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Seit Kain seinen Bruder Abel erschlug, ist offensichtlich, dass selbst Verwandtschaft einen Mord nicht verhindert. Die Möglichkeiten, Gewalt auszuüben, sind schier grenzenlos. Jeder muss zugeben, wenn er ehrlich ist, mal gut und mal böse zu sein. Gewalttätig aus Eifersucht, Rache, Enttäuschung; andere zwingen ihre Überzeugung Frau und Kindern, Angestellten, ja ganzen Völkern auf. Gewalt vermeidet, wer nur Liebe erfahren hat und deshalb auch seinen Nächsten liebt. Andere unterlassen Gewalttaten, weil sie fürchten, bestraft zu werden. Der Autor hat Zwänge im Elternhaus und die Schrecken der Nazizeit erlebt. Er wollte wissen, warum überall in der Welt Gewalt regiert und nicht Liebe. Er war überrascht von Gutmenschen, aber auch einer Vielzahl brutaler Individuen, die heute von den Medien favorisiert werden, sodass der Eindruck entsteht, den guten Menschen, die gute Tat gibt es nicht. Es gab und gibt den einen wie den anderen. Wer dieses Buch gelesen hat, wird sich fragen, wer bin ich? Und nachdenklich werden ...
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Seitenzahl: 158
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Otto W. Bringer
Gewalt ausüben oder vermeiden?
Schicksalsfrage seit Kain & Abel
Copyright: © 2021 Otto W. Bringer
Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Umschlaggestaltung Otto W. Bringer Otto W. Bringer einschließlich des Fotos Kain und Abel vom Genter Altar der Gebrüder van Eyck.
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
978-3-347-35381-7 (Paperback)
978-3-347-35382-4 (Hardcover)
978-3-347-35383-1 (e-Book)
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Umschlagbild zeigt einen Ausschnitt aus dem berühmten Genter Altar der Gebrüder van Eyck. In der Lünette erschlägt «Kain» seinen jüngeren Bruder «Abel mit einer Axt. Wäre es heute noch so, müsste Kain sich vor einem Gericht verantworten. Seine Ausrede, Gott habe ihn mehr geliebt als ihn, hätte ihn nicht vor Bestrafung bewahrt. Eifersucht, nicht nur in Paarbeziehungen, auch in Geschäften auch heute noch ein Grund, zu töten. Das Dilemma unserer Zeit scheint dasselbe zu sein. Ebenso wie früher müssen Unschuldige leiden, Täter kommen ungestraft davon. Frauen ihre Opfer, Kinder, ganze Völker, weil das Böse an der Macht ist. Immer schon haben Despoten andere erniedrigt, sogar umgebracht. Weil sie ihnen nicht folgten, andere Meinungen vertraten. Oder einfach nur, weil sie anders waren. Anderer Religion, Hautfarbe oder Kultur. Gewalt herrscht bis heute in Familien, Schulen, bei Polizei und Militär. In privaten und öffentlichen Gemeinschaften. Subtiler oft und schwer zu ahnden. Nicht nur physische Gewalt, mehr noch psychische mit ausgeklügelten Methoden. Heute fühlt sich fast jeder auf irgendeine Weise unterdrückt oder eingeschränkt.
Früher nur unmittelbar Betroffenen, Verwandten und Freunden bekannt. Literaten hielten es in Briefen und Büchern fest. Shakespeare in seinen Dramen. Maler wie Goya und Picasso in ihren Gemälden. Heute erfährt es die ganze Welt dank modernster Datentechnik. Und alle müssten betroffen sein. Sind sie es? Protestieren sie? Mutig, ihre Meinung offenzulegen? Jeder hat eine Meinung zu allem, was passiert. Beeinflusst heute mehr vom Mainstream als durch Bildung. Äußert sie oder auch nicht. Meinung aber bestimmt sein Denken und Handeln. Beeinflusst andere und Gruppen entstehen, die alles daransetzen, den öffentlichen Diskurs zu bestimmen. Leider tragen sie zu einer Stimmung bei, die Verständnis und friedliches Zusammenleben erschwert.
Ich habe mich entschlossen, in diesem Buch historisch Bewiesenes zum Thema Gewalt und ihren Spielarten offenzulegen. Auch eigene Erfahrungen mit in Jahrzehnten geänderten Meinungen zu bekennen. Hoffe, es gelingt mir, Gandhi folgend, mit der Kraft des Wortes zu überzeugen. Gebe zu, dass es nicht immer gelingt. Meine Meinung über Menschen und Sachen sich ändert. Beeinflusst von allem, was passiert. Schon früh vom Tod meiner Mutter und zwölf Jahren Nazizeit. Krieg und Todesangst. Als Selbstständiger von Erfolg und Misserfolg. Von Krankheit und Tod geliebter Menschen, Freund, Tochter, Ehefrau. Von allem, was hier und in der Welt geschieht. Habe lernen müssen, dass alles sich ändert. Nur eines darf sich nicht ändern: Sich wehren gegen Gewalt, wo immer sie angewendet wird. Und sei es nur mit Worten. Eine Bitte noch:
Schildern Sie an einem Beispiel Ihre Abscheu von Gewalt auf den anhängenden leeren Seiten dieses Buches. Oder heften es ausgedruckt hinein. Stellen das Buch in Ihren Bücherschrank. Kinder und Erben werden Ihre friedliche Meinung kennenlernen und stolz auf Sie sein.
30. März 1927, ein Tag, der über mein Leben entschied. Wenn ich nicht an diesem 30. März das Licht der Welt erblickt, hätte ein anderer sie möglicherweise anders beurteilt als ich. Keineswegs aber lichterfüllt und voller Optimismus. Ich betrachte sie aus der Perspektive eines, der Architektur und Kunst studierte. Gelernt, Realität und Fantasie zu unterscheiden. Unter diesem Aspekt fiel mir schon früh auf, ob ich wollte oder nicht, dass Menschen sich disparat verhalten. Mal harmoniesüchtig, mal streitlustig bis zur Anwendung von Gewalt. Dann greifen Medien es gierig auf. Setzen es als Fakt auf die Titelseiten. Journalistischem Ethos folgend, aufzuklären. Oder maßlos übertrieben, die Auflage zu erhöhen. Jede Version findet Abnehmer in der Öffentlichkeit. Beeinflusst Meinungen. Statistiken beweisen, die Gewaltbereitschaft hat in jüngerer Zeit überproportional zugenommen. Nicht nur physischer, auch psychischer Art. Medien dürften dabei keine geringe Rolle spielen. Sind sie ehrlich, müssten auch Autolenker zugeben, jeden langsam vor ihm her schleichenden Automobilisten umbringen zu wollen.
Auch das, was ich in den neun Jahrzehnten meines bisherigen Lebens erlebt, war von Gewalt geprägt. Im privaten und öffentlichen Leben der meisten meiner Generation ausgeübt, mehr noch erlitten. Mit zeitlichem Abstand gewinne ich den Eindruck: In der Menschheitsgeschichte folgte ein Horrorszenario dem anderen. Als kleines Kind nicht wahrgenommen. Aber als Zehnjähriger schon geprägt von der Nazizeit. Gezwungen, als Hitlerjunge Führern zu gehorchen. Pimpfen, die kaum älter waren als ich. Sechzehnjährig als Soldat im zweiten Weltkrieg bereit zu sein, zu kämpfen. Mein noch nicht begonnenes Leben für einen Führer zu opfern. Der mit 54 Millionen Toten als der größte Kriegsverbrecher aller Zeiten in die Geschichte einging.
Zwang, Ungerechtigkeit und Machtanspruch empfand ich schon früh als persönliche Bedrohung. Wehrte mich, so gut ich konnte. Indem ich mich in mich selber verkroch. Die vage Vorstellung im Kopf, es muss etwas geben, das schön und lieb zu mir ist. Und ich mich meinen Träumen hingeben kann. Hitler und seine Vasallen als Störenfriede wahrgenommen. Wie alles, was mir vorschrieb, so oder so zu sein, dies oder das zu tun oder zu unterlassen.
Später auf dem Gymnasium begonnen kontraproduktiv zu denken. Nicht jeden Tag in Uniform außer Haus, wie viel andere. Suchen nach Gleichgesinnten, aber in diesen Zeiten riskant. Musste lernen, nicht einmal Freunden konnte man trauen. Nach dem Krieg erst wurde mir klar, die Nazis schufen bewusst eine Atmosphäre der Angst, ein ganzes Volk gefügig zu machen. In Russland und China verfuhren «Stalin» und «Mao Tse Tung» genauso. Ließen Abermillionen politischer Gegner ermordeten. Wieviel es bei der Vielzahl unbekannter Führer in anderen Ländern sind, kann man nur ahnen. Eines aber ist ihnen gemeinsam:
Diktatoren in Politik und Wirtschaft zwingen ihre Sicht der Dinge Abhängigen auf. Bestrafen rigoros, die sich nicht unterordnen. Chefs von Drogen-Clans und Mafia-Gruppen scheffeln Millionen. Das Risiko, von der Polizei geschnappt zu werden tragen ihre Mitarbeiter. Landen im Knast oder werden von eigenen Kumpanen erschossen, bevor sie Namen verraten könnten. Abgeordnete, die den Auftrag ihrer Wähler ernst nehmen und Beschlüsse ihrer Partei kritisieren, werden auf die hinteren Bänke versetzt oder sonst wie mundtot gemacht. Auch Führer von Unternehmen und Organisationen verfahren ähnlich. Nachbarn, Kollegen, die sich nicht grün sind, ärgern einander oder ignorieren den anderen.
Der Mensch scheint ein moralischer Zwitter zu sein, in seinen Genen angelegt. Einerseits sehnt er sich nach Harmonie mit Menschen in seinem Umfeld. Andererseits denkt er nur an sich selbst. Glaubt, vom Schicksal benachteiligt zu sein. Schuld sind die anderen. Beschimpft und beleidigt, die erfolgreich oder anderer Meinung sind. Andere sehen sich vom Schicksal ausersehen, die Macht an sich zu reißen. Moderne Datentechnik bietet neue, ungeahnte Möglichkeiten, Menschen zu beeinflussen. Soziale Netzwerke machen es so leicht wie nie. Hier wird deutlich, Datentechnik hat, wie jeder Fortschritt, positive und negative Konsequenzen. Jeder, der ein Smartphone besitzt, kann problemlos round the world kommunizieren. Aber auch Nazis und Verschwörungs-Theoretikern die Möglichkeit bieten, andere Meinungen anonym zu diffamieren, ohne juristische Konsequenzen fürchten zu müssen. Sogar Morddrohungen in die Welt setzen, ohne belangt zu werden. Die Welt von heute scheint nur noch Feindbilder zu kennen. Auffällig, dass fast nur Männer die Akteure sind.
Gleichwohl, wir haben uns daran gewöhnt, dass ein gewisser Typ von Mensch Gründe findet, andere zu verachten. Aus einer Gemeinschaft auszuschließen. Unschuldige töten, ganze Völker vernichten oder zur Flucht zwingen. In Jahrhunderten gewachsene Kulturen zerstören. Wir haben verlernt zu differenzieren. Nach Gründen zu fragen, um zu verstehen, warum ein Mensch böse ist. Aber nicht mehr fähig, objektiv zu denken. Beeinflusst und gleichzeigt gelangweilt vom Meinungs-Streit der politischen Parteien. Abgestumpft durch nonstop-Konsum von Krimis im Fernsehen auf allen Kanälen. Verbrechen werden verherrlicht. Täter entschuldigt. Verkehrte Welt.
Anfang 2020 schien auch Corona eine der gewohnten Turbulenzen auszulösen. In die Kategorie Grippe zu fallen. Nicht viel schlimmer als sonst im frühen Jahr. Was niemand wusste, eine Riesenarmee mikrokleiner Viren überfiel zuerst China. Eroberte bald danach fast alle Länder der Erde. Ein gefundenes Fressen für die Medien. Tagtäglich Horrormeldungen. Mit der Folge: alle haben Angst. Politik überfordert. Populisten nutzten es als Chance, Schuldige zu nennen. Immer, wenn Unerwartetes, Überraschendes geschieht. Niemand fragt sich selbst, bin ich nicht mit daran schuld? Weil ich Masken nicht mag und keine Distanz zum Nächsten halten will. Unternehmen lange schon alles laufen ließen, Hauptsache Geld verdienen bei lukrativen Geschäften mit Ländern, in denen es nur korrupten Eliten gut geht.
Mal ist alles erlaubt, fügt man sich Mächtigen. Nichts erlaubt denen, die Widerstand leisten oder anders sind. Am besten mischt man sich nicht ein. Im japanischen Sprichwort über das Böse in der Welt halten drei Affen ihre Hände vor Augen, Ohren und Mund: Sehe nichts, höre nichts, sage nichts. In diesem Buch will ich versuchen, Ereignisse zu vergleichen. Zu erklären, warum fast ausschließlich Männer gewalttätig sind. Sich alles erlauben, anderen aber nichts gönnen oder umbringen, gefährden sie ihre Vormachtstellung.
Selbst erfuhr ich schon früh, was es heißt, vieles nicht zu dürfen. Anderes zu müssen. Nach über neun Jahrzehnten bereit, mein Leben offenzulegen. Spiegelt es doch eine Periode, die für viele die schlimmste Zeit ihres Lebens war. Für mich eher eine Art Übergang. Zuerst nur gefühlt, nach und nach erst gewusst, was wirklich geschah.
Geboren als erstes Kind von drei Geschwistern. Karl Otto Bringer, ein Zweimetermann, zeugte mich. Nannte sich stolz Carolus Magnus. Elisabeth, seine Frau, von ihm Elli gerufen, brachte mich auf die Welt. Beide schnell darin einig, mich Otto zu nennen, Papas zweiter Rufname. Warum ich zwei Wochen zu früh das Licht der Welt erblickte, hat mir niemand erzählt. Traut man dem Taufschein, erblickte ich pünktlich um 05:10 Uhr in der Früh des 30. März 1927 das Licht der Welt. Soll vor lauter Freude laut geschrienen haben. Karl und Elli sich angesehen und zufrieden genickt. Sie müssen mich sehr geliebt haben. Wie man Erstgeborene liebt, vom Wunder der Menschwerdung überwältigt.
Knapp zwei Jahre war ich allein der Liebling, verwöhnt und an Mamas Brüsten gehangen. Zweimal neun Monate später die erste interfamiliäre Konkurrenz: Bruder Karl, wie Papa gerufen. Großvater väterlicherseits nannte ihn bald schon Rolebub. Abgeleitet von Carolus Magnus. Nach weiteren zweiundzwanzig Monaten eine Schwester. Elisabeth wie Mamas Vorname, unverkürzt. Später nannte man sie Lisbeth oder Li. Namen wurden damals tradiert wie in Familien des hohen Adels. Nur ohne Titel. Man berief sich dabei gern auf Könige und Kaiser. Verehrt in mehr als 1000 Jahren als von Gott gewollte Herrscher. Bis 1918 Kaiser Wilhelm II. nach verlorenem Krieg abdanken musste. Ein Parlament bemüht, erstmals in Deutschland eine Demokratie zu realisieren. Und scheiterte, wie jeder weiß.
In den ersten sechs Jahren gemeinsamen Lebens trübte nichts unsere Gemeinsamkeit. Umsorgt von streichelnden Händen und schmeichelnden Tönen. Mama besaß eine Geige. Erinnere es wie ein Märchen. Erfunden und doch wahr. Abends spielte sie Brahmsʼ «Guten Abend, gut Nacht, von Englein bewacht». Papas Brummbass noch im Ohr. Mama aber mir näher als Papa. Ihr musikalisches Talent geerbt. Schöne Frau auf dem einzigen Foto, das ich von ihr besitze. Rahmte es silbern ein und stellte es auf das erste Klavier, das ich mir leisten konnte. Damit sie mich anschaut. Spiele ich aus einer Mozart-Sonate für Geige und Piano den Klavierpart, höre ich ihre Geige. Erinnere alles wieder unwirklich, märchenhaft, was ich als Kind erlebte.
Denke ich an Mama, nur Musik in meinem Kopf. Zärtlich, als streichele ihre Hand mir übers Haar. Beruhigend, bin ich nervös. Ermuntert, wenn Melancholie mich überfällt. Anspornt, will ich aufgeben. Geigentöne sind gesungene Sprache. Weil sie der Stimme des Menschen am nächsten kommen. Verstehe, was sie sagt, wie sie es meint. Lasse ich mich ganz auf Mama ein. Als ich sechs war, starb sie. Begann schon bald, ihrer Geige Töne zu entlocken. Um ihr nahe zu sein. Auch wenn andere sich die Ohren zuhielten oder das Zimmer verließen. Spiele ich heute auf ihrer Geige, ist es, als spräche Mama zu mir.
Damals aber eine Zeit, die alles andere als glücklich machte. Chaotisch wie heute in der Corona-Krise, niemand seines Lebens sicher. Dennoch nicht vergleichbar mit der derzeit grassierenden Pandemie. Damals waren alle einem Diktator ausgeliefert. Heute einem sich rasant vermehrenden Virus. Damals half niemand Verfolgten, aus Angst, selbst verfolgt und bestraft zu werden. Heute helfen viele Menschen von Corona betroffenen Familien. Staaten helfen Firmen mit Milliarden Euro, fehlende Aufträge zu kompensieren. Mit Kurzarbeitergeld Arbeitern und Angestellten, Lohnausfälle zu verschmerzen. Selbstständige und Künstler aber sich selbst überlassen, weil sie nicht systemrelevant seien.
1932 mussten Millionen Menschen ein ähnliches Schicksal erleiden. Keine Arbeit und kein Geld, von heute auf morgen zu kommen. Sechs Millionen arbeitslos, die höchste Zahl seit der Industrialisierung Anfang des 19. Jahrhunderts. Der Staat pleite und keine Aussicht auf Besserung. Die Inflation des Geldes als Folge einer internationalen Bankenkrise auf ihrem Höhepunkt. Brot, für 10 Mark schon teuer, kostete am nächsten Tag schon 500 Mark, in der folgenden Woche bereits eine halbe Million.
Die Löhne konnten nicht mithalten, weil immer mehr Unternehmen insolvent wurden. Von ihren Banken keine Kredite mehr bekamen, weil auch die zahlungsunfähig. Die deutsche Zentralbank nicht in der Lage, sie wie bisher mit Liquidität versorgen. Weil amerikanische Großbanken ihr weiteres Geld verweigerten. Nachdem sie gewährte Kredite plus Zinsen nicht zurückgezahlt hatten. Alles Gründe für die große Zahl von Arbeitslosen. Arbeiter und Angestellte ohne Job verdienten kein Geld mehr, die monatliche Miete zu bezahlen. Hausbesitzer keine Mieteinnahmen, um Reparaturen durchzuführen. Ladenbesitzer gezwungen, Ware auf Pump abzugeben. Hoffend, irgendwann bezahlen sie ʼs.
Massen protestierten auf Straßen und öffentlichen Plätzen. Allen voran Mitglieder der kommunistischen Partei. Mit Transparenten: «Gebt uns Arbeit oder wir schießen!» Schwenkten rote Fahnen. Immer mehr Männer in braunen Hemden auf Protestmärschen. Armbinden mit dem Hakenkreuz, Breecheshosen und Stiefeln. Andere in Uniformen des verlorenen ersten Weltkrieges 1914/18. Marschierten bei Blasmusik im gleichen Schritt und Tritt, als hätten sie den Krieg gewonnen.
Auch in Münchens vielbesuchtem «Hofbräuhaus» suchten Massen Trost bei Bier und Hass-Tiraden auf die Obrigkeit. Plötzlich tauchte ein neues Gesicht auf. Eines mit kurzem Schnäuzer unter der Nase. Das Haar über niederer Stirn herausfordernd schräg gescheitelt. Von braunen Uniformen als «Adolf Hitler» angekündigt. Der soll wie auf Knopfdruck sofort aufgesprungen sein. Geredet und die Fäuste geballt. Österreicher, wie man hörte und zornig, wie alle im Saal. Arbeitslos und enttäuscht von der Politik. Aufmerksam wie lange nicht mehr lauschten sie einem, der Hoffnung signalisierte:
„Mit uns wird Deutschland nach dem verlorenen Weltkrieg wieder mächtig werden. Den Frieden von Versailles leugnen wir, weil ohne uns abgeschlossen. Aber Fabriken requiriert, die Staatskasse geplündert. Wir werden uns zu wehren wissen. Autobahnen bauen und Rüstungs-Betriebe. Alle Deutschen werden wieder einen sicheren Arbeitsplatz haben. Den auch die Politiker in Weimar angekündigt. Dieses ihr großspuriges Versprechen aber nicht gehalten. Bis heute keine Fakten geschaffen, die Deutschland dringend braucht. Das Parlament – nichts anderes als eine Quatschbude.“
Aus der Presse erfuhr man, Adolf Hitler war Vorsitzender der «NSDAP». National Sozialistische Deutsche Arbeiter Partei. Mit ihrem Auftritt deutete alles auf bessere Zeiten hin. Über 95% der Deutschen stimmten am 30. Januar 1933 für die NSDAP. Die danach aufgrund des sognannten Ermächtigungs-Gesetzes vom Reichspräsidenten Paul Hindenburg die Macht an sich reißen konnte. Am 30. Januar 1933 ernannte er Hitler zum Kanzler. Einen Tag später, am 1. Februar desselben Jahres entmachtete ein Diktator das Parlament.
Kinder hatten von allem keine Ahnung. Ich gerade in die Schule gekommen und das ABC gelernt. Erste Worte und Sätze gelesen und verstanden. Begierig, auch zu verstehen, was zuhause und auf unserer Straße passierte. Erinnere, bei uns wurde nur über die Familie geredet. Oma, Opa, die Tanten. Gott und die Kirche. Nie über Politik. Obwohl sie täglich die Zeitung lasen. Ob sie sich fürchteten, benachteiligt zu werden, sagten sie ihre ehrliche Meinung? Hatten sie überhaupt eine? Bis heute weiß ich nicht, wie sie über die Nazizeit dachten. Schwiegen bis zu ihrem Tod über das, was sie besorgt und sehr geängstigt haben muss. Als fürchteten sie immer noch, wie früher bestraft zu werden. Oder schämten sie sich? Hätte es gerne gewusst. Erinnere, fünfzehnjährig eine Nacht im Luftschutzkeller, Januar 1943. Alliierte Bomber im Anflug auf Düsseldorf.
Papa mit anderen Männern separiert von Frauen. Die versuchten, ihre Angst mit Stricken, Häkeln oder Rosenkranzbeten zu betäuben. Sah Papa im Gespräch mit Theo Uttendorf, einem Witwer aus der Wohnung über uns. Plötzlich hob Papa seinen rechten Arm zum Hitlergruß und sagte: „So hoch liegt der Schnee in Dachau.“ Später, viel später wusste ich, was gemeint war: Berge von Leichen. Den Eltern und anderen Erwachsenen muss bekannt gewesen sein, dass die Nazis KZs unterhielten. In denen Volksfeinde eingesperrt und umgebracht wurden. Trauten sich aber nicht, es öffentlich zu kritisieren. Sie wären auch dort gelandet und ermordet worden. Frage mich, hätte ich an ihrer Stelle auf der Straße protestiert?
Fünf Jahre nach dem Krieg geheiratet und glücklich, mit Marga, meiner Frau, mich über alles austauschen zu können. Aus der Vergangenheit gelernt, andere zu tolerieren. Gegenwart genossen und die gemeinsame Zukunft geplant. Deutschland eine Demokratie, in der jeder seine Meinung zu Politik und Gesellschaft äußern konnte, ohne bestraft zu werden. Wollte auch jetzt von Papa wissen, was er damals über die Nazis gedacht. Da er sich ungern zu solchen Dingen äußerte, schrieb ich ihm einen Brief. Bat ihn, mir auch in einem Brief zu antworten. Niemand sollte davon erfahren, auch nicht Gustel, seine zweite Frau.
„Schreib ihm nie wieder einen Brief“, rief mich Klara an, acht Jahre jüngere Stiefschwester. „Papa tief im Ohrensessel versunken. Den Umschlag noch in der Hand, dein Brief am Boden. Weinte, schluchzte, als wärst du, sein Sohn, bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.“ Erst nach seinem Tod wollte sie wissen, was ich ihm geschrieben hatte.
Ob er von Hitlers Buch «MEIN KAMPF» gewusst, seinen Inhalt gekannt, habe ich nie erfahren. Obwohl es in Millionen Auflage gedruckt und verbreitet wurde. Selber erst, als ich Jahre später «HITLER», Joachim Fests Interpretation gelesen. Sein Denken und Handeln waren zweifach motiviert: Persönlich enttäuscht, weil er als Soldat im ersten Weltkrieg nicht befördert wurde. Obwohl an vorderster Front gekämpft und verwundet. Blieb der einfache Gefreite wie die meisten. Die Wiener Kunstakademie habe ihn daran gehindert, ein berühmter Maler zu werden. Seinen Aufnahme-Antrag wegen fehlender Begabung abgelehnt. Ein weiteres Motiv widersprüchliche Tendenzen der Nachkriegszeit, die für eine negative Stimmung sorgten.
All das löste in Hitler wirre Gedanken aus. Glaubt sich zum Retter berufen. Suchte aber nicht die Ursache für die damals schlechten Zeiten in historischen Tatbeständen. Auch nicht das Versagen bei sich selbst, sondern fand einen Sündenbock: Das Weltjudentum und seine Gier nach Geld. Manifestiert im Kapitalismus. Juden seien die größten Feinde der Menschheit. Er wolle sie vernichten, die Welt von Schmarotzern befreien.
Nur zwei Jahre nach der Machtergreifung verschafften sich die Nazis mit dem «Nürnberger Rassegesetz» das Recht, Hitlers Forderung in die Tat umzusetzen. Der juristische Auslöser ein Freibrief für den Mord an sechs Millionen Juden. Mehr noch, als Deutschland ab 1939 in fast allen europäischen Ländern Juden und Widerständler kurzerhand zu Volksfeinden erklärte. Steckte sie ins KZ oder ließ sie in Sträflingsanzügen überall da