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Achim, mit 54 Jahren im besten Mannesalter und Witwer, lernt eine Frau kennen. Anne ist 11 Jahre jünger, ihre Ehe gescheitert. Sie verlieben sich spontan, heiraten. Neues Glück nach Trauer und Enttäuschung. Bis ihnen Judith, eine Jüdin, die seiner verstorbenen Frau ähnelt, über den Weg läuft, seine Gefühle verwirrt. Der Anfang einer dramatischen Geschichte. Ungewollt werden sie in den Bruderkrieg zwischen Juden und Palästinensern verwickelt. Judiths und Elijas, ihres Freundes Engagement für Versöhnung verändert auch ihr Leben. Als der Freund ums Leben kommt, bleibt Achim bei Judith in Israel. Hofft, sie wird ihn lieben wie er sie liebt. Anne spürt es, will sich scheiden lassen. Dann wird auch Judith erschossen, weil sie weiterhin gegen die palästinenserfeindliche Politik Israels protestiert. Ihren kleinen Sohn gab sie, den Tod ahnend, Achim in Obhut. Ob Anne beide aufnimmt?
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Otto W. Bringer
Roman
Copyright: © 2016 Otto W. Bringer
Satz: Erik Kinting
Erschienen bei tredition GmbH, Hamburg
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Der nicht endende Konflikt in Palästina ist Schwerpunkt-Thema dieses Buches. Auge um Auge, wie man im Alten Testament liest ohne es richtig zu verstehen. Mit all seinen Facetten und Widersprüchen, in die nicht nur die Protagonisten des Romans verstrickt sind. Maxime überall da, wo es um Macht, Geld oder Vorteil geht.
Aber auch das harmlos klingende „Wie du mir so ich dir“ ist ein Thema. Sich revanchieren. Kann Böses und Gutes meinen. Du hast mich betrogen also betrüge ich dich. Oder: du hilfst mir, also helfe ich dir. Zeit darüber nachzudenken. Das Alte Testament dreimal zu lesen. Die Wahrheit steckt hinter den Buchstaben.
Anne hat neunzehn Jahre ihrer Ehe hinter sich. Hineingesprungen wie in ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Sie war einundzwanzig Jahre jung damals. Schön im klassischen Sinne. Römisches Profil, dazu ausersehen, sich mit Göttinnen zu messen. Neugierig auf Schönes in der Welt. Rolf, ihr Mann erfolgreicher Verkäufer von Edelkarossen. Hoch motiviert, gut verdientes Geld wieder auszugeben. Ein Mercedes-Cabrio zu kaufen. Für sich privat. Zu reisen, die schöne Anne an seiner Seite wie eine Trophäe. Schaut her, ich hab´s.
Kaufte ihr die teuersten Kleider, deren Glanz auf ihn abstrahlte. Fuhr mit ihr nach Paris. Promenierten die Champs-Élisées rauf und runter. Gesehen werden ist alles. Als wären sie Audry Hepburn und Gregory Peck. Auf ihren Tellern drei Sterne im Restaurant des „Plaza Athénée“. Unter dem Baldachin des breiten Messingbettes königlich gefrühstückt. Serviert von einem weiß geschürzten Bubikopf. Anne sieht, wie ihm ihr Rolf zublinzelt. Denkt nichts Arges.
Jahre später in einem Rom-Urlaub ärgerte sie sich über seine provozierenden Annäherungsversuche bei jungen Frauen. Ist sie nicht mehr gut genug? Schön genug? Beginnt zu zweifeln. An seiner Liebe, seiner ehelichenTreue. Bestimmte Stadtteile scheinen nur von Frauen bewohnt zu sein. Edelnutten, wie man ihnen ansieht. Clio. Minerva, Diana, Juno und Venus aufgedonnert wie Spielzeugpuppen. Er bleibt nachts weg. Mehr als einmal. Anne fühlt sich aus siebtem Himmel gefallen. Wahrheit, die nicht mehr zu leugnen ist, schreit zum Himmel. Das Ende vom Lied?
Vom Urlaub zurück kam er oft wochenlang nicht heim. Warf ihr lässig ein paar Blaue auf den Tisch und verschwand. Kam wieder, wenn ihn die Lust juckte und machte ihr ein Kind. Charmant wie einer, der kein Gewissen hat. So täuschte sie sich lange und glaubte an die große Liebe. Eines Tages wurde ihr klar, es ist das Ende. Sann auf Revanche. Wie du mir so ich dir. Fand einen Mann für drei Wochenenden. Genoss ihre heftigen Dispute über Picassos kubistische Phase. „Les Demoiselle d´Avignon“ ihr liebstes Bild. Aber Sex ohne Kitzel, von Liebe keine Spur. Auge um Auge – zahlt sich nicht aus.
Ihre Schwangerschaft beendete eine Beziehung, die keine war. Zweieinhalb Jahre Mutterglück und ihr kleiner Christian erkrankte an einer Hirnhautentzündung. Sie brachte ihn in ein Spezialheim in Bayern, besuchte ihn monatlich. Beendete ihr Studium und verdiente ihr eigenes Geld in Bedburg-Hau am Niederrhein. Als Gesprächstherapeutin.
Bis heute leidet Chris an den Folgen. Reagiert autistisch, selbstbezogen. Empfindet nur eigenes Leid, den eigenen Schmerz. Mimi, so nannte er seine Mutter, musste sich damit abfinden, dass er sie nie umarmt. Schmust wie andere Kinder. Konzentrierte sich auf ihren Beruf.
Achim hat zweiunddreißig Ehejahre glücklich unglücklich überstanden. Drei gesunde Töchter. Linda, Elke und Sofiemaus. So nannten sie die Jüngste. Alle drei in der Schule mittelmäßig, aber musisch begabt. Die Gene Achims in Kopf und Händen, die Welt künstlerisch zu verwandeln. Elke spielte Klavier schon mit fünf. Ihre Bach-Inventionen klangen geläufiger, daher schöner als bei ihrem Vater. Lernte mit achtzehn Benno kennen. Der sehr eigenwillige Bilder malte und exzellent auf der Gitarre spielte. Sie heiraten.
Sofiemaus tanzt für ihr Leben gern. Nach ihrem Studium machte sie sich als Tanzpädagogin selbstständig. Lässt Dreijährige nach Musik tanzen, klettern, Kopfstände machen. Psychomotorisch nennt sie die Methode. Kinder lernen so spielerisch ihren Körper kennen. Seine Möglichkeiten und Grenzen. Unverzichtbar für ihre Menschwerdung.
Linda, die älteste Tochter entwirft Theaterkostüme. Sie schaffte es bis NewYork an die „Opera Modern“, wird ihr Superintendent. Costume-Designer der Jahre 2009 und 2012.
Emma, Achims Frau und Mutter der drei, erlebte alles mit zunehmender Sorge. Elke, die zweite Tochter anfangs bis über beide Ohren verliebt. Nach zwei Jahren von der Ehe enttäuscht. Ihr Malerfürst ein Egoist, der nur in Motiven, Keilrahmen und Farbtuben dachte. Sich nicht darum scherte wie Geld in die Haushaltkasse kommt. Alle Verantwortung lastete auf Elke. Emma, ihre Mutter, litt mit ihr, konnte ihr nicht helfen.
Linda in Amerika. Schrieb seltener als früher Briefe an ihre Mutter. Telefonieren war damals noch teuer. Ihre Themen Theater, Theater, nur noch Theater. Emma überfordert, darauf ein zugehen. Fühlte sich verlassen, ausgegrenzt von der Familie. Von niemandem verstanden.
Sofie hatte schon vor Beginn ihres Studiums eine eigene Wohnung. Wollte vom Elternhaus nichts mehr wissen. Ihre eigenen Wege gehen. Hüllte sich monatelang, ja jahrelang in Schweigen. Die Versöhnung mit ihrem Vater, achtzehn Jahre später, erlebte Emma nicht mehr. Sie verfiel Depressionen. Ihr Familienbild zerstört. Verlor das Selbstvertrauen und den Glauben an die Liebe. Alice Schwarzers „Der kleine Unterschied“ kam ihr gerade recht.
Besuchte eine Psychotherapeutin in Köln ohne Erfolg. Zog sich den ganzen Tag lang in ihr Zimmer zurück. Ließ sich von Achim nicht mehr umarmen, küssen, trösten. Als wäre er ein Fremder. Achim traurig und enttäuscht verließ das Haus. „Wir brauchen beide eine Auszeit“, sagte er zu Emma. In Wahrheit vermisste er die Nähe einer Frau. Suchte eine andere. Seine Sekretärin schien geneigt, mit ihm eine Liaison einzugehen.
Er rief sie an noch im Geschäft, jeden Abend, wenn sie in der Wanne lag. Plauderten über dies und das. Bemerkungen ließen ihn glauben, sie erwarte mehr von ihm. Verabredeten sich zum Essen. Achim setzte sich neben sie. So nah wie möglich, ihren Körper zu spüren. Streichelte mit der Linken ihren Nacken. Während die rechte Hand zwischen ihren Oberschenkeln immer tiefer rutschte. Sie wehrte sich zögernd. Kamen weder zum Essen noch zum Küssen. Enttäuscht fuhr er sie nachhause. Was ein Liebesabenteuer werden sollte, endete mit Scham.
Zwei Wochen später fuhr Achim wieder in sein Haus zu seiner Emma. Vergaß den Ehering wieder anzuziehen. Er hatte ihn abgenommen, bevor er auf Brautschau ging. Emma sah sofort, dass er an seinem Finger fehlte. Großes Lamento: „Jetzt auch Du noch!“ Achim konnte nicht heraushören, ob es echt war. Oder nur vorgespielt, ihn auf die Knie zu zwingen. Ging und ließ sie den ganzen Tag und die folgende Nacht allein.
Am nächsten Tag gegen Mittag rief Emma ihn in seiner Agentur an. „Kannst Du mal schnell kommen?“ „Im Moment nicht, habe einen neuen Kunden bei mir. Den kann ich nicht allein lassen, sonst ist er weg. Was gibt es denn?“ Hörte es sich an wie Schluchzen? „Ich beeile mich, komme so schnell ich kann.“
Als er eine Stunde später in die Einfahrt zur Garage fuhr, sah er das Tor offen. Ihr gelber 2CV stotterte. Vom Auspuff hing ein Schlauch bis in die halboffene Fahrertür. Er hin, den Schlauch aus ihrem Mund genommen, sie selbst vom Sitz vorsichtig auf den Boden gelegt. Gehorcht. Ihr Herz schlug nicht mehr. Emma tot.
Auf dem Esstisch ein Kognakglas, eine leer getrunkene Flasche und ein Brief. Die Schrift wie unter Zwang krakelig wie in Blech geritzt. „Ihr alle habt mich verlassen. Nun werde ich euch verlassen. Und ihr könnt zusehen, wie ihr damit weiter lebt.“ Es folgen noch einige Sätze in verworrenem Deutsch. Unverständlich, nur zu ahnen, was diese von Zorn und Enttäuschung verwundete Seele zu dieser Verzweiflungstat trieb. Sich selbst aufzugeben und jeden Gedanken der anderen an sie mit schlechtem Gewissen zu belasten. Ein Leben lang. Auge um Auge. So sterben muss schrecklich sein.
Im voll besetzten Parkhaus von Kleve am Niederrhein stehen sie hintereinander und warten, dass Plätze frei werden. Anne will im Städtchen einkaufen. Achim ins Museum, Skulpturen von Ewald Mataré wiedersehen. Seine berühmte liegende Kuh soll hier ausgestellt sein. Aufs Minimum reduziert und doch eine Kuh. Auch in den Augen unwissender Laien. Mensch fühlt gewissermaßen Kuh. Entlang der Hörner über den satten Leib. Kunst verstehen wir emotional, nicht rational. Wie auch der Künstler von Emotionen getrieben wird, nicht vom Verstand. Ewald Mataré einer der hochbegabten Formverdichter unserer Zeit.
Jetzt stehen sie da und warten. Achim in seinem weißen Rover und Anne in ihrem bronzefarbenen 924er. Achim steigt aus: „Ich würde Sie gerne vorlassen, aber hier ist es zu eng um zu wenden. Was nun? Wir müssen warten“. Zehn Minuten, fünfzehn Minuten. Die Luft im niedrigen Raum wird dicker von den laufenden Motoren. Atmen fällt schwer.
Da wird ein Platz vor ihm frei, er fährt daran vorbei, winkt ihr aus dem offenen Fenster zu. Hält. Ein Impuls lässt ihn aussteigen, an die noch geöffnete Scheibe ihres Porsche gehen. Mit ausgestrecktem Arm auf die Lücke zeigen: „Bitteschön Madame, ein Platz für Sie.“ Sieht sie lächeln und schiebt mutig geworden hinterher:
„Den Ärger über die Warterei sollten wir bei einem Prosecco vergessen. Kommen Sie mit? Ich schlage vor, ins Museumscafé zu gehen.“
Im Kopf die Vorstellung, er könnte doch Eindruck machen mit seinen Kunstkenntnissen. Vielleicht mit ihr die Mataré-Kuh besuchen und darüber diskutieren. Endlich wieder mit einer Frau reden. Über anderes als neueste Mode, den letzten Krimi im Fernsehen. Achim war lange genug allein. Über ein Jahr. Geküsst hatte er genau so lange niemanden. Die fremde Frau in der Garage ist ihm sympathisch. Wagt nicht weiter zu denken. Fühlt nur, etwas ändert sich.
Anne parkt, er bleibt stehen, wo er steht. Will sie nicht aus den Augen verlieren bei der Platzsucherei. Da kommt sie zu ihm an den Wagen. Lacht und reicht ihm spontan die Hand: „Einverstanden. Ich kenne das Café. Es heißt „Lohengrin“. Während sie warten bis ein Platz nahe bei jetzt für ihn frei wird, erzählt sie weiter. „Der Held der Sage soll hier auf einem Schwan geritten sein, seine Geliebte zu besuchen“. Originell, aber Wagner, den Kompositeur der Oper mag ich überhaupt nicht. Zu schwülstig, theatralisch aufgeblasen. Wörtlich gemeint. Zu laut, zu viel Trompeten und Posaunen. Jedenfalls das, was ich kenne.
Die Vierte von Johannes Brahms ist mir lieber. Ich hörte sie in Ravello mit dem polnischen Jugendorchster unter Lorin Maazel. Oberhalb von Amalfi auf offener Bühne hoch über dem Meer. Wunderbare Atmosphäre. Kennen Sie Amalfi?“ Erwartet keine Antwort. Zu schön um wahr zu sein.
Ein Parkplatz wird frei. Welch ein Glückfall denkt er, stellt seinen Wagen ab und geht mit ihr zum Ausgang. Sie mag Musik. Klassische sogar. Ob sie auch Orgelmusik liebt? Bin neu gierig, was sie sonst noch interessiert. In Achims Kopf beginnt es zu rotieren. Neue Frau mit neuen Perspektiven. Der Himmel ist hell und alle Türen offen. Sein Mataré kann warten.
Hast du Glück heute Morgen, denkt Anne. Ein netter Kerl. Aufmerksam. Selten gewordene Eigenschaft bei Männern. Mal gespannt, ob ihn Musik wirklich interessiert. Mag er wohl Schubert oder Brahms? Es wäre zu schön.
Es ist nicht mehr herauszufinden, was plötzlich mit den beiden passiert. Auf dem Weg ins Café. Es muss Empathie sein. Die ihren kritischen Verstand ausgeschaltet hat. Von jetzt auf gleich. Die Gefühle aber im Bauch aktiv wie nie. Der Blutkreislauf beschleunigt, Optimismus und Lust zu leben gewinnen die Oberhand. Nach all den Enttäuschungen kann es nur noch schöner werden. Frühling wird, sie spüren es in allen Gliedern. Und möchten singen.
Er sieht sich schon an der Staffelei Neuland entdecken. Auf einer eigenen Orgel Bach spielen. Endlich auch Skulpturen bauen wie Freund Alois. Aus Stein und Holz. Im ganzen Haus Marmorböden verlegen für die neue Frau. Kunden für seine Agentur gewinnen. Mit dieser fremden und doch schon so vertrauten Frau wird das Leben wunderbar. Schön wär´s.
Sie sieht sich in den Armen eines Mannes, der ihr zärtliche Worte ins Ohr flüstert. Mit ihr unterwegs ist zu allem Schönen auf dieser Erde. Der bei ihr bleibt in guten und schlechten Zeiten. Weil er sie liebt. Noch weiß sie es nicht, wünscht es aber sehr. Im Café hat die Morgensonne schon Platz genommen.
„Ich heiße Anne.“ „Mein Name ist Achim.“ Ihre Familiennamen schlabbern sie. Weil beide das Gefühl haben, sie sind entbehrlich an diesem Morgen. Aus dem Radio klingt die Ofentüre – so sagte sein Vater scherzhaft – zu Richard Wagners Oper Lohengrin. Sehr feierlich, getragen vom wändedurchdringenden Unisono der Trompeten. Und beide finden es durchaus passend in dieser Stunde. „Salute signore Achim!“ Ohoo, sie spricht Italienisch. „Anche per ley Signora Anne!“
Overtüre zu einem neuen Leben zu zweit? Alles, was war, scheint nicht mehr zu existieren. Enttäuschung, Zorn, Trauer und Alleinsein abgetaucht im Orkus einer Vergangenheit, die anderer Leute Vergangenheit ist. Alles vergessen. Wie heute fühlten sie sich schon lange nicht mehr. Der vierundfünfzigjährige Mann und die dreiundvierzigjährige Frau. Erleichtert und wie befreit fühlt es sich an. Noch sind die Gedanken nicht gedacht, wie es weiter gehen soll. Alles ist Gegenwart. Im Gefühl alles besser zu machen als bisher. Den anderen zu lieben. Warten nicht lange mehr und lassen ihrer Lust freien Lauf.
Kein Jahr und Anne verkauft ihre Bauern-Kate, zieht in Achims Haus. Den frischen Wind vom Niederrhein im Gepäck. Sie verreisen in Sonnenländer des Südens. In anderen Sprachen unterwegs zu sein. Und zu prüfen ob ihr Verhältnis nicht nur ein Verhältnis ist, Treue kein leeres Wort. Heiraten standesamtlich.
Achim möchte gerne in Alt Sankt Martin getraut werden. Obwohl er nur noch selten in die Sonntagsmesse geht. Mit dem vom Krieg verschonten alten Bau verbinden sich viele Jugenderinnerungen. Als Messdiener schwenkte er in Hochämtern das Weihrauchfass bis es Purzelbaum schlug. Und dampfte wie eine Lokomotive. Er lacht bei dem Gedanken daran.
Eines Sonntags ersetzte er den erkrankten Organisten. Spielte das asthmatische Harmonium im Seitenschiff. Es hörte sich an als ginge ihm jeden Augenblick die Luft aus. Musik ist in katholischen Kirchen unentbehrlich. Von mächtigen Orgelklängen getragene Stimmen wunderbar. Aber singen mit einem schwächelnden Harmonium lässt musikliebende Gläubige verzweifeln. An Wochentagen besonders arg. Nur alte Frauen und Männer, der kärgliche Rest der Gemeinde. Ihre müden Stimmen enden zum Schluss eines Liedes erschöpft einen halben Ton tiefer als sie begannen. Das Harmonium kann es nicht verhindern.
Kurz vor dem Studium an der Akademie vermaß er das ganze 600 Jahre alte Gebäude und zeichnete es auf. Übungsarbeit für seinen Mentor, bei dem er ein Praktikum absolvierte. Auch er wollte Architekt werden. Grundriss innen kein Problem. Alles zu seinen Füßen. Außen schon schwieriger ohne Leiter oder Hubgerät. Ging mit dem Bandmaß herum, maß Türen, Fenster, Höhen und Längen der Seitenschiffe. Den Chor, das Gesims. Den außergewöhnlich hohen Turm zu vermessen unmöglich. Er half sich, indem er Ziegelsteinschichten pro Meter zählte. Es waren zwölf, wie er erinnert. Entfernte sich vom Turm so weit etwa, dass er den Turm in seiner ganzen Höhe gut im Blick hatte. Nahm einen Stab und zählte die Schichten. Markierte den Meter. Schob ihn höher und höher und zählte vierzehn mal zwölf Schichten gleich siebzehn Meter achtzig bis an das Dach des Turms. Auf diese Weise konnte er danach das komplette Gebäude aufzeichnen. Sein Mentor meinte, es sei schon professionell.
Ja, Alt Sankt Martin. Achim wird seltsam zumute, als er an das schöne Gebäude denkt. Weihrauchgeruch in der Nase und die Klänge des Harmoniums wie Mundharmonika im Ohr. Es wäre eine schöne Trauung geworden. Aber seine Anne ist evangelisch. Katholische Pfarrer damals trauten keine Paare, die nicht beide der katholischen Kirche angehörten. Der evangelische Pastor am Ort macht es auch nicht. Auge um Auge. Das Alte Testament im zwanzigsten Jahrhundert? Schon peinlich. Oder wird es missverstanden? Er will bleiben was er ist, katholisch. Anne sich nicht umdrehen lassen, sagt sie.
Achim rechnet es ihr hoch an. Sie hat Charakter. Auch sie besucht nicht mehr regelmäßig den Sonntags-Gottesdienst. „Solange die Pastors immer nur dieselben Phrasen dreschen, die ich kenne seit ich konfirmiert wurde, können sie mir gestohlen bleiben.“ So drastisch hätte er es nicht formuliert. Aber seine Anne nimmt kein Blatt vor den Mund. Und das gefällt ihm. Von Tag zu Tag mehr. Die studierte Gesprächstherapeutin weiß, wann sie den Mund aufmacht und wann nicht. Ihren Patienten hört sie aufmerksam zu. Herauszufinden was sie bedrückt. Meist sind es Menschen, die ein Problem haben. Von dem sie nicht wissen, dass sie es haben.
Anne ergriff diesen Beruf, weil sie das Gegenteil im elterlichen Haus erfahren hatte. Man schwieg bei Tisch. Sagte nicht, ob es schmeckte oder nicht. Schulsorgen mussten sie mit sich selber abmachen. Kein lasst das, wenn sie und ihre Brüder sich stritten. Schwieg noch, als man den Sarg aus dem Zimmer trug. In dem ihr Vater zum Friedhof gefahren wurde. Mutter verdrückte ihre Tränen. Es ist Gottes Wille, sagte sie. Und machte sich daran, das Essen für die Kinder vorzubereiten. Schnell noch, bevor in der Kapelle der Trauergottesdienst begann. Anne hatte keine schönen Erinnerungen an Kindheit und Jugendjahre. Den Mund halten mussten sie. Während draußen das Leben lockte und lärmte. Will alles mit Achim besprechen. Mit einem, den sie beginnt zu lieben wie keinen vor ihm.
Jeder von beiden brachte seine Vergangenheit mit in die Ehe. Und seinen Charakter. Stärken, Schwächen. Persönliche Vorlieben und Handycaps. Sie lieben sich mit der Unbekümmertheit von Heranwachsenden, obwohl sie schon die Mitte des Lebens erreicht haben. All you need is love. Berücksichtigen liebevoll was der andere mag oder nicht mag. Steigern sich gegenseitig zur Höchstform. Beim Diskutieren, Kochen und Feste feiern. Alles scheint zu gelingen. Anne reist gerne. Bald gewinnt auch er Spaß am Unterwegssein. Neue Welten zu entdecken. Gemeinsam mit ihm werden Ferien für Anne zu künstlerischen Ereignissen. Achim liebt sein Zuhause, das er nach eigenen Plänen umgebaut hatte. Kocht, malt oder musiziert. Arbeitet für seine Kunden. Nicht lange und sie hilft ihm dabei. Bringt seine meist überschäumenden Ideen auf den berühmten Punkt.
Achim besitzt noch eine Hohner-Mundharmonika. Eine, auf der man auch halbe Töne spielen kann. Wenn er spielt klingt es wie eine Orgel. Bläst die Backen auf und presst mit weit geöffnetem Mund die Lippen ans Instrument. Saugt und bläst, schmeckt das Blech mit den Lippen, schmeckt den Klang. „Mundorgel“ heißt das kleine Notenheft für Anfänger. Mit der Zeit ist es mehr als das. Spielt wie ein Profi. Anne liebt es, wenn er orgelt. Setzt sich in den bequemsten Sessel, zündet eine Zigarette an und lauscht den orgelähnlichen Tönen des Instruments. Schließt ihre Augen und folgt ihnen in die Sphären höherer Unbegreiflichkeiten.
Schon zu früheren Zeiten mit Emma entspannte es ihn, die Mundorgel zu spielen. In seiner Agentur ging es lange Zeit turbulent zu. Kunden kamen und gingen wieder. Das Risiko an der Tagesordnung. Und mit ihm die Angst, kaum noch Geld zu verdienen. Die Raten für die Hypothek nicht mehr bezahlen zu können, das Haus zu verlieren. Und die Frau. Sie hielt ihn dummerweise für einen Gott, der alles kann.
Eines Jahres kaufte er eine Ziehharmonika aus zweiter Hand. War es ein Bandoneon? Ein Instrument, das nur Knöpfe hat, keine Tasten. Und es rauschte stärker noch in den Zimmern. Orgelte Dur und Moll in die Ohren derer, die ihm zuhörten. Als stände dort eine richtige Orgel. Es waren nicht viele Zuhörer. Emma gelegentlich. Ohne Beifall oder Kommentar, auf den er gewartet hatte.
Enttäuscht schenkte er das Instrument der Jugendgruppe seiner Gemeinde. Bei der er vor acht Jahren als Pfarrjugendführer das Sagen hatte. Nach dem großen Krieg tauchten die verbotenen Jugendgruppen wieder auf. Gingen ein bis zweimal im Jahr auf große Fahrt. Zelteten an Gewässern. Um gegen die Sterne an zu singen. Man glaubt nicht wie weit eine Ziehharmonika das Dunkel durchdringt. Und das Käuzchen rücksichtsvoll eine Pause macht.
Solche Erlebnisse erzählt er seiner Anne, die ihm aufmerksam zuhört und sich ihre eigenen Gedanken dazu macht. „Ich hätte deine Emma gerne kennengelernt“, sagt sie eines Tages. „Vielleicht hätte ich ihr helfen können. Gehen wir doch mal zum Friedhof an ihr Grab.“ Warum sie ausgerechnet zum Grab will leuchtet ihm nicht ein. Noch kennen sie sich zu kurz und zu wenig. Was sind eineinhalb Jahre gegen zweiunddreißig?
Zu Fuß zwanzig Minuten. Das Gatter mit der Drehtür öffnet. Rechts der Weg, erinnert er sich. Ein Grab ist für ihn kein Anlass besonders auf merksam zu sein. Da, neben der dicken Buche muss es sein. Das bedachte Holzschild mit dem Namen steckt schief. Der Grabhügel eingesackt. Reste von zwei Kränzen liegen immer noch, als hätten alle die Tote vergessen. Ihre Farben mit welken Buchenblättern vermischt. Es duftet moderig, nach versäumter Wiedergutmachung.
Nieselregen tropft aufs Laub. So laut, dass es in den Ohren klopft. Klingt wie vorbei, vorbei, vorbei. Anne gegen das Tropfen: „Warum ist kein Foto von ihr auf dem Schild? Ich mag es, wenn die Toten noch lebendig sind. Mich anschauen und ich sie. In Italien ist es Sitte.“
Achim schweigt. Er kennt die Gebräuche, aber die Frau dort unten ist nicht mehr seine Frau. Was soll ein Foto? Denkt er. Sagt es nicht, weil er sich gleichzeitig schämt. Noch ist er nicht so weit, Anne alles zu erzählen. Sein Herz auszuschütten und den Bauch mit allem, was darin an Emotionen lebt und stirbt. Sie gehen wieder. Jeder mit seinen Gedanken. Da kommt eine Frau auf sie zu. Blickt sie an, lächelt und grüßt. Stolpert über eine Kiefernwurzel, die aus dem moosigen Boden heraus unbedingt an die Luft will.
Achim fängt sie auf. Sie schaut ihm in die Augen. Wirft ihre Haare mit einem Schwung nach hinten. Sie sind kurz geschnitten wie Emma sie trug, denkt er blitzartig. Emma. Stellt sich vor mit seinem Familiennamen: „Wirths.“ Sie erwidert korrekt: „Ich heiße Judith Cohen.“ Anne: „Ich bin seine Frau.“ Die Fremde: „Stolpern am Morgen bringt Kummer und Sorgen. Alter Spruch. Was soll´s? Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen? Als Ausgleich für den Schreck. Und Danke für die spontane Hilfe.“ Sagt sie und zeigt auf das Friedhofscafé nicht weit vom Eingang.
Der heiße Kaffee macht ihn locker. „Sie sehen meiner ersten Frau sehr ähnlich. Die Form ihres Gesichtes, die Frisur. Ihre Gesten, sogar ihre Stimme klingt ähnlich, weich wie ein Cello.“ Merkt nicht, dass er ihr Komplimente macht und Anne neben ihm sitzt. Und lächelt. Sie ist von ihrem ersten Mann vieles gewohnt und toleriert großzügig Achims Affinität zu schönen Frauen. Denkt er und freut sich zum ersten Mal über diese Erkenntnis.
Denkt, Anne hat ihn gehört und verstanden. Sie weiß jetzt wie Emma aussah. Wollte sie sie nicht kennenlernen? Das ist die Chance. Ergreife sie, befahl er sich. Zu den fremden Frau: „Wohnen sie hier am Ort?“ „Nein in der nahen Stadt, Düsseldorf. Meine Eltern liegen hier begraben. Bringe ihnen einmal im Monat Blumen. Allerheiligen stecke ich eine Kerze ins Glas. Wenn alle ihre Kerzen anzünden auf den Gräbern.“ Sie ist konventionell denkt er, wie Emma. Verflixt. Bin ich nicht total verliebt in Anne? Und denke an Emma. Komisch.
Anne nachdenklich. Beobachtet ihren Achim, als sein Blick über die Tische im Café schweift. Irgendwohin. Wieder zurück zur fremden Frau, als wollte er prüfen ob sie Emma ist. So wie sie war. In seinen Augen. In seinen Armen. Reden müsste er. Alles von der Seele reden. Sie würde geduldig zuhören. Wenn sie die beiden beobachtet, kommt ihr vor als wäre die Fremde seine Emma. Hatte sie ein Eigentor geschossen?
Das Jahr geht dahin. Achim kann die Frau, die Emma ähnelt nicht vergessen. Heute ist Allerheiligen. Zuletzt war sie um die Mittagszeit auf dem Friedhof. In ihrer Mittagspause wahrscheinlich. Sie wird es wieder sein. „Gehe ein bisschen an die frische Luft“ und weg ist er. Am Feiertag wird nicht gearbeitet in überwiegend katholischen Ländern.
Wieder dreht sich die Friedhofstür als er sie anstößt. Es nieselt wie Letztjahr, tropft auf die welke Laubdecke wie auf ein Brett. Laut und unüberhörbar. Auf vielen Gräbern zucken Flämmchen in roten Gläsern. Als wehrten sie sich gegen den Wind. Der sie ausblasen will. Es weht heftiger heute als gestern. Ob sie kommt? Es ist viertelnachzwölf. Auf Emmas Grab brennt kein Lämpchen.
Er wartet. Geht hin und her. Immer wieder zum Törchen. Das knarrt, als ärgerte es sich über ihn, der rein und raus aufgeregt die Straße beobachtet. Nichts. Eine halbe Stunde vergeht. Eine Stunde. Ihn friert´s. Schüttelt sich. Blödsinn hier zu stehen ohne verabredet zu sein. Nüchternheit kommt zurück. Und Sehnsucht, Anne in die Arme zu nehmen und zu küssen. Emma vorbei. Endgültig vorbei. Anne wird sich damit abfinden müssen, nicht mehr von dieser Frau zu erfahren. Denkt Judith, nicht Cohen. Aber er kennt seine Anne noch nicht.
Kaum wieder zuhause fragt sie ihn: „Hast du sie getroffen?“ Als ahnte sie, was ihn bewegte als er ging. Ihre Sensibilität wird ihm bewusst. Plötzlich wie ein Lichtstrahl durchfährt es ihn. Macht ihn glücklich. Sie ist anders als Emma. Gott sei Dank.
Achims Geschäfte mit Marketing – Kommunikation für Unternehmen gehen gut. Kauft das neueste Modell einer elektrischen Hausorgel. Modell Philips. Mit zwei Manualen, acht Registerzügen und sogenanntem Stummelpedal. Das sind Pedale wie bei Kirchenorgeln, nur kürzer. Und beschränkt auf eine Oktav inklusive der Halbtöne. Für jede Tonart also der passende Bass im Quintenabstand. Er übt. Und übt. Johann Sebastian Bachs Toccata und Fuge in d-moll. Seine liebste.
Aus den vier Lautsprechern am Orgelkasten dröhnt es. Und flötet, singt, trompetet und flüstert. Schwillt ab und wieder an. Dass der große Wohnraum zittert. Und die Gespräche verstummen. Hört erst auf, wenn er seine zehn Finger von den Tasten, die Füße vom Pedal nimmt. Erschöpft glücklich. Wenn er ehrlich ist, muss er zugeben, dass er kein Meister ist. Aber in seinen Ohren hört es sich so an. Und füllt seinen Bauch mit Wohlgefallen.
Achim hat die Angewohnheit in jede Kirche zu gehen. Der Architektur wegen wie er sagt. In Wahrheit zieht es ihn auf die Orgelbühne. Die meisten sind versperrt. Damit kein Unbefugter Schaden anrichtet. Orgeln sind sensibel. Nach einem Kundenbesuch in Emmendingen fährt er mit Anne zum Kaiserstuhl. Weingebirge zwischen Autobahn und Rhein. Erdgeschichtliches Pendant zu den Weinhügeln um Eguisheim im Elsass. Großzügig gesehen. An seinen Ausläufern klebt ein Städtchen mit Namen Niederrotweil. Auf steilem Lößberg ein Kapellchen. Sankt Michael. Mit alten Fresken in gotischen Gewölben. Und einem schönen holzgeschnitzten Altar von Meister HL. Demselben, der den berühmten Altar im Breisacher Münster schuf.
Berühmt, weil er außerordentlich schön geschnitzt ist und HL eine Wette gewann. Der Schnitzer liebte die Tochter des Bürgermeisters. Bekam sie aber erst zur Frau, wenn es ihm gelang, einen Altar im Münster zu errichten, dessen Spitze höher als der Kirchenraum sein musste. Ließ ihn in seiner Werkstatt aufbauen, damit man ihn vermessen konnte. Und siehe da, er übertraf das Kirchengewölbe um vierzig Zentimeter. Jetzt aber wie hinein? Der Bürgermeister seiner Sache sicher. Das Töchterchen zitterte. Sie liebte ihn, der seine Werke mit HL signierte wie ein Großer.
HL schraubte die Spitze ab. Baute den Altar im gotischen Münster auf. Schraubte die Spitze seitlich um 45 Grad geneigt wieder fest. Und feierte mit der Seinigen Hochzeit. Leute fragen warum ist die Spitze umgebogen? Ein Fehler? Nein Absicht. Sorgfältig überlegter Trick des Schnitzers, den heimtückischen Plan des Bürgermeisters zu konterkarieren. Wie du mir so ich dir.