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Den Katzenjammer oder Kater kennt jeder, der über den Durst getrunken. Am Morgen danach geschworen: Nie wieder. Nicht viel anders der alles verändernde Schmerz, verliert man durch Tod oder Unfall einen geliebten Menschen. Nicht selten auch ein Ding, das mehr als einen Zweck erfüllte. Ein Haus, das man verkaufen muss, alt und krank geworden. Die Heimat verlieren und fliehen, das Leben zu retten. Der Autor dieses Buches trennte sich nach 72 Jahren Autofahren von seinem Jaguar. Eine Sekunde nicht aufgepasst, den heiß geliebten zu Schrott gefahren. Frau und Tochter durch Krankheit verloren. Sein Haus verkaufen müssen. Allein mit 95 Jahren in einem Seniorenstift. Motiviert, sein Leben kritisch zu hinterfragen. Zuviel genossen? Zuviel gewollt? Zu viel geliebt?
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Seitenzahl: 164
Otto W. Bringer
Katzenjammer
Otto W. Bringer
Katzenjammer
Zu viel genossen,gewollt und vor allemzu viel geliebt
Copyright: © 2022 Otto W. Bringer
Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Umschlaggestaltung, Fotos und deren Bearbeitung von Otto W. Bringer.
Titelseite:
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
Softcover
978-3-347-72619-2
Hardcover
978-3-347-72622-2
E-Book
978-3-347-72623-9
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
1.
Katzen jammern „miau, miau.“ Obwohl sie keinen Grund zum Jammern haben. Im Gegensatz zu Menschen, die zu viel Alkohol genossen. Oder sonst wie gesündigt wider besseres Wissen. Übel war mir, gezwungen, mich zu übergeben, hinlegen am liebsten. Irgendwas aber hielt mich davon ab. Keine Lust, zu denken, Nichts tun müssen, außer kotzen. Im Kopf drehte sich alles, als wäre mein Gehirn ein Karussell. Fühlte mich verlassen von aller Welt“ soll ich am folgenden Morgen erinnert haben, gejammert und gestottert. Mir den Schlaf aus den Augen gerieben und wohl oder übel zugegeben: „Als die Nachricht kam, wir hätten die Präsentation einer Werbe-Kampagne für KNIRPS, den weltweit bekannten Taschenschirm, gewonnen, blieb uns nichts anderes zu tun, als die Nacht durchzufeiern.
Katzenjammer nennt man das. Frauen, auch die soll es geben. Nach durchsoffener Nacht wieder nüchtern: „Mich hat ein Kater, Sie wissen schon.“ Obwohl sie den Abend allein verbracht, kein Mann sie besucht, mit ihr getrunken. Ja, Kater spricht man von männlichen Katzen. Katze von weiblichen. Aber nur solange, bis ein Kater sie umschleicht, hoch erhobenen Schwanzes. Und zwei Monate später aus einer Katze drei süße Kätzchen die Welt erblicken.
Kätzchen verwöhnt mit «Kitekat» oder klein gehackter Kalbsleber. Von Menschen, die sie mehr als irgendeinen Menschen lieben. Ein Napf frisch gemolkener Kuhmilch stets verfügbar. Ein Kind, das sie streichelt, des Nachbarn Hund sie verbellt. Sie aber husch, sitzt auf dem höchsten Platz im Raum. Bücherregal, Schrank oder Gardinenstange Miau mio.
Doch diesmal bin ich es, der miaut, miot. So herzerweichend, dass ich mir selber schon leidtue. Folgenreich und nachhaltig, so sagt man heute, wie niemals zuvor. Meine wilde Katze, den heiß geliebten «Jaguar S-Type» nach zwanzig schmusigen Jahren abgeben müssen. Zwanzig Jahre am Volant dieses Automobils. Weil, ja muss es zugeben, weil ich eine Millisekunde nicht aufgepasst. Und schon krachte es auf der rechten Seite. Spiegel unsichtbar. Geparkt, ausgestiegen und das Malheur als Realität zur Kenntnis nehmen müssen. Der Spiegel baumelte am seidenen Faden, Kotflügel und beide Türen aufgeschlitzt. Herumgeguckt, was hat mich derart massakriert? Der Lastwagen auf der ParkSpur zeigt Eisenstangen wie Zähne, scheint zu grinsen. Als freute er sich. Mich für einen Anfänger hält, ohne mich zu kennen. Und niemand auf der Straße regte sich auf.
Nur ich rege mich derart auf, Crash und SOS im Kopf, sodass ich automatisch den Weg zur Werkstatt finde. Inständig hoffend, kein Verkehrspolizist hält mich an. Was soll ich ihm sagen, wenn er mich fragt, wen ich beschädigt habe? Verlangt von mir, mit ihm zum Unfallort zu fahren. Und der Lastwagen offensichtlich unbeschädigt. Mich für einen Lügner halten, mit zum Revier nehmen. Und andere mich in die Zange nehmen. Alle Reviere auffordern, ein um diese Zeit beschädigtes Fahrzeug zu melden. Zum Glück keiner Polizei begegnet. Nicht einen einzigen mitleidigen Blick eines Fußgängers bemerkt, als die Ampel rot gezeigt. Nur der Werkstattleiter: „Tut mir leid, Ihr Jaguar ist schrottreif.“
Ausgestiegen, den Schaden noch einmal ansehen müssen, Tränenden Auges. Elegante Linie, die mich vor zwanzig Jahren zum Kauf animierte. Kleiner als der XJ, den ich vorher fuhr. Schöner noch mit seinen vier Augen wie mein Idol: «Jaguar Mark 2». Mittelklasse-Limousine, ab 1959 mehrfach Sieger der Tour de France. Noch von Designern gestylt, nicht wie heute im Windkanal, alle einander ähnlichsehen. Soll ich, muss ich ihn wirklich abgeben? Ihn zu reparieren koste sieben bis achttausend Euro. Ging in mich. Per Pedes zur Straßenbahn. Und kam zu keinem Schluss.
2.
Es war wie mit einer Frau: diesen Jaguar sehen und sofort verliebt. In Gedanken schon gestreichelt. Ja, Lust verspürt, ihn in Besitz zu nehmen. Mit ihm die Welt erobern. Nicht lange und Frankreich lag uns zu Füßen. Lange nach Mitternacht sieben Kilometer Achterbahn vom Restaurant bis zum Nachtquartier, «Moulin de l ’ Abbaye» im Tal der Dordogne. Fois Gras, Boeuf Bourguignon, Crème Caramel, eine Flasche Rotwein et un grande verre de Cognac Hennessy nicht ohne Wirkung geblieben. Kopf, Arme und Beine schlapper als schlapp. Madame sehr ungehalten. Mein Jaguar aber wohlbehalten im Stall. Sah mich aus seinen großen Augen an, als wollte er mir sagen: „Ich habe mich nicht geweigert, weiterzufahren, Als du wie ein Irrer gekurvt, geschlendert, geschleudert. Links, rechts die weißen Linien überfahren. Ein Glück, dass deine Frau wie Du gegessen und getrunken. Sonst hätte sie dir ins Lenkrad gegriffen und alle, auch ich mausetot.“
In Paul de Vence einen Hut aus gelbem Reisstroh für meine Frau gekauft. Weil in der engen Gasse vor der Ladentür parken nur für Kunden erlaubt. Mein Jaguar froh, im Schatten des Daches abzukühlen. Habe ihn gerne an Stellen fotografiert, die seine Extravaganz unterstrichen. Mal mit Hut, mal unter einer Palme, dem Dach eines Waschbrunnens. Neben einem Camargue-Pferd. Des Kontrastes wegen. Auf der Fähre von Barcellona nach Palma de Mallorca. Zu beweisen, mein Jaguar ist nicht wasserscheu. Vor der Kathedrale San Seu, ich bin fromm, wenn es sein muss. Am abendrot brennenden Abgrund der Tramuntana ein Überlebenskünstler. Hoffnungslos verliebt in ein geformtes Stück Blech. Aus Westminsterblue sehen vier Augen in meine zwei: „Liebe mich oder fahr mich zu Schrott. Kann ohne dich nicht leben.“ Ich ohne dich auch nicht, gedacht und versprochen.
Mein Jaguar in Italien bella donna, ja, was sonst? Schönes auf Schönes getroffen. Blech mit Marmor versucht zu versöhnen. Zugeben müssen: Designt verblasst vor Gekonnt. Flüchtig das Heute, verglichen mit mehr als achthundert Jahren. Ins Wasser gebaut und doch standhaft und schön wie am ersten Tag. Hoffte, mein Jaguar lebt solange ich gesund, alle Sinne bei einander habe. Ließ ihn im Parkhaus Venedigs eine Woche ausruhen. In schattiger Kühle wird er die Nähe entfernter Verwandter in Kauf nehmen. Während wir in blauen Gondeln an weißen Palästen entlang das Weite suchten, Näher als nah uns kamen, nach Crespelle con Salmone und Wein aus Trentino. Fleisch zu Fleisch gedrängt in der Nacht. Gestöhnt vor Verlangen und Lust auf mehr. Als die Tauben schon munter auf dem Markusplatz. Seit denkbaren Zeiten alles Marmorne, Bronzene Lieblingsplatz und Austragungsort für alles, was Spaß macht. Mich motivierte zu einem Gedicht:
Wer lieh dem Löwen das Gesicht? – die Stirn mit der zornigen Falte? – den Blick, der bis Jerusalem reicht? – das Maul, das Litaneien gesungen – und hundert Sklaven verschlungen – aus den herabgelassenen Lippen tropft Regen – und die Tauben machen mit ihm, was sie wollen.
Mein Jaguar auch der meiner Frau. Besonders auf langen Fahrten, nach Amalfi am liebsten, südlich von Neapel. Abgewechselt am Steuer alle zwei Stunden. Übernachtet in Mittenwald, Stadt der Geigenbauer, aber auch der Sachbeschädiger. Neonazis kratzten ein Hakenkreuz in die Motorhaube meines Jaguar, den rechten Spiegel abgerissen. Mit Leukoplast provisorisch befestigt, bis eine Werkstatt in Amalfi den Schaden binnen drei Tagen beseitigte. Mein Jaguar wieder der alte. Westminsterblue wieder makelloses Westminsterblue. Das Herz gesund, bereit zu lieben, die ihn lieben.
Drei Wochen gewohnt im Hotel «Luna Convento“, einem ehemaligen Kloster hoch oben auf einem Thron aus millionenaltem Gestein. Das Meer vor der Tür. Mein Jaguar in der Garage, während wir den Fröschen nacheiferten. Den Kontrast zwischen Nass und trocken, 20° C Wasser und 33°C Luft genossen. Hinauf nach «Ravello» in die Berge. Sommerlichen Freiluft-Konzerten gelauscht. Umarmt von allen Seiten. Blauweiß über, Zitronengelbgrün unter uns. Im Garten der «Villa Cimbrone» Wagners Idee von Klingsors Garten für seine Oper Parsifal nachvollziehen können. Im Duomo Santa Maria Assunta nach «Mistlav Rostropowitch» gespielten Cello-Sonaten Johann Sebastian Bachs nur noch Gefühl. Als hätte ich Musik statt Blut in den Adern. Getanzt, gejauchzt, gedröhnt und geweint. Mal lauter, mal leiser. mal nur hingehaucht. Atemlos und kraftvoll zugleich. Das Ende in Sicht. Aufwärts von den Niederungen bis hoch ins Gewölbe. Durch ein zufällig offen gebliebenes Fenster in die Nacht. Sterne zählen, die Summe zu ahnen. Maß für Unendlichkeit des nachtdunklen, Sterne funkelnden Universums über uns. Ein Benediktiner, Astronom aus Leidenschaft, hat errechnet, eine E-mail zum Mars und zurück dauert dreieinhalb irdische Jahre.
Im Museo Florenz Michelangelos unsterblichen «David» gegrüßt wie einen alten Bekannten. Meine Hand erhoben, damit er mich im dichten Gedränge bemerkte. Sah seinen Arm schon erhoben, auf der linken Schulter ruhend. In seiner Hand die Schleuder mit dem Stein, mich etwa zu töten? Bevor er es tat, floh ich die Accademia del arte, um Frau und meinen Jaguar nach Apulien zu jagen. Dort das «Castel del Monte» unseres Lieblingskaisers, des Staufers «Friedrich II.» Imperatore Federico Secondo. Von Zeitgenossen: stupor mundi et imutator mirabilis – genannt. Das Staunen der Welt und ihren wunderbaren Verwandler. Einer, der Frauen liebte wie ich. Aber auch mächtig, die Welt zu verbessern, so wie ich es heute nie könnte.
Die Approbation von Ärzten und Apothekern gesetzlich verordnet. Die Reinerhaltung von Gewässern. Muslime ins Land geholt, ihre Weisheit, Bau- und Handwerkskunst für sein Volk zu nutzen. Mit dem Sultan von Jerusalem zehn Jahre Frieden vereinbart. Muslime ihrer Arbeit nachgehen, Christen die Heiligen Stätten besuchen und bleiben konnten, solange sie wollten. Statt am Kreuzzug teilzunehmen, wie von «Papst Innozenz IV.» befohlen.
Erbost setzte er Friedrich als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches ab. Froh, einen Anlass zu haben, diesen mächtigen Potentaten loszuwerden. Er wird als einer von Päpsten genannt, die auch als weltliche Herrscher Macht und Einfluss haben wollten. Nicht nur der Stellvertreter Christi auf Erden, sondern Generalissimus aller gekrönten Häupter.
Hätte ich damals gelebt und damals schon den Jaguar gegeben, ja was hätte ich gedacht, getan? Das Papamobil aus Versehen, wirklich versehentlich, in den Tiber geschubst. Und den Notarzt gerufen. Gewollt, hätte ich damals gelebt. Heute in Rom zum letzten Mal die Sixtina besucht. Nach aberhundert Reisen in ganz Europa. Kühlen, heißen, milden zu allen Jahreszeiten. Französisch, Spanisch oder Italienisch gestottert. In Römischen Arenen antike Tragödien gesehen. Tempel und unzählige römische Säulen des damaligen Weltreiches. Jeder Stil hat uns erkennen lassen: Nichts bleibt, damit Raum für Neues ist. Von der frühen Antike bis Frank Lloyd Wrights «Kulturforum» in Berlin. Früh-Romanik mir die liebste Bauperiode, weil ihre Halbkreisbögen das Universum umfassen.
In «Les-Saintes-Mariesdela-Mer» an der Zigeunerprozession teilgenommen. Bis Meeres und der Liebe Wellen unsere heiß gelaufenen Füße abgekühlt. Gebete himmelwärts flogen. In der Camargue versucht, wie Flamingos auf einem Bein zu stehen. Dem anderen die wohlverdiente Ruhepause zu gönnen. Weiße Pferde beobachtet, die vor sechs Jahren pechschwarz auf die Welt gekommen. An sich unentwegt windenden Raupen vierundzwanzig Beine gezählt. Im Wechselschritt jedes Reise-Risiko vermeidend.
Eines Tages Sprung über den Ärmelkanal. Den Tunnel gab es noch nicht. Großbritannien noch Teil der EU. Mit der Fähre rüber nach Dover. Tochter Angéla besuchen, die dort ein Au Pair-Jahr absolvierte. Achtung Linksverkehr! Aufgepasst! Auf Landstraßen gemächlich geübt und links geblieben. In London angekommen, Kreuzung und Ampeln. Jahrzehnte gewohnt, mich rechts eingeordnet. Grün und losgefahren, frontal auf die Autos zu auf meiner Seite. My God, was jetzt? Blieb stehen und wusste nicht weiter. Sah die mir gegenüber auch stehen bleiben, den vordersten das Fenster öffnen und winken. Alle, ich sage alle, eine unübersehbare, lange Schlange wartete, bis ich meinen Jaguar wieder links eingeordnet. Winkten und hupten, einen der ihren erkannt.
Jaguar neben Rolls-Roys das beliebteste Vorzeige- und Export-Objekt der Briten. Dass sie auch mich und meine Frau mochten, bewiesen drei British People beim nächsten Besuch mit BritishAirline. Eine Kaffeehauseignerin schenkte uns zu duftendem Kaffee eine dicke Scheibe selbst gebackenen Bisquit. Der Inder zum currygelben Hühnerbein einen grünen Salat. In der Schlange am Bus-Stop zum Airport ließ man uns an die erste Stelle. Und jetzt verstanden, dass Töchterchen nach dem Jahr Au Pair nur noch Englisch gesprochen und gedacht. Anglophil von Natur aus, von wem sie das wohl geerbt?
Einige Jahre später gelang uns der Sprung über den Atlantik nach Los Angeles, California. Geflogen mit LTU, weil mein Jaguar zwar nicht wasserscheu, aber im Schwimmen ungeübt. Tochter Angéla besuchen. Dort seit drei Jahren selbstständig als Costume-Designerin für Theater. In Charly Chaplins Gästehaus drei lange Wochen gewohnt. Auf durchgelegenen Strohmatratzen geliebt und geschlafen. Einen Mitsubishi gemietet und Land und Leute besucht. Gelernt, wie sie leben, was sie essen und trinken. Lebensgewohnheiten von anno dazumal eingewanderten Europäern. Jetzt von Mexikanern, Flüchtlingen aus Kuba und Venezuela, die in den USA ein besseres Leben erhoffen. Als farbige aber ein Problem haben. Damals noch im spanischen Stadtteil von Los Angeles mit ihnen getrunken, gegessen und getanzt, Spanisch gestottert, als wären wir einer der ihren.
Eineinhalb Stunden durch eine Wüste gefahren, um in Disneyland eine künstliche Welt zu erleben. Häuser wie im 19. Jahrhundert. Überdimensionale Mickeymouses schlenderten die Straßen rauf und runter und winkten. Auf einem Mini-Mississippi tukkerte ein Raddampfer Touristen von Attraktion zu Attraktion. Überall Schwarze in Uniform mit Besen und Schaufeln. Ständig bemüht, den kleinsten Fetzen Papier, die letzte Kippe in einen Eimer zu befördern. Blitzblank soll alles sein, wie Amerikaner es mögen, perfekt. Stolz, Weiße und nicht Schwarze zu sein, die sauber und deshalb erfolgreich. Bis heute überzeugt, wir sind die besten Menschen auf Gottes Erde.
In Europa der Jaguar ein treuer Begleiter, relativ selbstlos, das Einzige, was ihn zu jucken schien, wenn ich an der Waschanlage vorbei nachhause fuhr. Meinte ein stilles Knurren zu hören: „Wasch mir den Pelz.“ Das rote Licht schon lange aufleuchtet und immer noch keine Tankstelle in Sicht. Wie damals in «Avignon», als alle Lastwagen streikten. Stau, abfahren mussten, 300 m vor dem Esso-Schild. Was jetzt? An keiner Tankstelle in der Stadt Benzin, alle ausverkauft. Kein Nachschub in Sicht. Angehalten, geparkt, zu Fuß mit Handgepäck eine Bleibe zu suchen.
Da überholte uns ein gelber 2CV, hielt, ein junger Mann schnell wie der Wind bei uns: „Avezvous un Problème? Peu je vous aider?“ „Pas d’ essens, monsieur.“ „Me suivez vous s’ il vous plaît!“ Ein Kilometer nur bis zu einer Station Service und vollgetankt. Gehupt: „Merçi et adieu, cher ami.“ Großer Freund liebt kleinen Freund. Beide Lieblinge vieler Automobilisten auf der Welt.
Aber auch Schreck vieler meiner Träume. Beim Therapeuten, ihm zu beichten. Los zu werden, was mich plagte. Nächtelang verfolgte geradezu. Es musste doch einen Grund haben, immer dasselbe zu träumen und erzählte, was war:
„Fand nach Geschäftsschluss meinen Jaguar nicht wieder. Aufgebrochen, wohl kurzgeschlossen und weggefahren? Im nächsten Traum an anderer Stelle geparkt. Und wieder geklaut. Drei- viermal nacheinander den Parkplatz gewechselt und jedes Mal war mein Auto weg. Scheißgefühl, kann ich nur sagen.“
„Träume sind Wirklichkeiten, müssen Sie wissen“, der Psychotherapeut. „Erinnern Sie sich an Einzelheiten?“
„Einmal ging ich sogar zu Fuß nachhause, ein anderes Mal mit dem Bus gefahren. Erlebte es, als wäre ich wach. Mit Augen, Ohren und Nase alles wahrgenommen. Komisch, nie bei mir zuhause angekommen. Immer nur denselben Weg gefahren. Gegangen, Häuser erkannt, Leute gegrüßt und an meinen Jaguar gedacht. Wie an einen Verstorbenen. Nur noch in Gedanken hinter dem Steuer meines Autos gesessen. Geplagt von der grausamen Vorstellung, nur noch per Pedes Apostolorum unterwegs sein zu müssen.“
Der Therapeut fragte mich vieles, unter anderem, ob ich verheiratet sei, meine Frau mich liebte. Angst hätte, sie würde mich verlassen. Ich aber glücklich mit Rose, der großen Liebe meines Lebens. Probleme nur, wenn meine Agentur nicht genug Geld verdiente, um die Gehälter der Mitarbeiter zu bezahlen. Vieleicht sogar Insolvenz anmelden müsste. Nach einer Stunde, gefühlten drei, noch ein paar Fragen beantwortet und Tabletten verschrieben bekommen.
Die aber halfen nicht, im Gegenteil. Müde am Tag und keine Lust, etwas zu unternehmen. Nachzudenken schon gar nicht. So ging es zwei, drei Wochen. Bis Rose mir dringend nahelegte, die Pillen abzusetzen. Stattdessen vor dem Schlafengehen Klavier spielen, und dann entspannt zu ihr ins Bett kommen. Musik und Liebe seien für mich die besten Arzneimittel. Kombiniert geradezu ideal für gestresste Nachtträumer. Peu à peu fühlte ich mich besser. Aktiver dann als je zuvor.
Kürzlich las ich in der NZZ ein Interview mit einem Traumdeuter. Diese Experten unterscheiden zwischen Schlaf- und Tagträumen. In Schlafträumen wird in der Regel am Tag vorher Erlebtes verarbeitet. Auch unruhige Gedanken, ein ungelöstes Problem, sexuelle Gelüste. Das Gehirn nachts aktiver meist als am Tag. Schlimmes erfahren bleibt in Schlafträumen schlimm. Oft aber auch exzessiver, verwirrender als es am Vortag erlebt wurde. Schlimmer, was von irgendwoher, sich nicht durch Erlebnisse oder Gedanken am Tag zuvor erklären lässt.
Besonders sensible Menschen am Morgen danach total verwirrt und Angst. Ein «Trauma», das sie verfolgt. So nennen es Psycho-Therapeuten. Psychische, sprich seelische Erschütterungen, die solche Menschen noch tagelang gedanklich beschäftigen. Zellen im Gehirn willkürlich scheinende Kontakte knüpfen. Sogar physisches Unwohlsein hervorrufen, Unlust und Furcht vor allem. Komme es zu Wiederholungen desselben Motivs in Träumen, muss es an der Bedeutung liegen, die es für den Träumer hat. Erinnere meinen Jaguar. Auch Sex, unterschwellig zumeist.
Im Gegensatz zu Schlafträumen geht es in Tagträumen unbeschwert, geradezu zuversichtlich zu. Dann nämlich, sind Menschen tags zuvor mit Angenehmem, Erfreulichem beschäftigt. Mit Freunden über den nächsten Urlaub geredet, die erste Liebe. Das bestandene Abitur des ältesten Sohnes gefeiert. Oder den Trubel um die Pandemie gelassen betrachtet. Sich geschützt natürlich, und gehofft, lange gesund zu bleiben. Von Malaisen jeder Art weitgehend verschont.
All das spiegelt sich nachts in sogenannten Tagträumen wider. In frühen Morgenstunden, kurz vor dem Erwachen. Aufgewacht, den Traum erinnert, und der Tag ist gerettet. Nach Auswertung einer Untersuchung bestätigten zwei Drittel der Probanden, Angenehmes geträumt zu haben. Nachdem sie tags zuvor sich des Lebens gefreut und darüber geredet. Musiziert oder ein, zwei Stunden am Rhein entlang spaziert.
Ab da bemüht, tagsüber mich selbst und die Umwelt positiv zu betrachten. Doch hin und wieder überfällt mich Melancholie, vergleiche ich, wozu ich leicht geneigt bin, Vergangenes mit der Gegenwart. Obwohl es nur Angenehmes, sprich Rosinen sind, die ich erinnere. Doch in Kauf nehme, lieber als Rosinenpflücker als Korinthenkacker verschrien zu werden. Denke ich an die Zukunft, bin ich gespalten. Einerseits will ich Zweihundert werden. Mein Mantra: Gelingt mir etwas, egal was, bin ich glücklich. Bin ich glücklich, bin ich gesund. Bin ich gesund werde ich – siehe oben.
Andererseits macht mir die Auflösung aller Fakten in Daten große Sorgen. Daten kann man nicht hören, riechen, schmecken. Lieben und umarmen schon gar nicht. Menschen verlieren den Kontakt zur Realität. Roboter und künstliche Intelligenz schreiten fort. Bald schon ist der Mensch überflüssig. Und nichts mehr, was es war. Es sei denn, Roboter können träumen. Und sich die nächtlichen Traumata von der Seele schreiben wie ich.
Träumte erneut von meinem Jaguar. Dieses Auto muss eine Zeit lang in meinem Unterbewusstsein wichtiger als Frau und Kinder, selbst wichtiger als Gott gewesen sein. Ein Jaguar S-Type, kleinstes Modell. Sparsamer und gerade recht für einen, der nach seiner Pensionierung beschloss, Risiken zu vermeiden. Keine Grenzen des Zumutbaren mehr zu überschreiten. Die von Ländern mit meinem Auto überfahren. Nur noch erinnern. Mit Rose Europas Kulturen aus zwei Jahrtausenden bestaunt. Genossen, was aus Küchen, Kellern und Bäckereien unsere Sinne anfeuerte. Kreative Höhepunkte noch und noch. Nach ihrem Tod allein und nur noch geträumt von dem, was ich erlebt.