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Volker Friebel

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Beschreibung

Anliegen des Projekts Haiku heute ist die Förderung des deutschsprachigen Kurzgedichts. Dieses Buch beschäftigt sich mit dem Jahr 2023. Die Einführung stellt das Buch sowie die Grundlagen und das Potential von Haiku-Dichtung vor. Als gute Beispiele präsentieren sich 571 Haiku von 122 Autoren sowie drei Tan-Renga. Ein Kapitel gibt Auskunft über den Stand des Haiku in den deutschsprachigen Ländern. Viele der Texte wurden 2023 in den verschiedenen Organen der Haikuliteratur veröffentlicht, manche erblicken hier erstmals das Licht der Öffentlichkeit.

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Haiku heute

 

Aufbrüche

Haiku-Jahrbuch 2023

 

Volker Friebel

 

Edition Blaue Felder, Tübingen

 

Merkmale von Haiku1  

 

Kürze: Haiku werden meist in drei Zeilen gesetzt.

Gegenwärtigkeit: Haiku sind in der Gegenwart. Wenn andere Zeiten vorkommen, dann sind es Erinnerungen oder Zukunftsfantasien, die jemand in der Gegenwart hat. 

Konkretheit: Haiku stellen ein Erleben konkret dar, sinnlich miterlebbar, sie reden nicht abstrakt über die Welt, sondern zeigen sie. 

Offenheit: Nach dem Lesen sollte ein Nachhall, etwas Ungesagtes, offen Gelassenes bleiben. 

Endreime und Überschriften gibt es nicht. 

 

Haiku heute ist ein Projekt zur Förderung des deutschsprachigen Kurzgedichts. Die Netzpräsenz www.haiku-heute.de erstellt aus den dort eingereichten Texten Monatsauswahlen. Die Jahrbücher versammeln davon die interessantesten Haiku jedes Jahres, ergänzt durch nur für das Jahrbuch eingereichte Haiku und weitere Texte.

 

Die Mehrzahlbildung folgt der Muttersprache aller Menschen, Bären und Schmetterlinge.

 

Edition Blaue Felder, Volker Friebel,

Denzenbergstraße 29, 72074 Tübingen (Deutschland)

www.volker-friebel.de

 

Herstellung und Verlag: BoD, Norderstedt.

 

Redaktion, Gestaltung, Foto: Volker Friebel

Lektorat: Elisabeth Menrad

Veröffentlichung: April 2024

 

Alle Rechte liegen bei den Autoren.

 

 

Inhalt

Einführung 

Haiku 

Tan-Renga 

Das Haiku-Jahr 

Bücher 

Das Netz  

Autoren 

Edition Blaue Felder 

 

 

 

Einführung

 

deutschstunde

das kind schaut aus dem fenster

und findet ein haiku

 

Was sieht das Kind in den Versen von Annika Carmen Schmidt? Vielleicht einen Baum, und es hört einen Vogel. Und das, was die Lehrerin vorn an der Tafel sagt, wird plötzlich lebendig.

Haiku können so einfach sein, wie dieser Text. Bāsho, der alte Meister des Haiku, meinte sinngemäß: „Um Haiku zu schreiben, werde ein Kind“. Weil die Großen, durch Schule und die folgende „Schule des Lebens“ zurechtgestaucht und eingeschüchtert, sich nicht mehr trauen, eigene Worte zu finden, spontan ein paar Striche mit dem Pinsel auf ein Blatt Papier zu setzen oder die Töne des eigenen Herzens zu summen.

Lese ich allerdings Besprechungen von Haiku großer Meister, steckt in dem kleinen Gedicht doch mehr, als der erste Blick sieht. Weil sich manchmal in die beiden Bilder, die gegeneinander gehalten werden (das häufigste Kompositionsprinzip bei Haiku), zufällig Raffinesse oder Tiefsinn verirren? Häufiger wohl wegen der Arbeit am Text nach dem spontanen Notieren.

Das zitierte Haiku behauptet: Die Welt ist Gedicht. Das ist keine Aussage, die aus der Romantik und von seelenvoll schwärmenden Menschen stammt, sondern abgeleitet aus der Wahrnehmungsphysiologie. Was wir sehen, hören, riechen, schmecken, spüren, ist zwar kein Traum, doch unsere Sinneswahrnehmungen geben eher Gleichnisse der Realität wieder als diese selbst. So erfindet unser Gehirn die Farben, um uns die unterschiedlichen Wellenlängen der elektromagnetischen Strahlung handhabbarer zu präsentieren, erfindet aus Druckwellen Töne, aus der Anwesenheit von verschiedenen Molekülen Düfte. Das alles ist Dichtung – aber nicht haltlos freie Erfindung, sondern eine künstlerische Aufbereitung der Wirklichkeit.

 

Was macht ein Haiku aus? Wie unterscheidet es sich von anderen Arten von Texten? Die Ansichten der Dichter gehen auseinander. Doch in einigen Punkten treffen sie sich.

* Kürze: Mehr als drei Silben mit zusammen höchstens 17 Silben sollte ein Haiku nicht haben. Es gibt auch gelungene Haiku mit 18 oder 19 Silben – doch sehr viel mehr deutlich kürzere.

* Der erlebte Augenblick, in der Wirklichkeit oder imaginiert. Festzustellen ist er fast immer in der Gegenwartsform der Texte.

* Konkretheit und weitgehender Verzicht auf abstrakte Begriffe. Es geht mehr um das Erleben als um das Einordnen und Nachdenken.

* Eine meist größere Offenheit, Unabgeschlossenheit von Texten, als sonst in der Dichtung.

* Überschriften und Reime sind bei Haiku nicht üblich.

Wenn diese Punkte auf einen Text zutreffen, sollte es ein Haiku sein. Ob es allerdings ein gelungenes Haiku ist, darüber entscheidet das ästhetische Empfinden der Leser. Das kann sich unterscheiden.

Und der Begriff „Haiku“ ist weniger eine Schublade, als ein weites Feld, auf dem sehr unterschiedliche Texte wachsen und gedeihen, manche nahe an seinem Zentrum, andere mehr oder weniger weit von ihm entfernt.

Einige Beispiele.

 

Nur zwei Zeilen und 12 Silben hat das Haiku von Claudia Brefeld:

 

im Moment des Küssens

fallende Kirschblüten

 

Das ist, wenigstens für mich, ein gelungenes Haiku. Selbst in der Liebe (die dem Haiku gemäß nicht abstrakt als „Liebe“, sondern konkret als Kuss zur Sprache kommt), selbst wenn die Zeit zu stehen scheint, fallen die Kirschblüten. Abstrakt formuliert ist das Thema des Textes Vergänglichkeit.

Im klassischen japanischen Haiku sind Anspielungen literarischer Art häufig, heute und im Westen dagegen eher selten. Ein Grund mag sein, dass uns der verbindliche Literaturkanon vergangener Zeiten nicht mehr selbstverständlich ist. Man sollte schon einen bestimmten Film (Inception) kennen, um das folgende Haiku von Frank Dietrich ganz würdigen zu können:

 

aufwachen will ich taumelnder Kreisel

 

Die Ausführung in einer Zeile (durchaus „klassisch“: Japanische Haiku werden üblicherweise in einer einzigen Spalte geschrieben) korrespondiert interessant mit der Frage, ob der Kreisel nun kippen wird oder nicht.

Moritz Wulf Lange zeigt uns in seinem Text, dass das, was wichtig ist, auch vom Alter abhängt:

 

Das neue Schuljahr –

der Junge vor dem Spiegel

kämmt sich Gel ins Haar.

 

Drei Zeilen, 17 Silben, ein anderes Kompositionsprinzip – und doch auch ein Haiku (und ein gelungenes dazu).

Vom anderen Ende des Lebens begegnet uns ein Text von Martin Berner:

 

an Schläuchen gefangen

er ruft

den Teddy von früher

 

In diesem Text gibt es keine Natur und keine Jahreszeit. Dennoch ist er ganz gegenwärtig.

Wie wichtig für das Haiku, ich denke für dichterische Texte überhaupt, Konkretheit ist, zeigen Verse von Michaela Kiock:

 

nach all den worten

eintauchen

ins summen der bienen

 

Erst die dritte Zeile macht das Haiku, das gute Haiku. Stünde da etwas weniger Konkretes, etwa „in die Wirklichkeit“ oder „ins Leben“, gleich wäre es uninteressanter – obwohl nicht weniger prägnant.

Ein Augenblick, eine Szene, und diese nur zeigen, nicht kommentieren oder gar bewerten – das reicht.

 

Solche Haiku-Momente finden sich durchaus auch hier und da in klassischer deutscher Dichtung. Etwa als Schluss des Gedichts „Hälfte des Lebens“ von Friedrich Hölderlin:

 

Die Mauern stehn

sprachlos und kalt, im Winde

klirren die Fahnen.

 

Der englische Herausgeber und Haiku-Dichter David Cobb hat diesen Dreizeiler in seine Anthologie „Euro-Haiku“ (2007) aufgenommen. Dass solch ein Augenblick für ein eigenes Gedicht bereits ausreicht, diese Erkenntnis (und den Mut dazu) ist allerdings Dichtern des alten Japan zu verdanken. Deshalb finde ich es gerechtfertigt, Texte solche Art auch im Deutschen als Haiku zu bezeichnen, als Zeichen des Respekts, obwohl sich unsere Kultur von der des klassischen Japan stark unterscheidet.

 

Das also sind Haiku. Aber weshalb sollte sich jemand mit ihnen beschäftigen? Dichtung hat wenig Wert in unserer Zeit.

Womit wir uns beschäftigen, wohin wir schauen und hören, das färbt uns. Der Brunnen im Wald färbt uns, die Blumen der Wiese, der morgendliche Stau auf dem Weg zur Arbeit – und die Arbeit.

Haiku sind eine Möglichkeit, bei dem zu sein, was uns gut tut. In der Natur, bei den Bächen, den Seen, dem Grün, nun im Frühling beim neu erwachenden Leben. Gegenwärtigkeit, Achtsamkeit, die in fast allen gelungenen Haiku aufscheinen, tun uns auch dort gut, wo es eigentlich nicht so angenehm ist, eben manchmal bei der Arbeit, im Krankenhaus, vor dem Stacheldraht. In den Worten und Bildern des Haiku können wir in der Gegenwärtigkeit verweilen.

Die Beschäftigung mit Haiku ist nicht nur Beschäftigung mit Literatur, sondern auch mit uns selbst, und mit dem, was Gesundheit ausmacht, Frieden, Selbstwirksamkeit, auch Selbstherausforderung. Damit ist das Haiku allerdings nicht allein, das ist auch beim Malen möglich, dem Fotografieren, bei manchen anderen Ausdrucksformen der Literatur. Das Lesen und Schreiben von Haiku entspricht so, natürlich, auch einer persönlichen Vorliebe und Entscheidung.

 

 

Das Haiku-Jahrbuch erscheint seit dem Jahr 2003. Ziel ist es, wenigstens einiges Herausragende aus dem Strom der unzähligen geschriebenen und veröffentlichten Texte herauszugreifen und festzuhalten, ein Gedächtnis des deutschsprachigen Haiku aufzubauen und zugänglich zu machen.

In der vorliegenden Ausgabe des Jahrbuchs finden sich 571 Haiku von 122 Autoren, die im Jahre 2023 geschrieben oder erstmals veröffentlicht wurden. Sie stehen als gute Beispiele für die ganze Spannbreite des gegenwärtigen deutschsprachigen Haiku, ob klassisch, zeitgenössisch oder avantgardistisch orientiert.

Dieser Einführung folgt der Hauptteil des Buchs, er enthält die aufgenommenen Haiku, aufgeführt unter den alphabetisch gesetzten Autorennamen. Die Texte stammen vor allem aus der Netzpräsenz „Haiku heute“, die monatlich eine Auswahl der besten eingereichten Texte erstellt (eingereicht wurden dort 2023 fast 5.000 Texte, davon veröffentlicht 871), außerdem aus den Publikationen der Deutschen Haiku-Gesellschaft (Vierteljahresschrift „Sommergras“), aus dem halbjährlich erscheinenden „Chrysanthemum“ sowie aus direkt für dieses Jahrbuch eingereichten Texten.

Es folgen drei Tan-Renga (zweigliedrige Kettengedichte) als Beispiele für die Möglichkeit, gemeinsam zu dichten.

Ein letztes Kapitel, „Das Haiku-Jahr“, versucht eine Kurzfassung davon, was sich 2023 im deutschsprachigen Kurzgedicht getan hat.

Am Schluss steht das Autorenverzeichnis.

Alle Texte wurden durch Volker Friebel ausgewählt, kritisch unterstützt durch Elisabeth Menrad. Alle Prosa ohne Verfasserangabe stammt von Volker Friebel.

 

 

Haiku

 

Elena Abendroth

 

Yoga

Schmetterling wandelt sich zum Frosch

dann der Kuss

 

die Augen

aufgerissen

der Wurm frisst und der Krebs

 

sein letzter atemzug

der fluss

 

Sylvia Bacher

 

die straßen leer

im pfarrgarten das auf und ab

der schaukel

 

angler am weiher

zum gruß heben sie

ihre bierdosen  

 

zwischen stauden am

waldrand ein alter hohlweg

insektenschwärme

 

 

Marita Bagdahn

 

Der Obdachlose

schlafend in seiner Nische –

Kirchenasyl

 

Totensonntag –

noch immer bügelt sie

seine Taschentücher

 

Erntemond –

in seinem Gesicht die Schatten

noch dunkler

 

Alle aufgeregt

die Schmetterlinge

die Katze

 

Neunzigster Geburtstag

er zieht

die Wanduhr auf

 

 

Sonja Bautz

 

rosa Kirschblüten

mit gesenktem Kopf geht sie

den Blick aufs Handy

 

 

---ENDE DER LESEPROBE---