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Die aufregende Geschichte von einem Haar aus der Wolle eines provençalischen Schafes, im 14. Jahrhundert zu Garn gesponnen, zum Gewand des Apostels Johannes und Gottvaters geknüpft. In fantastischen Bildern der Apokalypse, den Endzeitgesängen des Johannes, auf riesengroßen Teppichen nebeneinander gehängt in einer Länge von über 100 Metern. Ein ausdrucksvoll eindringliches Spektakel mittelalterlicher Vorstellungen vom Ende der Welt - und einem Haar, das nicht sterben wird, solange die Teppiche im Schloss von Angers an der Loire hängen. Es wird von einer Zeit mit ihren Problemen erzählt, die heute noch die gleichen sind.
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Seitenzahl: 109
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Otto W. Bringer
Das Haar in der Apokalypse
Otto W. Bringer
Das aufregende Leben eines Schafhaares von Anno 1356 bis zum Jüngsten Gericht.
Copyright: © 2017 Otto W. Bringer
Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Titelgestaltung vom Autor unter Verwendung des Teppichmotivs in Angers „Untergang der Schiffe“ und „Schaf“ auf der ersten Innenseite. Künstlerische Bearbeitung der Archivfotos im Text und „Mittelalterlicher Webstuhl“- auf der Rückseite des Umschlages.
Erschienen bei tredition GmbH, Hamburg
978-3-7439-6068-8
(Paperback)
978-3-7439-6069-5
(Hardcover)
978-3-7439-6070-1
(e-Book)
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Eine Redensart spricht vom Haar in der Suppe. Meint Störendes, Artfremdes, das nicht passt. Da ist, wo es nicht hingehört. Ärger verursacht. Aber was hat das Haar in der Apokalypse zu suchen? Den Endzeitvisionen des Apostel Johannes?
In denen schildert er, dass der Weg in den Himmel mit sieben Plagen gepflastert ist. Prüfungen Gottes. Wer sie besteht, kommt in den Himmel. Wer nicht, muss in der Hölle schmoren. Apokalypse sei also ein Auswahlverfahren. Christen sagen das Jüngste Gericht. Das Urteil am Ende der Zeit. Im 14. Jahrhundert ernst genommen, als passierte es morgen schon. Jan Bondol entwarf die Bildszenen. Die Werkstatt Robert Poissons, Paris, knüpfte die Teppiche aus gefärbten Naturgarnen. Mit Szenen der Apokalypse. Engel blasen sieben Mal die Posaune bei jeder Prüfung. Sieben Apokalyptische Reiter und das siebenköpfige Ungeheuer Symbole des Bösen. Und Johannes schaut zu. Erschrocken, erstaunt oder erleichtert. Bis St. Michael auftritt, das Ungeheuer tötet. Das neue Jerusalem auf dem letzten Teppich erstrahlt als Symbol der Erlösung.
Nebeneinander gehängte Teppiche. Im Schloss von Angers an der Loire, Frankreich. Mit einer Länge von über 100 Metern, die von 142 m gerettet wurden.
Eindrucksvoll wie kaum ein anderes Kunstwerk. Restauriert in ihrer ganzen Schönheit zu betrachten. Den einen wundert ’s, den anderen erschreckt ’s. Einen dritten vielleicht lässt es nachdenklich werden. Über die Abermillion Meter Garne aber, aus Haaren von Schafen gesponnen, macht sich niemand Gedanken. Dennoch soll eines dieser Haare Thema dieses Buches sein. Lassen Sie sich ein auf eine spannende Geschichte.
Es war einmal ein Haar. Eines der elastischen, die man nur bei Schafen findet. In seiner Wurzel schlummerte ein Gen, das alle Möglichkeiten enthält. Aus einem jungen Haar ein erwachsenes, kräftiges werden zu lassen. Und zu vielem nutze. Gene sind es, die alles weitergeben, was lebt. Auch Schafe haben Gene. Die sie ähnlich aussehen lassen. Was man nicht vermutet: Schafe stammen von Ziegen ab. Sehen aber anders aus als sie. Haben keinen Bart, keine Hörner. Bis auf Widder, die sie für Kämpfe gegen konkurrierende Rivalen brauchen. Im Gegensatz zu meist nackten Ziegen haben Schafe ein wolldickes Fell.
Ihre Gewohnheiten aber sind ähnlich. Saugen an den Zitzen ihrer Mütter. Futtern Grünes, sobald sie laufen können. Saufen das Wasser aus Bächen. Rennen weg, wenn sie gelernt haben, wer ein Feind ist, der sie fressen könnte. Einige haben große Hörner, nach hinten gebogen. Männchen sind es, Widder genannt. Die kräftigsten einer Herde können bis zu fünfzig Mal Schafweibchen begatten am Tag. Die Herde ist groß genug, mit mehr Weibchen als Widder. So ist das Überleben ihrer Art gesichert. Gezüchtet als Rasse mit viel Fleisch für Metzger. Oder mit viel Wolle für Webstühle und Handarbeiten wie Stricken. Nur die Mufflons, vor ca. 10000 Jahren domestiziert, also Urahn des Hausschafes sind vom Aussterben bedroht. Man erkennt sie an nach hinten gebogenen Hörnern, größeren als bei Widdern. Ihrer schwarzen Nase und zotteligem, unbrauchbarem Fell. Hilfsprogramme versuchen die Rasse zu erhalten.
Jedes spielt eine Rolle in der Herde. Schafe und Widder. Der die erste Geige. Widder blöken rau und herrisch. Am Klang ihrer Stimme erkennen ihn Schäfer sofort. Schafweibchen klingen weicher. Lämmchen heller. Wissenschaft erkennt seit neuestem am Blöken sogar ihre Identität.
Ähnlich wie bei Menschen nicht nur die Stimmen. Weibchen muss aushalten, während er seiner Begierde folgt. Kaum wittert er ein trächtiges Weibchen, sticht er seinen harten Penis in ihren Leib. Und hört nicht auf zu stechen. Sie muss die Folgen ertragen aus dieser Stecherei. Fünf bis sechs Monate Schwangerschaft bis zur Geburt. Kinder, Lämmchen genannt, kommen selten allein. Meist mehr als eines hintereinander. Saugen an den Zitzen, weil sie Hunger haben. Erster Reflex wie beim Menschen. Oft zwei gleichzeitig. Eines links, das andere rechts. Das Euter ihrer Mama ist zweigeteilt. An jeder Seite haben sie zwei Zitzen. Theoretisch für vier hungrige Babys gleichzeitig.
Bevor wir erzählen, wie unsere Geschichte vom Haar eines Schafes weitergeht, zuerst zum Verhältnis Mensch und Schaf. Es könnte so gewesen sein: Mensch traf zufällig auf eine Herde. Beobachtete, einige haben Hörner, andere nicht. Sieht sie auf Weibchen springen wie sie selbst auf die Frau. Nach einiger Zeit kommen Lämmer auf die Welt. Beobachtet, wie sie sich benehmen, größer werden. Will herausfinden, ob die Veränderung ihm etwas nützen könnte. Die Milch aus dem Euter saugen wie die Lämmer bei ihrer Mama. Oder die Wolle wachsen sehen, bis sie von selbst abfiel. Aber zu nichts mehr zu gebrauchen. Vielleicht dachte er, man müsste die Wolle scheren, bevor sie zottelig wird und abfällt. Dann kann man sie sich umhängen wie einen Mantel. Fragte sich mit Sicherheit als erstes, kann man es schlachten, braten und essen? Menschen sind wie Tiere. Wenn sie hungrig sind und frieren. Der Fortpflanzungstrieb sie umtriebig macht. Ob Tiere eine Moral haben? Mensch hat keine, wenn es um Sex oder Essen geht.
In jedem Fall haben Schafe Gene, die sie so werden lassen, dass wir sie sofort wiedererkennen, begegnen sie uns. Auch wenn alle Rassen verschieden aussehen, genau betrachtet. Weißgrau die meisten, aber auch schwarz weiß gefleckt oder dunkelbraun. Verschiedene Eigenschaften haben. Die vom Menschen durch Züchtungen quasi eingeimpft wurden. Ein Texel-Schaf z. B. produziert viel Fleisch. Ein provenzalisches viel Milch und Wolle. In großer Herde aber auf Wiesen, Landstraßen ländlicher Provinzen auch in Europa immer dasselbe Bild.
Alle Muttertiere mit ihren Lämmern zusammen. Die wenigen Widder ebenso unter sich. Ob das auch an den Genen liegt? Gene sitzen in den Eiern von Weibchen, den Samenfäden der Männchen. Nach der Begattung fließen beide in das neue Leben. Ein Lämmchen wird geboren. Bald stellt sich heraus, wer von beiden den stärkeren Einfluss hatte. Ist es ein weibliches oder ein männliches Tier? Die Mutter hat ihre Gene weitergegeben. Der Vater seine. Oder war es der Großvater, die Urgroßmutter? Alles in den Genen bestimmt Geschlecht, Aussehen und Charakter. Über Generationen hinweg. Vom sozialen Umfeld laufend beeinflusst. Bei Menschen und Tieren. Noch aber ist nichts entschieden. Unser Wollhaar nur eine Idee. Mal sehen, was daraus wird.
Geben wir unserem Schaf, das ein Weibchen ist, den Namen „Penelope“. In Frankreich beliebter Name für Frauen. Das Wort aus dem Griechischen bedeutet Gewebe abreißen. Oder Wolle, ein Material aus dem Gewebe gemacht ist. Und schon sind wir beim Schaf. Anfangs webte man Bast zu Matten. Als Schlafdeckeoder Behang für dies und das. Später Wolle aus den Haaren von Schafen und einer bestimmten Ziegenrasse. Oder Seide von Kokons der Seidenspinner. Wolle kommt meistens von Schafen. Schafswolle sagt man ja. Und jeder weiß, was es ist und zu was von Nutzen.
Stellen wir uns Schafe vor, die in großen Herden umherziehen, Futter zu suchen am Boden und zu fressen. Ihre Vorvorfahren, die Ziegen wollen immer schon höher hinaus. Recken ihre Hälse und fressen das Grün von Bäumen und Sträuchern. Knospen und Blätter von den Zweigen, die sie erreichen. Schafe suchen das, was ihnen näher liegt am Boden, Gräser vorwiegend. Und werden auch satt. Sie sind also Nomaden wie Kamele. Auf der Suche nach satt machenden Gräsern, Blättern, Distelgewächse. Wie Kamele unterwegs oder in einer Oase. Mensch erinnert sich, auch er ein Nomade, bevor er sesshaft wurde Anno Tobak.
Wahrscheinlich ziehen Schafe immer schon in großen Herden. Auch unbewacht von Hirten und Hunden. Futter zu finden irgendwo. Man spricht von Herdentrieb, sich sicherer fühlen in der Gesellschaft Gleichartiger. Was mit fremden Lebewesen nicht so funktioniert. Ein Blick auf das Verhalten von Menschen bei Flüchtlingsströmen zurzeit dürfte als Beweis genügen. Der Mensch ein Herdentier? Zu Zeiten der ersten Siedler könnten es schon Männer gewesen sein, die Herden mit Hilfe von Hunden zusammenhielten. Die Funde in Höhlen an der Dordogne, Frankreich, lassen auf einen intelligenten Menschen schließen.
Vor etwa 40000 Jahren hatte er bewiesen, dass er seine Umwelt nicht nur kannte. Sondern zeichnete wie ein Künstler. Mit flottem Strich und naturgetreu. Die Wissenschaft nennt ihn Cro-Magnon, den ersten intelligenten Menschen. Lateinisch: ,,Homo sapiens". Betrachtet man die bemalten Decken und Wände der Höhle in Lascaux, in denen er wohnte, kann man nur staunen. Man sieht Jagdszenen, in denen Wisente und Wildpferde um ihr Leben rennen. Auf der Flucht vor wem? Vor Menschen mit Speeren die man in angedeuteten Strichen erkennt. Alles mit verkohlten Holzstäbchen gezeichnet wie mit Kreide. Mal kräftig, mal weich verlaufend. Und einem Stück weichen Ockersteins rot gefärbt. Tolle Bilder. Als lebten sie. Den berühmten Tauromaquias – Stierkampfszenen – Picassos ebenbürtig. Nicht nur in Europa, auch auf anderen Kontinenten entdeckte man jüngst ähnlich lebendige Zeichnungen in Höhlen. Der Mensch ein Künstler?
Möglicherweise sogar so intelligent, dass er bald schon die Vorteile einer eigenen Schafherde erkannte und nutzte. Bleiben wir in der Provence, südlich von Manosque, der Heimat von Penelope. Heiß ist es dort und ideal für Herdentiere. Brauchen keinen Schutz vor Dauerregen. Gelegentliche Güsse schaden ihrem Fell nicht. Wolle ist fettig und weist Wasser ab. Zwischen den karstig gelöcherten Kalksteingebirgen immer wieder Grünes. Genug Futter für die Schafe. Seit ewigen Zeiten schon. Der Mensch noch nicht einer wie heute. Selbst ein Herdenmensch, im Begriff, sesshaft zu werden. Höhlen im Gebirge zum Standort machte. In die er immer wieder zurückkehrte nach seinen Jagd-Ausflügen. Höhlen, die er schmückte mit Bildern wie wir unsere Wohnung heute.
Sehr bald könnte er den mehrfachen Nutzen von Tieren entdeckt haben. Neugierig geworden durch Geschichten, die Reisende aus dem fruchtbaren Halbmond erzählten. Syrien, Irak, Lybien, Israel, Palästina und Jordanien. Mutterländer des Hausschafes seit ca. 8000 Jahren. Dort werden sie in Herden gehalten. Nach Methoden, die heute noch dieselben sind. In der Bibel spielt es als Lamm Gottes eine zentrale Rolle. In allen Erzählungen sind Schafe traditionell Mitglieder menschlicher Gemeinschaften.
Weil Schaf ein Nahrungsmittel ist. Wichtig zum Überleben. In Herden mit Nachwuchs-Reserven bis ultimo. Zerlegte es in Einzelteile, um an genießbares Fleisch zu kommen. Darum ging es. Fleisch wollten sie essen. Nachdem sie erfahren hatten, dass Fleisch die Muskeln stärkt und sie weiter springen konnten als bisher. Über Abgründe, stürzende Bäche. Ausdauer, wenn sie beim Jagen flüchtenden Wisenten Kilometer hinterherlaufen mussten. Auch wenn sie damals von Spurenelementen und Eiweiß nichts wissen konnten, wussten sie: Fleisch essen heißt stärker sein und ausdauernder.
Fanden dann rasch heraus, aus ungenießbaren Muskeln, Sehnen und Därmen Schnüre zu drehen. Kräftige Zweige von biegsamem Weidenholz mit ihnen zum Bogen zu spannen. Pfeile reichen weiter als Spieße, Wild zu erlegen. Den Hund an die Leine zu legen. Feinde zu fesseln. Aus Röhrenknochen Trinkgefäße zu schnitzen mit dünnscharfen Steinen. Die in Jahrmillionen von Gletschern der Alpen herabschmelzenden Gewässern glatt geschliffen wurden. Oder Kieselschiefer, den sie lernten mit hartem Basalt oder Gneis so lange zu bearbeiten, bis seine Kante scharf war wie ein Messer.
Sicher auch der Mensch der Provence erkannte, eine ganze Herde auf einmal schlachten ist Unsinn. Wohin mit dem Fleisch? Im heißen Klima verdirbt es schnell. Wasser friert in der Provence nicht zu kühlendem Eis wie in Norwegen. Also lässt er viele Schafe leben, in freier Natur weiden. So kann er auch ihre Milch nutzen, ihr Fell vielleicht. Trieb sie in Gehege, ihre täglich vollen Euter zu melken. Einfach ansaugen, den Lämmern abgesehen. Dann läuft ’s von selber. Bis das Euter leer ist. Jetzt Milch trinken statt Wasser. Ihre Kinder damit ernähren, wenn Mutters Brust streikt. Oder sie entdeckten plötzlich, dass Milch nach ein zwei Wochen stockt, fester wird und anders schmeckt. Der erste Käse des Menschen entstand zufällig. Von Bakterien in der Luft gesäuert. Heute mantschen Maschinen die Milch, marktgerecht, wie man annimmt. Kleben ein Etikett darauf mit dem Versprechen echt Bio. Stadtmenschen heute kennen Tiere nur von Bildern auf Packungen. Essen, trinken was ihnen schmeckt. Und denken nicht weiter nach. Immer noch muss der Mensch überleben. Fleisch ist unverzichtbar. Irgendwelche Leute jagen wilde oder züchten zahme Herdentiere, heute wie damals. Beiden muss das Fell abgezogen werden, um an ihr Fleisch zu kommen. Heute noch trennt man wie damals mit scharfen Werkzeugen das Fell vom zitternden Leib lebender Schafe und zieht es ab. Schmerzfrei mit superscharfem Schermesser.