Der Rotweinfleck - Otto W. Bringer - E-Book

Der Rotweinfleck E-Book

Otto W. Bringer

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Beschreibung

Jungen wünschten sich früher, Lokomotivführer, Flug- oder Schiffskapitän zu werden. Bald aber ernüchtert, wägten sie ihre Fähigkeiten mit realen Chancen ab. Anders der junge Mann in diesem Buch, den seine Eltern NEMO genannt, um keinen Namenstag feiern zu müssen. Ein Prinzip, Grundlage ihrer Erziehung, vorgelebt: Sparsamkeit, die höchste aller Tugenden. Nemo verschlang, kaum Lesen gelernt, die Bibel. Bücher von Großen in der Geschichte. Unbewusst nach anderem gesucht als sparen. In ihm den Wunsch geweckt, ein Jemand, kein Niemand zu sein. Einer, der die Menschen beeindruckt wie Alexander der Große, Friedrich II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, und zum Schluss noch wie ein Prophet die Menschen auffordert, ihren Nächsten zu lieben. Visionen solcher Art enden, wie erwartet, als marginale Wirklichkeit. Nemo, ein Mann wie jeder andere, gescheitert zum Schluss oder gerettet? Entscheiden mögen es die Leser:innen.

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Seitenzahl: 187

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Otto W. Bringer

Der Rotweinfleck

Otto W. Bringer

Der Rotweinfleck

Copyright: © 2022 Otto W. Bringer

Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net

Umschlaggestaltung, Fotos und deren Bearbeitung von

Otto W. Bringer.

Verlag und Druck:

tredition GmbH

An der Strusbek 10

22926 Ahrensburg

Softcover

978-3-347-78452-9

Hardcover

978-3-347-78453-6

E-Book

978-3-347-78454-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Den Eltern Nemos muss der ungewohnte Genuss auf die Leber geschlagen sein. Als er Achtundzwanzig, starben sie an Leberzirrhose. Achtundzwanzig Sylvesterfeiern mit ungewohntem Alkohol hatten sich zur tödlichen Menge summiert. Auf eigenen Wunsch wurden ihre Leichen verbrannt. Beider Asche in einem Krug vereint und in die Erde versenkt. Kein Schild erinnert an sie. Zwei Nemos der menschlichen Gesellschaft, wie Millionen auf der ganzen Welt. In Kriegen, auf der Flucht ums Leben gekommen. Ihr Sohn Nemo erbt ihr ganzes erspartes Vermögen. Sah sich jetzt auch finanziell in der Lage, aus diesem Niemand einen Jemand zu machen. Das Wissen der Welt im Kopf, wie er glaubt. Bucht vier Wochen in einem Relais&Chateaux-Hotel. Weltweit bekannt für traditionsreiche Häuser und unaufdringlichen Komfort. Seine Wahl fiel auf «Le Club de Cavalière» in Le Lavandou an der Côte d ’Azur.

Auf dem Bahnsteig eine Frau vor ihm, eilig dem Ausgang zu. Gleich an Roxana gedacht, afghanische Prinzessin und erste Frau Alexander des Großen. Der wiegende Gang, das blond gelockte Haar der Frau vor ihm erregten ihn auf seltsam bekannte Art. Wie ein neues, noch geschlossenes Buch. Dessen Geheimnisse ihn jedes Mal süchtig gemacht. Auch jetzt verlangte es ihn, mehr zu sehen, mehr zu wissen, riechen, schmecken. Welche Farbe mögen wohl ihre Augen haben? Beschleunigt seine Schritte, sie zu überholen. Einen Vorwand finden, ihr ins Gesicht zu sehen. Um alles zu wissen.

Die Treppen zum Ausgang geht es langsamer mit dem schweren Koffer. Sie fliegt die Stufen hinunter und wieder hinauf zum Ausgang ohne Gepäck. Leicht wie ein Schmetterling. Auf der Straße angekommen, atemlos ein wenig, da steht Roxana vor ihm, lächelt, als hätte sie auf ihn gewartet:

„Sie verfolgen mich, fremder Mann, als hätten Sie Absichten. Ihr weißer Leinenanzug, der Koffer aus Büffelleder lassen darauf schließen, dass Sie nicht arm, vielleicht sogar vermögend sind.“

Ja, als erstes ließ er sich einen weißen Anzug aus naturweißem Leinen maßschneidern. Gefüttert mit mintgrüner Seide. Darauf bedacht, dieses teure Kleidungsstück sauber zu halten. Unbefleckt sollte er sein und bleiben, wie die Jungfrau Maria. Der Vergleich mag seltsam klingen, aber es passt. Religion zwar nie sein Lieblingsfach. Nur die Idee von Schuld und Unschuld, befleckt und unbefleckt faszinierte ihn. Sorgsam darauf bedacht, Abstand zu halten zu allem Schmutz dieser Welt. Das makellose Weiß des Anzugs auch nicht durch eigene Ungeschicklichkeit zu beflecken.

„Entschuldigen Sie meine momentane Abwesenheit, an meinen weißen Anzug gedacht. Ihre Vermutung, ich verfolge Sie, will ich nicht leugnen. Auch nicht, dass ich mir jetzt dank einer Erbschaft vier schöne Wochen an der Côte d’ Azur leisten kann. Im Hotel Le Club de Cavalière wohne.“ Einer, der noch nie eine fremde Frau angesprochen, hört sich sagen: „Weil Sie mir nicht unsympathisch, lade ich Sie ein, mit mir gemeinsam den heutigen Abend zu verbringen.“

„Oh, welche Überraschung, danke mein Herr.“

Nicht lange, da passierte, was er befürchtet. Im Restaurant des «Le Club de Cavalière» nervös wie lange nicht. Verabredet mit Madame Roxane, so nennt er sie in Gedanken. Sitzen sich gegenüber. Er blättert in der Speisekarte. Sie aber sah ihn unausgesetzt an. Ja, suchte ihm auf schon peinliche Weise under table nahe zu kommen. Sodass er bei der Probe, die ihm der Kellner eingegossen, das Glas verschüttet. Ein großer Rotweinfleck die nagelneue Hose befleckt. Just oberhalb des linken Knies, das wie das rechte in ihm völlig neue Gefühle geweckt. Ausgelöst von einem nackten Frauenfuß. Der, unsichtbar für andere, unentwegt bemüht, die empfindsamste Stelle des Mannes ihr gegenüber zu erregen.

Erregt und beschämt zugleich will er die Stelle des Ungeschicks schnell überdecken. Reißt die Serviette vom Hals, eine Etage tiefer auf den Schoß. Sie schien es nicht zu bemerken. Wie hätte er es ihr erklären sollen? Hätte sie ihn gefragt, was ihn so plötzlich nervös gemacht. Die Serviette heruntergerissen, als hätte er zu verbergen, was er bereits spürte. Zum ersten Mal in seinem Leben. Ausgerechnet hier, in Le Lavandou, einem der offenbusigsten Strände an der Côte D ’Azur.

„Sie haben sich mir noch nicht vorgestellt. Wie heißen Sie eigentlich, fremder Mann? Mich verfolgt und vor dem Bahnhof schon zum Essen in dieses vornehme Restaurant eingeladen. Es soll auch Zimmer geben, sah das Schlüsselbrett an der Rezeption. Mit wem also habe ich das Vergnügen?“

„Ich heiße NEMO, weil ich ein Nemo bin, ein Niemand. Keine Mutter, keinen Vater, keine Freunde oder Freundinnen. Wer will schon mit einem Nemo zusammen sein.“ Hält inne, weiter zu träumen: „Sie aber schienen mir auf den ersten Blick einen Nemo zu akzeptieren. Einen, der keiner Religion angehört, aber an einen Himmel glaubt. Keine Höhere Schule, keinen Beruf gelernt, Meister in einem Fach zu sein. Aber vom Wunsch beseelt, alles in einer Frau zu finden. Sie sind mir gefolgt, ohne mich zu kennen. Als hätten Sie gewusst, dass Sie, nur Sie mich glücklich machen können. Und Sie sich selber auch. Indem Sie mich, den Nemo in einen Alexander, Federico oder Jesus verwandeln.“

Die Frau amüsiert, geht darauf ein. Im Gegensatz zu Nemo hatte sie drei Semester Geschichte studiert. Nicht um passende Antworten verlegen. Besonders, wenn es Männer sind wie dieser Nemo, dessen Naivität sie zu ihrem Vorteil nutzen, vielleicht auch Spaß machen könnte:

„Sie müssen mir erst sagen, welcher von den genannten Herren Sie am liebsten sein möchten. Gehe davon aus, Sie wissen, wer sie waren. Alexander, Griechenlands König, der bis Indien kam, 85 einflussreiche Frauen des besiegten persischen Reiches in Susa mit seinen Offizieren verheiratete, damit sie sich nicht mehr als Feinde betrachteten. Federico, der berühmte Stauferkaiser, der nicht dem Befehl seines Papstes gehorchte. Statt eines Kreuzzuges ins Heilige Land mit dem Sultan von Jerusalem einen 10jährigen Frieden geschlossen. Zuletzt nannten Sie diesen Jesus, der predigte: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Über zwei Milliarden Menschen glauben an ihn, ein knappes Viertel der gesamten Menschheit. Und von mir erwarten Sie, dass ich Sie in einen dieser berühmten Männer verwandele. Sie überschätzen mich, aber auch sich selbst.“

Nemo, verliebt über beide Ohren, ignoriert ihren Einwand. Nur diese Frau kann ihn in einen mächtigen und damit glücklichen Menschen verwandeln. In einen seiner Idole, die er in Büchern kennengelernt. Und nie mehr vergessen. Am liebsten wäre er aufgestanden, sie zu umarmen, an sich zu drücken. Doch der Fleck auf seiner Hose hinderte ihn daran. Was sollte sie denken? Morgen gleich in der Früh werde ich eine Reinigung aufsuchen und die Hose vom Rotweinfleck befreien lassen. Und ihr im weißesten Weiß wie vorher wieder gegenübertreten. Erhebt sich, die Serviette vor sich haltend, Verbeugt sich: „Bis später“ und verschwindet aus ihrem Gesichtskreis.

Sie aber wägt in Gedanken ab, wie es weiter gehen soll. Geld hat sie keines, Abendessen und Hotel zu bezahlen. Beschließt, bis morgen zu bleiben. Ihre ebenso darbenden Verwandten zu sich holen und eine ganze Woche das Leben einer Millionärs-Familie zu feiern. Von allen beneidet, dass sie es als einzige geschafft. Überzeugt, dieser Nemo wird uns alle aushalten. Einer, der sich dieses Hotel und einen teuren Leinenanzug leisten kann, eine ihm fremde Frau zum Essen einladen, muss ein Krösus sein.

Der aber kann nicht schlafen. Der Magen knurrt, das geplante Abendessen selber vermasselt. Der Rotweinfleck auf der Hose wird größer und größer statt zu verschwinden. Wird die Reinigung ihn wirklich entfernen können? Wenn nicht möglich, bin und bleibe ich der Blamierte. Ohne Anzug nicht einmal mehr ein Nemo. Wäre ich Jesus, könnte ich den Flecken wegzaubern. Einer, der aus dem Grab verschwand, noch zwei Jüngern auf dem Weg nach Emmaus erschien und dann direkt in den Himmel auffuhr. Bis heute von keinem mehr gesehen. Unsichtbar, wie der Rotweinfleck wieder sein müsste.

Oder «Alexander der Große», der 333 vor Chr. bei Issos den Perserkönig Dareus irritierte und besiegte. Weil er nicht da war, wo der Perser ihn vermutete. Ein Nichts, das ihn täuschte. Sodass sein viel größeres Heer die Flucht ergriff. Und nie mehr gewagt, Griechenlands heiligen Boden mit toten Persern zu beschmutzen.

«Federicus II.» Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, der als erster gesetzlich anordnete, Gewässer rein zu erhalten. Ärzte und Apotheker mussten per Approbation beweisen, dass sie ihr Fach studiert. Das Reich quasi ein weißer Fleck, befreit von Gesundbetern und Scharlatanen. Wie meine Hose von diesem selbst verschuldeten Rotweinfleck.

Noch aber bin ich weder Jesus, Alexander oder Federicus. Ein Nemo nur, zu nichts fähig als zu träumen. Ob die Frau, die ich ansprach ohne es zu wollen, mich mutiger macht? Anspornt, weiter zu studieren. Wenn, dann an der Universität in Bologna, Federicus’ Großvater, Kaiser Barbarossa, hatte sie gegründet. Er selber in Palermo auf Sizilien eine Dichterschule eingerichtet. Vielleicht regt mich die Frau zu dichten an. Könnte ein moderner Minnesänger werden. «Roxana» hatte er sie in Gedanken getauft. Selber schon verliebt?

Mit solcherart Traumwandlungen beschäftigt, schläft er ein. Wie immer, wenn Menschen tagsüber etwas sehr beschäftigt, nicht zur Ruhe kommen lässt, träumen sie in der folgenden Nacht. Milliarden Nervenzellen im Gehirn spielen verrückt. Kombinieren, was sie erlebt mit dem, was sie sich wünschen. Wirbeln alles durcheinander und neue Perspektiven, Möglichkeiten entstehen. Kleinwüchsige werden Riesen, Goliaths schrumpfen zu Zwergen. Männer plötzlich Frauen und umgekehrt. Bettler superreich wie Mark Zuckerberg, der Chef von Facebook.

Nemo träumt, Alexander der Große zu sein, hoch zu Ross. Sein Korpus geschützt von eisernem Panzer, glänzend im hellen Sonnenlicht. An seiner Seite auf einem Schimmel Roxana. Im Gefolge ein Heer von allen, die andere sein möchten als die sie das Schicksal von Geburt an abgestempelt. Als Alexander wird er alle Nemos auf der Welt glücklich machen. Wacht auf und nimmt sich vor, das Buch «Historiae Alexandri Magni» zu Ende zu gelesen. Weiß zwar, dass er viele Länder bis weit nach Indien erobert. 85 Perserinnen mit seinen Offizieren verheiratet, um Frieden zwischen beiden Völkern zu stiften. Das aber kann doch nicht alles sein, um der Große genannt zu werden. Zuerst muss ich alles von Alexander wissen. Und dann mich als Alleswisser mit Roxana verabreden. Zum Glück hat Felizitas Olef-Krafft das Buch in leicht verständliches Deutsch übersetzt.

Beruhigt schläft er wieder ein. Träumt von einer blütenweißen Hose. Dieses positive Bild im Traum bewirkt eine positive Stimmung beim Aufwachen. Als erstes heute früh werde ich sie reinigen lassen. Bei meiner Ankunft schräg gegenüber vom Hotel eine Zehn-Minuten-Schnell-Reinigung gesehen. Kann doch nur bedeuten: Darauf warten und nach zehn Minuten die gereinigte Hose wieder anziehen können. Wenn ich im Sauseschritt die Straße überquere, wird niemand die rotweinbefleckte Hose bemerken.

Lässt sich das Frühstück aufs Zimmer bringen. Die FAZ, das Neueste vom Neuen zu erfahren. Entdeckt, sie vor sich haltend, der Fleck ist weg. Unsichtbar, verdeckt von Deutschlands größtem Zeitungsformat. So mach ich ’s auf dem Weg zur Reinigung. Gedacht und schon unterwegs. Ein Schulbub spricht ihn an: „Mein Herr, Sie halten die Zeitung falsch herum, sodass ich sie nicht lesen kann. Muss aber dem Lehrer sagen, was gestern die Regierung in Berlin beschlossen.“

Nemo erschrocken, faselt, um sich blickend: „Es gibt Dinge, mein Junge die verstehst du noch nicht.“ Beschleunigt seine Schritte, stoppt aber an der Kante des Bürgersteigs. Schnell links und rechts geblickt, den Autoverkehr einzuschätzen. Jetzt könnte es klappen, die Straße zu überqueren. Auf der anderen Seite im Schaufenster hell beleuchtet ein Schild: Zehn Minuten Schnell-Reinigung. Was habe ich für ein Glück, denkt Nemo und marschiert schnurstracks drauf los. Die Geschwindigkeit des dabei entstehenden Gegenwindes beim Laufschritt unterschätzt. Entreißt die FAZ seinen Händen und fliegt zurück, dem Schüler vor die Füße: „Danke mein Herr“ hörte er noch. Hingestürzt und dann nichts mehr.

Nur weg mit dem Fleck im Kopf, einen Lastwagen nicht kommen sehen. Man brachte ihn, Tatütata, in die Klinik. Einen Mann, dessen Anzug jetzt außer von rotem Wein auch noch mit seinem Blut befleckt, dem Schmutz der Straße. Fast nichts mehr vom Weiß reinen Naturleinens zu erkennen. Wenn das Nemo wüsste. Der im OP narkotisiert, bevor man ihm die angeknackste Wirbelsäule wieder richtete. Wieder aufgewacht: „Wo, wo bin ich?“ In einem Hemd, das man ihm anders herum als seines angezogen. In seinem linken Unterarm eine Nadel mit einem dünnen Schlauch bis an ein Gefäß, aus dem es in Abständen tropft. Seine Sachen nicht im Zimmer. Der Schwester, die ins Zimmer kam: „Meine Hose muss unbedingt sofort in die Zehn-Minuten-Schnell-Reinigung, den Rotweinflecken entfernen. Bin mit einer Frau verabredet.“

„Sie hatten einen Unfall und noch viel Blut und Schmutz an Hose und Jackett. Muss noch den Mann im Bett neben Ihnen versorgen, dann komme ich zu Ihnen.“

Wieder eine Frau, die sich um mich bemüht. Aber was will der Mann neben mir in einem Bett wie ich? Zwei Männer und eine Frau? Das geht nicht gut. Wendet den Kopf zu heftig nach rechts, sodass der Nacken knackt:

„Wer sind Sie, vor allem aber aus welchem Grunde liegen Sie hier neben mir in einem Zimmer? Nemo mein Name, bald aber werde ich Alexander der Große sein. Und Sie mir Rechenschaft schuldig. Was also ist der Grund Ihres Hierseins?“

„Verzeihung, werter Herr, was mir passierte, dürfte uninteressant sein. Ich bin der künftige erste Kammerdiener Eurer Majestät. Mein Name ist Quintus, Curtius Rufus. Darf ich bitten, mir mein Gehalt zu nennen, das Sie mir zubilligen werden. Damit ich mich in ein Einbettzimmer der Ersten Klasse dieser Klinik verlegen lassen kann. Vor allem für Sie ein größeres, komfortableres organisieren. Mit Fernsehen und Internet-Anschluss. Gehe davon aus, dass Sie up-to-date sind. Oder?“

Der Name dieses Mannes kommt Nemo bekannt vor. Bevor er ihn fragt, die Schwester an seinem Bett:

„So, jetzt bin ich für Sie da, Herr Schmidt – heißen Sie wirklich Nemo mit Vornamen? In Ihrem Ausweis steht es schwarz auf weiß. Nemo heißt doch Niemand. Soll das ein Scherz sein? Sie sind doch kein Niemand, sonst hätten wir Sie nicht behandeln dürfen. Ihre angeknackste Wirbelsäule wieder gerichtet. Schmidts gibt es wie Sand am Meer. Haben Sie vielleicht Ihren Ausweis gefälscht, um als Nemo Schmidt eine wichtige Rolle zu spielen? Einen, den es nur einmal gibt auf der Welt.“

Die Tür wird aufgestoßen, ein Fass von einem Mann im weißen Kittel stürmt herein. Gefolgt von einer Heerschar spindeldürrer Assistenten, Oberund Unterärzten. Alle weiß gewaschen und gebügelt. In respektvollem Abstand zu ihrem Chef, Professor Dr. Dr. Dr. h.c. William Weiss. Mit zwei s wie Jesus, pflegt er zu sagen, wenn er sich vorstellt. Zur Schwester:

„Was hörte ich, einer meiner Patienten hat seinen Ausweis gefälscht? Er muss einen wichtigen Grund dafür gehabt haben. Wer ist es, Schwester?“

„Es war nur ein Scherz, Herr Professor, Nemo sein Name, also ein Niemand, noch nie gehört oder gelesen. Klingt aber auch seltsam, kann doch nur eine Absicht dahinterstecken. Finden Sie nicht auch, Herr Professor?“

„Nicht alles, was uns seltsam vorkommt, sollte uns fremd sein und zu Verdächtigungen führen.“ Wendet sich mit einem Schwung an den Patienten, von dem die Rede war, sodass seine Anhängerschaft erschrocken zurückweicht. Zu Nemo: „Sie heißen mit Vornamen Nemo, nicht wahr? Nemo Schmidt, wie ich Ihrem Ausweis entnehme. Und der gestempelt und unterschrieben. Folglich amtlich beglaubigt. Das Foto neu, wie es scheint, oder sind Sie so jung geblieben, wie Sie auf dem Passbild aussehen? Kompliment. Nun zu Ihrem Namen: Ihre Eltern haben Sie Nemo getauft. Gab es einen Grund, einen Vorläufer in Ihrer Familie etwa, der sie dazu motivierte?“

Die letzten Lücken in Nemos Hirn, von der Narkose verursacht, jetzt geschlossen. Er sieht sich ausgeliefert, nur mit einem Hemd bekleidet. Einem Tribunal in Weiß, dem er Rechenschaft schulden soll. Alles in ihm protestiert. Wie käme er dazu, einem wildfremden Menschen von seinem Elternhaus, seiner Erziehung zu erzählen? Von ihren Sorgen, ihrer Sparsamkeit und ihren Bemühungen, ihm, ihrem einzigen Kind, beizubringen, dass sparsam sein die höchste aller Tugenden ist. Ihr gesamtes Vermögen mir vermachten. Damit ich mit eigenem Bemühen und der Hilfe einer Frau aus Nemo, einem Niemand, einen Jemand mache. Wie Phönix aus der Asche auferstehen.

„Denken Sie ruhig nach, ich habe alle Zeit der Welt. Auch wenn die Wahrheit weh tut, wie den meisten Menschen, die sich aus irgendwelchen Gründen schuldig fühlen. Selbst wenn sie nicht schuldig sind.“ Setzt sich auf den Stuhl neben seinem Bett.

Nemo nicht mehr aufgeregt, beruhigt, dass dieser Weißkittel sich Zeit nimmt: „Meine Eltern nannten mich Nemo, einen Niemand. Damit ich motiviert bin, ein Jemand, ein anständiger Mensch zu werden. Einer, der nicht nur Gutes tut, auch stark und erfolgreich, sodass alle ihm folgen wollen. Ich werde Alexander der Große sein. Oder Federico II., der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Oder Jesus, der sich der Armen erbarmte, die reichen Geldwechsler aber aus dem Tempel vertrieb.“

Professor Dr. Dr. Dr. h.c. Weiss hat es die Sprache verschlagen. Erster Gedanke: Verrückt, werde den Kollegen der Irrenanstalt anrufen. Zweiter Gedanke: Erst mal geheilt entlassen, einige Zeit beobachten. Bevor ich mich endgültig entscheide. Da hebt Nemo seine Hand, wie als Kind in der Schule:

„Bitte Herr Professor, tun Sie mir einen Gefallen. Lassen Sie meine Hose in der Schnell-Reinigung gegenüber vom Hotel Le Club de Cavalière vom Rotweinfleck säubern. Gegebenenfalls auch das Jackett von Blut und Schmutz nach meinem Unfall. Damit mein echt weißleinener Anzug wieder wie neu aussieht. Bin mit einer Frau verabredet, die mir bei meiner Verwandlung helfen wird. Sie erwartet mich in eben diesem Hotel. Lassen Sie sie anrufen und mich entschuldigen, es könnte etwas später werden.“

„Gut, ich kümmere mich darum. Sie aber bleiben schön im Bett. Entlassen kann ich Sie erst, wenn das Röntgenbild bestätigt, dass Ihre Wirbelsäule wieder intakt, so wie sie vor dem Unfall war.“

Im Foyer des Hotels Le Club de Cavalière versammelt Massen von Menschen aller Altersstufen. Frauen, Männer herausgeputzt auf altmodische Art. Als hätten sie sich bei der Caritas billig neu eingekleidet. Geht es doch um einen festlichen Anlass. Es stellt sich rasch heraus, dass sie alle miteinander auf irgendeine Weise miteinander verwandt sind. Sich lange nicht gesehen und fremd geworden. Eingeladen hatte sie die Nichte eines verarmten Großgrundbesitzers. Deren Namen die meisten zwar kannten, ihr aber noch nie begegnet sind. Alldieweil aber alle in ihrem Leben vom Geldsegen verschont, auf die Hilfe von vermögenden Leuten angewiesen, folgten sie dieser Einladung. Gespannt, was es heute gibt.

Isolde, von Nemo Roxana genannt, unruhig. Ihr Mann noch nicht hier, wie versprochen. Gestern Abend plötzlich verschwunden, als wären ihm meine Annäherungsversuche unangenehm gewesen. Gar lästig gewesen, Angst gemacht. Versuche, die von anderen Männern bisher als Aufforderung betrachtet. Nach einem opulenten Abendessen in ihrem Appartement mit mir die Nacht zu verbringen. Zuerst also zur Rezeption, ein Blick ins Dictionnaire:

„M´excusez monsieur, ich bin besorgt, warte auf meinen Mann, Nemo Schmidt. Hat er sich bei Ihnen gemeldet? Rufen Sie ihn bitte in seinem Zimmer an und sagen ihm, dass seine Frau auf ihn wartet.“

Der des Deutschen mächtig: „Es meldet sich niemand, gnädige Frau. Soll ich die Polizei rufen?“

„Non, non, bitte nicht. Er hatte, wie Sie hier sehen, seine ganze Verwandtschaft eingeladen, in Ihrem Hotel eine Woche auf seine Kosten Ferien zu machen. Großzügig wie er nun mal ist. Sie wären entsetzt, käme jetzt die Polizei. Schöner wäre es, wenn Sie für alle hier ein Zimmer frei hätten. Auch Doppelzimmer oder Zimmer mit mehr als zwei Betten. Viele sind von Zuhause aus gewohnt, in beschränkten Verhältnissen zu leben. Nemo, mein Gatte, sieht sich öfter als mir lieb ist, als Retter der Armen. Jesus von Nazareth sein Vorbild.“

Der Portier amüsiert, das könnte spannend werden:

„Es wird sich einrichten lassen, für alle ein Bett zu beschaffen. Vorausgesetzt, sie nehmen in Kauf, im zurzeit unbenutzten Ballsaal zu nächtigen. Toiletten und Waschgelegenheiten genug in der Nähe. Eine Garderobe, ihre Kleider abzulegen, bevor sie sich schlafen legen. Schrank-Koffer, die untergebracht werden müssten, sehe ich bei keinem hier im Foyer.

Sie, gnädige Frau können natürlich in Ihrem Appartement wohnen bleiben. Solange, bis Ihr Gatte wieder da. Und entscheidet, wie geplant vier Wochen zu bleiben oder das Hotel zu verlassen. Sie und Ihre Gäste bitte ich, derweil auf der See-Terrasse Platz zu nehmen. Essen und trinken Sie, zu was sie Himmel Erde und Meer Frankreichs animieren.“