachen gedruckt und in ca. 16 Millionen Exemplaren in vielen Ländern der Erde verteilt. Anfang 1996 betrug die Auflage bereits 18,9 Millionen Exemplare. Im Jahr 2019 hat der „Wachtturm“ sage und schreibe eine weltweite Auflage von 83 Millionen Exemplaren erreicht und wird in 353 Sprachen verbreitet (laut Wikipedia). Der „Wachtturm“ ist damit die auflagenstärkste religiöse Zeitschrift der Welt.
In Deutschland gibt es zurzeit über 170.000 getaufte Zeugen Jehovas. Die Zahl der Sympathisanten und Interessenten liegt jedoch mindestens doppelt so hoch. Nach der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ betreiben die Zeugen Jehovas vor allem in den osteuropäischen und asiatischen Staaten eine rege „Mission“. Sie bemühten sich, von ihrem „Sektenimage“ wegzukommen und z. B. in Deutschland die Anerkennung als „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ zu erlangen, was ihnen die Tür zu Funk und Fernsehen, Kirchensteuern und Religionsunterricht an staatlichen Schulen öffnet. Die Anerkennung als KdöR haben sie inzwischen in Deutschland erreicht.
In dieser Situation und angesichts dessen, dass fast jeder schon einmal mit Zeugen Jehovas zu tun gehabt hat, ist eine Darstellung und Beurteilung ihrer Geschichte und Lehre eine dringende Notwendigkeit. Wie ist die Wachtturm-Gesellschaft entstanden? Wie ist ihre Entwicklung verlaufen? Welche grundlegenden Lehren vertritt sie? Stehen diese in Einklang mit der Bibel? Wie missionieren die Zeugen Jehovas – und wie können überzeugte Christen ihnen missionarisch begegnen? Auf solche Fragen möchte dieses Buch antworten.
Das Thema „Zeugen Jehovas“ ist sehr umfassend – nicht nur wegen der fast uferlosen Literatur, welche die Wachtturm-Gesellschaft seit ihrer Gründung im Jahre 1881 herausgebracht hat, sondern auch wegen der Vielzahl der Themen, die in diesen Veröffentlichungen angesprochen werden. Ich musste mich auf die wichtigsten Schwerpunkte beschränken. Themen wie z. B. Festtage (Weihnachten, Ostern, Geburtstage etc.), Evolution, Wachtturm-Gesellschaft und Finanzen, Zeugen Jehovas unter totalitären Systemen, Zeugen Jehovas in psychologischer und soziologischer Sicht konnten aus Platzgründen leider keine oder nur geringe Berücksichtigung finden.
Angesichts der Vielfalt der dennoch verbleibenden Aspekte bin ich folgenden Persönlichkeiten zum Dank verpflichtet, die das Manuskript der 1. Auflage ganz oder teilweise gelesen und wertvolle Hinweise zu Einzelaspekten gegeben haben, wobei die Verantwortung für die Endfassung allein bei mir liegt: dem Wiener Kirchengeschichtler Dr. Franz Graf-Stuhlhofer; dem Vorsitzenden der „Christliche Dienste e. V.-Verein für Aufklärung und Information über Zeugen Jehovas“, Herrn Dipl.-Theol. Klaus-Dieter Pape; dem Leiter des „Bruderdienstes“, Pfarrer Hans-Jürgen Twisselmann; sowie meinen früheren Kollegen an der Freien Theologischen Akademie Gießen, vor allem dem Neutestamentler Dr. Armin Daniel Baum. Herr Thorsten Brenscheidt hat sich beim Korrekturlesen und der Erstellung des Registers verdient gemacht.
Die beiden ersten Auflagen dieses Buchs erschienen unter dem Titel „Zeugen Jehovas. Geschichte – Lehre – Beurteilung“ in den Jahren 1996 und 2000 im Hänssler-Verlag. 2006 veröffentlichte ich auch ein „Kleines Zeugen-Jehovas-Handbuch“ als Nachschlagewerk im Mabo-Verlag im Rahmen einer Lexikon-Reihe (darauf beziehen sich manche Verweise mit dem Zeichen > im Text). Ich bin dem GOTT dem HERRN dankbar, dass er mir im Jahr 2019 Zeit und Kraft für eine aktualisierte Neuauflage des ursprünglichen umfassenden Buchs im Selbstverlag geschenkt hat. Der Text wurde (außer in einzelnen Zitaten) behutsam an die neue Rechtschreibung angepasst.
Das vorliegende Buch möchte interessierte Leserinnen und Leser über Geschichte und Lehre der Zeugen Jehovas informieren. Es möchte aber auch Zeugen Jehovas selber zum Gespräch einladen. Gerne bin ich bereit, auf sachlich begründete Gegenargumente zu meiner Darstellung einzugehen und diese in etwaigen weiteren Auflagen zu berücksichtigen. Die Grundlage meiner Beurteilung ist die Heilige Schrift in ihrem unverfälschten Wortsinn und Gesamtzusammenhang – das einzigartige Wort Gottes.
Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen (Hebr 4,12 f.).
Dr. Lothar Gassmann, Pforzheim, im Juli 2019
„Zeugen Jehovas“ ist nicht der ursprüngliche Name der Gruppierung. Ursprünglich trug sie gar keine Bezeichnung. Die ersten Anhänger Charles Taze Russells (s.u.) nannten sich einfach „Christen“, „Urchristen“ und ähnliches. Bald schon kam die Selbsttitulierung Millennial Dawnists („Anhänger der Morgenröte des Tausendjährigen Reiches“) auf. Der Volksmund machte daraus „Millenniumtagesanbruchleute“. Seit 1913 gab sich die Gruppierung den Namen International Bible Students Association („Internationale Vereinigung Ernster Bibelforscher“). 1931 schließlich erfolgte die Umbenennung in Jehovah`s Witnesses („Zeugen Jehovas“). In späteren Jahren wurden Bezeichnungen wie New World Society („Neue-Welt-Gesellschaft“) oder Theokratische Gesellschaft immer mehr gebräuchlich. Namen wie „Russelliten“ oder „Rutherfordianer“ bezogen sich auf die ersten beiden Hauptrepräsentanten oder Präsidenten dieser Vereinigung und werden heute nicht mehr von deren Anhängern verwendet.
Abgesehen von vielen Einzeldaten in verstreuten Quellen (z. B. in alten Ausgaben des „Wachtturms“) existieren nur wenige zusammenhängende Darstellungen einer Geschichte der Zeugen Jehovas und ihrer Vorgänger-Gruppierungen. Als Standardwerk von „Wachtturm“-Seite darf heute das 749 Seiten umfassende und reich illustrierte Buch Jehovas Zeugen – Verkündiger des Königreiches Gottes aus dem Jahre 1993 gelten (im Folgenden abgekürzt zitiert als „JZ“). Es erwähnt in erstaunlicher Offenheit auch dunkle Seiten der Wachtturm-Geschichte, z. B. das Nichteintreffen der Voraussagen Russells (S. 62 f.) und die harten Machtkämpfe zwischen Rutherford und seinen Gegnern (S. 66ff.), doch nur, um diese Geschehnisse dann herunterzuspielen. Frühere Darstellungen aus der Feder von Zeugen Jehovas (z. B. Qualified to Be Ministers, 1955, S. 297-360; Macmillan 1957; Jehovah`s Witnesses in the Divine Purpose, 1959) oder diesen nahestehenden Autoren (z. B. Cole 1956; White 1967) können dadurch weitgehend als überholt betrachtet werden.
Die meines Wissens ausführlichste deutsche, aber leider nur in wenigen maschinenschriftlich verfassten und kopierten Exemplaren über wissenschaftliche Bibliotheken erhältliche Arbeit aus kritisch-theologischer Sicht ist die Dissertation von Dietrich Hellmund mit dem Titel Geschichte der Zeugen Jehovas (in der Zeit von 1870 bis 1920) (abgekürzt: Hellmund 1971). Leider behandelt Hellmund nur die Frühzeit der Wachtturm-Gesellschaft ausführlicher und hat – welch großes formales Manko! – seine Dissertation ohne Seitenzahlen abgeliefert, die folglich auch in meinen Zitaten daraus leider fehlen müssen.
Viele neue Erkenntnisse über die Geschichte und Struktur der Wachtturm-Bewegung vermittelt das Buch Der Gewissenskonflikt (amerik. 1983, deutsch 1988) von Raymond Franz. Als ein Mann, der alle Ebenen der Wachtturm-Hierarchie durchlaufen hat und die letzten neun Jahre vor seinem Ausschluss Mitglied ihres Führungsgremiums, der „Leitenden Körperschaft“, war, hat er Zugang zu Insider-Informationen, die bisher nur wenigen bekannt gewesen sind.
In seiner 1994 veröffentlichten Biographie Charles T. Russell – der unbelehrbare Prophetbeschäftigt sich Franz Graf-Stuhlhofer ausführlich mit der Frühzeit der heutigen Zeugen Jehovas, nämlich mit der Person ihres Gründers. Als Historiker interessiert er sich darüber hinaus aber auch für die Voraussagen der Wachtturm-Gesellschaft über Russells Zeit hinaus – bis 1975 und danach – und unterzieht sie einer kritischen Prüfung.
1995 erschien das Werk Der Wachtturm-Konzern der Zeugen Jehovas – Anspruch und Wirklichkeit von Hans-Jürgen Twisselmann. Hier wird das Schwergewicht auf die Entstehung, die Entwicklung und das Geschäftsverhalten der Wachtturm-Gesellschaft gelegt. In diesem Rahmen findet sich eine Reihe aufschlussreicher Enthüllungen über die Wachtturm-Präsidenten C. T. Russell, J. F. Rutherford, N. H. Knorr, F. W. Franz und M. G. Henschel.
Kürzere geschichtliche Darstellungen enthalten zahlreiche Schriften von Wachtturm- und gegnerischer Seite. Als neuere kritische Darstellungen von Originalität und Gewicht seien noch erwähnt: Hutten 1982, S. 80-135; Martin 1985, S. 38-51; Obst o. J., S. 262-298; Stevenson 1968 u.a. (siehe das Literatur-Verzeichnis). – Viele der folgenden Daten sind – neben Originalquellen – den genannten Werken entnommen.
Die Anfänge
Am Anfang der Bewegung steht Charles Taze Russell. Er wurde am 16. Februar 1852 in Allegheny/Pennsylvanien geboren. Seine Eltern Joseph L. und Anna Eliza Russell, geb. Birney, gehörten der Presbyterianischen Kirche an. Als Charles neun Jahre alt war, starb seine Mutter. Er wurde zunächst von Privatlehrern unterrichtet, dann besuchte er eine öffentliche Schule am Ort.
Für die spätere Gründung der Wachtturm-Gesellschaft ist es von Bedeutung, dass Charles Taze Russell bereits als Elfjähriger Teilhaber der väterlichen Firma, eines immer mehr expandierenden Textilunternehmens, wurde (so die meisten Quellen; andere, z. B. Hoekema 1972, S. 9, sagen: als Fünfzehnjähriger). Große Kapitalmengen für die religiöse Wirksamkeit waren vorhanden.
Die Presbyterianische Kirche, der Charles zunächst angehörte, zeichnete sich durch ihre calvinistische Prägung, insbesondere im Blick auf die doppelte Vorherbestimmung (Prädestination) von erwählten und verworfenen Menschen sowie die Leitung durch Älteste aus. Dem jungen Charles gefiel beides nicht – und so trat er 1866 mit 14 Jahren der Kongregationalistischen Kirche bei. In dieser begegneten ihm ein demokratisches Gemeindeverständnis und das Kollegialitätsprinzip von der einzelnen Gemeinde bis hinauf zur Synode. Allerdings fand sich auch hier die Lehre von buchstäblich aufgefassten ewigen Höllenstrafen. Zugleich war damals die Bibelkritik in diese Kreise eingedrungen, was den jungen Charles in seinem Glaubensleben tief verunsicherte. So wandte er sich mit 17 Jahren auch von der Kongregationalistischen Kirche ab.
Seine Suche brachte ihn 1870 mit einer Splittergruppe aus der adventistischen Bewegung, den Second Adventists („Zweite Adventisten“), in Berührung, welche die ewigen Höllenstrafen nicht lehrte und sich der Bibelkritik gegenüber ablehnend verhielt. Durch diesen Kreis um den freien Prediger Jonas Wendell wurde Russells Denken in apokalyptische (endzeitliche) Bahnen gelenkt. Der Begründer der Adventisten, William Miller, hatte die Wiederkunft Jesu Christi auf das Jahr 1844 festgelegt. Als diese Erwartung sich nicht erfüllt hatte, gab es zahlreiche Abspaltungen im adventistischen Lager mit unterschiedlichen Deutungsversuchen. Eine dieser Gruppen war der Kreis um Jonas Wendell.
Eine weitere Etappe war die Bekanntschaft Russells mit dem Herausgeber der adventistischen Zeitschrift „The Herald of the Morning“, Nelson H. Barbour, im Jahre 1876. Barbour behauptete, dass Christus seit 1874 unsichtbar auf der Erde anwesend sei. Weiter meinte er, die wahren Adventgläubigen würden gesammelt und 1878 entrückt werden. Russell schloss sich Barbour an und nannte sich seit 1876 „Pastor“. Diesen Titel trug er ohne jegliche theologische Ausbildung und Ordination. Im Folgenden betrachten wir die drei maßgeblichen Gruppen der Anfangszeit etwas näher.
Die „Second Adventists“ hießen auch Age-to-Come-Adventists („Adventisten des kommenden Zeitalters“). Jonas Wendell, der Prediger dieser nur wenige Dutzend Leute umfassenden Gruppe, hatte die Jahreswende 1872/73 (später 1874) als den Zeitpunkt bezeichnet, an dem die Welt verbrennen sollte. Nach seiner Berechnung würden dann sechstausend Jahre seit Adam enden. Solche Berechnungen, die für Russell prägend werden sollten (siehe hierzu den Teil „Letzte Dinge“), gehen von den sieben Wochentagen aus, welche jeweils mit tausend Jahren gleichgesetzt werden. Nach sechs Tagen im Sinne von sechstausend Jahren tritt der siebte Tag, das siebte Jahrtausend (Millennium) ein, in welchem Christus regiert. Dieses Millennium oder Tausendjährige Reich sollte nach Wendells Berechnungen 1873 oder 1874 beginnen.
Die zweite zu betrachtende Gruppierung ist der Kreis um Charles Taze Russell selber. Dieser Kreis traf sich in Pittsburgh und Allegheny seit etwa 1870. Bis 1873 konnte dieser Kreis als ein Ableger der Wendellschen Gemeinde gelten. Später nahm Russell eine eigene Entwicklung.
Die dritte Gruppe war der Kreis um N. H. Barbour. Zwischen Barbour und den Second Adventists bestand ein wesentlicher Lehrunterschied. Dieser betraf nicht den Zeitpunkt der Wiederkunft Jesu Christi, sondern die Art seines Kommens. Im Unterschied zu Wendell erwartete Barbour die Wiederkunft Christi nicht sichtbar nach dem Weltenbrand 1873/74, sondern als eine unsichtbare Gegenwart. Hier berührte sich Barbour übrigens mit der Ansicht der „Prophetin“ der „Siebenten-Tags-Adventisten“, Ellen G. White. Auch diese behauptete (erstmals fast 30 Jahre vor Barbour und Russell!), Christus sei unsichtbar wiedergekommen – allerdings schon 1844, im von W. Miller berechneten Jahr – und habe mit der „Reinigung des Heiligtums im Himmel“ begonnen. White schreibt in ihrem Buch „Der große Konflikt“:
„Wie die Sünden des Volkes vor alters durch den Glauben auf das Sündopfer gelegt und bildlich durch dessen Blut auf das irdische Heiligtum übertragen wurden, so werden im neuen Bund die Sünden der Bußfertigen durch den Glauben auf Christum gelegt und tatsächlich auf das himmlische Heiligtum übertragen. Und wie die vorbildliche Reinigung des irdischen durch das Wegschaffen der Sünden, durch die es befleckt worden war, vollbracht wurde, so soll in der Tat die Reinigung des himmlischen durch das Wegschaffen oder Austilgen der daselbst aufgezeichneten Sünden bewerkstelligt werden … Auf diese Weise erkannten die, welche dem Licht des prophetischen Wortes folgten, dass Christus, anstatt am Ende der 2.300 Tage im Jahre 1844 auf die Erde zu kommen, damals in das Allerheiligste des himmlischen Heiligtums einging, um das Schlußwerk der Versöhnung, die Vorbereitung auf sein Kommen, zu vollziehen“ (White 1888, S. 395 f.).
Barbour und Russell vertraten die Lehre von der unsichtbaren Wiederkunft Christi (öffentlich) erst nach 1874. Im Jahre 1877 erschien ihr gemeinsames Werk Three Worlds, and the Harvest of This World (anderer Titel: Three Worlds or Plan of Redemption), in dem sie ihre Ansicht niederlegten. Sie schrieben, dass die Ankunft Christi 1874 angefangen habe und nun die Erntezeit, die Sammlung der Heilsgemeinde, eingeleitet sei, die 1914 zu ihrem Ende gelange. Die Erntezeit betrage also 40 Jahre. 1914 werde das Weltende erreicht sein. Außerdem fanden sich in diesem frühen Werk bereits die Lehren vom „Ganztod“ des Menschen, von Jesus als dem „Erzengel Michael“ und vom „Loskaufopfer“. Die Realität der Hölle als „Strafort der Verdammten“ wurde geleugnet.
Nach einiger Zeit kam es zu Streitigkeiten zwischen Russell und Barbour, und zwar vor allem in zwei Punkten. Zum ersten: Barbour erwartete, dass die lebenden Gläubigen oder Heiligen 1878 leiblich entrückt würden. Nachdem diese Erwartung nicht eingetroffen war und sich unter den Anhängern Russells Enttäuschung breitmachte, stellte dieser die Lehre auf, diejenigen, die nach 1878 noch lebten, würden in ihrer Todesstunde sofort verwandelt und müssten nicht bewusstlos im Grab liegen. Gegenüber späteren Lehren der Zeugen Jehovas finden sich in der Frühzeit Russells noch mancherlei Unterschiede, so auch in diesem Punkt.
Der zweite Unterschied und Grund für die Trennung war die Lehre vom Loskaufopfer. Damit war der Kreuzestod Jesu Christi gemeint. Barbour achtete diesen sehr gering. Russell hingegen sah in ihm ein zentrales Ereignis, obwohl er die Lehre von der Dreieinigkeit (Trinität) Gottes ablehnte. In der „Herald“-Ausgabe vom August 1878 hatte Barbour geschrieben, dass „unseres Herrn Tod nicht mehr nützen könnte zur Bezahlung der Strafe für die Sünden der Menschen als das Durchstechen einer Fliege mit einer Nadel“. Dies war eine bibelkritisch geprägte „Linksabweichung“ von Russell, der dem Kreuzesopfer Jesu immerhin eine Wirkung zugestand, nämlich den Ausgleich der von Adams Versagen her ausgehenden Sünden. Wegen dieser Lehrdifferenzen kam es schließlich zur Trennung zwischen Barbour und Russell.
Endzeit-Berechnungen
Nun werfen wir einen Blick auf die Berechnung von Jahreszahlen hinsichtlich der Wiederkunft Jesu Christi. Bereits jüdische Rabbiner im ersten Jahrhundert nach Christus wandten – etwa unter Hinweis auf Zahlen im biblischen Buch Daniel – die Regel an: ein Tag für ein Jahr. Sie versuchten, dadurch das Kommen des Messias zu berechnen. Auch Joachim von Fiore hat im Mittelalter Berechnungen angestellt. So zählte er zum Beispiel die 1260 Tage in Offenbarung 11, 3 und 12, 6 zum Geburtsjahr Jesu Christi hinzu und gelangte dadurch zum Jahr 1260, in welchem das Zeitalter des Geistes beginnen sollte. Manches weitere Beispiel aus der (Kirchen-)Geschichte für Termin-Berechnungen könnte genannt werden (etwa der württembergische Prälat Johann Albrecht Bengel, der die Wiederkunft Christi auf das Jahr 1836 datierte).
Von welchem Grunddatum gehen solche Berechnungen aus? Mindestens drei Möglichkeiten sollen Erwähnung finden. Das erste Ausgangsdatum ist die Erschaffung der Welt oder auch des ersten Menschenpaares. Die Datierung dieser Ereignisse ist natürlich sehr ungewiss. Ein zweites wesentliches Datum ist das Geburtsjahr Jesu Christi, das sich allerdings infolge der Veränderung des Kalenders und aus anderen Gründen auch nicht genau bestimmen lässt. Ein dritter häufig verwendeter Termin ist die Zerstörung Jerusalems durch den babylonischen Herrscher Nebukadnezar, welche nach Aussage der archäologischen und theologischen Forschung auf das Jahr 587 v. Chr. fällt. Neben diesen Datierungen finden sich zahlreiche weitere, die unterschiedliche Berechnungen bedingen. Im Kapitel über die „Letzten Dinge“ (Eschatologie) werde ich ausführlicher auf solche Fragen eingehen.
Wie schon erwähnt, erregte im 19. Jahrhundert vor allem die Voraussage der Wiederkunft Jesu Christi für das Jahr 1844 durch William Miller großes Aufsehen. Vor Miller, der diese „Entdeckung“ lange Zeit für sich behielt und erst 1831 damit an die Öffentlichkeit ging, hatte allerdings der Engländer John Aquila Brown diese Jahreszahl öffentlich vertreten, und zwar in einer bereits 1823 publizierten Schrift (vgl. Franz 1991, S. 140 f.). Brown (und nicht Miller, auch nicht Russell) dürfte nach den Forschungen von Franz (ebd.) als der wahre Urheber der Deutung der sieben Zeiten in Daniel 4 auf 2520 Jahre gelten. Die 2300 Tage aus Daniel 12 sollten laut Brown 1844 enden, die 2520 Jahre oder sieben Zeiten aus Daniel 4 im Jahre 1917 (ausgehend von der fälschlich auf das Jahr 604 v. Chr. datierten Zerstörung Jerusalems). Barbour verschob diesen Termin (ebenso unzutreffend) auf 606 v. Chr. und gelangte dadurch auf (ungefähr) 1914. Diese Berechnung hat schließlich Russell übernommen. Heute geht die Wachtturm-Gesellschaft vom Jahr 607 v. Chr. aus, weil Russell fälschlich ein Jahr 0 gezählt hatte.
Wegen des großen Einflusses von Barbour auf Russell sei nachfolgend die Version Russells von deren Begegnung wiedergegeben. Dabei liegt Russell viel daran, seine Eigenständigkeit zu betonen. Ich zitiere ausführlich aus dem „Wachtturm“ vom April 1907:
„Im Januar 1876 wurde meine Aufmerksamkeit in besonderer Weise auf den Gegenstand der prophetischen Zeit gelenkt, und wie sehr sie mit diesen Lehren und Hoffnungen verknüpft ist. Es kam dies so: Ich erhielt ein Blatt genannt ´Der Herold des Morgens`, von seinem Verfasser, Mr. N. H. Barbour, zugesandt. Sofort beim Öffnen sah ich am Titelbilde, dass es von adventistischer Seite kam, und ich prüfte den Inhalt mit etwas Neugierde, um zu sehen, was nun die von ihnen für das Verbrennen der Welt bestimmte Zeit sein würde. Aber welch eine Überraschung und Befriedigung für mich, aus dem Inhalte zu sehen, dass des Verfassers Augen anfingen aufgetan zu werden hinsichtlich derselben Gegenstände, die unsre Herzen in Allegheny seit einigen Jahren so hoch erfreut hatten – dass der Zweck der Wiederkunft des Herrn nicht Zerstörung ist, sondern die Segnung aller Geschlechter auf Erden, und dass Sein Kommen gleich dem Diebe sein würde, nicht im Fleische, sondern als ein Geistwesen, den Menschen unsichtbar: und dass das Versammeltwerden Seiner Kirche und die Trennung des ´Weizens` von der ´Spreu` am Ende dieses Zeitalters stattfinden würde, ohne dass die Welt es gewahr werden würde. Ich war erfreut, zu sehen, dass andere gleich uns, Fortschritte gemacht hatten, staunte aber, die in sehr vorsichtiger Form gehaltene Behauptung zu finden, dass der Verfasser annahm, der Herr sei den Prophezeiungen nach schon in der Welt gegenwärtig (ungesehen und unsichtbar), und dass das Erntewerk des Einsammelns des Weizens schon an der Zeit sei, – und dass diese Ansicht durch die Zeit-Prophezeiungen bestätigt werde, die er erst vor wenigen Monaten als nicht zugetroffen angesehen hatte.
Hier war ein neuer Gedanke: Konnte es sein, dass die Zeit-Prophezeiungen, die ich wegen ihres Missbrauchs durch die Adventisten so lange verachtet hatte, wirklich gegeben waren, um anzuzeigen, wann der Herr unsichtbar gegenwärtig sein würde um sein Reich aufzurichten…?“
Und Russell fährt fort:
„Ich erinnerte mich gewisser Beweisführungen, deren sich mein Freund Jonas Wendell und andere Adventisten bedient hatten, um darzutun, dass das Jahr 1873 der Zeitpunkt des Verbrennens der Welt usw. sein würde – indem die Chronologie der Welt zeigte, dass die sechstausend Jahre seit Adam mit Anfang des Jahres 1873 endeten – sowie anderer Beweisführungen, die der Schrift entnommen waren und das Gleiche bestätigen sollten. Konnte es sein, dass diese Beweisführungen in Bezug auf die Zeit, die ich als der Beachtung nicht wert übergangen hatte, wirklich eine wichtige Wahrheit enthielten, die sie falsch angewendet hatten?
Begierig zu lernen, von woher es auch sei, was irgend Gott zu lehren haben würde, schrieb ich sofort an Mr. Barbour, teilte ihm meine Harmonie über andere Punkte mit und wünschte besonders zu wissen, warum, und auf Grund welcher Schriftbeweise er glaubte, dass Christi Gegenwart und die Erntezeit des Evangeliumszeitalters im Herbst 1874 seinen Anfang genommen habe. Die Antwort zeigte, dass meine Vermutung richtig gewesen war, dass nämlich die Beweisgründe für die Zeit, die Chronologie usw. die gleichen waren, die die Adventisten im Jahre 1873 gebraucht hatten, und dass Mr. Barbour und Mr. J. H. Paton zu Michigan, sein Mitarbeiter, bis dahin voll und ganz Adventisten gewesen waren; als jedoch das Jahr 1874 vorüberging, ohne dass die Welt im Brande vernichtet wurde, und ohne dass sie Christum im Fleische sahen, waren sie für eine Zeitlang wie verstummt.“
Russell berichtet dann, wie das Verstummtsein endete und er selber den entscheidenden Impuls für das Jahr 1874 empfing:
„Es scheint, dass nicht lange nach ihrer Enttäuschung im Jahre 1874 ein Leser des ´Herold des Morgens`, der die Diaglott-Übersetzung besaß, darin etwas bemerkte, das ihm merkwürdig vorkam -, dass in Matthäus 24, 27. 37 und 39 das in der gewöhnlichen Übersetzung mit ´Kommen` wiedergegebene Wort mit ´Gegenwart` übersetzt worden war. Das war der Leitfaden; und indem sie ihm gefolgt waren, wurden sie durch die prophetische Zeit zu richtigen Ansichten hinsichtlich des Zweckes und der Art und Weise der Wiederkunft des Herrn geleitet. Ich, im Gegenteil, wurde zuerst zu richtigen Ansichten über den Zweck und die Art und Weise der Wiederkunft des Herrn geleitet, und danach zu der Prüfung der Zeit für diese Dinge, nach den Anhaltspunkten, die Gottes Wort dafür bot. So führt Gott seine Kinder oft von verschiedenen Ausgangspunkten zur Wahrheit.“
Ob diese Prophezeiungen wirklich der Wahrheit entsprechen sollten – mit dieser Frage werden wir uns später (im Teil „Letzte Dinge“) beschäftigen. Aber schon an dieser Stelle soll gesagt werden, dass man gegen eine unsichtbare Gegenwart schwer argumentieren, geschweige denn sie widerlegen kann. Freilich lässt sie sich auch nicht schlüssig beweisen.
Aufgrund der ihm bei Barbour und anderen begegnenden Berechnungen entwickelte Russell seine Ansicht von den Jahren 1874 und 1914. 1874 sei Christus unsichtbar wiedergekommen, um die Erntezeit einzuleiten und seine Gemeinde zu sammeln – und 1914 gehe diese Erntezeit zuende. Diese frühe Sicht bei dem Gründer der sich später „Zeugen Jehovas“ nennenden Gruppierung unterscheidet sich wesentlich von den späteren Berechnungen nach Russells Tod. Doch betrachten wir zunächst, welche Ereignisse Russell für das Jahr 1914 voraussagte. Ich zitiere aus seinem erstmals 1889 veröffentlichten Buch The Time Is At Hand (Die Zeit ist herbeigekommen), deutsche Ausgabe von 1913, S. 73 f.:
„In diesem Kapitel liefern wir den biblischen Nachweis, dass das völlige Ende der Zeiten der Heiden (Nationen), d.i. das volle Ende ihrer Herrschaft, mit dem Jahre 1914 erreicht sein wird; und dass dieses Datum die äußerste Grenze der Herrschaft unvollkommener Menschen sein wird…
Erstens, dass dann das Königreich Gottes, für welches unser Herr uns beten lehrte: ´Dein Reich komme`, volle und universelle, weltenweite, Herrschaft erreicht haben und ´aufgerichtet`, oder auf Erden festgegründet, sein wird.
Zweitens beweist es, dass er, dem das Recht, diese Herrschaft an sich zu nehmen, gebührt, dann als der neue Herrscher der Erde gegenwärtig sein wird; und nicht nur dies, sondern auch, dass er einen beträchtlichen Zeitraum vor jenem Datum gegenwärtig sein wird, weil der Umsturz dieser nationalen Obrigkeiten direkt darauf zurückzuführen ist, dass er ´wie Töpfergeschirr sie zerschmettern` (Psa. 2:9; Offb. 2:27), und an ihrer Statt sein eigenes, gerechtes Regiment aufrichten wird.
Drittens beweist es, dass etliche Zeit vor dem Ablauf von 1914 n. Chr. das letzte Glied der göttlich anerkannten Kirche (Herauswahl) Christi, das ´königliche Priestertum`, ´der Leib Christi`, mit dem Haupte verherrlicht sein wird…“
Weitere Ereignisse, die nach Russells Ansicht 1914 eintreffen sollten, sind die Sammlung und geistliche Erneuerung Israels sowie der Höhepunkt der großen „Zeit der Drangsal“, die allerdings „an jenem Zeitpunkt enden wird; und dann werden die Menschen gelernt haben, stille zu sein und zu erkennen, dass Jehova Gott ist, und dass er auf Erden hoch erhöht werden wird“.
Was ist davon im Jahre 1914 eingetroffen?Nichts – außer einer „Drangsal“ in Gestalt des Ersten Weltkrieges, die aber erst vier Jahre später endete und auch nicht mit der „großen Drangsal“ oder „Trübsal“ nach Matthäus 24,21 gleichgesetzt werden kann, denn nach dem Ersten Weltkrieg lief die Weltgeschichte wie gewohnt weiter. Die Sammlung der Juden hat Russell zwar vorausgeahnt (es gab ja seit längerem eine zionistische Bewegung, die darauf hin arbeitete und der Russell nahestand), aber sie traf keineswegs 1914 ein, sondern in den Jahren und Jahrzehnten darauf. Die geistliche Erneuerung Israels, seine Annahme Jesu als Messias, steht zum größten Teil auch heute noch aus. Was sich aber auf keinen Fall verwirklicht hat und doch von Russell und seinen Anhängern so glühend erwartet worden war, ist die Beendigung der Herrschaft der irdischen Nationen und die Aufrichtung des Reiches Jehovas auf Erden an deren Stelle. Von Russells Nachfolgern wurde diese Erwartung deshalb auf die Zeit nach 1914 verschoben, und das Jahr 1914 gilt nun nicht als Ende (wie bei Russell), sondern als Anfang der Erntezeit.
Auffällig ist, dass mit dem Näherrücken des Jahres 1914 Russell selber mit seinen Voraussagen immer vorsichtiger wurde. So beteuerte er im Wachtturm vom 1. Oktober 1907:
„Wir sagen darauf, wie schon so viele Male vorher in den Schriftstudien und im Wachtturm und mündlich und brieflich, dass wir für unsere Berechnungen nie unfehlbare Genauigkeit beansprucht haben; wir haben niemals den Anspruch erhoben, es handle sich dabei um Wissen, oder es sei auf unbestreitbare Beweise, Tatsachen, Erkenntnisse gegründet. Unsere These lautete stets, dass sie auf Glauben gegründet sind.“
Aber dann heißt es im gleichen Artikel, „dass aus dem Glauben an die Chronologie dadurch beinahe ein Wissen um ihre Richtigkeit wird. Verändert man nur eine einzige Jahreszahl, so kommt damit das ganze System der wunderschönen Parallelen aus dem Tritt“.
Was geschah, nachdem das Jahr 1914 ohne Erfüllung der vorausgesagten Ereignisse vorbeigegangen war? In einem 1916 verfassten Vorwort zu seinem Buch „The Time Is At Hand“ gestand Russell seinen Irrtum ein, versuchte ihn aber gleichzeitig zu beschönigen:
„Der Autor gibt zu, dass er in diesem Buch den Gedanken nahelegt, dass des Herrn Heilige erwarten dürfen, am Ende der Zeiten der Nationen bei ihm zu sein in Herrlichkeit. Dies war ein Fehler, den zu machen sehr natürlich war, doch der Herr überwaltete ihn zum Segen seines Volkes. Der Gedanke, dass die Kirche vor Oktober 1914 in Herrlichkeit vereint sein würde, übte zweifellos einen anspornenden und heiligenden Einfluss auf Tausende aus, von denen demgemäß alle den Herrn preisen können, selbst um des Fehlers willen“ (deutsche Ausgabe von 1926, S. 7).
Hier versuchte Russell, aus der Not eine Tugend zu machen und seine Falschprophezeiungen als „Segen“ hinzustellen. Doch handelte es sich überhaupt um Falsch-Prophezeiungen oder nur um unverbindliche Meinungsäußerungen Russells? Franz Stuhlhofer (1994, S. 83 ff.) nennt drei Kriterien für einen prophetischen Anspruch: 1. die Berufung auf Gott (und nicht auf die eigene Meinung) als Quelle der Voraussagen; 2. die Behauptung, etwas Sicheres oder doch zumindest sehr Wahrscheinliches voraussagen zu können; 3. die öffentliche Bekanntmachung der Voraussagen. Wie Stuhlhofer durch eine detaillierte Quellenanalyse nachgewiesen hat, treffen alle drei Kriterien auf Russell (und seine Nachfolger) zu, auch wenn – meist im Nachhinein, d.h. nach dem Nichteintreffen der Voraussagen – die Wachtturm-Gesellschaft auf unterschiedliche Weise versucht hat, den prophetischen Anspruch abzumildern.
So wird nach einer langen Reihe enttäuschter Erwartungen in den 1985 herausgegebenen „Unterredungen anhand der Schriften“ gesagt: „Jehovas Zeugen behaupten nicht, inspirierte Propheten zu sein. Sie haben Fehler gemacht.“. Doch dann wird dieses Zugeständnis gleich wieder eingeschränkt: „Änderungen des Standpunktes in Bezug auf bestimmte Angelegenheiten sind verhältnismäßig geringfügig gewesen, gemessen an den wichtigen biblischen Wahrheiten, die Jehovas Zeugen erkannt und veröffentlicht haben“ (S. 149).
Die Bibel nennt einen eindeutigen Maßstab, um einen falschen Propheten zu erkennen: „Wenn der Prophet redet in dem Namen des Herrn und es wird nichts daraus und es tritt nicht ein, dann ist das ein Wort, das der Herr nicht geredet hat“ (5. Mose 18, 22). Bei Russells Voraussagen handelt es sich ganz offensichtlich um Falschprophetie – und dennoch hielten nach 1914 viele an seinen Lehren fest oder deuteten einzelne Punkte um. So wird von den heutigen Zeugen Jehovas die Ansicht vertreten, Christus habe 1914 den Satan aus dem Himmel geworfen und dadurch auf Erden den Ersten Weltkrieg ausgelöst. Aus einer Prophezeiung des Heils, nämlich der Aufrichtung des Reiches Jehovas auf Erden, wurde eine Prophezeiung größten Unheils gemacht und diese damit in ihr Gegenteil verkehrt.
Die Aussage, welche in einer späteren Schrift der Zeugen Jehovas über falsche Propheten getroffen wurde, findet letztlich in Russell – und nicht nur in diesem – ihre frappierendeste Erfüllung. In dem Buch Das Paradies für die Menschheit durch die Theokratie wiederhergestellt lesen wir auf Seite 355:
„Jehova, der Gott der wahren Propheten, wird alle falschen Propheten in Schande geraten lassen, entweder dadurch, dass er die falsche Voraussage solcher Propheten, die sich dieses Amt selbst anmaßen, nicht erfüllen lässt oder indem er seine eigenen Prophezeiungen auf eine Weise verwirklicht, die zu derjenigen der falschen Propheten im Gegensatz steht. Falsche Propheten werden den Grund für ihre Schande zu verbergen suchen, indem sie verleugnen, wer sie wirklich sind.“
Die Wachtturm-Gesellschaft
Doch wir sind weit vorausgeeilt. Kehren wir in das Jahr 1879 zurück, so finden wir dort drei bedeutende Ereignisse im Leben Russells: den Rückzug von N. H. Barbour, die Hochzeit mit Maria Frances Ackley und die Herausgabe der ersten Nummer der Zeitschrift „Zions Watch Tower and Herald of Christ`s Presence“ („Zions Wachtturm und Verkünder der Gegenwart Christi“).
Die Gründe für die Trennung von Barbour wurden bereits genannt. Russell zog sich mit seinem beträchtlichen Vermögen von Barbour zurück, der den „Herald“ bis 1903 – drei Jahre vor seinem Tod – weiter edierte. Der Titel der von Russell kurz darauf selbst herausgegebenen Zeitschrift Zions Wachtturm (die erste Ausgabe erschien am 1. Juli 1879) weist auf die glühende Begeisterung für die zionistische Bewegung hin, die von seinem Nachfolger Rutherford nicht mehr geteilt wurde und heute ganz aus dem Blickfeld der Zeugen Jehovas verschwunden ist. Die Bezeichnung „Wachtturm“ ist Habakuk 2, 1 nachempfunden, wo es heißt: „„Hier stehe ich auf meiner Warte und stelle mich auf meinen Turm und schaue und sehe zu, was er mir sagen und antworten werde auf das, was ich ihm vorgehalten habe.“
Die zunächst monatlich, seit 1892 vierzehntäglich erscheinende Zeitschrift wurde am Anfang in einer Auflage von sechstausend Exemplaren gedruckt. Heute (1996) liegt die Auflage, wie schon erwähnt, bei ca. 19 Millionen. Der Name hat mehrmals gewechselt: Zunächst hieß das Blatt „Zions Wachtturm und Verkünder der Gegenwart Christi“, ab 1909 nur noch „Der Wachtturm und Verkünder der Gegenwart Christi“. Im Jahr 1939 „hob man die Tatsache, dass Christus bereits als König im Himmel regierte, stärker hervor“ (JZ, S. 724). Ab dem 1. Januar dieses Jahres nannte man die Zeitschrift daher „Der Wachtturm und Verkündiger des Königreiches Christi“. Am 1. März 1939 schließlich erhielt sie den noch heute gültigen Titel „Der Wachtturm verkündigt Gottes Königreich“.
Im Zusammenhang mit der Herausgabe dieser Zeitschrift ab 1879 entstanden die ersten Gemeinden. Es waren Zusammenschlüsse von Wachtturm-Lesern an den einzelnen Orten, die nach kongregationalistischem Vorbild lose miteinander verbunden waren. Eine straffe zentralistische Leitung wie bei der heutigen Wachtturm-Gesellschaft bestand in der Anfangszeit noch nicht.
Russell freilich galt als der geistliche Leiter und verehrte Prophet der aufkeimenden neuen Bewegung. Die ersten Gruppen nannten sich zunächst „Klassen“ oder „Ekklesias“ (griech. „Gemeinden“), später dann „Versammlungen“.
1881 nun wurde in Pittsburgh die Zions Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania („Zions Wachtturm Bibel-und Traktat-Gesellschaft von Pennsylvanien“) gegründet. Im Dezember 1884 wurde sie behördlich registriert. Dieses Datum wird von verschiedenen Autoren (z. B. Hoekema 1972, S. 11) als offizieller Beginn der Bewegung der (späteren) Zeugen Jehovas gewertet. Die Wachtturm-Gesellschaft war eine Aktiengesellschaft, eine Geschäftsfirma, in der jeder Mitglied werden konnte, der sich Anteilscheine im Wert von je 10 Dollar erwarb. Russell war ihr Präsident auf Lebenszeit, seine Frau Sekretärin und Schatzmeisterin. Neben und unter ihnen fungierten ferner sieben leitende Direktoren. Diese Gesellschaft druckte eine Fülle von Traktaten, Flugschriften und Büchern, die überwiegend von der Hand Russells stammten. Beiträge für den „Wachtturm“ schrieben außerdem in der Anfangszeit A. D. Jones, J. H. Paton, H. B. Rice, W. I. Mann, Russells Frau und andere. Ganz im Stil eines Geschäftsunternehmens wurden Kolporteure angestellt, welche die Schriften unter der Bevölkerung vertrieben. Der Haus-zu-Haus-Dienst der einzelnen Anhänger, wie wir ihn heute kennen, war damals jedoch noch nicht in seiner als geradezu heilsnotwendig angesehenen und verpflichtenden Form vorhanden.
Der Charakter einer Geschäftsfirma wurde von Russell offiziell zugegeben. So stellte er in seinen „Schriftstudien“ jeweils im Anhang seine Gesellschaft mit folgenden Worten vor: „Wacht-Turm Bibel- und Traktat-Gesellschaft. Das ist der Name einer Geschäftsfirma, die sich mit der Herausgabe von wichtigen religiösen Büchern und Zeitschriften und anderen nützlichen Hilfsmitteln zum Bibelstudium befasst“ (vgl. Twisselmann 1995, S. 16).
Es sollte bis zum Jahr 1944 dauern, dass das Aktienwesen abgeschafft und als unvereinbar mit der „theokratischen Ordnung“ bezeichnet wurde (vgl. ebd., S. 21 f.). Dennoch erwirtschaftet die Wachtturm-Gesellschaft weiterhin hohe Gewinne, die freilich – soweit erkennbar – alle dem weiteren Aufbau der Organisation zugute kommen. Über die heutige finanzielle Struktur des „Wirtschaftsunternehmens Wachtturm-Bibel- und Traktat-Gesellschaft“ (WTG) schreibt Klaus-Dieter Pape:
„Die Einkünfte kommen aus Spenden, aber in viel größerem Umfang aus den Subskriptionsrechten, die die WTG-Inc. von den einzelnen Länderorganisationen verlangt. Die Beträge für diese Rechte sind aber in Wirklichkeit der Gewinn, den die einzelnen Länder aus den Buchverkäufen erzielen und dann an das Hauptbüro in New York überweisen … Bei den Länderorganisationen ist zu unterscheiden, ob sie eine Corporation nach amerikanischem Recht sind, wie der Länderzweig in der Schweiz, oder ein gemeinnütziger Verein, wie in Deutschland … Selbst ein gemeinnütziger Verein kann z. B. über Spenden oder wirtschaftliche Aktivitäten, wie Buch- oder Zeitschriftenverkauf Gewinn machen. Das ist erlaubt. Sie müssen nur dem Zweck der Satzung entsprechen und demgemäß verwendet werden“ (Informationen Nr. 2 der „Christlichen Dienste“, ACV, Mai 1994, S. 2 f.).
Doch zurück zu Russell. Sein Hauptwerk waren die unter der Bezeichnung Schriftstudien(bis 1904: „Millennial Dawn“ – „Millennium-Tagesanbruch“) bekanntgewordenen sechs Bücher mit den programmatischen Titeln: „Der (göttliche) Plan der Zeitalter“ (1886), „Die Zeit ist herbeigekommen“ (1889), „Dein Königreich komme!“ (1890), „Der Tag der Rache“ (später: „Der Krieg von Harmagedon“) (1897), „Die Versöhnung von Gott und dem Menschen“ (1899), „Die neue Schöpfung“ (1904). Der siebte Band „Das vollendete Geheimnis“, der 1917 posthum erschien, stammt in seiner vorliegenden Form zum großen Teil nicht von Russell (dazu unten mehr). Die sechs ersten Bände erreichten allein bis zum Todesjahr Russells, 1916, eine Auflage von zusammen ungefähr 16 Millionen Exemplaren, zumindest nach den Angaben der Wachtturm-Gesellschaft.
Um die Jahrhundertwende war die Zahl der Anhänger Russells bei etwa 2. 500 angekommen. Heute (2019) gibt es weltweit ca. 8,5 Millionen Zeugen Jehovas. In Deutschland fassten Russells Anhänger seit 1903 Fuß, als der erste „Pilgrim“, Otto Koetitz, von Wuppertal-Elberfeld aus mit seiner Missionstätigkeit begann. Die Zahl der in Deutschland lebenden Zeugen Jehovas beträgt heute über 170.000. Russells Botschaft hat also, wenn auch in manchen Punkten wesentlich verändert, eine enorme Ausbreitung erfahren.
Streitigkeiten und Skandale
Diesem äußeren Erfolg stehen die Schattenseiten in seinem Leben gegenüber. Wir wenden uns nun den Streitigkeiten mit ehemaligen Anhängern, mit seiner Frau und seinen Gegnern zu.
Bereits in den Jahren nach 1892 gab es Auseinandersetzungen mit vier führenden Mitgliedern der Wachtturm-Gesellschaft (E. Bryan, S. D. Rogers, J. B. Adamson und O. v. Zech), die an Lehrpunkten Russells Kritik übten und ihm vorwarfen, er habe zuviel Einfluss. Dieser antwortete mit der heftigen Broschüre Aufdeckung einer Verschwörung (1894).
1911 wandten sich der Vizepräsident der Wachtturm-Gesellschaft, J. H. Giesey, sein Privatsekretär A. E. Williamson und der Zweigstellenleiter E. C. Hennings aus ähnlichen Gründen gegen ihn. Sie kritisierten seinen dogmatisch-autoritären Führungsstil und behaupteten, er habe „Schwestern gestreichelt“. Russell reagierte maßlos, indem er ihre Abspaltung von ihm mit der Abspaltung von Christus gleichsetzte:
„Nebeneinander, in denselben Gemeinschaften mit den demütigen, gläubigen, geweihten Heiligen – in denselben kleinen Versammlungen zusammen mit denen, welche aus der Knechtschaft Babylons entflohen sind, in denselben Haushaltungen und oft an demselben Tisch des Herrn ist eine Klasse von Personen entwickelt worden, welche eigenliebig (selbstsüchtig) sind, habsüchtig (nach Ehre und Ansehen und Ruhm bei Menschen), prahlerisch … hochmütig … Da sie sich nicht dem Haupt des Leibes , Christo Jesu, unterwerfen, streben sie danach, selbst das Haupt neuer Parteien zu werden“ („Wachtturm“ 1911, S. 42 ff.).
Hinzu kamen die peinlichen Auseinandersetzungen mit seiner eigenen Ehefrau seit der Mitte der 90er Jahre sowie mit seinen kirchlichen Gegnern. Maria Frances Russell, geb. Ackley, fühlte sich – wie ihr Mann – als eine prophetische Persönlichkeit und ihm ebenbürtig. Sie verlangte breites Mitspracherecht und Mitautorschaft bei der Gestaltung des Wachtturms. 1896 entzog Charles Taze Russell ihr die Mitherausgeberschaft. Daraufhin verließ sie ihn im Jahre 1897. Sechs Jahre lebten sie getrennt, bis Maria 1903 die Scheidungsklage einreichte und es 1906 nach langwierigen Verhandlungen und großem Aufsehen in der Öffentlichkeit zur Scheidung kam (laut Hellmund, o S.; und Hutten 1982, S. 82). Nach den Angaben der Wachtturm-Gesellschaft hingegen lautete das „1908“ verkündete Urteil „nicht auf Ehescheidung“, sondern „auf Trennung von Tisch und Bett sowie auf Zahlung von Unterhalt“ (JZ, S. 645). Russells Ehe war jedenfalls total gescheitert. Seine Frau äußerte über ihn unter anderem, er sei nicht nur der „gute Knecht“ nach Matthäus 24, 45-51, als der er von seinen Anhängern bezeichnet wurde, sondern auch der unnütze Knecht – und sie müsse deshalb seine Stelle einnehmen. Sie warf ihm „Egoismus, Herrschsucht und ein unsauberes Verhalten im Umgang mit anderen Frauen“ vor (vgl. Stroup 1945, S. 9 ff.; Metzger 1953, S. 65 f.; Hutten 1982, S. 82).
Auch mit der „Geistlichkeit“ oder den Religionisten, wie Russell die Vertreter der Kirchen abfällig nannte, führte er viele Auseinandersetzungen. Nachdem er sich anfangs mit seiner Kirchenkritik noch zurückgehalten hatte und daher sogar in manchen Kirchen predigen durfte, änderte sich dies zunehmend in den achtziger Jahren, als er einen schärferen Ton anschlug. 1881 verkündete er, dass die nominelle Kirche von dem unsichtbar gegenwärtigen Christus 1878 verworfen worden sei. Nun fühlte er sich berufen, die wahren Anhänger Jehovas aus den Kirchen herauszuführen. Diese Angriffe blieben nicht ohne Antwort. Insbesondere sein selbstangemaßter Status als „Pastor“ wurde kritisch hinterfragt, so etwa von dem Baptistenpastor J. J. Ross.
1912 hatte Ross eine Schrift mit dem herausfordernden Titel Einige Tatsachen über den selbsternannten ´Pastor` Charles T. Russell veröffentlicht, die zu einem Gerichtsprozess Anlass gab. Ross kennzeichnet darin Russells System als „unvernünftig, unwissenschaftlich, unbiblisch, antichristlich und eine bedauernswerte Verkehrung des Evangeliums von Gottes geliebtem Sohn“ (S. 7). Ferner warf er Russell im Blick auf seine selbstangemaßte Position vor: „„Er hat niemals eine höhere Schule besucht, weiß vergleichsweise nichts über Philosophie, systematische oder historische Theologie und ist ein totaler Ignorant hinsichtlich der alten Sprachen“ (S. 3 f.).
1913 fand in Ontario der Prozess zwischen Ross und Russell statt, den Russell verlor. Nach diesem Prozess schrieb Ross noch eine Schrift mit dem Titel:Einige Tatsachen und noch mehr Tatsachen über den selbsternannten ´Pastor` Charles T. Russell. Darin berichtet Ross über Einzelheiten dieses Prozesses, die ein denkbar schlechtes Licht auf Russells Charakter werfen. So hat Russell nachweislich Falschaussagen hinsichtlich seiner Ordination und Sprachkenntnisse gemacht.
Beispielsweise fragte ihn Rechtsanwalt Staunton: „Kennen Sie das griechische Alphabet?“ Russell antwortete: „Oh ja.“ Als Staunton ihn jedoch aufforderte, einige griechische Buchstaben vorzulesen, musste er zugeben, mit der griechischen Sprache doch nicht vertraut zu sein. Ähnlich lief ein Kreuzverhör in Bezug auf Russells angebliche Ordination ab. Nachdem er zunächst unter Eid versucht hatte, seine Ordination zu behaupten, musste er schließlich zugeben, „niemals von einem Bischof, Geistlichen, Presbyterium, Konzil oder einer entsprechenden Körperschaft ordiniert“ worden zu sein.
Russells Selbstverständnis und Werk
Obwohl Russells Skandale in der Öffentlichkeit nicht mehr zu verbergen waren, nahm trotzdem seine Anhängerschaft ständig zu, angefeuert von dem immer näher rückenden magischen Termin 1914. So konnte man 1909 die Zentrale der Wachtturm-Gesellschaft vergrößern und nach Brooklyn/New York verlegen, wo sie sich noch heute befindet. Russell hat in den Jahren vor 1914 seine Vortrags- und Reisetätigkeit ständig gesteigert. Es wird behauptet, er sei in seinem Leben mehr als 1,6 Millionen Kilometer gereist, habe ca. 30.000 Predigten gehalten und viele davon Woche für Woche an ungefähr 3.000 Zeitungen in Amerika, Kanada und Europa geschickt, wo sie – allerdings oft als Annonce – dann zum Teil auch veröffentlicht wurden (vgl. Jehovah`s Witnesses in the Divine Purpose, 1959, S. 50). An anderer Stelle heißt es, er habe „Bücher geschrieben, die insgesamt über 50.000 Seiten ausmachten“ und „oft 1.000 Briefe im Monat diktiert“ (Jahrbuch 1977, S. 77).
Dass Russell ein sehr engagierter und zu seiner Zeit weithin bekannter Mann war, sei unbestritten, doch dürften derartige Zahlenangaben eher legendarischen Wert besitzen. Franz Stuhlhofer (1994, S. 46 ff.) hat beispielsweise die Seitenzahlen sämtlicher von Russell verfassten Bücher und Artikel addiert und ist zum Ergebnis gelangt, „dass die Behauptung von Russells 50.000 Buchseiten um ein Vielfaches übertreibt“ (ebd., S. 51; vgl. auch die Kritik bei Martin/Klann 1985, S. 15 ff.).
Einen großen Bekanntheitsgrad sicherte der Bewegung das große Photodrama der Schöpfung, das 1912 konzipiert und im Januar 1914 in New York uraufgeführt wurde. Neueste technische Möglichkeiten, eine Kombination von Filmen und Lichtbildern, die man mit Musik- und Sprechplatten synchronisierte, kamen in zahlreichen Städten der USA zum Einsatz. Bis Ende 1914 sollen über 9 Millionen Menschen dieses „Photodrama der Schöpfung“ gesehen haben. In ihm wurde der gesamte biblische Heilsplan, wie Russell ihn verstand und erklärte, in einer insgesamt achtstündigen Vorführung dargeboten. Es wurden Lichtbilder vorgeführt vom Urnebel bis zur Schlacht von Harmagedon und dem Ende des Tausendjährigen Reiches.
Russell äußerte über sein Hauptwerk, die sechsbändigen Schriftstudien, sie seien unerlässlich zum Verständnis der Heiligen Schrift. Wenn jemand die „Schriftstudien“, nachdem er sie zehn Jahre lang gelesen hat und mit ihnen vertraut geworden ist, weglegt und ignoriert und nur zur Bibel greift, „so wird er – das zeigt unsere Erfahrung -, auch wenn er die Bibel zehn Jahre lang verstanden hätte, binnen zwei Jahren in die Finsternis gehen. Wenn er andererseits nur die Schriftstudien mit ihren Bibelzitaten gelesen hat und keine Seite der Bibel als solche, so würde er am Ende von zwei Jahren noch im Lichte sein, da er das Licht der Schrift besäße“ („Wachtturm“ vom Dezember 1910, S. 218 f.). Russell hat sein Werk also der Heiligen Schrift übergeordnet. Wie zeitbedingt allerdings sein Werk war und wie sehr er sich auch in diesem Punkt geirrt hatte, zeigt die Tatsache, dass die Zeugen Jehovas schon sehr bald (etwa ab Mitte der 20er Jahre) die Schriftstudien nicht mehr druckten – aus leicht verständlichen Gründen (nicht eingetroffene Terminberechnungen und ähnliches).
Worum ging es in den Schriftstudien? In Band 1 („Der göttliche Plan der Zeitalter“) gibt Russell einen grundlegenden Überblick über sein System. Er behandelt die Frage nach Gott, dem Verständnis der Bibel, dem Lösegeld und Wesen Christi sowie – anhand einer Zeitalter-Karte – dem Ablauf der Heilszeitordnungen. Er möchte im Leser den Glauben an Gott sowie an die Bibel als göttlich inspirierte Offenbarung befestigen, um darauf aufbauend den Heilsplan zu entfalten. In Band 2 („Die Zeit ist herbeigekommen“) geht es ausführlich um „Zeit und Zeitpunkte“, eine „vollständige Bibelchronologie“. Band 3 („Dein Königreich komme!“) untersucht daran anknüpfend die prophetischen Zeitabschnitte im Buch Daniel und in der Offenbarung des Johannes, ferner die Frage nach dem Schicksal Israels und die Zeitberechnung anhand der Maße der Cheops-Pyramide. Band 4 („Der Tag der Rache“) handelt von der „Auflösung der gegenwärtigen Ordnung der Dinge“. Band 5 („Die Versöhnung des Menschen mit Gott“) entfaltet ausführlich Russells Auffassung vom Loskaufopfer Jesu Christi, verstanden als engelhaftes Geistwesen, nicht als zweite Person der göttlichen Dreieinigkeit. Band 6 („Die neue Schöpfung“) schließlich beschreibt die Schöpfungswoche nach 1. Mose 1 f., die „Herauswahl“ der Gemeinde sowie deren Organisation, Gebräuche, Zeremonien, Pflichten und Hoffnungen.
Zu Russells Lebensstil existieren sehr unterschiedliche Äußerungen. Die einen sagen, er hätte einfach und bescheiden im New Yorker „Bethel“ gelebt und viele Jahre nur ein Taschengeld bezogen. Die anderen behaupten, er hätte sämtliche Aktien-Anteile der Wachtturm-Gesellschaft besessen. Was ist wahr?
Tatsache ist, dass er das gesamte Vermögen seines väterlichen Betriebs für die Wachtturm-Bibel-und-Traktat-Gesellschaft sowie für Firmen, die mit dieser kooperierten (z. B. die „Tower Publishing Company“, welche der Wachtturm-Gesellschaft Papier lieferte), eingesetzt hat. Er verkaufte das blühende Textilunternehmen für eine Viertelmillion Dollar und investierte dieses Geld in die Wachtturm-Tätigkeit (vgl. Twisselmann 1995, S. 47.59). Im Ehescheidungs-Prozess bezeichnete er sich als arm und wollte nichts bezahlen, aber das Gericht stellte fest, dass er Geld besaß und bestrafte ihn wegen Hinterziehung. Damals wurde festgestellt, dass Russell die Kontrolle über eine Gesellschaft, eben die Wachtturm-Gesellschaft, in Händen hielt, in der er den größten Teil des Kapitals besaß (vgl. Martin 1985, S. 39 f.).
Was soll man daraus folgern? Russell war keineswegs arm, aber es ist durchaus möglich, dass er selber im Alltag bescheiden lebte. Dass er über große Kapitalmengen verfügen konnte, geht deutlich aus seinem Testament hervor, mit dem wir uns weiter unten beschäftigen.
Um Russell wurde schon zu Lebzeiten von vielen seiner Anhänger ein Personenkult betrieben. Ein ausgeprägtes endzeitliches Sendungsbewusstsein war ihm zueigen. Er nahm an, dass sich am Ende der Tage das Licht der Wahrheit immer mehr erhellt und ein vollerer Zugang zu den göttlichen Geheimnissen möglich ist. Er selber, Russell, sei der Empfänger dieses Lichtes. Er verglich sich mit dem „klugen und treuen Knecht“ in Matthäus 24, 45-51 und Lukas 12, 41-46. Von seinen Anhängern wurde er als „der Sendbote der Gemeinde von Laodizäa“ nach Offenbarung 3, 14-22 bezeichnet, so etwa in dem posthum herausgegebenen Band 7 der Schriftstudien (siehe unten). Russell wurde dort in eine Linie mit Paulus, Johannes, Arius, Waldus, Wiclif und Luther gestellt, welche die anderen Gemeinden in Offenbarung 2 f. repräsentieren sollten. Auffallend ist, dass in dieser Liste neben Aposteln und großen Männern der Kirchengeschichte auch der als Ketzer verurteilte Arius erscheint. Warum dies so ist, werden wir bei der Untersuchung der Gotteslehre und Christologie der Zeugen Jehovas betrachten.
Russell starb bei einer seiner zahlreichen Reisen, und zwar am 31. Oktober 1916 in einem Eisenbahnwagen in der Nähe von Pampa/ Texas. Eine Autokolonne von über hundert Wagen, ein Meer von Blumen sowie 17 Grabreden prägten seine Bestattung in New York.
Beziehungen zur Freimaurerei
Einige Fragen im Zusammenhang mit der Biographie Russells sind noch ausführlicher zu betrachten. Die erste Frage lautet: War Russell Freimaurer oder zumindest für freimaurerisches Denken offen? Besonders der ehemalige Zeuge Jehovas Erich Brüning hat sich der Untersuchung dieser Frage gewidmet. In seinem Buch 3 Systeme. Was verbindet Freimaurer, New Age und Jehovas Zeugen? (1994 b) zitiert er ausführlich aus einer Rede, die Russell 1913 vor Freimaurern, Ernsten Bibelforschern und Zuhörern verschiedener Denominationen gehalten hat. Diese Tempelansprache ist erschienen im „International Biblestudents Souvenir, Convention Report 1913“, S. 359 ff. Daraus einige Auszüge. Russell sagte:
„Ich freue mich, die besondere Gelegenheit zu haben, einiges über Dinge zu sagen, in denen wir mit unseren freimaurerischen Freunden übereinstimmen, denn wir befinden uns hier in einem Gebäude, das der Freimaurerei geweiht ist. Und auch wir sind Freimaurer. Ich bin ein freier Freimaurer. Ich bin ein freier und anerkannter Freimaurer, wenn ich das in voller Länge ausführen darf … Ich glaube, wir alle sind es. Aber nicht gerade im Stil unserer freimaurerischen Brüder… Tatsächlich sind einige meiner besten Freunde Freimaurer, und ich schätze es, dass es einige wertvolle Wahrheiten gibt, die unsere freimaurerischen Freunde besitzen.“
Im Folgenden führt Russell aus, dass Jesus Christus „der große Meister unseres Hohen Ordens der Freien und anerkannten Freimaurerei“ und Begründer des Tempels sei. Punkt für Punkt vergleicht Russell die Gemeinde mit einem freimaurerischen Tempel. Schließlich meint er:
„Ihr wisst, dass man in Freimaurerorden von Stufe zu Stufe fortschreitet und dabei mehr und mehr lernt. So gibt es denn Freimaurer im 32. Grad, die viel mehr wissen als die im 14. und 16. Grad… So ist es auch im geistlichen Tempel. Der Apostel drängt uns, höher zu steigen. Er sagt, wir sollen in der Gnade und in der Erkenntnis wachsen und dem Herrn charakterlich ähnlicher werden, ihm, dem großen Hauptbefehlshaber, dem großartigen Hohenpriester unserer Berufung, dem größten aller Tempelritter“ (zit. nach Brüning, 1994 b, S. 62 ff.).
Solche Äußerungen dürften heutigen Zeugen Jehovas weitgehend unbekannt sein. Dennoch deutet vieles darauf hin, dass Russell entweder selber Freimaurer war oder deren Gedankengut zumindest nicht ablehnte. Eine wichtige Gemeinsamkeit lag sicherlich darin, dass sowohl Freimaurer als auch Russell die göttliche Wesensart Jesu Christi im Sinne der Trinität bestritten. Ferner versuchte Russell, abseits von den Dogmen der Kirchen eine neue Religion zu gründen. Freimaurerisches Gedankengut kommt nicht nur in der zitierten Tempelansprache Russells zum Ausdruck, sondern auch in der von ihm häufig gewählten Symbolik der Pyramide, welche ein wichtiges Symbol der Freimaurerei darstellt. Man denke etwa an den dritten Band der Schriftstudien, wo ein ganzes Kapitel der Pyramide von Gizeh gewidmet ist. Später haben die Zeugen Jehovas Russells Pyramidenlehre fallen gelassen, wie sie auch offiziell nichts mit Russells freimaurerischen Ambitionen zu tun haben wollen. Dennoch stellt dieser Einfluss eine bedeutende Größe der Anfangszeit war, welche sich nicht leugnen lässt.
Ob Russell Mitglied einer Freimaurer-Loge war – darüber gehen die Ansichten auseinander. Brüning selber äußert sich widersprüchlich. Einerseits schreibt er:
„Über Russells Zugehörigkeit zu einer Loge weist das Drei-Punkt-Symbol vor seinem Namen in dem Freimaurerverzeichnis in ´Lady Queenborough` hin“ (ebd., S. 68).
Andererseits meint er:
„Es muss hier nicht polemisiert werden, ob Russell initiierter Freimaurer war oder nicht. Seine Weltanschauung, die Verehrung freimaurerischer Embleme, die Anwendung freimaurerischen Vokabulars und Umdeutung biblischen Gedankenguts in freimaurerische ´Theologie` dürften zur Beurteilung der Grundhaltung Russells genügen. Man spricht hier auch von ´Maurer ohne Schurz`“ (ebd.).
In Einklang mit Brünings letzter Aussage teilte mir Hans-Jürgen Twisselmann in einem Brief vom 6.2.1996 folgendes mit:
„Russell war, wie ich über eine deutsche Freimaurer-Loge in Erfahrung bringen konnte, nie Freimaurer. Dass er aber beste Kontakte zu Einzelpersonen und Freimaurer-Einrichtungen unterhielt, dürfte unbestritten sein.“
Adventistische Einflüsse
Ein weiterer interessanter Aspekt sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Russells Lehre und dem frühen Adventismus, aus dem er ja hervorgegangen ist. Übernommen wurde zumindest prinzipiell die Schrifthaltung, der Glaube an die göttliche Inspiration der Bibel, wenn auch auf eine eigenwillige Art (dazu später mehr), ferner die Vorstellung von einer inhaltlichen Gleichwertigkeit von Altem und Neuem Testament. Die biblischen Aussagen werden – trotz vordergründig geschichtlichem Denken – nicht in ihrem heilsgeschichtlichen Fortschreiten betrachtet und ernstgenommen, sondern geradezu steinbruchmäßig aus dem Textzusammenhang herausgebrochen und nach eigenen Vorstellungen miteinander kombiniert. Auf die sogenannte Rösselsprung-Methode bei den Zeugen Jehovas werde ich noch ausführlicher eingehen. Die Gleichordnung des Alten Testamentes mit dem Neuen führt zum Beispiel bei den Adventisten zur Sabbat-Heiligung, bei den Zeugen Jehovas zu einem sehr gesetzlichen Denken insgesamt, besonders auffallend etwa in Gestalt des Blut-Verbots.
Ein weiteres gemeinsames Kennzeichen ist der Versuch, den Termin der Wiederkunft Christi zu berechnen. Nach dem Nichteintreffen der sichtbaren Wiederkunft verlegten sich sowohl adventistische Kreise als auch Russell auf eine unsichtbare Wiederkunft oder Gegenwart Christi.
Gemeinsam ist ferner die Vorstellung, dass der Mensch nicht eine Seele hat, sondern eine Seele ist. Damit hängt die Ablehnung jeder Behauptung einer Unsterblichkeit der Seele zusammen. Da der Mensch als ganzer eine Seele sei, könne er den leiblichen Tod nicht überdauern, sondern sterbe ganz. Nach dem Tod gebe es keine Weiterexistenz. Auferstehung bedeute Neuschaffung. Diese Ganztod-Theorie findet sich heute sowohl bei den Siebenten-Tags-Adventisten als auch bei den Zeugen Jehovas. Eng damit zusammen hängt die Verwerfung der Lehre von der Ewigkeit der Höllenstrafen. Die Hölle sei nur das Grab, ein Ort der Ruhe und der Hoffnung, wo weder Bewusstsein noch Empfindung vorhanden sei.
Worin sich Russell von den Adventisten unterscheidet, ist vor allem seine Ablehnung der Lehre von der Dreieinigkeit, aber auch der Sabbat-Heiligung, darüber hinaus manche eigenen Terminberechnungen, nicht zuletzt die Einbeziehung der Cheops-Pyramide in seine Zeitalter-Lehre. Aber die Gemeinsamkeiten mit Ansichten in der adventistischen Bewegung des 19. Jahrhunderts sind doch auffallend. Von Russells Neuerungen hat nur weniges seinen Tod überlebt. Seine Terminberechnungen wurden von seinen Nachfolgern umgedeutet oder „aktualisiert“, die Berücksichtigung der Cheops-Pyramide wurde fallengelassen. Dietrich Hellmund bemerkt in seiner Dissertation „Geschichte der Zeugen Jehovas“ zu Recht:
„Nun gibt es freilich einige Glaubenslehren, die unverändert oder doch nur mit ganz geringen Korrekturen den Tod des Gründers überdauern und bis heute bei den Zeugen Jehovas vertreten werden: die Seelenlehre, die Höllenlehre, die Ablehnung der Trinitätslehre, die praktische Bevorzugung des Alten Testaments. Im weiteren Sinn wären dazu auch das chronologische Zeitschema (Adams Erschaffung um 4.000 vor Christus), das endzeitliche Bibelverständnis, die Lehre vom Läuterungscharakter des Millenniums, auch das Schriftprinzip zu rechnen. Mit alleiniger Ausnahme der Gotteslehre sind alle diese Anschauungen adventistischen Ursprungs oder durch Adventisten vermittelt.“
Im 1993 veröffentlichten Geschichtsbuch „Jehovas Zeugen – Verkündiger des Königreiches Gottes“ werden die Einflüsse anderer Personen und Gruppierungen, insbesondere der Adventisten, auf Russell offen zugegeben:
„C. T. Russell erkannte dankbar die Hilfe an, die ihm George W. Stetson aus Edinburgh (Pennsylvanien) beim Studium der Heiligen Schrift geleistet hatte … George W. Stetson war … Pfarrer der Adventistisch-Christlichen Kirche … C. T. Russell fühlte sich George Storrs, der etwa 56 Jahre älter war als er, sehr zu Dank verpflichtet. Russell hatte von ihm viel über die Sterblichkeit der Seele gelernt“ (S. 45 f.).
In diesem Zusammenhang wird folgende Selbstaussage Russells zitiert:
„Ich bekenne … dass ich sowohl den Adventisten als auch anderen Denominationen Dank schulde … obgleich mir der Adventismus keine bestimmte Wahrheit erschloss, so war er mir doch behilflich, Irrtümer zu verlernen und mich so für die Wahrheit vorzubereiten“ (ebd., S. 44).
Russells Testament
Wie es nach Russells Tod weitergehen sollte, hatte er 1908 in einem Testament festgelegt, welches nach seinem Tod im Wachtturm vom Februar 1917 erschien. Vorausgeschickt sei die Bemerkung, dass dieses Testament so viele Lücken enthielt, dass es von seinem (nicht von ihm bestimmten oder eingesetzten!) Nachfolger Rutherford bequem umfunktioniert werden konnte. Russell hatte folgendes als seinen letzten Willen bestimmt:
„Ich treffe die Anordnung, dass das ganze Werk der Herausgabe des Wachtturms sich in Händen eines Komitees von fünf Brüdern befinden soll, die ich zu großer Sorgfalt und zur Treue gegen die Wahrheit ermahne … Die unten als Mitglieder des Herausgeber-Komitees genannten Brüder (ihre Annahme vorausgesetzt) sind, wie ich annehme, den Lehren der Heiligen Schrift völlig treu, besonders der Lehre vom Lösegeld, der Lehre, dass es keine Annahme bei Gott und keine Errettung zum ewigen Leben gibt, außer durch den Glauben an Christum und Gehorsam gegen sein Wort und den Geist desselben. Wenn einige von den Bestimmten zu irgend einer Zeit sich nicht mehr in Harmonie mit dieser Vorkehrung befinden sollten, so würden sie ihr Gewissen verletzen und darum Sünde begehen, wenn sie trotzdem noch Mitglieder des Herausgeber-Komitees bleiben würden…
Die Namen des Herausgeber-Komitees sind folgende: William E. Page, William E. Van Amburgh, Henry Clay Rockwell, E. W. Brenneisen, F. H. Robison. Die Namen der fünf Brüder, von denen ich annehme, dass sie am besten dazu passen, um freigewordene Stellen beim Herausgeber-Komitee wieder auszufüllen, sind: A. E. Burgeß, Robert Hirsh, Isaak Hoskins, Geo H. Fisher (Scranton), J. F. Rutherford, Dr. John Edgar …
Ich habe schon die Wachtturm-Bibel- und Traktat-Gesellschaft mit allen meinen Stimmanteilen begabt, und ich lege diese nun in die Hände von fünf Bevollmächtigten. Es sind folgende: Schwester E. Louise Hamilton, Schwester Almeta M. Nation Robison, Schwester J. G. Herr, Schwester C. Tomlins, Schwester Alice G. James. Diese Bevollmächtigten sollen für Lebenszeit dienen. Im Falle ihres Todes oder von Verzichtleistung sollen Nachfolger gewählt werden von den Direktoren der Wachtturm-Bibel- und Traktat-Gesellschaft, dem Herausgeber-Komitee und dem Rest der Bevollmächtigten, nachdem sie um göttliche Leitung gebetet haben.“
Der Weg zur Macht
Joseph Franklin Rutherford wurde der zweite Präsident der Ernsten Bibelforscher. Der Weg dorthin war allerdings nicht einfach. Wie es dazu kam und welche Neuerungen Rutherford einführte, wollen wir in diesem Kapitel betrachten. Wie ging es nach dem Tod von Charles Taze Russell weiter?
In Russells Testament waren verschiedene Gruppierungen erwähnt worden, welche die Nachfolge Russells gemeinsam antreten sollten. Die Machtfülle, die vorher im Wesentlichen in seiner Person vereinigt war, sollte sich auf drei Gremien aufteilen. Leider waren die Kompetenzen dieser drei Gremien nicht deutlich genug voneinander abgegrenzt. Um welche Gremien handelte es sich?
Da war zunächst das siebenköpfigeDirektorium der Wachtturm-Bibel- und Traktat-Gesellschaft. Aber in Konkurrenz zu diesem Direktorium setzte Russell in seinem Testament ein fünfköpfigesHerausgeber-Komitee für die Zeitschrift „Zions Wachtturm“ ein. Mindestens drei der fünf Herausgeber mussten den Artikeln zustimmen, damit sie in „Zions Wachtturm“ erscheinen konnten. Dieses Komitee stand zunächst unabhängig neben dem Direktorium. Hinzu kam als drittes das Gremium der fünf Aktien-Bevollmächtigten, allesamt Damen, die Russell als Verwalterinnen seines Vermögens eingesetzt hatte. Auffallend ist, dass Russell nicht einen Nachfolger eingesetzt hat, sondern immer Gruppen von Nachfolgern, um die Macht und Finanzen möglichst demokratisch zu verteilen. Es sollte also keiner die Alleinherrschaft besitzen.
Das Testament war allerdings – und hier sitzt das Problem – so nicht durchführbar. Die erwähnten fünf Damen hatten das Aktienpaket von 25.000 Stimmen unter insgesamt zirka 150.000 Stimmrechten erhalten. Der Rest verteilte sich auf etwa sechshundert Aktionäre. Nach Russells Tod nun wurde behauptet, mit seinem Heimgang seien auch seine Aktienanteile erloschen. Die Damen ließen sich einschüchtern und verzichteten auf ihre Stimmen, die nun unmittelbar der Wachtturm-Gesellschaft bzw. ihrer Leitung zugute kamen. Dietrich Hellmund vermutet, dass hinter diesem „Meisterstück“ einer Entmachtung wahrscheinlich „der Juristenverstand Rutherfords“ steckte.