Temperatursturz - Volker Friebel - E-Book

Temperatursturz E-Book

Volker Friebel

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Beschreibung

Anliegen des Projekts Haiku heute ist die Förderung des deutschsprachigen Kurzgedichts. Dieses Buch beschäftigt sich mit dem Jahr 2022. Die Einführung stellt das Buch sowie die Grundlagen und das Potential von Haiku-Dichtung vor. Als gute Beispiele präsentieren sich 644 Haiku von 133 Autoren sowie sechs Tan-Renga. Ein Kapitel gibt Auskunft über den Stand des Haiku in den deutschsprachigen Ländern. Viele der Texte wurden 2022 in den verschiedenen Organen der Haikuliteratur veröffentlicht, manche erblicken hier erstmals das Licht der Öffentlichkeit.

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Haiku heute

 

Temperatursturz

Haiku-Jahrbuch 2022

 

Volker Friebel

 

Edition Blaue Felder, Tübingen

 

Merkmale von Haiku1 

 

Kürze: Haiku werden meist in drei Zeilen gesetzt. 

Gegenwärtigkeit: Haiku sind in der Gegenwart. Wenn andere Zeiten vorkommen, dann sind es Erinnerungen oder Zukunftsfantasien, die jemand in der Gegenwart hat. 

Konkretheit: Haiku stellen Sachverhalte oder Erlebtes konkret dar, sinnlich miterlebbar. 

Externe Orientierung: Haiku beschäftigen sich fast immer mit der äußeren Welt, weniger mit den Vorstellungen des Dichters. 

Offenheit: Nach dem Lesen sollte ein Nachhall, etwas Ungesagtes, offen Gelassenes bleiben. 

Endreime und Überschriften gibt es nicht. 

 

Haiku heute ist ein Projekt zur Förderung des deutschsprachigen Kurzgedichts. Die Netzpräsenz www.haiku-heute.deerstellt aus den dort eingereichten Texten Monatsauswahlen. Die Jahrbücher versammeln davon die interessantesten Haiku jedes Jahres, ergänzt durch nur für das Jahrbuch eingereichte Haiku und weitere Texte. 

 

Die Mehrzahlbildung folgt der Muttersprache aller Menschen, Bären und Schmetterlinge.

 

Edition Blaue Felder, Volker Friebel,

Denzenbergstraße 29, 72074 Tübingen (Deutschland)

www.volker-friebel.de 

 

Herstellung und Verlag: BoD, Norderstedt

ISBN: 9783746066783

Redaktion, Gestaltung, Foto: Volker Friebel

Lektorat: Elisabeth Menrad

Veröffentlichung: April 2023

 

Alle Rechte liegen bei den Autoren.

 

Inhalt

Einführung 

Was ist ein Haiku? 

Das aktuelle Haiku-Jahrbuch 

Haiku 

Tan-Renga 

Das Haiku-Jahr 

Bücher 

Das Netz  

Autoren  

Edition Blaue Felder 

 

 

 

Einführung

 

Die Welt des Menschen, unsere Welt, kommt aus den Krisen nicht mehr heraus, die Veilchen aber blühen trotzdem.

Ob Sisyphos beim Rollen des Felsens auf diesen Berg auch die Blumen und Schmetterlinge am Hang wahrnehmen kann? Hoffentlich, sie könnten ihm Kraft geben.

Vielleicht dichtet er Haiku dazu.

 

Was ist ein Haiku?

 

Haiku wenden sich der Wirklichkeit zu, der äußeren, aber auch der inneren Wirklichkeit. In beiden Welten finden wir diese Blumen und Schmetterlinge, und der Kanonendonner kann auch dort sein.

Haiku sind in der Regel Momentaufnahmen, sie zeigen etwas aus diesen Welten, was wichtig ist, auch wenn es unscheinbar wirken mag, wie die Knospen des Frühlings, die kaum einer sieht, aus denen aber das Leben erschaffende Grün und alle Blüten entspringen.

 

Ein Haiku kann einfach eine feine Beobachtung sein, wie der Dreizeiler von Maya Daneva:

 

allegro

das Haar des Geigers

löst sich von seinem Schatten

 

Wie der Geiger in der schnellen Musik mitgeht, da wackelt der Kopf, da fliegen die Haare!

Ein Wahrnehmungsmoment, die Konzentration auf eine Sache, höchstens auf zwei, mehr sollte nicht sein, sonst wirkt es schnell überladen.

Haiku können uns durch eine kleine Beobachtung, durch einen festgehaltenen Augenblick, Wahrheiten über die Worte hinaus aufleuchten lassen, die wir vielleicht schon wissen, aber doch immer wieder neu vergegenwärtigen müssen, wie im Haiku von Bernadette Duncan:

 

Montagseinkauf

zahle gleich viel

für Rose und Brot

 

„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ klingt da mit. Aber nicht als allgemeingültige Sentenz, sondern erlebt in der Wirklichkeit.

 

Haiku können lange nachklingen, abgeschlossen mit den bloßen Worten sollten sie jedenfalls nicht sein. Ein Beispiel dafür, wie ein Text auch nach dem letzten Wort fortwirken kann, ist das Haiku von Eva Limbach:

 

obdachlos gemacht ...

die Zinnsoldaten

des Flüchtlingskindes

 

Haiku stammen ursprünglich aus Japan, werden dort meist in einer Spalte geschrieben. Bei uns sind sie seit hundert Jahren heimisch und werden meist in drei Zeilen gesetzt. Auch Ein- oder Zweizeiler sind möglich. Michaela Kiock hat für ihren Text zurecht eine seltene Variante gewählt:

 

neujahr 

tief in der nacht 

das atmen 

der steine 

 

 

Der Zweizeiler von Angelika Holweger ist ein gutes Beispiel dafür, wie Haiku in besonderem Maße auf das Mitdichten des Lesers bauen. Und er zeigt ein Prinzip vieler gelungener Haiku, das Gegeneinandersetzen zweier Teile, deren zunächst unklares Verhältnis die Assoziationen des Lesers provoziert. 

 

Worte

wieder schärft er die Sense

 

Manchmal liest man, im Haiku sollten keine Gefühle ausgedrückt werden. Gefühle sind immer da. Gefühle werden im Haiku, wie in jeder guten Dichtung, allerdings nicht einfach benannt, sondern an Beobachtungen gezeigt und beim Leser hervorgerufen, so im Text von Birgit Zeller:

 

Mauerseglerrufe

mit ausgestreckten Armen

wir im Sommerwind

 

Wenn Dichtung es versteht, Bilder in uns zu erzeugen, ist sie gelungen. Nicht die Genauigkeit einer Beschreibung ist entscheidend, sondern die Fähigkeit eines Textes, Assoziationen bildhafter Natur im Leser hervorzurufen. Dass sparsamen Worten das besonders gut gelingen kann, besser als einer detaillierten Beschreibung, zeigt ein Haiku von Gérard Krebs:

 

auf einmal

erhebt sich ein Feld –

Zugvogel-Zeit

 

Das aktuelle Haiku-Jahrbuch

 

In dieser 20. Ausgabe unseres Jahrbuchs finden sich 644 Haiku von 133 Autoren sowie sechs Tan-Renga, die im Jahre 2022 geschrieben oder erstmals veröffentlicht wurden. Sie stehen als gute Beispiele für die ganze Spannbreite des gegenwärtigen deutschsprachigen Haiku, ob klassisch, gegenwärtig oder avantgardistisch. 

Dieser Einführung folgt der Hauptteil des Buchs, er enthält die aufgenommenen Haiku, aufgeführt unter den alphabetisch gesetzten Autorennamen. Die Texte stammen vor allem aus der Netzpräsenz „Haiku heute“, die monatlich eine Auswahl der besten eingereichten Texte erstellt, aus den Publikationen der Deutschen Haiku-Gesellschaft (Vierteljahresschrift „Sommergras“) sowie aus direkt für dieses Jahrbuch eingereichten Texten.

Danach folgen sechs Tan-Renga (zweigliedrige Kettengedichte) als Beispiele für die Möglichkeit, gemeinsam zu dichten.

Ein letztes Kapitel, „Das Haiku-Jahr“, versucht eine Kurzfassung davon, was sich 2022 im deutschsprachigen Kurzgedicht getan hat.

Am Schluss steht das Autorenverzeichnis.

Alle Texte wurden durch Volker Friebel ausgewählt, kritisch unterstützt durch Elisabeth Menrad. Alle Prosa ohne Verfasserangabe stammt von Volker Friebel.

 

Haiku

 

Elena Abendroth

 

Nachtmeerreise

das Schiff gleitet sicher durch

Erinnerungen

 

Iwa Antonow

 

Der Großeltern Haus.

Suche den Duft

der Apfelstube.

 

Marita Bagdahn

 

Buschwindröschen –

die Braut zupft

ihr Kleid zurecht

 

Dreikönigstag

an der Tür

nur Bofrost, Hermes, DHL

 

Durchs Fenster

die Sonnenblumen – sie lächelt

zurück

 

Ehestreit

sie flüchtet

ins Märchenbuch

 

Versteckspiel

hinterm alten Schuppen –

mich wiederfinden

 

Christa Beau

 

ein Gössel schlüpft

die Kraft beim Zerbrechen

der Schale

 

Gartenarbeit

die Uhr

abgelegt

 

im Wartezimmer

ich stricke die Zeit

in eine Socke

 

lange Schatten

hinter einem Panzer

geht die Sonne unter

 

Leseabend

ich unterbreche fürs Lied

der Nachtigall

 

Suppenküche

das Schlürfen

in der Stille

Martin Berner

 

Bild von der Demo 67

die Scherben

in ihm

 

Kriegsbilder

er sucht nach einem Psalm

ohne Hass

 

Muttertag

sie pflückt Blumen

für den Sohn auf Heroin

 

Nussknackersuite

einfach mal wieder

auf einem Bein hopsen

 

offenes Grab

die Enkelin nimmt die Rose

lieber mit

 

Resümee

er verbannt

alle Fahnen

 

Sternschnuppenhimmel

das Kind

das sie nicht wollten

 

und wenn es

doch Krebs ist

kalter Herbstmond

 

Uropas Kriegstagebuch

sie begräbt es

ungelesen

 

Lidwina Bilgerig

 

Stiller Bergsee

voller

Himmel

 

Christof Blumentrath

 

an der Gabelung

die drei Weisen spielen

schnick schnack schnuck

 

die letzten Gärtner

durch die Maschen des Bauzauns

roter Mangold

 

die Stille hinter

der zugeschlagenen Tür

abnehmender Mond

 

Friedensverhandlung

die Delegation verschenkt

Wildblumensamen

 

Gerd Börner

 

der alte Gärtner –

im Dunkeln noch tastet er

nach den Rosen

 

die Teeschale –

in der Glasur stellenweise

der raue Ton

 

ihre Stimme

in roten Augen

ersoffen

 

Spätsommernacht

über den Gräbern

Leuchtkäfer

 

die Teeschale

Stille fließt

in meine Hände

 

Adrian Bouter

 

Grübeleien

vor dem Morgengrauen

ein sterbender Stern

 

Morgendämmerung

das Geräusch von Hafer

im Maul der Stute

 

Strandfoto

mein Vater trägt mich

der die Tasche trägt

 

Kinderfahrrad

der Wind trägt

ein weißes Kleidchen

 

schmutzige Straße

ein Bettler segnet mich

für drei Dirham

 

Mondschatten

in meinen Gedanken

sind wir zusammen

 

südliche Augen die Mandeln der Nacht

 

Dünen der Wind die Beine der Kinder

 

heimwärts

ein streunender Hund

folgt mir

 

Weihnachtsabend

der Mond im Fluß

ein schimmernder Gott

 

---ENDE DER LESEPROBE---